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Deutsche Originalausgabe:

1. Auflage 2019

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gestaltung: LV.Buch im Landwirtschaftsverlag GmbH

ISBN: 978-3-7843-5605-1

www.lv-buch.de

BENT OHLE

ALLER TOTEN DINGE SIND DREI

LANDFRAUENKRIMI

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INHALT

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

NACHWORT

EINS

Elsa tauchte das Paddel in das dampfende Wasser und beschrieb einen von leisem Plätschern begleiteten Linksbogen, sodass sie nun wieder zum Nordufer blickte, das allerdings vom Nebel vollständig verschluckt wurde. Die Schwaden standen knapp einen halben Meter über dem See, geisterhaft ragten die noch dunklen Bäume daraus hervor. Seevögel schwebten lautlos aus dem Uferbereich über das Wasser und landeten unsichtbar irgendwo links von ihr. Elsa liebte die Ruhe am frühen Morgen. Es gab keine bessere Zeit, aufs Wasser zu gehen. Mit einem Lächeln auf den Lippen beschleunigte sie und tauchte die Paddelspitzen immer schneller ein. Ihr Gesicht glänzte feucht vom Nebel, Tropfen bildeten sich an ihren Wimpern und ihrer Nase.

Es war kurz nach fünf, als Elsa ihre Runde auf dem Groß Glienicker See beendete und schwer atmend ihr Kanu auf das Ufer zutreiben ließ. Sobald es vom Sand gestoppt wurde, sprang sie hinaus und schulterte es. Sie hatte ganz in der Nähe geparkt und erreichte den VW Bus nach wenigen Schritten.

Als sie das Kanu auf dem Dach befestigte, vernahm sie auf einmal merkwürdige Geräusche. Wahrscheinlich nur ein Hundebesitzer und sein Vierbeiner, vermutete sie und zurrte den Gurt fest.

„Nein, nein, nein“, lallte da eine Männerstimme. Sie schien aus einer Hecke zu kommen.

Elsa schlich näher und lugte über die Sträucher hinweg in die Dunkelheit, wo sich etwas im hohen Gras bewegte.

„Hallo?“, fragte sie.

„Hallo?“, fragte die Stimme zurück.

„Geht es Ihnen gut?“

„Mir schon.“

Bedeutete dieses „Mir schon“, dass sich dort noch eine zweite Person befand? Die erste Person klang deutlich angetrunken. Elsa ging auf den Mann zu. Die Sonne war bereits aufgegangen, sodass sie die Gestalt, die dort vor ihr im Gras lag, nun besser erkennen konnte. „Morjen“, sagte der Mann.

„Haben Sie sich verletzt, kann ich Ihnen helfen?“

„Mir nich, aber ihm hier.“ Er deutete neben sich ins wild wuchernde Gras, wo sich eine Mulde gebildet hatte. Elsa trat näher und erblickte ein pelziges Tier.

„Herrje, was ist mit ihm?“

„Er vaträgt wohl nich so viel“, nuschelte der Mann. Er trug einen zerknitterten Anzug, und sein Hemd war am Kragen schief geknöpft.

„Wie meinen Sie das?“

„Na, sehn Se ihn doch ma an. Der is hackedicht!“

„Der Waschbär?“

„Naja!“

„Warum?“

„Hat meenen Appelkorn ausjesoffen, der Schuft.“

Jetzt erst bemerkte Elsa die kleine Flasche mit dem rotwangigen Apfel auf dem Etikett, die neben dem ohnmächtigen Tier lag. „Sie geben ihm Alkohol?“, fragte sie entsetzt.

„Icke? Nee! Den hat er jemopst, der kleene Racker.“

Elsa kniete sich hin und nahm den leblosen Waschbären vorsichtig hoch. Sein kleines Herz schlug noch, aber er hing so schlaff über ihrem Arm wie ein nasses Handtuch.

„Lebt er noch?“, fragte der Mann und machte es sich im Gras gemütlich.

„Ja, ja, aber ein Arzt sollte ihn sich ansehen“, entgegnete Elsa. „Was ist mit Ihnen?“

„Ick jeh nich so jern zum Arzt.“

„Ich meine, sind Sie nur betrunken oder auch verletzt? Können Sie gehen? Wo wohnen Sie denn?“

„Dit müsste hier gleich um die Ecke sein“, antwortete er. „Und loofen kann ick prima. Will nur nich.“

„Verstehe. Dann nehme ich das Tier jetzt mit, wenn Sie allein klarkommen.“

„Aber selbstverfreilich, meene Jutste.“ Er versuchte aufzustehen und dabei sportlich auszusehen, fiel aber sogleich seitlich in die Hecke.

„Na, kommen Sie, ich bring Sie nach Hause.“

Elsa wickelte den Waschbären in ein Handtuch und legte ihn in die Spüle ihres Campers. Den Mann verfrachtete sie auf den Beifahrersitz und schnallte ihn an, damit er nicht in den Fußraum rutschte. Zum Glück erkannte er sein Haus, und Elsa wartete, bis er nach mehreren Fehlversuchen endlich die Tür aufgeschlossen hatte und im Flur verschwunden war.

„Na, der Tag fängt ja gut an“, sagte sie und fuhr nach Hause.

Auf dem Hof herrschte bereits Betrieb. Ihre Schwester stand zwischen Trecker und Anhänger und verschloss die Kupplung. Mit dem Handrücken wischte sie sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und blies sie mit schiefen Lippen nach oben.

„Was hast du denn da?“, rief sie Elsa entgegen.

„Einen Waschbären.“ Elsa legte eine Hand auf den Rücken des Tieres, damit es ihr nicht vom Unterarm fiel.

„Hast du ihn überfahren?“

„Nein, er ist betrunken.“

„Ach so …“, mokierte sich Lara und winkte gekünstelt ab.

„Ich hab ihn so einem besoffenen Kerl abgenommen.“

„Die zwei waren wohl zusammen auf Zechtour, was?“

„So ähnlich. Ich leg ihn in den Stall, nicht dass du dich wunderst.“

„Ich wundere mich über gar nichts mehr“, behauptete Sarah und schwang sich in das Führerhaus.

Elsa betrat den Flur des Wohnhauses durch die offen stehende Eingangstür und spazierte von da in die Küche, wo ihre Eltern am Frühstückstisch saßen.

„Morgen“, grüßte sie fröhlich.

Die beiden versteinerten in ihren Kaubewegungen und starrten auf das Tier in ihrem Arm.

„Wo ist Lisa?“

„Schläft?“, entgegnete ihr Vater einsilbig. Sirup tropfte von seinem Brot.

„Schatz, du hast ein totes Tier mit in die Küche …“, hob ihre Mutter an.

„Oh, nein, der ist nicht tot. Nur besoffen. Appelkorn. Ein ganzer Flachmann.“

„Und was soll er hier?“

„Ich kümmere mich um ihn, und ihr ruft bitte nachher beim Tierarzt an, dass er ihn sich mal anschaut.“

„Warum hast du ihn denn mitgebracht?“, fragte ihr Vater verständnislos.

„Soll ich ihn etwa, voll wie er ist, irgendwo im Gras liegenlassen? Und so‘n Gärtnertyp fährt mit‘m Rasenmäher über ihn drüber, bevor er dann von irgend so ‚nem frustrierten Vorstadtjagdhund zum Frühstück verspeist wird? Nee, danke.“

Sie griff energisch zur Kaffeekanne.

„Willst du ihm jetzt auch noch Kaffee einflößen?“, rief ihre Mutter entsetzt.

„Der ist für mich, wenn’s recht ist.“

Sie goss sich einen Becher ein, hielt den Bären dabei in der Armbeuge wie einen Säugling, und trank einen Schluck. Ihre Eltern widmeten sich wieder ihrem Frühstück, und der Vater bemerkte verdrossen, dass der Sirup nicht mehr auf dem Brot, sondern als schwarze Pfütze auf dem Teller lag.

„Willst du so nach Berlin fahren?“, fragte die Mutter und deutete mit ihrer Tasse auf Elsas Neoprenanzug.

„Ja, Mama. Meine Chefin hat mich gebeten, doch bitte etwas Knappes, möglichst Unbequemes anzuziehen, das gern auch mal nass werden darf.“

„Mach dich nicht über Frau Stegmeier lustig, das ist eine tolle Frau.“

„Über sie mach ich mich auch nicht lustig, Mama.“

Elsas Mutter verstand und wandte sich beleidigt ihrem Frühstücksei zu.

„Warum musst du überhaupt mit nach … Wo fahrt ihr noch mal hin?“, fragte der Vater.

„Uplengen.“

„Wo in aller Welt ist Uplägern?“, wollte die Mutter wissen.

„Keine Ahnung. Uplengen liegt jedenfalls in Ostfriesland“, antwortete Elsa und trank grinsend von ihrem Kaffee.

Unsanft landete der Löffel auf dem Ei, dessen Schale sogleich zerbrach. Es kehrte Stille in der Küche ein, bis ein lauter Schnarcher des Waschbären die Mutter zusammenfahren ließ. Elsa und ihr Vater lachten laut auf.

„Ich bring ihn in den Stall“, meinte Elsa und ging hinaus.

Der Stall war eigentlich für die Kühe gedacht, die sie hielten. Doch einige unbelegte Boxen am hinteren Ende hatte Elsa ausgebaut, um dort Tiere aufzunehmen. Tiere, die ihr zuliefen oder zuflogen oder aus irgendeinem Grund ihre Hilfe benötigten. So wie der betrunkene Waschbär. Elsa legte ihn in das weiche Stroh, in dem die Katzen manchmal ihre Jungen warfen. Shelly, die Eseldame, die Elsa herrenlos an einer Autobahnraststätte gefunden und auf den Namen der Tankstelle getauft hatte, schnupperte neugierig über den Rand der Holzabsperrung, zuckte aber gleich wieder zurück.

Elsa lachte. „Der hat ‚ne ganz schöne Fahne, was?“ Sie richtete sich auf und kraulte die Eselin. „Tut mir leid, ich muss jetzt los.“

Nachdem sie geduscht und sich umgezogen hatte, stieg sie mit ihrer Reisetasche die Treppe hinunter. Sie schmierte sich noch schnell ein Brot und warf dabei einen Blick in die Tageszeitung. Von der Treppe her hörte sie knarzende Geräusche. Anscheinend war Lisa schon aufgestanden, was ungewöhnlich war.

„Morgen Mama“, sagte sie verschlafen und taumelte förmlich auf den Frühstückstisch zu. Sie trug dermaßen kurze Jeansshorts, dass man darunter den Ansatz ihres Hinterns sehen konnte.

„Du willst doch nicht in dem Ding in die Schule gehen, oder?“

„Wieso nicht?“

„Wieso nicht? Weil du aussiehst wie eine der Damen auf der Oranienburger Straße nachts um halb zwei, deswegen. Und draußen ist es nicht mal zwölf Grad warm.“

„Oh, Mama …“

„Ja, ich weiß, ich bin ein Spielverderber, aber eine Hose, die zwei Zentimeter länger ist, tut es doch bestimmt auch.“

Lisa stöhnte genervt und lief wieder nach oben in ihr Zimmer.

„Und mach den Knoten aus deinem Hemd und steck es in die Hose!“, rief Elsa ihr hinterher. Erneut tat Lisa grummelnd ihren Unwillen kund. Dann knallte eine Tür.

Zwei Minuten später kehrte Lisa in einer langen Jeans zurück, die eigentlich nur noch in Fetzen an ihren Beinen hing.

„Zufrieden?“

„Geht so“, sagte Elsa.

„Kann ich heute im Camper übernachten? Melissa kommt vorbei.“

„Melissa kann gern kommen, aber ich fahre heute mit dem Camper nach Uplengen.“

„Was? Wieso?“

„Lisa, das habe ich dir letzte Woche schon gesagt, und seither jeden Tag zweimal.“

„Aber wieso?“

„Weil meine Chefin das möchte.“

„Na toll. Wo ist dieses Urleben überhaupt?“

„Uplengen. In Ostfriesland.“

„Ist das weit weg?“

„Hast du Erdkunde in der Schule?“

„Epochal.“

„Na prima. Fast fünfhundert Kilometer.“

„Fünfhundert?“, rief Lisa erregt.

„Nicht ganz. Sei doch froh, hast du sturmfreie Bude.“

„Mit Oma, Opa und Sarah? Na, vielen Dank.“

„Alles ist relativ.“

„Du bist relativ …“

„Ja?“

„Streng.“

Elsa blickte irritiert zu ihrer Tochter. „Streng?“

„Ja.“

„Was hab ich denn verboten?“

„Die Hose?“

„Das war ein Gürtel.“

„Kann ich wenigstens proben?“

„Wo denn?“

„Na, hier irgendwo. Platz haben wir ja. Im Stall oder drüben im Kindergarten.“

„Im Stall geht’s nicht, die Tiere würden durchdrehen. Aber frag im Kindergarten, ob sie die Räumlichkeiten brauchen.“

„Okay.“

„So, und jetzt muss ich los“, sagte Elsa. Sie stand vom Tisch auf, ging auf ihre Tochter zu und nahm sie in die Arme. „Dein Papa wäre stolz auf dich“, flüsterte sie in ihr Haar. „Und ich bin es erst recht.“ Sie küsste sie auf den Kopf.

Dann stellte sie noch rasch ihre Tasse und ihren Teller in die Spüle und machte sich auf den Weg nach Berlin.

ZWEI

Der metallicblaue T4 Camper rollte auf der B2 in Richtung Charlottenburg. Wenn Elsa in die Kurven fuhr, kullerte hinten im Wagen etwas kreuz und quer über den Boden. Sie musste später nachsehen, was das war, und es entfernen, bevor Frau Stegmeier einstieg.

Hoffentlich habe ich meine Reisetasche eingepackt, dachte sie, nicht dass sie noch auf dem Hof steht. Und wenn schon, beruhigte sie sich gleich darauf. Die wichtigen Unterlagen und die Rede für Frau Stegmeier befanden sich in ihrer Umhängetasche, die neben ihr auf dem Sitz lag. Das war die Hauptsache. Alles andere konnte man ersetzen. Sogar in Ostfriesland.

Seit knapp einem Monat war Elsa in der Bundesgeschäftsstelle des Deutschen Landfrauenverbands in Berlin tätig und hatte sich schon ganz gut eingearbeitet. Nachdem ihre Schwester Sarah und sie sich - auch auf das lange Drängen ihrer Eltern hin - entschieden hatten, den Hof zu übernehmen, waren die Aufgaben ihren Vorstellungen und Qualifikationen entsprechend aufgeteilt worden. Beide Schwestern hatten neue Ideen für den Betrieb gehabt. Sarah, die studierte Landwirtin war, konnte und wollte sich stärker in das Tagesgeschäft einbringen als Elsa. Elsa hatte sich vor allem um das Geschäftliche kümmern wollen und auch die Idee mit dem angeschlossenen Hofkindergarten gehabt. Die Eltern hatten sich an den frischen Wind zunächst gewöhnen müssen, doch inzwischen standen sie voll hinter ihren Töchtern und halfen ihnen, wo sie nur konnten. Elsa, die in den vergangenen Jahren viele gemeinnützige Aktionen in Seeburg ins Leben gerufen hatte, war schon des Öfteren vom Bürgermeister angesprochen worden, ob sie nicht in die örtliche Politik gehen wolle, doch das war für sie nicht der richtige Weg. Vor einigen Monaten hatte sie dann bei einem Projekt der Landfrauen durch Zufall die Geschäftsführerin der Bundesgeschäftsstelle kennengelernt und sich kurze Zeit später als deren Assistentin beworben. Dieser Schritt war in der Familie zuvor ausführlich besprochen worden, denn ihre Aufgaben auf dem Hof wollte Elsa keinesfalls vernachlässigen. Als sie den Zuschlag für den Job erhielt, hatte sie dennoch eine gewisse Torschlusspanik ereilt, aber ihre Mutter, die große Stücke auf Frau Stegmeier hielt, redete ihr gut zu. Und so war sie nun die rechte Hand der Präsidentin und im Begriff, ihre erste Geschäftsreise anzutreten. Frau Stegmeier hatte den Wunsch geäußert, von Elsa auf ihren anstehenden Reisen zu den Verbänden begleitet zu werden, damit sie die Basis der Landfrauen in den einzelnen Ortschaften kennenlernte. Heute war Premiere. Und Uplengen war das Ziel.

Berlin lag unter einem dünnen grauen Dunstschleier, der durchsetzt war vom Leuchten der Morgensonne. Das Licht wurde von den Häuserfassaden und Fenstern reflektiert, ebenso von den vielen Fahrzeugen, die sich im Berufsverkehr auf den Straßen drängten. Elsa konnte kaum fassen, wie schnell sie von der einen, ländlichen, in diese andere, die Großstadtwelt gekommen war. Irgendwie war es auch befremdlich, dass das nun ein Teil von ihr war. Sie arbeitete im Herzen der Hauptstadt in einem fünfstöckigen Gebäude, mit Millionen Menschen um sie herum, aber gleichzeitig lebte sie auf dem Land, in einem Tausend-Seelen-Dorf, und führte mit ihrer Schwester einen Bauernhof. Es war, als schlügen zwei Herzen in ihrer Brust.

Mit einem Lächeln fuhr sie über die Weidendammer Brücke, auf der die Touristen flanierten, und passierte den Friedrichstadtpalast mit seinen großen Werbetafeln. Links führte eine unscheinbare Einfahrt zu ihrer Arbeitsstelle. Normalerweise kam sie nicht mit dem Bus hierher, sondern fuhr mit der S-Bahn wie alle anderen Mitarbeiter auch. Es gab nur einen kleinen Besucherparkplatz, auf den sie sich nun stellte und beim Aussteigen bereits Herrn Kupferpfennig sah, der aus seinem Pförtnerhäuschen in den Flur eilte, um ihr galant die Tür zu öffnen.

„Guten Morgen, Frau van Graaf“, flötete Kupferpfennig und stemmte die Tür mit nur einer Hand weit auf, denn sein linker Arm steckte, um neunzig Grad vom Körper abgewinkelt, in einem Gipsverband.

„Ach du je, was haben Sie denn gemacht?“, fragte Elsa, als sie die Stufen hinaufging.

„Ich hab mir die Oberarmpfanne gebrochen“, antwortete er fröhlich.

„Wie schafft man denn so was?“

„Ich wollte einen Gummibaum auf einem schwebenden Balken in meinem Wohnzimmer platzieren und bin von der Leiter gefallen. Zum Glück war‘s kein Kaktus“, sagte er, „das Ding ist mir nämlich hinterher noch auf die Nase gekracht.“

„Sie Glückspilz.“

„Naja, Glück hab ich leider keins. Gestern kam schon wieder eine Absage von ‚Wer wird Millionär‘.“

Kupferpfennig hatte sich ungefähr siebenundvierzigmal bei der Quizshow beworben und war bis jetzt nie eingeladen worden. Der Arme löste jeden Tag an die fünfundzwanzig Kreuzworträtsel und las in jedem Lexikon, das jemals geschrieben worden war, aber sein Wissen der Öffentlichkeit zu präsentieren, war ihm anscheinend nicht vergönnt.

„Das tut mir leid“, sagte Elsa tröstend. „Nächstes Mal klappt’s bestimmt.“

„Ja“, sagte er traurig. „Frau Stegmeier ist bereits oben“, fügte er fast flüsternd hinzu.

„Danke, ich fahr gleich rauf.“

Elsa nahm den Aufzug und schritt den Gang entlang, in dem die Türen offen standen, sodass einfallendes Sonnenlicht leuchtende Rechtecke an die Wand warf. Sie grüßte im Vorbeigehen die Kolleginnen in den besetzten Büros und betrat schließlich ihr eigenes. Astrid Stegmeier saß am Gästetisch und blätterte in ihrem Filofax.

„Guten Morgen, Frau van Graaf“, sagte sie, ohne aufzuschauen. Dann erst hob sie ihren Blick und musterte Elsas Kleidung, die Elsas üblichem Auftreten entsprach. Sie trug eine hellgraue Chino, einen dunkelgrauen Pullover aus Merinowolle mit Rollkragen und schwarze, schmal geschnittene Schnürschuhe. Die dunklen Haare hatte sie wie immer zu zwei Zöpfen geflochten. Mit den Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase sah sie aus wie eine Mischung aus Pippi Langstrumpf und einer Squaw.

„Guten Morgen, Frau Stegmeier.“

„Ich wäre soweit abfahrbereit, wie steht’s mit Ihnen?“ Astrid Stegmeier blickte Elsa fragend an und wartete blinzelnd auf eine Antwort.

„Ich denke, ich habe alles.“

„Die Rede?“

„Ist im Bus, Laptop und alles andere auch. Ich hatte noch eine kleine Geschenktüte für die Damen vom Vorstand gepackt, die muss ebenfalls mit.“ Elsa bückte sich nach einer Papiertüte, die neben ihrem Schreibtisch stand.

„Sehr schön“, meinte Astrid Stegmeier zufrieden und klappte ihr Filofax zu. „Dann gehen wir auf Reisen. Ich habe eben in einem furchtbaren Zug gesessen. Nicht nur, dass er wie immer Verspätung hatte, es sind auch in allen Waggons die Toiletten ausgefallen.“

„Bei mir funktioniert alles“, sagte Elsa.

„Prima.“ Astrid Stegmeier nahm ihren Rollkoffer, und gemeinsam gingen sie zurück zum Aufzug und fuhren in die Empfangshalle hinunter. Sie waren kaum um die Ecke gebogen und an der kleinen Sitzecke vorbei, da schoss Herr Kupferpfennig umständlich aus seinem Glashäuschen.

„Frau Stegmeier!“, rief er erfreut, so als hätte er sie wochenlang nicht mehr gesehen.

„Ja?“

„Sie sind doch so gebildet und waren auch schon mal in Afrika, nicht?“

„Ja, zwei- oder dreimal bin ich dort gewesen, warum?“

„Ich suche die Amtssprache in Simbabwe und Mosambik mit fünf Buchstaben.“

Astrid Stegmeier warf Elsa einen ungeduldigen Blick zu.

„Suaheli kann es ja nicht sein, doch das ist die einzige afrikanische Sprache, die ich kenne“, fügte Kupferpfennig an.

„Es müsste Shona sein. S-h-o-n-a, Shona.“

„Oh, vielen Dank, Frau Stegmeier. Ich wusste, ich kann mich auf Sie verlassen“, jubilierte er und eilte zu Tür, die er für sie aufhielt. „Ich wünsche eine gute Reise, kommen Sie gut an.“

„Danke, Herr Kupferpfennig“, sagte Astrid Stegmeier und zog ihren Koffer durch die Tür.

„Auf Wiedersehen, Frau van Graaf.“

„Ja, bis bald.“

Astrid Stegmeier ging zum Parkplatz, wo der Camper und ein silberner Skoda Oktavia standen. Elsa überholte sie, schloss auf und öffnete die Seitentür.

„So, bitte sehr. Herzlich willkommen in meinem Camper.“

Ihre Chefin warf einen neugierigen Blick ins Wageninnere. „Sehr gepflegt, was ist denn da alles drin?“

„Eine kleine Küche mit Herd, Kühlschrank, Spüle und ein Esstisch.“

„Na, das ist ja ein richtiges Tourmobil! Sehr schön.“

„Ich nehme Ihren Koffer.“ Elsa verstaute den Koffer und die Tasche mit den Geschenken im Kofferraum und schlug die Klappe zu.

Astrid Stegmeier war unterdessen einen Schritt zurückgetreten und beäugte misstrauisch das Kanu auf dem Dach. „Was ist denn das da oben?“, fragte sie mit einem zögerlichen Fingerzeig auf das Sportgerät.

„Mein Kanu“, erklärte Elsa. „Das habe ich immer dabei. Wann immer es sich ergibt, fahre ich eine Runde.“

„Nun, als ehemalige Spitzensportlerin kann man solche Gewohnheiten wohl schlecht ablegen. Ist das das Boot, mit dem Sie bei Olympia waren?“

„Ja, in der Tat. Das ist mein Boot aus Sidney“, sagte Elsa stolz.

„Beeindruckend, aber jetzt müssen wir los. Wir haben eine ganz schöne Strecke vor uns.“

Sie stiegen in die Fahrerkabine und schnallten sich an.

„Haben Sie ein Navi, wissen Sie, wo es ist?“, fragte Astrid Stegmeier.

„Ich nehme mein Handy. Uplengener Hof, richtig?“

„Genau. Waren sie schon mal in Ostfriesland?“

„Als wir Kinder waren, konnten wir nur selten in Urlaub fahren, wegen des Hofs. Einmal waren wir mit der Schule auf Borkum, aber mehr kenne ich nicht.“

„Oh, Gott, mögen Sie es, mit diesem Ding durch die Stadt zu fahren?“, fragte Astrid entsetzt, als Elsa vom Parkplatz fuhr, den Camper durch die schmale Einfahrt manövrierte und auf die Friedrichstraße bog.

„Ich kenne nichts anderes, seit …“ Elsa verstummte und beendete den Satz nicht. Sie war in dunklen Erinnerungen gefangen. Astrid bemerkte das und blickte sich daher betont interessiert im Auto um.

„Kann ich in die Rede schon mal reinschauen? Ich muss mich ja noch vorbereiten.“

„Sicher, sie ist in der Tasche hier.“ Elsa wollte neben sich greifen.

„Lassen Sie nur, fahren Sie uns lieber heil aus der Stadt raus.“

Astrid Stegmeier angelte nach Elsas Tasche, die Elsa beim Einsteigen vom Beifahrersitz nach hinten befördert hatte, zog den kleinen Stapel Papier vorsichtig heraus und überflog die Zeilen mit Neugier und Interesse.

„Grundsätzlich mag ich Ihren Schreibstil“, sagte sie und blickte durch das Seitenfenster nach draußen.

„Grundsätzlich heißt, Sie mögen ihn eigentlich nicht“, erwiderte Elsa.

„Doch, doch, ich würde allerdings noch einige Umstellungen vornehmen wollen. Die Rumänienreise der Landfrauen und ihre beständigen Bemühungen vor Ort würde ich nicht so früh erwähnen.“

„Aber die Umtriebigkeit der Frauen ist der Hauptgrund, weshalb Sie dorthin reisen und ihre Leistungen anerkennen.“

„Ja, richtig. Ich würde anfänglich jedoch lieber über die Gleichstellung der Frauen in Bezug auf Arbeitsentgelte und die gerechte Besetzung in Gremien und Interessenverbänden sprechen, da haben wir ja hier in Deutschland schon noch einiges zu bemängeln, wie Sie ganz richtig formulierten, und anschließend auf die Situation in Rumänien und die Reise der Uplengener Frauen eingehen. So intensivieren wir den Spannungsbogen.“

Elsa war überrascht, wie schnell Astrid Stegmeier die gesamte Rede erfasst und analysiert hatte. Sie nickte.

„Das lässt sich problemlos machen. Wir müssen nur einige Absätze austauschen und vielleicht noch ein wenig an den Übergängen feilen.“

„Das denke ich auch. Aber es ist eine gute Rede, Frau van Graaf, wirklich.

„Vielen Dank.“

„Ich hatte Schlimmeres erwartet.“

Elsa lachte laut auf. „Dankeschön, Frau Stegmeier.“

„Sie wissen, wie ich es meine“, erklärte Astrid schmunzelnd.

Die Autobahn war in der Gegenrichtung, stadteinwärts, sehr voll, jedoch nicht auf ihrer Seite, wo sie trotz vieler Baustellen mit Geschwindigkeitsbegrenzung quasi freie Fahrt hatten und ab der Abzweigung in Richtung Magdeburg endlich wieder schneller fahren konnten. Wie schon in einigen anderen Kurven zuvor rollte auch jetzt wieder etwas durch die hintere Kabine, und Astrid Stegmeier drehte sich um.

„Was ist denn dieses Ding, das da ständig über den Boden kullert? Das macht einen ja ganz kirre.“

„Ich weiß es nicht, können Sie etwas erkennen?“

„Ja, da ist so ein Ding, ein Zylinder oder ein Rohr oder so. Anscheinend aus Glas.“

Elsa riskierte einen kurzen Blick über ihre Schulter. Das Röhrchen war gegen ein Tischbein gestoßen und lag nun quer zur Fahrerkabine.

„Nicht erschrecken“, sagte sie und drückte auf die Bremse, sodass das Ding ins Rollen kam und auf sie zu kullerte, direkt zwischen Fahrer- und Beifahrersitz. Elsa bückte sich und hob es auf. „So, das wär’s schon.“

„Elegant gelöst“, kommentierte Astrid das Manöver. „Was zum Habicht ist das?“

„Das ist ein … na, so ein Dings zum Gitarre spielen.“

„Sie spielen Gitarre?“

„Nein, meine Tochter. Sie hat eine Band, und manchmal spielen sie hier im Bus.“

„Ah, es ist also in der Tat ein Tourbus.“

„Mehr ein Proberaum, würde ich sagen.“

Astrid lächelte und blickte wieder auf die Straße. „Wie alt war Ihre Tochter noch gleich?“

„Fünfzehn.“

„Hat sie ihren Vater eigentlich kennengelernt?“

Elsas Augen wechselten in ein dunkleres, tieferes Blau. „Ich finde, das müssen wir jetzt nicht besprechen.“

„Entschuldigen Sie, ich dachte nur, da wir gerade allein sind, ist vielleicht ein guter Zeitpunkt. Sie hatten mir bei unserem Kennenlernen ja ganz offen gesagt, was geschehen ist. Es bleibt nur irgendwie nebulös, verstehen Sie?“

Elsa schwieg. Stille breitete sich zwischen ihnen aus, nur noch das sonore Motorengeräusch auf der geraden Strecke war zu hören. Die Landschaft mit ihren dichten Kiefernwäldern zog an ihnen vorüber, und im Rückspiegel konnte Elsa die Sonne sehen, ein weißer Ball am diesigen Morgenhimmel.

„Sie war fünf, als er verschwand“, sagte sie schließlich doch und blickte dabei stur auf die Straße. „Sie kann sich noch ein wenig an ihn erinnern, an bestimmte Momente …“ Sie rieb sich mit dem Finger über den Nasenrücken.

„Und man hat nie eine Spur von ihm gefunden?“

„Nicht eine. Deshalb haben sie ihn auch für tot erklärt.“

„Sie sind eine sehr starke Frau“, sagte Astrid, nachdem sie Elsa ein paar Sekunden lang gemustert hatte.

Elsa kommentierte das mit einem Anflug von einem Lächeln.

„Mich würde das wahnsinnig machen“, sagte Astrid kopfschüttelnd. „Nicht zu wissen, was geschehen ist.“

„Das und die Tatsache, dass einen alle für verrückt halten, wenn man den Vermutungen der Polizei nicht glaubt“, sagte Elsa. „Ich weiß nicht mal genau, ob Lisa daran glaubt. Meine Eltern und meine Schwester jedenfalls sind nicht meiner Meinung. Nicht mehr.“

„Es gab nie wieder ein Lebenszeichen?“, hakte Astrid vorsichtig nach.

„Nur eine SMS von seinem Handy. Völlig absurd.“

„Was hat er …“

„Dass er eine andere Frau kennengelernt hätte und nicht mehr bei mir bleiben könne. Aber jetzt würde ich doch gern das Thema wechseln.“

„Wozu braucht man dieses Ding?“, fragte Astrid, um das Thema zu wechseln, und hielt das Röhrchen in die Höhe, das durch den Bus gerollt war.

„Das macht man um den Finger und slided damit über die Saiten.“

„Man macht was?“

„Sliden.“

„Was heißt das?“

„Gleiten.“

„Warum sagt man dann nicht gleiten?“

„Weil es ein Fachausdruck ist.“

„Wie Lohnsteuerjahresausgleich?“

„Fast, ja.“

„Warum nur fast?“

„Weil es eingedeutscht ist.“

„Richtig.“

„So wie Maniküre.“

„Aja. Gehen Sie dahin?“

„Wohin?“

„Zur Maniküre.“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Ist ein Fremdwort für mich.“ Sie sahen sich an und lächelten.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Elsa das Gefühl, neben einer guten Freundin zu sitzen, der sie vielleicht mehr sagen könnte, als sie allen anderen bis jetzt gesagt hatte.

Dieses Kapitel in ihrem Leben, der größte und traurigste Einschnitt von allen, es war noch nicht zu Ende. Doch mit dieser Auffassung stand sie allein da. Und jeder Gedanke, den sie auf die Frage verwendete, wohin ihr Mann verschwunden war und warum, blieb tief in ihrem Innern verschlossen.

Sie glitten schweigend dahin, die weißen Fahrbahnmarkierungen einsammelnd. Passierten Kiefernwälder, die Brücke über die Elbe, weite Felder. Astrid schlief ein und erwachte erst, als sie gerade die Abfahrt auf die A7 genommen hatten.

„Wo sind wir?“, fragte sie und rieb sich die Augen.

„Gleich kommt Großburgwedel. Ich glaub, ich hab meine Zahnbürste vergessen.“

„Bitte?“, fragte Astrid erstaunt.

„Ich hab meine Zahnbürste vergessen“, wiederholte Elsa.

„Was für ein Drama.“

„Ja, ich weiß. Gibt es einen Supermarkt in Uplengen?“

„Ich vermute schon. Uplengen ist eine Gemeinde, die aus neunzehn Orten besteht. Da wird der ein oder andere Laden dabei sein, der Artikel für Mundhygiene führt.“

„Oh, gut. Tut mir leid.“

„Frau van Graaf, Sie müssen sich nur entschuldigen, wenn Sie berufliche Dinge vergessen.“

„Das passiert mir komischerweise nicht“, erwiderte Elsa.

„Das tröstet mich. Auch weil Sie es bei Ihrem Einstellungsgespräch vergessen hätten zu erwähnen.“

„Viele gehen in solchen Gesprächen nicht gerade offensiv mit ihren Schwächen um, kann ich mir vorstellen.“

„Wie wahr. Muss ich sonst noch irgendwas wissen über Sie und Ihre etwaigen Schwächen?“

„Ist das jetzt ein nachträgliches Einstellungsgespräch?“

„Nein.“

„Ich liebe Sessel.“

„Sessel?“

„Ja.“

„Ich wüsste nicht, wie das Ihre berufliche Laufbahn beeinflussen könnte.“

„Da haben Sie recht.“

„Möchten Sie einen Sessel in Ihrem Büro?“

„Nein, ich lese gern in Sesseln. Bei der Arbeit kann ich ja nicht lesen.“

„Oh, ehrlich gesagt hoffe ich, dass Sie auch bei der Arbeit lesen. Sie werden viel lesen müssen, Frau van Graaf.“

„Ich weiß, aber ich meinte Romane.“

„Verstehe. Wenn Sie das während der Arbeitszeit täten, hätten Sie es bei Ihrem Einstellungsgespräch natürlich erwähnen müssen.“

Elsa blickte in den Rückspiegel und wechselte scheinbar grundlos auf die ganz linke Spur, ehe ein Wagen mit Anhänger, der eben noch neben ihnen auf der rechten Spur gefahren war, ohne zu blinken nach links ausscherte.

„Der wäre direkt in uns hineingefahren“, beschwerte sich Astrid Stegmeier erschrocken.

„Ja, ich weiß. Hab’s kommen sehen.“

„Wie können Sie das kommen sehen, wenn diese Person nicht blinkt?“, fragte Astrid und warf dem Fahrer einen verärgerten Blick zu.

„Manchmal spüre ich einfach, dass die Leute die Spur wechseln wollen.“

„Sie haben hellseherische Fähigkeiten? Das hätten Sie auch erwähnen sollen, dann hätte ich Sie auf der Stelle eingestellt.“

Elsa lächelte zwar, aber gleichzeitig musste sie an ihren Mann denken und dass sie das, was damals passiert war, nicht hatte vorhersehen können. Wie gern wäre sie dazu fähig gewesen, wie gern hätte sie auch das kommen sehen. Sie hätte es verhindern, hätte ihn warnen können. Denn eines stand für sie fest: Er hatte sie nicht verlassen. Jemand oder etwas, ein Umstand, hatte ihn von ihr fortgerissen. Aber, und damit holte sie sich wieder ins Hier und Jetzt zurück, sie konnte nicht in der Vergangenheit verweilen. Sie musste ihr Leben leben, für sich und für ihre Tochter. Und doch hatte sie sich geschworen, jedem noch so kleinen Hinweis, der sich ergab, nachzugehen. Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, hielt sie daran fest. Und wieder einmal ergriff eine altbekannte Angst Besitz von ihr. Die Angst, dass sie für einen solchen Hinweis alles aufgeben würde. Auch wenn sie niemanden im Stich lassen wollte. Aber niemals würde sie ihn im Stich lassen. Und sie war ausdauernd und zäh.

Ja, sie war sehr zäh.

DREI

Es war Herbst, Blätter segelten und schwirrten durch die Luft, landeten auf der Fahrbahn und legten sich auf die trockenen Felder.

„Wir sind alle wie bunte Blätter an einem Baum“, hatte er immer gesagt, wenn sie darüber sprachen, wie sie sich gefunden hatten. „Wenn wir im Herbstwind durcheinanderwirbeln und zu Boden sinken, weiß niemand, zu welchem Blatt wir uns legen.“

„Hast du das aus einem Song?“, hatte sie leicht belustigt gefragt, als sie den Satz zum ersten Mal von ihm hörte. Aber er versicherte ihr, dass diese Zeilen von ihm stammten.

Diese Szene kam ihr so lange her vor, so weit weg, doch der Schmerz, den sie bei der Erinnerung daran empfand, war so heftig und nah, dass es gestern gewesen sein könnte.

Wie im Halbschlaf las sie das Schild zur Abfahrt, die sie nehmen musste, und lenkte den Camper von der A28 auf die Landstraße in Richtung Remels, der größten Ortschaft von Uplengen. Sie tätschelte ihre Wangen und schüttelte damit alle Gedanken ab, die ihr gerade durch den Kopf gegangen waren. Sie musste sich auf die Straße konzentrieren. Nachdem sie auf der Autobahn einige große Ausstellungsflächen von Baumschulen passiert hatten, führte die Landstraße nun durch eine flache Landschaft, geprägt von rechteckigen Feldern, die von Bäumen und bewachsenen Wällen gesäumt waren. Hin und wieder konnte man in der Ferne kleine Wäldchen oder Ausläufer davon erkennen, und immer wieder tauchten neben den Bauernhöfen entlang der Straße Autowerkstätten auf.

„Das ist etwas anders, als ich es mir vorgestellt hatte“, sagte Astrid Stegmeier, nachdem sie eine Weile aus dem Fenster geschaut hatte. „Ich kenne Schleswig-Holstein und Nordfriesland. Hier ist es nicht so weitläufig, dafür aber kompakter und irgendwie gemütlicher.“

„Mmhmh“, brummte Elsa zustimmend und ließ ihren Blick schweifen. Auf der rechten Seite tauchte parallel zur Straße ein Kanal auf. „Ich mag es.“

Wenn Elsa Wasser sah, wurde sie immer irgendwie glücklich. Das schönste Wasser von allen war für sie aber das Wasser eines Flusses. Sie konnte sich nichts Spannenderes vorstellen. Was Flüsse schon alles gesehen hatten, welche Geheimnisse sie mit sich trugen. Und Flusswasser war immer in Bewegung, hatte immer ein Ziel. Das imponierte ihr.

„Da ist es schon“, sagte Astrid nach ein paar Kilometern und deutete auf das Ortsschild von Remels. „Und sehen Sie, es lädt seine Besucher zum Shoppen ein! Na, wenn Sie hier keine Zahnbürste finden …“

In der Tat tauchten nun rechts und links der Hauptstraße vereinzelt Geschäfte, Restaurants und Supermärkte auf. Hinter einer mächtigen Eiche stand auf einem kleinen Hügel die imposante Kirche des Ortes.

„Wirklich hübsch hier“, sagte Elsa und entdeckte gleich darauf ihr Hotel, das in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche lag. „Und da ist der Uplengener Hof.“

Sie lenkte den Bus in die kleine Straße und auf den Parkplatz am Hotel.

„Vielen Dank, Frau van Graaf. Das war eine schöne Fahrt“, sagte Astrid Stegmeier und zupfte ihre Jacke zurecht.

„War mir eine Freude, Frau Stegmeier“, entgegnete Elsa und erntete einen skeptischen Blick, so als würde Astrid die Bemerkung für ein wenig sarkastisch halten. Elsa lächelte strahlend und fuhr sich unschuldig mit der Hand über einen ihrer Zöpfe.

Sie stiegen aus und konnten schon vom Parkplatz aus durch die beiden Seitenfenster in das Hotelrestaurant blicken. Im Hinterzimmer schien man bereits auf sie zu warten. Eine Delegation von fünf Frauen saß dort und beäugte sie neugierig.

Elsa und Astrid gingen zum Haupteingang und betraten das Gasthaus, in dem drei Tische belegt waren. Von hinten links kam eine groß gewachsene dunkelhaarige Frau auf sie zu, gefolgt von vier weiteren Damen.

„Frau Stegmeier?“, fragte sie höflich.

„Ja?“

„Herzlich willkommen in Uplengen.“

Sie lächelte und schüttelte Astrids Hand. „Mein Name ist Roswita Dirks.“

„Wunderbar, darf ich Ihnen Frau van Graaf vorstellen?“, Astrid trat einen Schritt zur Seite. „Sie ist meine persönliche Assistentin, die Chefsekretärin des Präsidiums, und seit knapp vier Wochen bei uns. Daher ist sie heute dabei, um mit eigenen Augen zu sehen, was Sie in Ihren Gemeinden so alles auf die Beine stellen können.“