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Edgar Wallace

Die drei von Córdoba

Edgar Wallace

Die drei von Córdoba

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Ravi Ravendro
1. Auflage, ISBN 978-3-954183-30-2

www.null-papier.de/wallace

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

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1

An ei­nem der Mar­mor­ti­sche des ›Café del Gran Ca­pitán‹ in Cór­do­ba saß ein Herr, der viel Zeit zu ha­ben schi­en. Er war von großer Ge­stalt und hat­te einen ge­pfleg­ten Bart. Die Bli­cke sei­ner erns­ten grau­en Au­gen schweif­ten schein­bar ab­sichts­los die Stra­ße ent­lang. Ab und zu nipp­te er an sei­nem Kaf­fee und trom­mel­te mit sei­nen schlan­ken wei­ßen Hän­den einen Wir­bel auf der Tisch­plat­te.

Er trug einen schwar­zen An­zug; sein gleich­falls schwar­zer Man­tel hat­te einen Samt­kra­gen. Die Kra­wat­te war von schwe­rer schwar­zer Sei­de, die gut­ge­schnit­te­nen Bein­klei­der wur­den durch Le­der­ste­ge un­ter den spitzaus­lau­fen­den Schu­hen ge­strafft, wie es in ge­wis­sen Krei­sen der Ca­bal­le­ros be­liebt war.

Er hät­te Spa­nier sein kön­nen, denn graue Au­gen traf man dort un­ten häu­fig an. Die aus­ge­las­se­nen Ir­län­der, die da­mals mit den Be­sat­zungs­trup­pen Wel­ling­tons ins Land ge­kom­men wa­ren, hat­ten sich ja gar nicht so sel­ten mit den feu­ri­gen Mäd­chen von An­da­lu­si­en ver­hei­ra­tet.

Er sprach ein ta­del­lo­ses Spa­nisch, und auch die Art, wie er den weh­lei­dig fle­hen­den Bett­ler be­han­del­te, der auf ihn zu­hum­pel­te und ihn mit aus­ge­streck­ten ver­krüp­pel­ten Fin­gern um ein Al­mo­sen bat, zeug­te von sei­ner süd­län­di­schen Ab­stam­mung.

»Im Na­men der Jung­frau und der Hei­li­gen und des all­mäch­ti­gen Got­tes fle­he ich Sie an, Señor, ge­ben Sie mir ein paar Cén­ti­mos.«

Der Herr an dem Tisch rich­te­te sei­ne Bli­cke auf die aus­ge­streck­te Hand.

»Gott wird dir hel­fen«, sag­te er dann in dem Küs­ten­ara­bisch, das in Spa­nisch-Marok­ko ge­spro­chen wird.

»Wenn mir der Him­mel ein Le­ben von hun­dert Jah­ren schen­ken soll­te«, er­wi­der­te der Bett­ler mit mo­no­to­ner Stim­me, »so will ich doch nie­mals auf­hö­ren, für Ihr Wohl zu be­ten.«

Der Herr in dem Man­tel be­trach­te­te jetzt den Al­ten.

Der Bett­ler war ein Mann von mitt­ler­er Grö­ße und hat­te scharf­ge­schnit­te­ne Ge­sichts­zü­ge. Sein Kopf war durch einen großen Ver­band ent­stellt, der auch das eine Auge be­deck­te. Sei­ne Füße wa­ren un­för­mi­ge Klum­pen, mit vie­len Ban­da­gen um­wi­ckelt. In sei­nen schmut­zi­gen Hän­den hielt er einen Stock.

»Señor«, wim­mer­te er, »ein paar Cén­ti­mos kön­nen mich von den schreck­li­chen Hun­ger­qua­len be­frei­en. Sie wer­den die­se Nacht kei­nen Schlaf fin­den, wenn Sie an den ar­men, kran­ken Greis den­ken, der sich hung­rig auf sei­nem La­ger wälzt.«

»Geh in Frie­den«, sag­te der vor­neh­me Herr ge­dul­dig.

»O Er­ha­be­ner«, seufz­te der Bett­ler wie­der, »bei dem Knäb­lein, das auf dem Schoß der Mut­ter ruh­te« – bei die­sen Wor­ten be­kreu­zig­te er sich –, »bei al­len Hei­li­gen und dem wun­der­tä­ti­gen Blut der Mär­ty­rer, ich fle­he Sie an, las­sen Sie mich nicht am Wege ver­hun­gern, wenn ein paar Cén­ti­mos, die Ih­nen nicht so­viel be­deu­ten wie der Rand un­ter dem Fin­ger­na­gel, mir den Ma­gen mit Es­sen fül­len könn­ten.«

Der Herr an dem Mar­mor­tisch ließ sich nicht er­schüt­tern; ru­hig trank er sei­nen Kaf­fee aus.

»Geh mit Gott«, sag­te er nur.

Aber der Alte zö­ger­te im­mer noch. Hilf­los sah er die Stra­ße auf und ab, dann blick­te er in den dunklen, küh­len Raum des Cafés. Am an­de­ren Ende saß ein Kell­ner nach­läs­sig an ei­nem Tisch und las den ›He­rol­do‹.

Der Bett­ler beug­te sich vor und streck­te lang­sam die Hand aus, um ei­ni­ge Ku­chenkrü­mel vom nächs­ten Tisch auf­zu­le­sen.

»Kennst du Dok­tor Ess­ley?« frag­te er plötz­lich in per­fek­tem Eng­lisch.

Der an­de­re schau­te nach­denk­lich auf.

»Nein, ich ken­ne ihn nicht. Wa­rum?« ent­geg­ne­te er in der glei­chen Spra­che.

»Du soll­test sei­ne Be­kannt­schaft ma­chen, er ist in­ter­essant.«

Wei­ter sag­te der Bett­ler nichts; er dreh­te sich um und schlurf­te lang­sam da­von.

Der vor­neh­me Herr be­ob­ach­te­te neu­gie­rig, wie er sich dem nächs­ten Café zu­wand­te. Dann klatsch­te er laut in die Hän­de. Der Kell­ner, der in­zwi­schen über sei­ner Zei­tung ein­ge­nickt war, fuhr in die Höhe und nahm die Zah­lung und das üb­li­che Trink­geld ent­ge­gen.

Ob­gleich sich der Him­mel wol­ken­los zeig­te und die Son­ne schi­en, war es in den blau­grau­en Schat­ten der Stra­ße noch emp­find­lich kalt in die­sen ers­ten Vor­früh­lings­ta­gen.

Der Herr er­hob sich vom Tisch, er­griff einen Zip­fel sei­nes fal­ti­gen Man­tels und warf ihn sich leicht über die Schul­ter. Dann ging er lang­sam hin­ter dem Bett­ler her.

Sein Weg führ­te ihn durch wink­li­ge Stra­ßen, die so eng wa­ren, daß die Wa­gen­na­ben tie­fe Rin­nen in die Mau­ern der Häu­ser ge­gra­ben hat­ten, wenn sich zwei Fuhr­wer­ke be­geg­net wa­ren.

In der Cal­le Pa­raí­so hol­te er den al­ten Mann ein; er ging an ihm vor­über und bog in eine der Gas­sen ein, die zu der San-Fer­n­an­do-Kir­che führ­ten. Ge­mäch­lich ging er dort hin­un­ter; dann wand­te er sich der Car­re­ra del Puen­te zu und ge­lang­te bald in den Schat­ten der Ka­the­dra­le, die ur­sprüng­lich als Mo­schee er­rich­tet wor­den war.

Un­ent­schlos­sen blieb er vor den of­fe­nen To­ren zu den Hö­fen ste­hen; er schi­en im Zwei­fel zu sein, wo­hin er sich wen­den soll­te. Schließ­lich dreh­te er sich um und ging zur Cala­hor­rabrücke hin­un­ter, die den Fluß mit ih­ren sech­zehn Bo­gen schnur­ge­ra­de über­spann­te. Sie stamm­te noch aus der Zeit der Mau­ren und war von die­sen er­baut. Als er die Mit­te der Brücke er­reicht hat­te, lehn­te er sich über das Ge­län­der und schau­te läs­sig auf die an­ge­schwol­le­nen gel­ben Flu­ten des Gua­dal­qui­vir hin­ab.

Heim­lich aber be­ob­ach­te­te er, wie der Bett­ler auf ihn zu­hum­pel­te. Es dau­er­te sehr lan­ge, denn der Alte kam nur lang­sam von der Stel­le. End­lich stand er an sei­ner Sei­te und hielt ihm die Hand ent­ge­gen. Sei­ne Hal­tung war die ei­nes ge­wöhn­li­chen Bett­lers, aber sei­ne Spra­che die ei­nes ge­bil­de­ten Eng­län­ders.

»Man­fred«, sag­te er ernst, »du mußt die­sen Ess­ley se­hen. Ich bit­te dich aus ei­nem ganz be­stimm­ten Grund dar­um.«

»Wer ist denn das?« Der Bett­ler lä­chel­te.

»Ich muß mich zum größ­ten Teil auf mein Ge­dächt­nis ver­las­sen. Die Biblio­thek in mei­ner arm­se­li­gen Woh­nung ist et­was be­schränkt. Aber ich habe die dunkle Erin­ne­rung, daß er Arzt in ei­ner Vor­stadt Lon­d­ons ist. Scheint ein klu­ger Kopf zu sein.«

»Und was macht er hier?«

Gon­sa­lez, der sich hin­ter der Mas­ke die­ses un­schein­ba­ren Bett­lers ver­barg, lä­chel­te wie­der.

»Hier in Cór­do­ba lebt ein Dok­tor Ca­ja­los. In die vor­neh­me Um­ge­bung des Pa­seo del Gran Ca­pitán, wo du dei­ne lu­xu­ri­öse Woh­nung hast, dringt na­tür­lich kein Gerücht aus der Un­ter­welt von Cór­do­ba. Hier«, – er zeig­te auf die bau­fäl­li­gen Dä­cher und die schmut­zi­gen, schie­fen Häu­ser am an­de­ren Ende der Brücke – »im Cam­po de la Ver­dad, wo die Leu­te mit zehn Pe­se­ten die Wo­che zu­frie­den le­ben kön­nen, kennt man den Dok­tor Ca­ja­los. Er wird in al­len Häu­sern und Fa­mi­li­en ver­ehrt – ein be­wun­de­rungs­wür­di­ger Mensch, der mit sei­ner Kunst Wun­der voll­bringt. Er macht die Blin­den se­hend, ent­larvt durch sei­ne Macht die Schul­di­gen, be­rei­tet un­fehl­ba­re Lie­bes­trän­ke, be­spricht War­zen und Ge­schwü­re.«

»Selbst in der Ge­gend des Pa­seo del Gran Ca­pitán wird er ge­ach­tet.« Man­fred zwin­ker­te mit den Au­gen. »Ich habe ihn selbst auf­ge­sucht und um Rat ge­fragt.«

Der Bett­ler war ein we­nig er­staunt.

»Du bist tüch­ti­ger, als ich dach­te«, sag­te er be­wun­dernd. »Wann warst du bei ihm?«

Man­fred lach­te lei­se.

»Vor ei­ni­gen Wo­chen stand in ei­ner be­stimm­ten Nacht ein Bett­ler vor der Haus­tür des Arz­tes auf der Stra­ße und war­te­te ge­dul­dig auf das Wie­de­rer­schei­nen ei­nes ge­heim­nis­vol­len Be­su­chers, der sich bis zur Na­sen­spit­ze in sei­nen Man­tel ein­gehüllt hat­te.«

»Ja, ich kann mich be­sin­nen.« Gon­sa­lez nick­te. »Es war ein Frem­der aus Ron­da, und ich war neu­gie­rig. Hast du be­ob­ach­tet, daß ich ihm folg­te?«

»Ich sah dich von der Sei­te«, ent­geg­ne­te Man­fred ernst.

»Warst denn du der Frem­de?« frag­te Gon­sa­lez, aufs höchs­te über­rascht.

»Ja. Ich ver­ließ da­mals Cór­do­ba, um nach Cór­do­ba zu­rück­zu­kom­men.«

Gon­sa­lez schwieg einen Au­gen­blick.

»Ich gebe mich ge­schla­gen«, sag­te er dann. »Du kennst also Dok­tor Ca­ja­los. Be­greifst du nun, warum ein ge­wöhn­li­cher eng­li­scher Arzt nach Cór­do­ba kommt? Ess­ley ist auf dem schnells­ten Wege und ohne Auf­ent­halt mit dem Al­ge­ci­ras-Ex­preß ge­reist. Mor­gen früh bei Ta­ge­s­an­bruch wird er Cór­do­ba auf die­sel­be ei­li­ge Wei­se wie­der ver­las­sen. Er ist hier­her­ge­kom­men, um Dok­tor Ca­ja­los zu kon­sul­tie­ren.«

»Poic­cart ist hier; er in­ter­es­siert sich auch für die­sen Ess­ley – und zwar so sehr, daß er sich, den Rei­se­füh­rer in der Hand, fried­lich von Frem­den­füh­rern um­her­füh­ren läßt, die ihm ja doch nur un­ge­naue Aus­kunft ge­ben kön­nen.«

Man­fred strich sei­nen klei­nen Bart, und sei­ne klu­gen Au­gen hat­ten wie­der den­sel­ben erns­ten, nach­denk­li­chen Aus­druck wie vor­her, als er Gon­sa­lez von sei­nem Platz im ›Café del Gran Ca­pitán‹ aus nach­ge­se­hen hat­te.

»Ohne Poic­cart wür­de das Le­ben lang­wei­lig sein«, sag­te er.

»Ja, da hast du recht – o Señor, mein gan­zes Le­ben soll Ihrem Lobe ge­weiht sein, und mei­ne Ge­be­te für Sie sol­len wie Weih­rauch­wol­ken zum Thro­ne des All­mäch­ti­gen em­por­stei­gen.«

Er ver­fiel plötz­lich wie­der in sei­nen jam­mern­den Ton­fall, denn ein Po­li­zist der Guar­dia Mu­ni­ci­pal nä­her­te sich ih­nen und warf einen miß­traui­schen Blick auf den Bett­ler, der mit aus­ge­streck­ter Hand er­war­tungs­voll da­stand.

Man­fred schüt­tel­te den Kopf, als der Po­li­zist her­an­kam.

»Geh in Frie­den.«

»Du Hund«, rief der Po­li­zist und pack­te den Bett­ler mit rau­her Hand an der Schul­ter, »du Sohn ei­nes Die­bes, mach, daß du fort­kommst, da­mit dei­ne übel­rie­chen­de Ge­gen­wart nicht die Nase die­ses ho­hen Herrn be­lei­digt!«

Er stemm­te die Arme in die Sei­te und sah dem da­von­hin­ken­den Krüp­pel nach, dann wand­te er sich an Man­fred.

»Wenn ich die­sen Lum­pen nur eher ge­se­hen hät­te, Señor, hät­te ich Sie schon längst von ihm be­freit.«

»Es ist nicht der Rede wert«, er­wi­der­te Man­fred in her­kömm­li­cher Wei­se.

Der Po­li­zist strich sich mit der einen Hand den klei­nen Schnurr­bart.

»Ich habe es nicht leicht, die rei­chen und frei­ge­bi­gen Ca­bal­le­ros vor die­sen Ker­len zu be­wah­ren …«

Man­fred ließ ein Geld­stück in die Hand des Po­li­zis­ten glei­ten.

Der Mann ging bis zum Ende der Brücke ne­ben ihm her. Sie blie­ben dann plau­dernd an dem Haupt­por­tal der Ka­the­dra­le ste­hen.

»Sie sind wohl nicht aus Cór­do­ba, Señor?«

»Aus Mala­ga«, er­wi­der­te Man­fred ohne Zö­gern.

»Mei­ne Schwes­ter war mit ei­nem Fi­scher in Mala­ga ver­hei­ra­tet«, er­zähl­te der Po­li­zist. »Ihr Mann ist er­trun­ken. – Sind Sie schon ein­mal in Gi­bral­tar ge­we­sen?«

Man­fred nick­te. Er blick­te in­ter­es­siert auf eine Ge­sell­schaft von Tou­ris­ten, de­nen die Pracht der Pu­er­ta del Perdón ge­zeigt wur­de.

Ei­ner der Frem­den lös­te sich von der Grup­pe der üb­ri­gen und kam auf sie zu. Er war ein Mann von mitt­ler­er Grö­ße und kräf­ti­ger, un­ter­setz­ter Ge­stalt. In sei­nem We­sen lag eine son­der­ba­re Zu­rück­hal­tung, und in sei­nem Ge­sicht drück­te sich eine ge­wis­se me­lan­cho­li­sche Ruhe aus.

»Kön­nen Sie mir den Weg zum Pa­seo del Gran Ca­pitán sa­gen?« frag­te er in schlech­tem Spa­nisch.

»Ich gehe selbst dort­hin«, er­klär­te Man­fred höf­lich. »Wenn Sie mich be­glei­ten wol­len …«

»Ich wäre Ih­nen zu großem Dank ver­pflich­tet«, ent­geg­ne­te der an­de­re.

Man­fred dank­te dem Po­li­zis­ten noch­mals, dann gin­gen die bei­den Män­ner da­von.

Sie spra­chen über die ver­schie­dens­ten Din­ge, über das Wet­ter und den schö­nen An­blick der Ka­the­dra­le.

»Du mußt mit­kom­men und Ess­ley se­hen«, sag­te der Tou­rist plötz­lich un­ver­mit­telt in per­fek­tem Spa­nisch.

»Er­zäh­le mir doch et­was von ihm«, er­wi­der­te Man­fred. »Im Ver­trau­en ge­sagt – du hast mei­ne Neu­gier­de ge­weckt.«

»Es ist eine wich­ti­ge An­ge­le­gen­heit«, ent­geg­ne­te Poic­cart ernst. »Ess­ley ist Arzt in ei­ner Vor­stadt von Lon­don. Ich habe ihn seit Mo­na­ten be­ob­ach­tet. Er hat nur eine klei­ne, recht un­be­deu­ten­de Pra­xis; au­gen­schein­lich ist das nicht sein Haupt­be­ruf. Au­ßer­dem hat er eine merk­wür­di­ge Ver­gan­gen­heit. Er hat in Lon­don stu­diert und ist gleich nach dem Ex­amen mit ei­nem ge­wis­sen Hen­ley nach Aus­tra­li­en ge­gan­gen. Hen­ley war ganz her­un­ter­ge­kom­men und im Ex­amen durch­ge­fal­len, aber die bei­den wa­ren gute Freun­de. Das er­klärt wahr­schein­lich auch, daß sie zu­sam­men aus­wan­der­ten, um ihr Glück in der Frem­de zu su­chen. Ess­ley stand völ­lig al­lein, und Hen­ley hat­te nur einen rei­chen On­kel ir­gend­wo in Ka­na­da, den er aber nie­mals ge­se­hen hat­te. Sie ka­men in Mel­bour­ne an und gin­gen ins In­ne­re des Lan­des. Sie woll­ten in den neu­en Gold­fel­dern ihr Heil ver­su­chen, die da­mals ge­ra­de er­schlos­sen wur­den. Drei Mo­na­te spä­ter kam Ess­ley al­lein dort an – sein Freund war un­ter­wegs ge­stor­ben!

Er scheint in den nächs­ten drei oder vier Jah­ren kei­ne Pra­xis be­gon­nen zu ha­ben. Ich habe sei­ne Wan­de­run­gen von ei­nem Gold­su­cher­la­ger zum an­de­ren ver­fol­gen kön­nen. Er ar­bei­te­te ein we­nig und ver­spiel­te dann wie­der al­les. Er wur­de all­ge­mein ›Dok­tor S.‹ ge­nannt – wahr­schein­lich eine Ab­kür­zung für ›Ess­ley‹. Erst als er nach Westaus­tra­li­en kam, mach­te er den Ver­such, sich als Arzt nie­der­zu­las­sen. Sei­ne Pra­xis war nicht ge­ra­de groß, aber sie brach­te ihm doch et­was ein. Nach ei­ni­ger Zeit ver­schwand er je­doch aus Cool­gar­die, und erst acht Jah­re spä­ter tauch­te er in Lon­don wie­der auf.«

In­zwi­schen hat­ten sie den Pa­seo del Gran Ca­pi­tan er­reicht. Die Stra­ßen wa­ren jetzt be­leb­ter.

»Ich habe ein paar Zim­mer hier ge­mie­tet«, sag­te Man­fred. »Komm mit und trink eine Tas­se Tee bei mir.«

Sei­ne Woh­nung lag über ei­nem Ju­we­lier­la­den in der Cal­le Mo­rería. Die Räu­me wa­ren schön aus­ge­stat­tet.

»Be­son­de­ren Wert habe ich auf Be­quem­lich­keit ge­legt«, er­klär­te Man­fred, als er auf­schloß. Gleich dar­auf setz­te er einen sil­ber­nen Kes­sel auf eine elek­tri­sche Koch­plat­te.

»Der Tisch ist ja für zwei ge­deckt?« frag­te Poic­cart er­staunt.

»Ich er­war­te Be­such«, er­wi­der­te Man­fred lä­chelnd. »Manch­mal wird un­se­rem lie­ben Leon das Bett­ler­le­ben läs­tig, dann kommt er als re­prä­sen­ta­bles Mit­glied der Ge­sell­schaft mit der Bahn in Cór­do­ba an, um den Lu­xus des Le­bens wie­der ein­mal zu ge­nie­ßen – und mir sei­ne Ge­schich­ten zu er­zäh­len. Aber ich möch­te gern noch mehr von Ess­ley hö­ren, lie­ber Poic­cart, ich in­ter­es­sie­re mich sehr für ihn.«

Der ›Tou­rist‹ setz­te sich in einen tie­fen und be­que­men Ses­sel.

»Wo war ich doch gleich ste­hen­ge­blie­ben? Ach ja – Dok­tor Ess­ley ver­schwand aus Cool­gar­die und tauch­te dann acht Jah­re spä­ter in Lon­don wie­der auf.«

»Un­ter au­ßer­ge­wöhn­li­chen Um­stän­den?«

»Nein, das ge­ra­de nicht. Er wur­de da­mals von ei­nem neu­en Ge­wal­ti­gen der Lon­do­ner Ge­schäfts­welt lan­ciert.«

»Etwa von Oberst Black?« frag­te Man­fred stirn­run­zelnd.

»Ja. Die­sem Mann ver­dankt Ess­ley sei­ne Pra­xis. Er er­reg­te zum ers­ten­mal mei­ne Auf­merk­sam­keit –«

Es klopf­te an der Tür, und Man­fred hob war­nend den Fin­ger. Er ging hin und öff­ne­te. Der Por­tier stand drau­ßen, die Müt­ze in der Hand. Hin­ter ihm, ein we­nig wei­ter un­ten auf der Trep­pe, war ein Frem­der zu se­hen – an­schei­nend ein Eng­län­der.

»Señor, ein Herr möch­te Sie spre­chen.«

»Ich ste­he zu Ihren Diens­ten«, ant­wor­te­te Man­fred, in­dem er den Be­su­cher auf spa­nisch an­re­de­te.

»Ich kann lei­der nicht gut Spa­nisch«, sag­te der Mann auf der Trep­pe.

»Wol­len Sie bit­te nä­her tre­ten?«

Man­fred sprach nun eng­lisch.

Der Frem­de stieg lang­sam her­auf.

Er war etwa fünf­zig Jah­re alt, hat­te lan­ges grau­es Haar und bu­schi­ge Au­gen­brau­en. Sein stark her­vor­tre­ten­der Un­ter­kie­fer mach­te sein Ge­sicht nicht ge­ra­de ein­neh­mend. Er trug einen schwar­zen An­zug und hielt einen breit­krem­pi­gen, wei­chen Filz­hut in der be­hand­schuh­ten Hand.

Als er ein­ge­tre­ten war, blick­te er for­schend von ei­nem zum an­dern.

»Mein Name ist Ess­ley«, stell­te er sich dann vor.

Er zö­ger­te et­was bei dem dop­pel­ten S, so daß das Wort zi­schend und hart klang.

»Ess­ley«, sag­te er noch ein­mal, als ob er eine be­son­de­re Ge­nug­tu­ung bei der Wie­der­ho­lung sei­nes Na­mens emp­fän­de.

Man­fred wies mit der Hand auf einen Stuhl, aber der Frem­de schüt­tel­te den Kopf.

»Ich möch­te mich nicht set­zen«, sag­te er schroff. »Wenn ich ge­schäft­lich ver­hand­le, ste­he ich lie­ber.«

Er sah arg­wöh­nisch auf Poic­cart.

»Ich möch­te Sie in ei­ner pri­va­ten An­ge­le­gen­heit spre­chen«, sag­te er mit ei­ner ge­wis­sen Be­to­nung.

»Mein Freund ge­nießt mein vol­les Ver­trau­en«, ent­geg­ne­te Man­fred.

Ess­ley nick­te un­wil­lig.

»Ich habe ge­hört, daß Sie Kri­mi­nal­wis­sen­schaft­ler sind und auch ein­ge­hen­de Kennt­nis­se über Spa­ni­en be­sit­zen.«

Man­fred zuck­te die Schul­tern. In der Rol­le, die er au­gen­blick­lich spiel­te, ge­noß er ei­ni­ges An­se­hen als wis­sen­schaft­li­cher Schrift­stel­ler. Er hat­te un­ter dem Na­men ›de la Mon­te‹ ein Buch ›Mo­der­nes Ver­bre­cher­tum‹ ver­öf­fent­licht.

»Als ich dies er­fuhr, reis­te ich nach Cór­do­ba«, er­klär­te Dr. Ess­ley. »Ich habe hier zwar noch an­de­re Din­ge zu er­le­di­gen, aber die sind nicht so wich­tig.«

Er sah sich jetzt doch nach ei­nem Ses­sel um. Man­fred bot ihm einen an, und sein Be­su­cher nahm Platz, in­dem er sich mit dem Rücken zum Fens­ter setz­te.

»Mr. de la Mon­te, Sie be­sit­zen eine um­fas­sen­de Kennt­nis des Ver­bre­chens.«

Der Dok­tor lehn­te sich vor und fal­te­te sei­ne Hän­de über dem Knie.

»Ich habe ein Buch dar­über ge­schrie­ben, aber das be­sagt noch nicht un­be­dingt, daß ich große Kennt­nis­se be­sit­zen muß«, er­wi­der­te Man­fred.

»Das habe ich be­fürch­tet«, ent­geg­ne­te der an­de­re barsch. »Ich war auch be­sorgt, daß Sie viel­leicht nicht Eng­lisch sprä­chen. Nun möch­te ich eine of­fe­ne Fra­ge an Sie rich­ten, und ich er­war­te von Ih­nen eine eben­so of­fe­ne Ant­wort.«

»So­weit ich dazu im­stan­de bin, will ich sie Ih­nen ger­ne ge­ben.«

Das Ge­sicht des Arz­tes zuck­te ner­vös.

»Ha­ben Sie je­mals et­was von den ›Vier Ge­rech­ten‹ ge­hört?«

Es trat eine kur­ze Pau­se ein.

»Ja, ich habe von ih­nen ge­hört.«

»Sind sie in Spa­ni­en?« frag­te der Dok­tor mit schril­ler Stim­me.

»Das weiß ich nicht ge­nau. Wa­rum fra­gen Sie?«

»Weil ich …« Der Arzt zö­ger­te. »Nun, ich in­ter­es­sie­re mich für die Leu­te. Man sagt, daß sie Ver­bre­chen auf­spü­ren, die die Ge­rich­te nicht be­stra­fen. Sie … sie … tö­ten ihre Op­fer auch – wie?«

Sei­ne Stim­me war noch schär­fer ge­wor­den, und er kniff die Au­gen­li­der so weit zu­sam­men, daß er nur noch durch Schlit­ze zu se­hen schi­en.

»Es ist be­kannt, daß eine sol­che Or­ga­ni­sa­ti­on be­steht«, ant­wor­te­te Man­fred, »und man weiß auch, daß die ›Vier Ge­rech­ten‹ sich mit un­ge­sühn­ten Ver­bre­chen be­schäf­ti­gen – und daß sie Stra­fen ver­hän­gen.«

»Auch – die To­dess­tra­fe?«

»Sie wen­den auch die To­dess­tra­fe an«, er­wi­der­te Man­fred ernst.

»Und da­bei lau­fen sie frei her­um?« Dr. Ess­ley sprang er­regt auf und ges­ti­ku­lier­te hef­tig mit den Hän­den. »Sie lau­fen frei her­um und wer­den nicht be­straft? Bei al­len mo­der­nen Metho­den der Po­li­zei kann man sie nicht fas­sen? Sie wa­gen es, sich selbst zu Rich­tern auf­zu­wer­fen und an­de­re Leu­te zu ver­ur­tei­len? Wer hat ih­nen das Recht dazu ge­ge­ben? Es gibt doch noch Ge­set­ze, und wenn sich je­mand ge­gen sie ver­geht –«

Er hielt plötz­lich inne, zuck­te die Schul­tern und sank schwer in sei­nen Ses­sel zu­rück.

»So­weit ich er­fah­ren habe«, fuhr er nach ei­ner Wei­le fort, »bil­den sie kei­ne Macht mehr. Sie sind in al­len Län­dern ge­äch­tet – alle Po­li­zei­be­hör­den ha­ben Steck­brie­fe ge­gen sie er­las­sen.«

Man­fred nick­te.

»Das stimmt«, sag­te er höf­lich, »aber ob sie kei­ne Macht mehr ha­ben, das kann nur die Zeit leh­ren.«

»Es sind drei.« Der Dok­tor schau­te bei die­sen Wor­ten schnell auf. »Für ge­wöhn­lich fin­den sie noch einen vier­ten – einen Mann, der großen Ein­fluß hat.«

Man­fred nick­te wie­der.

»Das habe ich auch ge­hört.«

Dr. Ess­ley rück­te un­ru­hig in sei­nem Ses­sel hin und her. Man sah deut­lich, daß er nicht die ge­wünsch­te Aus­kunft oder Ver­si­che­rung er­hal­ten hat­te und nun stark be­un­ru­higt war.

»Und sie sind in Spa­ni­en?« frag­te er.

»Man sagt es.«

»Sie sind nicht in Frank­reich, nicht in Ita­li­en, nicht in Deutsch­land, in kei­nem der skan­di­na­vi­schen Län­der«, rief Dr. Ess­ley. »Sie müs­sen in Spa­ni­en sein.«

Eine Wei­le brü­te­te er schwei­gend vor sich hin.

»Ver­zei­hen Sie«, sag­te Poic­cart, der bis da­hin still zu­ge­hört hat­te, »Sie schei­nen sich au­ßer­or­dent­lich für die ›Vier Ge­rech­ten‹ zu in­ter­es­sie­ren. Neh­men Sie bit­te mei­ne Fra­ge nicht übel – warum liegt Ih­nen so­viel dar­an, ih­ren Auf­ent­halts­ort zu er­fah­ren?«

»Es ist rei­ne Neu­gier­de«, er­wi­der­te der Arzt schnell. »In ge­wis­ser Be­zie­hung stu­die­re ich näm­lich auch das Ver­bre­chen – wie Mr. de la Mon­te.«

»Da sind Sie aber ein er­staun­lich eif­ri­ger Stu­dent«, mein­te Man­fred.

»Ich hat­te ge­hofft, daß Sie in der Lage sein wür­den, mir zu hel­fen«, fuhr Ess­ley fort, ohne Man­freds an­züg­li­che Be­mer­kung zu be­ach­ten. »Aber ich habe nur von Ih­nen er­fah­ren, daß die ›Vier Ge­rech­ten‹ in Spa­ni­en sind, und auch das ist wei­ter nichts als eine Ver­mu­tung.«

»Vi­el­leicht sind sie auch gar nicht in Spa­ni­en«, sag­te Man­fred, als er sei­nen Be­su­cher zur Tür be­glei­te­te. »Vi­el­leicht exis­tie­ren sie nicht ein­mal. Ihre Furcht ist wahr­schein­lich völ­lig un­be­grün­det.«

Der Dok­tor fuhr her­um. Er war krei­de­bleich ge­wor­den.

»Furcht?« Ess­ley at­me­te schnell. »Sag­ten Sie et­was von Furcht?«

»Es tut mir leid«, ant­wor­te­te Man­fred la­chend, »viel­leicht kann ich mich eng­lisch nicht so kor­rekt aus­drücken.«

»Wa­rum soll­te ich sie denn fürch­ten?« frag­te der Dok­tor ge­reizt. »Ihre Wor­te wa­ren wirk­lich un­glück­lich ge­wählt. Ich brau­che mich we­der vor den ›Vier Ge­rech­ten‹ noch vor sonst je­mand zu fürch­ten.«

Er stand keu­chend in der of­fe­nen Tür. Mit sicht­li­cher An­stren­gung riß er sich zu­sam­men; er zö­ger­te noch einen Au­gen­blick und ver­ab­schie­de­te sich dann mit ei­ner stei­fen Ver­beu­gung.

Er ging die Trep­pe hin­un­ter, trat auf die Stra­ße und eil­te zu sei­nem Ho­tel hin­über. An der Ecke stand ein Bett­ler, der müde die Hand hob.

»Um Got­tes und der Hei­li­gen wil­len«, wim­mer­te er.

Flu­chend schlug Ess­ley mit sei­nem Stock nach der Hand, traf sie aber nicht, denn der Bett­ler war au­ßer­ge­wöhn­lich schnell. Gon­sa­lez war zwar be­reit, alle mög­li­che Un­bill auf sich zu neh­men, aber Nar­ben und Strie­men wünsch­te er kei­nes­falls an sei­nen zar­ten Hän­den zu ha­ben.

*

Als Ess­ley in sei­nem Zim­mer an­ge­kom­men war, schloß er die Tür ab und ließ sich in einen Ses­sel fal­len, um nach­zu­den­ken. Er ver­wünsch­te sei­ne ei­ge­ne Tor­heit – es war ein wahn­sin­ni­ger Feh­ler, die Fas­sung zu ver­lie­ren, selbst in Ge­gen­wart ei­nes so un­be­deu­ten­den Men­schen wie die­ses spa­ni­schen Di­let­tan­ten, der et­was von Kri­mi­nal­wis­sen­schaft ver­ste­hen woll­te.

Der ers­te Teil sei­ner Auf­ga­be war be­en­det – er muß­te sich ein­ge­ste­hen, daß er kei­nen Er­folg ge­habt hat­te. Aus der Ta­sche sei­nes Man­tels nahm er einen Rei­se­füh­rer für Spa­ni­en und blät­ter­te dar­in, bis er den Stadt­plan von Cór­do­ba fand. An der glei­chen Stel­le lag noch ein an­de­rer Plan in dem Band; er war an­schei­nend von je­mand ge­zeich­net wor­den, der bes­ser mit der Ört­lich­keit selbst als mit der Kunst des Kar­ten­zeich­nens ver­traut war.

Von Dr. Ca­ja­los hat­te er zum ers­ten­mal durch einen spa­ni­schen An­ar­chis­ten ge­hört, den er auf sei­nen merk­wür­di­gen nächt­li­chen Streif­zü­gen durch Lon­don ge­trof­fen hat­te. Nach­dem er mit dem Mann eine Fla­sche Wein ge­trun­ken hat­te, er­zähl­te die­ser von den ans Wun­der­ba­re gren­zen­den Kräf­ten des He­xen­meis­ters von Cór­do­ba und er­wähn­te da­bei Din­ge, die das leb­haf­tes­te In­ter­es­se des Arz­tes fan­den. Er hat­te dar­auf­hin einen Brief­wech­sel mit Dr. Ca­ja­los be­gon­nen, und nun war er hier, um ihn per­sön­lich auf­zu­su­chen.

Ess­ley schau­te auf die Uhr. Es war bei­na­he sie­ben. Er woll­te erst zu Abend spei­sen und sich dann um­zie­hen. Schnell wusch er sich, doch dreh­te er trotz der her­ein­bre­chen­den Dun­kel­heit das Licht nicht an. Dann ging er in den Spei­se­saal.

Er saß an ei­nem Tisch für sich al­lein und ver­tief­te sich so­fort in eine eng­li­sche Zeit­schrift, die er mit­ge­bracht hat­te. Ab und zu mach­te er bei der Lek­tü­re No­ti­zen in ein klei­nes Buch, das ne­ben sei­nem Tel­ler lag. Sei­ne Auf­zeich­nun­gen stan­den aber we­der in Be­zie­hung zu dem Ar­ti­kel, den er las, noch zu den me­di­zi­ni­schen Wis­sen­schaf­ten; sie han­del­ten viel­mehr von der fi­nan­zi­el­len Sei­te ei­nes Plans, der ihm eben in den Sinn kam.

Nach dem Es­sen be­stell­te er noch Kaf­fee. Dann er­hob er sich, steck­te das klei­ne No­tiz­buch in die Ta­sche, nahm die Zeit­schrift und ging auf sein Zim­mer zu­rück. Dort dreh­te er das Licht an und zog die Vor­hän­ge zu. Er stell­te einen klei­nen Tisch un­ter die Lam­pe und hol­te aus sei­nem Kof­fer eine Men­ge eng­be­schrie­be­ner Blät­ter, die er vor sich aus­brei­te­te. Auch sein No­tiz­buch hol­te er wie­der her­vor. Er ar­bei­te­te meh­re­re Stun­den. Dann hielt er plötz­lich inne, als ob er von ei­nem un­sicht­ba­ren We­cker an sei­ne Verab­re­dung er­in­nert wor­den wäre.

Schnell pack­te er die Pa­pie­re fort, zog einen Man­tel an und drück­te sich den wei­chen Filz­hut tief ins Ge­sicht. Er ver­ließ das Ho­tel und schlug den Weg nach der Cala­hor­rabrücke ein. Die Stra­ßen, die er durch­schritt, la­gen ein­sam und ver­las­sen da; er zö­ger­te nicht im ge­rings­ten, denn er hat­te sei­nen Plan vor­her ein­ge­hend stu­diert.

Er tauch­te in ei­nem Ge­wirr von en­gen Stra­ßen un­ter, und erst am Ein­gang ei­ner dunklen Sack­gas­se hielt er einen Au­gen­blick an. Eine düs­te­re Stra­ßen­lam­pe im Hin­ter­grund mach­te die Gas­se noch un­heim­li­cher. Zu bei­den Sei­ten er­ho­ben sich hohe, fast fens­ter­lo­se Häu­ser, de­ren Tü­ren in fins­te­ren Ni­schen la­gen. Nach kur­z­em Zau­dern klopf­te Ess­ley zwei­mal an eine Tür zur Lin­ken.

Sie öff­ne­te sich so­fort ge­räusch­los.

Wie­der zö­ger­te er.

»Tre­ten Sie ein«, sag­te eine Stim­me auf spa­nisch, »Sie brau­chen sich nicht zu fürch­ten.«

Ess­ley ging hin­ein, und die Tür schloß sich hin­ter ihm.

»Kom­men Sie mit.«

Der Dok­tor konn­te in der Dun­kel­heit nur un­deut­lich die Ge­stalt ei­nes klei­nen al­ten Man­nes wahr­neh­men. Er ging wei­ter und wisch­te sich da­bei den Schweiß von der Stirn.

Der alte Mann knips­te eine Lam­pe an, und Ess­ley be­trach­te­te ihn nun ge­nau­er. Er war zwer­gen­haft klein. Ein un­ge­pfleg­ter, lan­ger wei­ßer Bart be­deck­te sei­ne Brust; der Kopf war völ­lig kahl, so glatt wie eine Ku­gel. Das schmut­zi­ge Ge­sicht, die un­sau­be­ren Hän­de, die gan­ze Er­schei­nung zeug­ten da­von, daß er kein Freund von Was­ser war.

Ein paar schwar­ze, tief­lie­gen­de Au­gen fun­kel­ten den Dok­tor an. Die vie­len klei­nen Lach­fält­chen um die Au­gen­win­kel deu­te­ten an, daß er auch lus­tig sein konn­te. Das war also Dr. Ca­ja­los, ein Mann, der in Spa­ni­en be­rühmt war.

»Neh­men Sie Platz«, sag­te Dr. Ca­ja­los. »Wir wol­len in Ruhe mit­ein­an­der spre­chen. Für spä­ter hat sich eine vor­neh­me Dame an­ge­mel­det, die mich kon­sul­tie­ren will.«

Ess­ley ließ sich nie­der, und Dr. Ca­ja­los setz­te sich auf einen ho­hen Sche­mel. Er bot einen son­der­ba­ren An­blick mit sei­nen her­un­ter­hän­gen­den klei­nen Bei­nen, sei­nem stein­al­ten Ge­sicht und sei­nem kah­len, glat­ten Schä­del.

»Ich schrieb Ih­nen über ge­wis­se to­xi­ko­lo­gi­sche Ex­pe­ri­men­te –«, be­gann Ess­ley, aber Dr. Ca­ja­los un­ter­brach ihn.

»Sie kom­men we­gen ei­nes Mit­tels, das ich be­rei­tet habe«, sag­te er. »Es ist ein Prä­pa­rat aus …«1

Ess­ley sprang auf. »Ich … ich habe … Ih­nen da­von nichts ge­schrie­ben«, stam­mel­te er.

»Der grü­ne Teu­fel hat mir das er­zählt; ich un­ter­hal­te mich oft mit den Bett­lern, und da er­fah­re ich vie­les von Be­deu­tung«, er­wi­der­te Dr. Ca­ja­los ernst.

»Ich dach­te –«

»Se­hen Sie her!«

Der Alte klet­ter­te be­hen­de von sei­nem ho­hen Sche­mel her­un­ter und ging in eine dunkle Ecke des Zim­mers, wo ei­ni­ge Kis­ten stan­den. Ess­ley hör­te ein schar­ren­des Geräusch. Nach ei­ni­ger Zeit kam Dr. Ca­ja­los mit ei­nem zap­peln­den Ka­nin­chen zu­rück, das er an den Ohren ge­packt hat­te.

Mit der frei­en Hand ent­kork­te er eine klei­ne grü­ne Fla­sche und stell­te sie auf den Tisch. Dann nahm er eine Fe­der, tauch­te sie be­däch­tig in die Flüs­sig­keit und be­rühr­te mit ih­rer Spit­ze vor­sich­tig die Nase des Ka­nin­chens, die je­doch kaum be­netzt wur­de.

So­fort wur­de das Tier ohne ir­gend­wel­chen Krampf steif, als ob durch die Berüh­rung plötz­lich al­les Le­ben aus dem Kör­per ge­wi­chen sei. Ca­ja­los ver­schloß die Fla­sche und warf die Fe­der in den Ofen, der in der Mit­te das Rau­mes stand und mit Holz­koh­le ge­heizt wur­de.

»Es ist ein Gift«, sag­te er zu Ess­ley, »das ich ent­deckt habe.«

Er leg­te das ver­gif­te­te Ka­nin­chen sei­nem Be­su­cher vor die Füße.

»Señor«, sag­te er stolz, »neh­men Sie das Tier und un­ter­su­chen Sie es; stel­len Sie alle nur ir­gend mög­li­chen Pro­ben da­mit an – Sie wer­den nicht die ge­rings­te Spur des Al­ka­lo­ids ent­de­cken kön­nen, durch das es ge­tö­tet wur­de.«

»Das stimmt nicht«, ent­geg­ne­te Ess­ley, »denn es bleibt eine Zu­sam­men­zie­hung der Pu­pil­le, und die ist ein ab­so­lut si­che­res Zei­chen.«

»Su­chen Sie doch da­nach! Se­hen Sie sich doch die Au­gen des Tie­res an!« rief der Alte tri­um­phie­rend.

Ess­ley un­ter­such­te das Ka­nin­chen, aber er konn­te selbst die­ses sonst so untrüg­li­che Merk­mal nicht fin­den.

*

Eine dunkle Ge­stalt drück­te sich drau­ßen dicht an die Wand und lausch­te. Der Mann stand an dem Fens­ter­la­den und hielt ein Hör­rohr ans Ohr. Das an­de­re Ende, das von ei­ner Gum­mihül­le um­ge­ben war, preß­te er ge­gen den höl­zer­nen Fens­ter­la­den.

Eine hal­be Stun­de stand er fast reg­los dort, dann zog er sich lei­se zu­rück und ver­schwand im Schat­ten der Oran­gen­sträu­cher, die in der Mit­te des lan­gen Gar­tens stan­den.

Gleich dar­auf wur­de die Haus­tür auf­ge­schlos­sen; Dr. Ca­ja­los ge­lei­te­te sei­nen Be­su­cher wie­der auf die Stra­ße.

»Die Teu­fel sind mäch­ti­ger als je«, sag­te der Alte und ki­cher­te un­heim­lich. »Es wer­den sich bald ver­schie­de­ne Din­ge er­eig­nen, mein Lie­ber!«

Ess­ley er­wi­der­te nichts. Er war be­gie­rig, wie­der ins Freie zu kom­men, und zit­ter­te vor Un­ge­duld, als der Alte die schwe­re Tür öff­ne­te. Nach­dem sie sich end­lich auf­ge­tan hat­te, eil­te er auf die Stra­ße.

»Le­ben Sie wohl!« sag­te er.

»Sie auch, mein Freund!« ent­geg­ne­te der Alte und schloß laut­los die Tür.


  1. In der ers­ten Auf­la­ge die­ses Bu­ches wur­de der Name des Gif­tes ge­nannt. Es ist dem Au­tor aber von ver­schie­de­nen Sei­ten be­deu­tet wor­den, daß es nicht wün­schens­wert er­schei­ne, den ge­nau­en Na­men an­zu­ge­ben. Der Au­tor hat sich die­sen Vor­stel­lun­gen nicht ver­schlie­ßen kön­nen. Das Gift ist den Au­ge­n­ärz­ten wohl­be­kannt, und sei­ne Wir­kung ist in die­sem Buch rich­tig be­schrie­ben.  <<<

2

Die Fir­ma Black & Gram ge­noß in der Lon­do­ner City ein ge­wis­ses An­se­hen. Was Gram be­traf, so war er ein Mensch ohne Ta­del – ein edel­mü­ti­ger Mann und ein groß­zü­gi­ger Wohl­tä­ter. Aber Black be­klag­te sich mit ei­ni­ger Ent­rüs­tung, daß Gram ihn durch sei­ne ver­rück­te Frei­ge­big­keit ei­nes Ta­ges noch rui­nie­ren wer­de.

Gram er­laub­te sei­nem gu­ten Her­zen, sei­nen Ver­stand zu re­gie­ren; er war zu weich und nach­gie­big als Ge­schäfts­mann. In der City be­ur­teil­te man Gram da­her skep­tisch; man ver­glich ihn mit ei­ner gut­mü­ti­gen al­ten Dame. Aber Black küm­mer­te sich nicht wei­ter dar­um, son­dern lä­chel­te nur ge­heim­nis­voll zu all den An­züg­lich­kei­ten, die er zu hö­ren be­kam, und fuhr fort, über sei­nen Kom­pa­gnon zu kla­gen. Er miß­bil­lig­te Grams of­fen­sicht­li­che An­stren­gun­gen, trotz der vie­len Gerüch­te, die über Oberst Black im Um­lauf wa­ren, für einen gu­ten Ruf der Fir­ma zu sor­gen.

Die­sen Ti­tel hat­te sich Black selbst bei­ge­legt, ob­gleich er in der Ran­glis­te des Hee­res nicht ge­führt wur­de. Auch in den um­fang­rei­chen Ver­zeich­nis­sen von Ehren­ti­teln der ame­ri­ka­ni­schen Ar­mee fand man sei­nen Na­men nicht.

Die Fir­ma Black & Gram hat­te sich ur­sprüng­lich auf den Han­del mit Ef­fek­ten und Ak­ti­en be­schränkt. Sie emp­fahl ih­ren Kun­den be­stimm­te Pa­pie­re, und die Leu­te kauf­ten oder ver­kauf­ten je nach dem Rat, den die Fir­ma gab. Nach ei­ner ge­wis­sen Zeit er­hiel­ten sie dann von Black & Gram ein höf­li­ches Schrei­ben, worin be­dau­ert wur­de, daß ihr bei der Fir­ma hin­ter­leg­ter Be­trag er­schöpft sei. Gleich­zei­tig wur­den die Kun­den drin­gend auf­ge­for­dert, ihre Ver­bind­lich­kei­ten, die auf nicht nä­her er­klär­te Wei­se ent­stan­den wa­ren, so schnell wie mög­lich zu re­geln.

Aus die­sen be­schei­de­nen An­fän­gen er­wuchs eine Fir­ma, die es noch zu be­deu­ten­der Grö­ße brin­gen soll­te. Gram trat aus. Er war über­haupt nie­mals Teil­ha­ber ge­we­sen – um die Wahr­heit zu sa­gen. Man­che be­zwei­fel­ten so­gar, daß die­ser Mann wirk­lich exis­tiert hat­te. Aber Black war je­den­falls wei­ter er­folg­reich, und sein Name er­lang­te in ge­wis­sen Krei­sen einen fast ma­gi­schen Klang.

In an­de­ren Ge­sell­schafts­krei­sen wur­de er al­ler­dings nie­mals er­wähnt, und die großen Finanz­leu­te der City, die Fa­ring, die Wert­hei­mer, die Scott-Tea­son, hat­ten von sei­ner Exis­tenz viel­leicht kei­ne Kennt­nis ge­nom­men. Sie be­trie­ben ihre Ge­schäf­te vor­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­