FRÉDÉRIC DARD

 

 

Das Paradies des Bösen

 

 

 

 

 

Apex Crime, Band 21

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DAS PARADIES DES BÖSEN 

 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Epilog 

 

 

Das Buch

 

Heute bin ich endlich in das Haus gegangen, wo die anderen sind: die reichen Amerikaner. Sie leben dort inmitten unserer tristen Vorstadt von Paris wie auf einer hellen Insel der Freude. Ich bot ihnen meine Dienste an. Man hat mich zunächst abgewiesen. Aber dann hat man mich doch geholt, und ich habe beinahe geweint vor Glück – dabei hätte ich bittere Tränen des Schreckens vergießen sollen. Aber was wusste ich schon vom Leben – mit meinen siebzehn Jahren? Wie sollte ich wissen, dass sich hinter einer glänzenden Fassade das Böse verbergen kann?

Wichtig war für mich nur die Liebe. Dafür war ich bereit, alles zu ertragen: Schande, Scham und Schmerzen...

 

Das Paradies des Bösen von Frédéric Dard erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der französischen Kriminal-Literatur.

  DAS PARADIES DES BÖSEN

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Unser Vorort hat einen auffallenden Namen und ist merkwürdig angelegt. Er heißt Leopoldville und wurde angeblich von einem Belgier erbaut. Ich kenne Belgien nicht, und ich glaube allmählich, dass ich niemals von hier fortkommen werde; aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die belgischen Städte unserem Vorort gleichen. Wer zu uns kommt - und die aus dem Boden schießende Industrie zieht immer mehr Leute an - findet sich anfangs schwer zurecht. Denn alle Straßen sind schnurgerade angelegt und gehen von runden Plätzen aus. Das erinnert an die Pariser Place de l'Etoile, nur dass der Are de Triomphe fehlt und dass sich am Ende jeder Allee wieder ein runder Platz befindet, und so vermeint man, durch ein Labyrinth zu wandern. Mit der Zeit orientiert man sich an der Eisenbahn, an der Seine und an der Kirche, doch das ist nicht ganz einfach!

Unser Wohnviertel liegt jenseits der Bahnstrecke, wo die Straßenzüge nicht mehr von dem bewussten Belgier angelegt wurden. Auf einer von hohen Fabrikschloten umsäumten Fläche reihen sich bescheidene Häuschen ziemlich willkürlich aneinander. Der Rauch der Fabriken zieht in langen, dichten Schwaden darüber hinweg, bevor er sich über dem Häusermeer des Vorortes niederschlägt. Ich finde das hässlich. Es muss aber nicht so schlimm sein, denn einmal hat sich ein Maler mit seiner Staffelei hinter unserem Garten niedergelassen. Er ist sogar mehrmals wiedergekommen. Als ich einmal von der Arbeit zurückkehrte, warf ich einen Blick auf die Leinwand.

Ich fand, dass die Gegend auf seinem Bild noch trostloser wirkte. Ich empfand sein Produkt geradezu als beunruhigend, als ein Armeleute-Begräbnis, an dem kaum ein Mensch teilnimmt. Ich hatte gehofft, dass er zur Aufheiterung der Landschaft ein wenig Sonne hineinmalen würde, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand dieses Bild kaufte, um es ständig vor Augen zu haben. Aber der Maler ließ keinen Sonnenstrahl auf sein Bild fallen. Er setzte sein Signum in die untere Ecke, verschwand mit seinem Werk und kam nicht mehr wieder. Mich aber betrübte die Vorstellung, dass er uns den Sonnenstrahl, den er uns hätte schenken können, ebenso verweigert hatte, wie der liebe Gott es tat.

Wozu erzähle ich das alles? Ist es wirklich so wichtig? Es soll verständlich machen, warum und wieso alles so kommen musste, wie es kam.

Man wird mir entgegenhalten, dass man sich an ein Land, in dem man aufgewachsen ist, mit der Zeit doch gewöhnen und es sogar liebgewinnen müsse. Aber so ist es eben nicht. Ich habe immer einen Abscheu vor Leopoldville gehabt, wahrscheinlich, weil ich es nie anders sehen konnte, als es ist: trostlos und unnatürlich. Städte dürfen nicht in einem einzigen Wurf und von einem einzigen Mann errichtet werden, denn das gibt ihnen das Gesicht eines Kaninchenstalles, dessen Bewohner zwangsläufig einen kaninchenhaften Ausdruck annehmen.

Unser Häuschen ist am weitesten von der Stadt entfernt. Es grenzt fast unmittelbar an Gemüsefelder, die sich zwischen den Industrieanlagen noch behauptet haben und die sich bis zur Hauptstraße erstrecken.

In langen Reihen stehen hier Porree, Mohrrüben oder Kohlköpfe... Die Kohljahre sind bei uns zu Hause gefürchtet, weil dann die ganze Gegend nach verdorbenem Sauerkraut stinkt. Dieser Geruch dringt sogar durch verschlossene Fenster. Ich liebe die Natur, aber ich hasse die Gemüsepflanzer, weil sie keine richtigen Bauern mehr sind. Sie haben Traktoren und tragen Bluejeans zu Fliegerstiefeln, die sie in Pariser Ausrüstungsgeschäften kaufen. Sonntags fahren sie in neuen Autos zum Wetten auf die Rennplätze, und auch ihre Frauen haben eigene Wagen. Es ist unglaublich, was der Porree einbringt, wenn er vor den Toren von Paris wächst.

Über unser Häuschen ist noch zu sagen, dass es sich um ein ziemlich armseliges Gebäude handelt. Es ist ein sehr altes Haus, älter als die Stadt, und von seinen Mauern bröckelt überall der Putz. Meine Mutter ersucht den Verwalter von Zeit zu Zeit durch eingeschriebene Briefe, die notwendigen Reparaturen durchzuführen, aber die Eigentümer wollen nichts davon wissen. Sie haben diese Hütte von einem alten Onkel geerbt, stehen untereinander in keinem guten Einvernehmen und lassen daher alle Briefe unbeantwortet.

Ich weiß wohl, dass meine Mutter sich an die Gerichte wenden könnte, aber wir sind zu oft mit der Miete im Verzug, vor allem wenn Arthur, ihr Freund und gewissermaßen mein Stiefvater, keine Arbeit hat oder einige Tage feiert.

Meinen richtigen Vater habe ich niemals kennengelernt, und ich glaube, dass auch meine Mutter ihn nicht mehr wiedererkennen würde. Sie war ihm vor siebzehn Jahren auf einem Tanzvergnügen begegnet. Sie meint, dass er Italiener oder so etwas Ähnliches gewesen sein müsse. Tatsächlich bin ich ein dunkler Typ. Die Leute behaupten, Italiener seien leidenschaftliche Tangotänzer. Ich kann also verstehen, dass meine liebe Mutter am Ende des Abends ganz durchgedreht war. Die beiden haben dann wohl in den Gemüsekulturen geschäkert, und daher mag es kommen, dass sie nach Anbruch der Dunkelheit den Kohlgeruch nicht vertragen kann.

Als ich zur Welt gekommen war, hatte sie mich zu ihrer Mutter gegeben, die auf dem anderen Ufer der Seine bei den Steinbrüchen wohnte. Dort blieb ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr. Dann starb Oma, und ich kam zu Arthur nach Leopoldville. Von ihm ist nicht viel zu berichten. Er gehört zu jenen Leuten, die auf Gruppenaufnahmen immer ganz hinten stehen und deren Gesicht stets halb verdeckt ist, weil irgendein dicker Wichtigtuer sich vor ihnen breitmacht. Er ist halt ein guter Kerl, bescheiden und schüchtern. Aber gleich vielen schwachen Menschen trinkt er sich von Zeit zu Zeit Mut an, und wenn er getrunken hat, dann beschimpft er auch Personen, die er in normalem Zustande respektiert. Und das ist der Grund, warum er so oft arbeitslos ist.

Mama und Arthur leben schon bald fünfzehn Jahre zusammen. Sie haben kein Kind miteinander. Ich glaube, Arthur hätte gern ein eigenes Kind gehabt, aber Mama wollte es nicht. Vielleicht werden sie eines Tages heiraten; Mama legt zwar keinen Wert darauf, aber Arthur bekommt mit zunehmendem Alter bürgerliche Anwandlungen - vor allem seit er sich einen Fernsehapparat zugelegt hat, um die Nachbarn zu ärgern.

Bevor alles passierte, arbeitete ich in einer Fabrik. Und es wäre besser gewesen, wenn ich niemals den Einfall gehabt hätte, eine Stellung als Hausmädchen anzunehmen.

In dieser Gegend findet man keine Dienstboten mehr. Auch Ärzte oder Unternehmer müssen sich ihre Hausangestellten aus der Bretagne holen. Sie setzen Anzeigen in die Zeitungen von Morbihan oder vom Kap Finistère, und dann sieht man die dicken, rotbackigen Mädchen mit ihren neuen Pappkoffern ankommen. Sie bleiben vielleicht ein oder zwei Monate in ihrer Stellung, bis sie blasser geworden sind und sich dem hiesigen Leben angepasst haben; dann verlassen sie ihren Dienst und gehen in die Fabrik, weil sie dort mehr verdienen und nach sechs Uhr frei haben.

Nun, mich hat gerade diese Freiheit bedrückt. Jeden Tag die gleiche, trostlose Straße mit den Scharen von Mopedfahrern, die jedes Mädchen mit ihren frechen Zurufen belästigen. Das Gedränge im Fabriktor. Die Zudringlichkeiten der Arbeiter. Arthurs baufälliges, kaum möbliertes Haus. Und Arthur selbst, lang und hohl wie eine Rübe, mit seinem spitzen Kinn, dem ungepflegten Schnurrbart, den Fetzen von Zigarettenpapier auf seinen Lippen!

Nein, ich konnte es wirklich nicht mehr aushalten. Ich suchte mir einen anderen Heimweg, er führt durch das Zentrum von Leopoldville. Die Gegend ist nicht weniger trübselig als das Land, aber sie wirkt wenigstens nicht so ärmlich. Die Häuschen sind aus Sandstein gebaut und von Rasenflächen umgeben, die abends von Springbrunnen benetzt werden.

Und so entdeckte ich das Haus der Roolands.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Auf den ersten Blick unterschied es sich nicht von den anderen Häusern. Es war ein zweistöckiges Gebäude mit einem hohen Dach, das von einem Türmchen mit einer Porzellanspitze gekrönt wurde, kleine Fenster mit bunten Karos hatte, eine kleine Terrasse und hellblau gekachelte Türumrahmungen. Und doch unterschied es sich von den Nachbarhäusern. Ein seltsames, schwer zu erklärendes Fluidum umgab es. War es auch ein Gartenhaus von hier, so stand es doch gewissermaßen auf einer unbekannten Insel, einer winzigen, geheimnisvollen Insel, auf der es sich gewiss herrlich leben ließ.

In der mit rotem Sand bestreuten Zufahrt stand ein prächtiger, grüner amerikanischer Wagen mit blitzenden Chrombeschlägen und weißen Sitzbezügen, die mich an einen Salon erinnerten, den ich einmal in Paris von der Hochbahn aus gesehen hatte. Es war nur eine flüchtige Vision von einigen Sekunden Dauer gewesen, und doch träumte ich seitdem von diesem Salon und stellte mir vor, dass das höchste Glück auf Erden darin bestünde, in großen, weißen Ledersesseln zu sitzen.

Neben dem Hause befand sich ein kleiner Rasenplatz, und hier war unter einem blauen Zeltdach eine märchenhafte, breite und mit bunten Kissen belegte Hollywoodschaukel aufgestellt. Auch das sah nach Glück aus. Darin ruhten Monsieur und Madame Rooland sich aus, wenn die Abenddämmerung hereinbrach. Vor ihnen standen dann Gläser mit Whisky auf tulpenförmigen eisernen Gestellen, und ein Radioapparat mit großer Antenne spielte Jazzmusik. Man kann sich kaum vorstellen, wie verführerisch die Atmosphäre dieses Gartens war.

In der ersten Zeit begnügte ich mich damit, ganz langsam an dem weißen Zaun des Grundstückes vorbeizugehen. Aber bald fühlte ich mich so gefesselt, dass ich vor dem Hause immer wieder auf und ab spazierte. Man nannte seine Bewohner die Amerlocks.

Er war ein mittelgroßer, rotbrauner Mann mit Sommersprossen auf der Stirn und auf den Armen. Er mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein und arbeitete im Shape von Rocquencourt. Wenn er das Haus verließ, trug er naturfarbene oder bräunlich-gelbe Leinenanzüge, weiße Hemden mit offenem Kragen und dazu einen schwarzen Strohhut mit breitem, schwarz-weiß-kariertem Band. Doch abends zu Hause lief er in einer grauen Tuchhose und buntbemalten Hemden herum. Ich erinnere mich, dass er einmal ein Hemd trug, auf dem Palmen und Sanddünen zu sehen waren. Bei jedem anderen hätte das geschmacklos gewirkt, aber zu Monsieur Rooland passte es irgendwie. Seine Frau war von ganz anderer Art. Obwohl sie jünger war, erschien sie doch älter als er. Sie hatte brünettes Haar, von hellen Strähnen durchzogen, und trug oft korallenrote Shorts zu einer hellgrünen Hemdbluse. Ihre Haut schimmerte rötlich, und ich hatte mir aus unerfindlichen Gründen eingeredet, dass sie Indianerblut haben müsse. Sie rauchte pausenlos, und beim Gehen ließ sie ihre Schultern nach vorn fallen wie ein Athlet, der zum Sprunge ansetzt.

Mein Treiben fiel ihnen schließlich auf. Franzosen hätten an ihrer Stelle bestimmt irgendeinen Verdacht geschöpft. Auf jeden Fall hätten sie sich gefragt, was ich eigentlich wollte und warum ich gegen sechs Uhr meinen Schaufensterbummel ausgerechnet bei ihnen machte. Aber die Roolands hatten eher ihren Spaß daran. Sie begannen mir zuzulächeln, und eines Abends, als Monsieur Rooland wahrscheinlich schon einige Whiskys getrunken hatte, rief er »Hallo!« und winkte mir zu. Mir wurde davon ganz heiß ums Herz.

Verwirrt ging ich weiter. Da schoss mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Woher er kam, vermag ich nicht zu sagen, denn was ist schon ein Gedanke? So etwas wie ein Sonnenstrahl, der durch eine Wolke bricht und einem ins Auge fällt, ohne dass man genau weiß, woher er kommt.

An diesem Abend war Arthur betrunken. Bei ihm gab es zwei verschiedene Arten von Räuschen: den vom Wein und den vom Rum. Der Wein machte ihn fröhlich, der Rum böse. Diesmal hatte er eine halbe Flasche Rum geleert, und man sah schon seinen Augen an, dass er entschlossen war, keinen Menschen mit seiner schlechten Laune zu verschonen.

»Du hast wieder gebummelt!«, fuhr er mich an.

Er hockte vor dem Fernsehapparat. Dieser Apparat ist für mich der Inbegriff der Trostlosigkeit, denn er steht mit drei vor ihm aufgereihten primitiven Stühlen in einem sonst völlig leeren Zimmer. Um diese Zeit lief kein Programm, aber Arthur schien gar nicht zu merken, dass auf dem Bildschirm nur komische Zuckungen zu sehen waren.

»Ich komme aus der Fabrik«, sagte ich, während ich die Schuhe auszog.

»Und welchen Weg nimmst du, um von der Fabrik heimzukommen, mein Täubchen? Den größten Umweg, den du finden kannst?«

»Ich gehe den Weg, der mir gefällt!«

Seit Jahren hatte er mich nicht mehr geschlagen. Ich muss auch anerkennen, dass er durchaus kein Schlägertyp ist. Doch an diesem Abend geschah es. Mama, die gerade vom Kaufmann zurückkam, hörte schon in der Küche die Ohrfeige. Sie eilte herbei und sah auf meinem Gesicht die Fingerabdrücke ihres Alten. Ich war etwas betäubt und weinte vor mich hin, ohne es recht zu wissen.

»Was hat sie getan?«

Ich habe meine Mutter noch nicht beschrieben, weil es mir etwas peinlich ist. Sie hat nämlich das, was man eine Hasenscharte nennt. Hasenscharte und ich haben ihr Leben verpfuscht. Ich glaube, dieser Fehler an der Lippe war der Grund, dass mein Vater, der Italiener vom Tanzvergnügen, nach dem Schäferstündchen in den Gemüsebeeten nicht wieder erschien. Wenn man ihr die Lippe beizeiten anständig zusammengenäht hätte, wäre das Leben meiner armen Mutter anders verlaufen. Sie hätte sicher etwas Besseres gefunden als Arthur, denn sie ist sonst gar nicht schlecht gebaut: klein, aber gut proportioniert, mit Körperformen, die einem Mann schon gefallen können.

Die Ohrfeige hatte Arthur mehr wehgetan als mir. Er stand wie ein Idiot vor seinem leeren Bildschirm, mit hängendem Arm und zitternden Fingern.

»Sie hat mir frech geantwortet, genauso frech, wie das ganze Mädchen ist!«, sagte er schließlich, um seine Autorität zu wahren. Und er fügte hinzu: »Sie liest zu viel, das verdreht ihr nur den Kopf!«

Das war sein Steckenpferd, meine Bücher. Er konnte nicht begreifen, dass man außer der kommunistischen Zeitung l'Humanité überhaupt etwas druckte. Einmal hatte er mir nach einer ausgiebigen Rum-Sitzung zwei Bücher zerrissen, die aus der Stadtbibliothek kamen; eine ärgerliche Geschichte, weil gerade diese Bände beim Verlag vergriffen waren. Seitdem kaufte ich meine Bücher antiquarisch und veräußerte sie später an einen Händler, wenn ich in Paris war.

Mama seufzte. Ich zog meine Schuhe wieder an und ging fort. Offen gesagt, ich konnte die Luft in unserem Haus nicht mehr ertragen - und die Luft des ganzen Viertels ebenso wenig. Es war ein grauer Abend. Der Wind brachte üble Gerüche, nicht nur von den Kohlfeldern, sondern auch von einer chemischen Fabrik. Neben den Fabrikschloten hoben sich die Rohbauten neuer Wohnblocks vom Horizont ab.

Mir war etwas bange vor diesen weißen Häusern. Ich fürchtete die neue Stadt, die über Nacht aus der Erde wuchs; Leute von außerhalb würden sie beziehen und uns den letzten Rest unserer Leopoldviller Gemütlichkeit rauben.

Ich begann zu laufen. Die Bahnschranke war geschlossen, und ich stieß die kleine Gittertür daneben auf. Der Bahnhof befand sich keine hundert Meter weit weg. Die keuchende Lokomotive eines Zuges stieß dichte Dampfwolken aus. Die Schrankenwärterin rief mir etwas zu, und da erst bemerkte ich den heranbrausenden Schnellzug aus Caen. Ich konnte mich gerade noch durch einen Sprung retten. Es war ein komisches Gefühl. Die Leute haben schon Recht, wenn sie in den Bahnhöfen Gitter zwischen die Gleise setzen, weil ja ein Zug den anderen verbergen kann. Die Schrankenwärterin war eine dicke Frau mit gelblicher Haut, die schwer schnaufte, wenn sie die mit Gegengewichten beschwerte Schranke auf und niederkurbelte.

»Können Sie sich nicht Umsehen, bevor Sie...«

Ich lief weiter. Ich wusste, wohin ich wollte.

Als ich das Haus der Roolands erreichte, schaukelten sie nicht mehr, sondern sie aßen an einem zusammenklappbaren Tisch auf der Terrasse. Sie waren die einzigen in Leopoldville, die es wagten, so vor aller Augen unter freiem Himmel zu essen. Sie lachten über Leute, die ihnen zusahen.

Ich stieß die Pforte auf und schritt über den roten Kies des Gartenweges. Zum erstenmal sah ich den Wagen aus der Nähe. Er kam mir noch schöner vor als aus der Entfernung. Sein Lack glänzte, und ein ganz besonderer Duft stieg von dem Fahrzeug auf. Es roch nach Reichtum, nach Macht.

Ich marschierte schnurstracks in einen Traum hinein. Oh, wer mich gesehen hätte! Hocherhobenen Hauptes ging ich vorwärts, wie Soldaten beim Parademarsch, die Arme hielt ich ausgestreckt an mich gepresst, und das Herz klopfte mir bis zum Halse.

Madame Rooland nahm beim Essen eine sonderbare Haltung ein, denn sie hatte den linken Arm auf die Knie gelegt. Ihr Mann war dabei, zwei Dosen mit Fruchtsaft zu öffnen. Als er mich hinter dem Wagen auftauchen sah, hielt er inne. Auch ich verharrte bewegungslos. Mein Blick war auf das Essen  gefallen, und ich kam mir plötzlich ganz dumm vor - wie hatte ich diese fremde Insel nur anlaufen können! Anstatt von Tellern zu essen, wie wir anderen, hatte jeder von ihnen eine Platte vor sich; auf der Platte lagen dicke Bohnen in brauner Soße, Salat, Tomaten und Fleisch in einem rosaroten Gelee.

Die Frau lächelte mir zu, ohne sich stören zu lassen. Er steckte zwei Strohhalme in die Löcher, die er mit einem besonderen Werkzeug in die Fruchtsaftdosen geschlagen hatte.

»Hallo, Fräulein!«

Er hatte ein leuchtendes Gesicht. Das kam von den Sommersprossen, die sich wie kleine, dunkle Flammen von seiner hellen Haut abhoben. Seine Augen erschienen mir jetzt heller als aus der Entfernung. Ich musste ja nun eine Erklärung geben, aber ich war ganz heiser vor Aufregung. Sie drangen aber nicht auf mich ein, sondern ließen mir Zeit. Madame Rooland kaute in aller Ruhe zu Ende, was sie im Munde hatte, und er saugte an seinem Strohhalm.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie störe...«

»Sie stören uns gar nicht«, versicherte er. »Trinken Sie einen Orangensaft?«

Als ich begriff, dass er mich zu einem Fruchtsaft eingeladen hatte, war ich platt.

Ich fiel ihnen wie eine Verrückte ins Haus, und sie stellten mich nicht zur Rede, sondern boten mir etwas zu trinken an!

»Danke, nein.«

Er hatte ein wunderbares Lächeln, der Monsieur Rooland. Seine Zähne waren weißer als in Kinoreklamen, und im Kinn hatte er ein tiefes Grübchen.

»Ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht ein Hausmädchen brauchen.«

Sein Lächeln wurde ein klein wenig schwächer, aber seine Zähne leuchteten immer noch durch das Halbdunkel. Madame Rooland fragte etwas auf Amerikanisch. Sie kannte nicht alle französischen Worte, und so hatte sie offenbar nicht verstanden, dass ich mich als Hausgehilfin angeboten hatte. Ihr Mann erklärte es ihr, und sie sah mich an. Diesmal war es der Blick einer beliebigen Frau, der ein junges Mädchen seine Dienste angeboten hat.

»Sind Sie Hausangestellte?«, fragte mich Rooland.

»Nein, ich arbeite in der Fabrik.«

»Und Sie haben keine Beschäftigung mehr?«

»Doch.«

Ich kann beschwören, dass ich ihn verblüfft hatte, und wenn er zehnmal Amerikaner war.

»Aber warum dann...?«, fragte er nur.

Jetzt musste ich meine Gedanken zusammennehmen und eine vernünftige Erklärung geben. Doch das war nicht ganz einfach.

»Ich bin nicht glücklich!«

Meine eigenen Worte verwirrten mich, und ich fühlte, wie ich rot wurde.

»Wie alt sind Sie?«

»Siebzehneinhalb.«

»Und Sie sind unglücklich! Ich kenne in meinem Lande Leute, die vierhundert Millionen Dollar bezahlen würden, um Ihr Alter zu kaufen...«

Ich hatte eine kühne Anwandlung: »Bringen Sie mir diese Leute, ich bin zu dem Geschäft bereit!«

Noch nie hatte ich es erlebt, dass ein Mann so laut lachte. Er schlug sich auf die Schenkel und schüttelte sich vor Lachen, bis ihm die Tränen kamen. Plötzlich beruhigte er sich und fragte mich:

»Warum wollen Sie hier Hausmädchen werden?«