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STEFAN SCHWEIGER

PLASTIK.

DER GROSSE IRRTUM

STEFAN SCHWEIGER

PLASTIK.

DER GROSSE IRRTUM

VOM SAGENHAFTEN AUFSTIEG DER KUNSTSTOFFE UND DEM PREIS, DEN WIR HEUTE DAFÜR ZAHLEN MÜSSEN

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Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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D-80636 München

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Fax: 089 652096

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Redaktion: Kerstin Brömer

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: itestro/stock.adobe.com

Layout: Pamela Machleidt

Satz: Ortrud Müller – Die Buchmacher, Köln

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1013-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0651-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0652-1

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Inhalt

Einleitende Worte über 9 Milliarden unsichtbare Tonnen

1. Was war und ist Plastik eigentlich?

2. Halbsynthetische Kunststoffe: natürlich und künstlich

3. Plastik aus Ziegenkäse

4. Mit Pyrotechnik zum Geistesblitz

5. Billardkugeln mit Knalleffekt

6. Zelluloid – keine Bilder für die Ewigkeit

7. Vorsicht, leicht entflammbar: Kleidung als Feuerfalle

8. Tischtennissport – explosiv von 1891 bis 2014

9. Die Kunststoffinnovation industrialisiert altes Handwerk

10. Die Milch macht’s: Eine Katze erfindet den Modeschmuck

11. Kneten, formen, modellieren – Plastilin erobert die Kinderzimmer

12. Baekelands Bakelit – die wundersame Natürlichkeit des Künstlichen

13. Die Autarkieträume der deutschen Nazis

14. Literarische Plastiklügen: Anilin – Roman eines Farbstoffes

15. Plastic Man – aus Plastik formt man keinen Superhelden

16. Die nachhaltige Wucht der Plastiktüten

17. Verwehte Plastikträume

18. »Life in plastic, it’s fantastic!« – Plastik und Musik

19. Auf Plastik spielt die Musik

20. Ganz ohne »Schwedenstahl«: das Plastikfahrrad als Autoersatz

21. Vom Pfand in den Mund leben: das Flaschenpfand in der Bundesrepublik Deutschland

22. Kevlar: Die Ritterrüstung wird zur Plastikrüstung

23. Der Gummi ersetzt die Schweineblase

24. Mikroplastik – der hohe Preis der Reinlichkeit

25. YouTube-Influenza: Plastikmoral geht viral

26. Fernsehsender als Nachhaltigkeitsbeschleuniger?

27. Zum Frühstück lieber künstliches Mikroplastik oder naturbelassenes Schlangengift?

28. Von wem stammt der Plastikmüll in den Weltmeeren?

29. Mehr Nachhaltigkeit: von der Kann-Phase über die Soll-Phase in die Muss-Phase

30. Schlechte Nachrichten aus der Flaschenpost: Weg mit der Nuckelflasche

31. Kunststoffrecycling: Mogelpackungen und Mogelquoten

32. Die Kehrseite des Kunststoffrecyclings: Ein bisschen Schwund ist immer

33. Der 5-Punkte-Plan der Bundesregierung gegen Plastikmüll: Erste Schritte werden gewagt

34. Der Luftballon – nichts als heiße Luft und Plastikmüll

35. Das Projekt »The Ocean Cleanup«

36. Wie wir den Plastiklöffel abgeben

37. Wo befindet sich eigentlich die Umwelt? oder: Der Igel in der Plastikeisschale

Nachwort

Zeittafel Plastik

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Einleitende Worte über 9 Milliarden unsichtbare Tonnen

In einem Team des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen arbeitete ich 2018 an einem Projekt, das den alltäglichen Umgang mit Kunststoffen sowie deren Wahrnehmung und Bewertung erforschen sollte. Wir begannen mit einer Umfrage, um ein Gefühl für die Fragestellung zu bekommen. Dazu saßen wir abwechselnd tageweise in einem Container vor dem Museum Folkwang in Essen. Eine Frage, die wir den Ausstellungsbesuchern stellten, lautete: »Auf welches Produkt aus Kunststoff könnten Sie verzichten?« »Auf alle!«, erklärten manche mit Kunststoffbrille auf der Nase und Smartphone mit geringen Mengen Seltener Erden – jedoch jeder Menge Plastik – in der Hand.

Daraus lernt man etwas über die postmoderne Blindheit für Werkstoffe, insbesondere für den Werkstoff, der unsere Zeit wohl am stärksten prägt: Plastik. In diesem Buch verfolge ich das Ziel, das Material sichtbar zu machen und nachzuzeichnen, wie es dazu kam, dass heute etwa 9 Milliarden Tonnen Kunststoff unseren Planeten überziehen.

Den Siegeszug des Kunststoffs sahen manche schon früh voraus: 1959 ließ der Dramatiker Ezio d’Errico in seinem Stück Der Wald einen Professor erklären: »Nach der Steinzeit und der Eisenzeit leben wir jetzt im Zeitalter der Kunststoffe.« 1967 erhielt der junge Ben, gespielt von Dustin Hoffman, im mit Preisen überhäuften Film Die Reifeprüfung (The Graduate) den Rat, sich beruflich auf Kunststoffe zu konzentrieren: »There’s a great future in plastics.« Die Zukunft ist eine Projektion ins Ungewisse aufgrund einer Analyse der Vergangenheit. Die Kunststoffe hatten zu dem Zeitpunkt bereits eine lange Geschichte hinter sich. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren befand man sich schon mitten im Plastikzeitalter und trotzdem wunderte man sich noch über die Möglichkeiten dieses vom Menschen selbst geschaffenen Stoffes. Was sind Kunststoffe nur für seltsam-mystische Werkstoffe, welche die Menschen als »Wunderstoff« (Mark Miodownik) faszinierten, bald für Rohstoffautarkie sorgen sollten, die nach den zwei Weltkriegen Massenkonsum ermöglichten, deswegen bald als Ausweis für billigen Geschmack fungierten und schließlich zum Gefahrgut für Mensch und Umwelt avancierten? Den Spuren dieses Materials will ich in diesem Buch folgen. In kurzen Episoden wird die wechselvolle Mensch-Kunststoff-Beziehung nachgezeichnet und gezeigt, weshalb der Mensch die Plastikgeister, die er rief, nicht mehr loswird.

Vor Projektstart habe ich mich kaum um Kunststoffe gekümmert. Ich bin Politikwissenschaftler und Kulturanthropologe und wusste kaum etwas über die chemische Zusammensetzung der Kunststoffe, die ich tagtäglich benutze. Mir wurde klar, wie sehr Bruno Latour mit den Thesen seines Buches Die Hoffnung der Pandora den wunden Punkt des Menschen im Umgang mit den Dingen trifft: »Die Tiefe unserer Ignoranz gegenüber Techniken ist abgründig«, schreibt Latour. Ich selbst habe über Kunststoffe und ihre Rolle in meinem Alltag und unserer Welt bis vor einigen Jahren gar nicht nachgedacht. Wo befindet sich das Gummi meines abgefahrenen Reifens? Es war mir nicht einmal egal. Es existierte für mich überhaupt nicht als Fragestellung. Ich hatte das abgeriebene Material überhaupt nicht auf dem Schirm. Das meint Latour mit abgründiger Ignoranz. Abgefahrene Reifen existierten für mich nur extrem einseitig, als Kostenfaktor meiner Individualmobilität. Ich hatte einfach nur Angst vor den Reifenprofil messenden Ordnungshütern. Die Fragestellung nach dem Ort des abgefahrenen Gummi meines Autoreifens entfesselte meine intrinsische Motivation. Ich wollte mich näher mit Plastik auseinandersetzen. Ich wollte dasjenige sichtbar machen, was mir jahrelang verborgen geblieben war, obwohl – oder vielmehr weil – Plastik uns ganztägig umgibt und sogar noch in der Nacht nützlich ist. Auf welche Weise, wird später noch zur Sprache kommen (Kapitel 22).

Um dem Kunststoff-Mensch-Verhältnis auf die Schliche zu kommen, wollte ich die Spuren nachzeichnen, die Plastik in der Welt der Menschen gezogen hat und die wir bis vor Kurzem – wie den Wald vor lauter Bäumen – kaum erkennen konnten. Doch nun kehren die Kunststoffe als Plastikmüll zu uns zurück. Es steigt die Ahnung in uns hoch, dass die Zivilisation einem werkstofflichen Irrtum erlegen sein könnte. Aus der Natur scheint zurückgeworfen zu werden, was die Menschen jahrzehntelang in sie hineingeworfen haben. Kann es auf der anderen Seite aber auch sein, dass wir uns damit irren, dass die Kunststoffe das angeblich größte Umwelt- und Gesundheitsübel unserer Zeit darstellen? Ein Windrad einer stromerzeugenden Windkraftanlage hat Flügel aus Kunststoffen, ein Auto ohne Kunststoffe bringt zwangsläufig mehr Gewicht auf die Waage und hat folglich einen höheren Kraftstoffverbrauch und ohne künstliche Ersatzstoffe hätten Tiere wie der Elefant oder die Schildkröte niemals bis heute überlebt. Bei der Nachverfolgung der zahlreichen Irrtümer, die uns Menschen in die augenblickliche Situation gebracht haben, kann ich Latour nur zustimmen, wenn er schreibt, dass es »eine völlige Illusion« sei, »zu glauben, wir könnten die Technik beherrschen. Im Gegenteil, wir sind in dieses Gestell eingespannt« und irren immer weiter in der Hoffnung, uns immer besser zu irren und dadurch immer besser zu scheitern.

Irrungen, Wirrungen, Zufälle, Irrtümer, bahnbrechende Erfindungen, Vorurteile, Dystopien, Utopien und so manche Experimente, die zu teils erstaunlichen, teils skurrilen, teils gefährlichen und teils zu gar keinen Ergebnissen führten, möchte ich in diesem Buch vorstellen. Doch zunächst möchte ich eine Antwort auf die Frage versuchen, was denn Plastik eigentlich sei.

1. Was war und ist Plastik eigentlich?

Ich hatte als Schüler große Probleme, zu verstehen, was genau denn nun ein künstlicher Stoff sein soll. Mir kam das vor wie eine intellektuelle Einbildung, auch wenn ich es damals sicher nicht so formuliert habe. Schließlich stammt alles aus unserer Umwelt und letztlich doch aus der Natur. Und selbst wenn der Stoff nicht aus der nahe liegenden Umwelt kommen sollte, wird er deshalb doch nicht gleich künstlich. Mondgestein ist extraterrestrisch, aber doch nicht unnatürlich oder gar künstlich. Wie kann es Stoffe geben, die sich definitorisch außerhalb des Natürlichen bewegen? Vielleicht bieten die Definitionsversuche, der Herstellungsprozess und die aktuellen Konnotationen, die beim Wort »Plastik« mitschwingen, eine Antwort auf diese Frage.

Es gibt – Stand 2018 – laut dem Fraunhofer Institut UMSICHT mit Sitz in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen) etwas mehr als 15 000 unterschiedliche Kunststoffe unter etwa 25 000 unterschiedlichen Handelsnamen. Diese schon horrend erscheinende Vielfalt steigert sich noch mit einer Vielzahl von Additiven, die man während des Herstellungsprozesses hinzufügen kann, um bestimmte Eigenschaften für spezielle Zwecke zu erhalten. Sogenannte Slip-Additive zum Beispiel sorgen bei Polyolefinfolien für eine Verringerung des Gleitreibewertes. In der Praxis zeigt sich dies bei Schrumpffolie, wie sie tagtäglich in Lagern über Gitterboxen gestülpt wird und die durch die Slip-Additive nicht wie bei der Frischhaltefolie in unseren Küchen ständig an sich selbst festklebt. Additive sorgen also für verbesserte Eigenschaften, haben jedoch ein stoffliches Eigenleben und in der Regel mehr Eigenschaften als diejenigen, die die Qualität und damit Verkäuflichkeit des Kunststoffprodukts erhöhen. Berühmt wie berüchtig ist das Additiv Bisphenol A, das sich unter anderem als Weichmacher zum Beispiel in Babyschnullern findet und unter dem starken Verdacht steht, bei Männern die Spermienzahl zu reduzieren, und das auch für Frauen keine gesundheitsförderliche Wirkung zu haben scheint. In der Wissenschaftsgemeinde anerkannte Studien, die das reliabel und valide untermauern, stehen jedoch noch aus. Bei Kunststoffen muss man also zwischen dem Kunststoff selbst und den Additiven differenzieren.

Problemlösung beginnt stets mit Problemdefinition und definieren bedeutet differenzieren. Nichtsdestotrotz bleibt Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. Prävention besteht darin, dass man bei (Noch-)Nichtwissen erst mal vorsichtig ist. Gemeinhin wird dies als Vorsorgeprinzip bezeichnet. Das hätte der Menschheit beispielsweise bei der Atomkraft viel Leid und Jahrtausende von immensen Problemen erspart. Was da als kostengünstige Lösung aller Energieprobleme präsentiert wurde, zieht Lagerkosten in astronomischer Höhe nach sich.

Grammatisch stellt sich beim Wort »Plastik« das Problem, dass man von diesem Wort im Deutschen keinen anständigen Plural zu bilden vermag. Plastiken sucht man in Museen und Ausstellungen, bedauert aber nur selten deren Vorkommen im menschlichen Stuhl oder im Bier. Der frühe Plastikexperte Richard Escales (1863–1924) hat seine seit 1911 erscheinende Fachzeitschrift folgerichtig nicht Plastik, sondern Kunststoffe genannt und als besonders eingängigen Untertitel »Zeitschrift für Erzeugung und Verwendung veredelter oder chemisch hergestellter Stoffe mit besonderer Berücksichtigung von Kunstseide und anderen Kunstfasern, von vulkanisiertem und devulkanisiertem (wiedergewonnenem) und künstlichem Kautschuk, Guttapercha usw., sowie Ersatzstoffen von Zellhorn (Zelluloid) und ähnlichen Zellstofferzeugnissen, von künstlichem Leder und Ledertuchen (Linoleum), von Kunstharzen, Kaseinerzeugnissen usw.« gewählt. Escales hat versucht, Kunststoffe durch Aufzählung zu definieren, woran man aufgrund der Menge schon damals scheiterte. Kunststoffe galten zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ersatzstoffe. Der Kunststoffexperte Hans Sichling brachte dies für Kunstleder auf den Punkt: »Fragen wir uns nun, was man unter Kunstleder ganz allgemein versteht, so läßt sich nur sagen, daß es eben ein Produkt ist, das an Stelle von echtem Leder verwendet wird.« Sichling ist keine Ausnahme: Unter Kunstharzen verstand der Würzburger Professor Max Bottler in der Begriffsdiskussion der frühen Ausgaben von Escales’ Zeitschrift »künstlich erzeugte Harzprodukte […], welche in ihren Eigenschaften den natürlichen Harzen möglichst nahe kommen und hauptsächlich dazu bestimmt sind, natürliche Harze zu ersetzen«. Kunststoffe führten damals also ein Dasein als zweite Wahl und ihre Eltern hießen Not und Mangel. Ganz ablegen konnten die Kunststoffe dieses Image nie, auch wenn die Kunststoffexperten und -produzenten dies immer wieder versuchten.

Bereits zum 25. Jubiläum der Zeitschrift Kunststoffe wollte man die neuartigen Werkstoffe vom Dasein als Plan B emanzipieren. Es hieß in der sich selbst feiernden Jubiläumsausgabe, dass »aus den ursprünglichen Ersatzstoffen […] neuartige, selbständige Werkstoffe [wurden], die ihre Vorbilder kraft ihrer hervorragenden Eigenschaften […] für spezielle Anwendungsbereiche überflügelten und die zuletzt zur ausschließlichen Verwendung kamen«. Der Leiter der Fachgruppe Kunststoffe der Wirtschaftsgruppe Chemische Industrie und Direktor der Internationalen Galalith-Gesellschaft Hoff & Co. wandte sich in einem Leserbrief an die Fachzeitschrift und forderte, dass Kunststoffe »eine Gattung für sich bilden« und nicht länger »als sogenannte Ersatzstoffe angesehen werden dürfen«.

Ausgerechnet die Faschisten sprachen dann die Kunststoffe von ihrem Image als bloße Ersatzwerkstoffe frei. Der Grund dafür ist in politökonomischen Vorhaben der NSDAP zu finden. Die nationalsozialistische Führung wollte von anderen Staaten unabhängig sein und strebte eine rohstoffautarke deutsche Nation an. Daher unterstützte sie die Forschung zu Kunststoffen bereits kurz nach der Machtübernahme der NSDAP bis zur totalen Niederlage im Mai 1945. Es war durchaus politisch gewollt, dass Kunststoffe den Makel des bloßen Ersatzstoffes ablegen und zu eigenständigen Werkstoffen promoviert werden sollten und fortan als deutsche Kunststoffe zu gelten hatten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand der Fertigungsprozess im Vordergrund der Definition und nicht die Frage, ob Plastik etwas ersetzen solle – und falls ja, was. Bis heute unterscheidet man zwischen vollsynthetischen und halbsynthetischen Kunststoffen, wobei heutzutage 99 Prozent der Kunststoffe aus Erdöl produziert werden und als vollsynthetisches Plastik zu definieren sind. Vollsynthetisch hergestelltes Bakelit war zwar schon recht früh bekannt, dennoch wurden Kunststoffe in der Frühzeit des Plastikzeitalters noch immer vor allem aus Milch, Leinöl, Blut, Knochen, Schießbaumwolle und anderen natürlichen Ausgangsmaterialien unter Hinzugabe weiterer Bestandteile wie Formaldehyd gewonnen.

Vollsynthetisches Plastik wird durch Polyreaktionen gewonnen. So nennt man die Synthesereaktion von Monomeren mit Monomeren mit dem Ergebnis eines polymer aufgebauten Makromoleküls. Das ist kein Mischen wie bei einem Cocktail. Der neu entstandene Stoff hat erstens neue Eigenschaften und kann zweitens nicht mehr in seine Ausgangsbestandteile zerlegt werden. Einen Oldfashioned oder Manhattan könnte man im Labor unter großen Mühen in seine einzelnen Bestandteile zerlegen. Mischt man aber in der Badewanne kalt gewordenes Wasser mit heißerem, dann wird die Trennung des kalten und des warmen Wassers unmöglich. Dieses Badewannenphänomen nennt man Entropie. Bei der Synthesereaktion ist in ähnlicher Weise irreversibel etwas Neues entstanden, etwas Künstliches, ein anthropogenes Polymer.

Kunststoffe sind die Materialien des Anthropozäns, des Zeitalters, in dem vorrangig der Mensch der Erde seinen Stempel aufdrückt und das Holozän ablöst. Dieser Stempel wird für sehr lange Zeit sichtbar bleiben. Materialwissenschaftler vom Fraunhofer Institut schätzen, dass manche Kunststoffe sich in der Umwelt erst in 2000 Jahren vollständig biologisch abgebaut haben werden. Mehr als Schätzungen zu den Abbauzeiten kann die Wissenschaft noch nicht vorweisen. Klar scheint bislang nur: Es dauert sehr lange, bis Kunststoffe in der Natur abgebaut werden. Äußerst lange. Das ist der lange Arm des Plastiks, den auch der kurze Arm eines Legomännchens haben kann.

Nach den Entbehrungen der beiden Weltkriege hatte man für solche Problemstellungen noch keinen Blick. Die Menschen waren geradezu berauscht von den Möglichkeiten des Kunststoffs. Der französische Strukturalist Roland Barthes (1915–1980) sprach – vielleicht die Definitionsverschiebung bewusst erkennend – in den 1950er-Jahren von Plastik als einer »alchemistischen Substanz«, deren Geheimnis nicht allein im Wettbewerbsvorteil durch kostengünstigere und von ausländischen Märkten unabhängige Produktion liegt. Dieser Umschreibung nach war also mit dem Werkstoff Plastik ein Zauber verbunden. Und tatsächlich haben nüchterne Wissenschaftler das geschafft, was Alchemisten im Mittelalter verzweifelt versuchten: Aus einem Stoff von geringem ökonomischem Wert einen Stoff von hohem Nutz- und Marktwert zu erzeugen. Gold war es keins, aber dessen Wert wäre ohnehin durch eine mögliche Massenproduktion schnell gefallen. Entwickler und Wissenschaftler rücken in der Nachkriegszeit stärker in den Vordergrund, werden zu stereotypen Figuren, ähnlich wie unser heutiger Blick auf die Alchemisten des Mittelalters. So nennt Barthes in seinem Buch Mythen des Alltags sogar den einfachen Arbeiter mit Schirmmütze, den er bei der Bedienung einer Maschine auf einer Messe beobachtet hat, »halb Gott, halb Roboter«.

Barthes hat die Widersprüchlichkeit der Plastikwelt früh erkannt. Durch den günstigen und leicht formbaren Werkstoff meinen die Menschen, reich wie die Götter leben und die Welt nach ihrem Gusto formen zu können. Dabei stehen sie doch nur an Fließbändern und produzieren tagein, tagaus das gleiche, größtenteils unnötige Zeug mit den ewig gleichen Handgriffen. Während die Menschen eine Welt aus Kunststoffen formen, formt der Kunststoff ebenso ihre tagtäglichen Praktiken. Ohne Kunststoffe kein Coffee-to-go-Becher, keine Textmarker, kein Ablecken von Briefmarken, kein sympathischer Schuhtick, kein kunstseidenes Mädchen (Roman aus dem Jahre 1932 von der 1982 verstorbenen Irmgard Keun), kein männlicher Nylonstrumpffetisch, kein Tischtennis und keine Ü-Ei-Überschwemmung auf Langeoog. Auf die Überraschung am Strand dieser deutschen Insel werden wir noch zu sprechen kommen, ganz ohne Spannung, Spiel und Schokolade.

Kunststoffe haben unseren Alltag auf wundersame Weise verändert. Barthes nannte die Produkte, die aus Kunststoffen hergestellt werden können, ein Wunder. Doch hinter dem berauschenden Wunder stecken nüchterne Materialwissenschaft und die Verlockung, durch Investitionen aus Kapital mehr und immer mehr Kapital zu machen. Doch die Möglichkeiten, die materielle Kulturwelt so zu formen, wie man möchte, ließ auch die Wissenschaftler selbst in einem alten und doch neuen Glanz erscheinen. Die 1935 gegründete und per Satzung eng an die nationalsozialistische Ideologie gebundene »Fachgruppe Kunststoffe der Wirtschaftsgruppe Chemische Industrie« hatte zur Zeit ihrer Gründung die Telegrammadresse »Alchimie 13«.

Mit der beginnenden Umweltbewegung richtete sich der Blick auf Kunststoffe ab den 1970er-Jahren verstärkt auf das Fortexistieren des Kunststoffes nach dem Ende seiner Nutzungsphase. Diese Sichtweise war vollkommen neu. Zuvor hatte die Erde als eine unendliche Senke gegolten, quasi als Lokus, den man unendlich mit Unrat füllen kann. Mehr noch: Man dachte nicht mal darüber nach, dass die Erde eine Senke sei. Es war nicht nur fehlendes Wissen, sondern eine fehlende Fragestellung. In der Wissenschaft bezeichnet man solche (Un-)Wissenskonstellationen als unknown unknowns. Zudem hatten die Menschen die Erde als Widerpart empfunden, den sie durch ihre Kultur niederzuringen hätten. Francis Bacon (1561–1626) brachte dies durch seinen Ausspruch »Wissen ist Macht« auf den Punkt. Der Philosoph Bacon ging davon aus, dass der Mensch seine Welt durch eigene Anschauung verstehen kann und dass die Erde mithilfe dieses Wissens durch den Menschen beherrscht werden kann. Es ging Bacon nicht um die Macht von Menschen über Menschen, sondern um die Macht des Menschen über die Natur, die Nutzung der Möglichkeiten, die die Natur uns bietet, als auch die Zähmung ihrer Gewalt.

Plastik brachte eine neue Möglichkeit, die Bacon nicht auf seiner Rechnung hatte und auch nicht haben konnte: die vermeintliche Verabschiedung des Menschen von der Natur; gleichsam ein Ende des Kampfes gegen die Natur. Durch die Existenz vollsynthetischer Kunststoffe konnte sich die Menschheit von der Natur lossagen. So dachten die Menschen damals oder zumindest verhielten sie sich so, als würden sie das denken.

Die Frage danach, was Plastik denn nun sei, wurde über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren sehr unterschiedlich behandelt. Vom Ersatzstoff für Naturprodukte wurde es zum Material, das Massenkonsum ermöglichte, um schließlich aufgrund des an Wert verlierenden symbolischen Kapitals als Billigware abgetan zu werden. Mit dem ersten Bericht des 1968 gegründeten Club of Rome bröckelte die Fantasie, ein unendliches Wirtschaftswachstum auf einem endlichen Planeten generieren zu können. Es folgten Ölkrise, die Tankerhavarie der Torrey Canyon und das Ende des Bretton-Woods-Systems. In dieser Gemengelage erblühte erst zart die Umweltbewegung und tat dann immer lautstärker ihre Plastikablehnung mit »Jute statt Plastik« kund. Diese Kunststoffablehnung war aber stets an ein bestimmtes und bestimmbares Milieu in der Zivilgesellschaft gebunden. Erst seit der Entdeckung des Mikroplastiks im Jahr 2004 und der damit verbundenen Gefahr für Leib und Leben des Menschen bekam das Plastikproblem einen politischen Rang, der Forschungsgelder mit sich bringt. Politisch ist Plastikmüll nämlich ein konfliktarmes Wohlfühlthema. Von links bis rechts, vom Leiharbeiter bis zum Vorstandschef, Klein und Groß, Alt und Jung, niemand findet Plastik in der Umwelt gut, nicht mal der Kunststofflobbyist. Der Kunststofflobbyist möchte, dass sich möglichst viel Plastik im Einkaufswagen der auf Konsumenten reduzierten Bürger befindet. Anschließend findet er selbst bei der Entsorgung noch Möglichkeiten, aus dem Kapital seiner Geld- und Auftraggeber über Recycling noch mehr Kapital zu machen. Deswegen soll der Konsument nach Konsum seinen Joghurtbecher ausspülen und richtig sortieren, quasi unbezahlte Vorarbeiten für die Recyclingindustrie leisten. Plastikmüll ist ein Rohstoff und damit auch ein Handelsstoff. Alle Lastkraftwagen, die ein großes A auf ihrem Heck prangen haben, fahren nichts als Abfall durch die Gegend. Das machen die nicht nur aus Jux und Tollerei. Daran verdient jemand Geld.

Vom segensreichen Werkstoff bis zum Killer gab es viele Sichtweisen auf Plastik. Für dieses Buch gilt, dass Kunststoffe jeweils das sind, als was sie in der jeweiligen Periode begriffen wurden. Zunächst folgt eine Unterscheidung zwischen synthetischen und halbsynthetischen Kunststoffen und anschließend das erste Rezept für einen halbsynthetischen Kunststoff, das uns ein bayerischer Mönch hinterlassen hat.

2. Halbsynthetische Kunststoffe: natürlich und künstlich

Die Menschheit produzierte lange Zeit nur sogenannte halbsynthetische Kunststoffe, also Plastik, welches größtenteils aus natürlichen, nachwachsenden Materialien produziert werden kann. Heute nennt man sie oft verkaufsfördernd Biokunststoffe, was Umweltfreundlichkeit suggeriert, die aber nicht in jedem Fall eingehalten werden kann. Tabak ist analog dazu auch ein nachwachsendes Naturprodukt, doch die Inhaltsstoffe sind weder in Lunge noch im Gebirgsbach mit positiven Effekten verbunden – und bei halbsynthetischen Kunststoffen besteht in der Regel nur ein Teil aus nachwachsenden Rohstoffen, während ein anderer Teil aus Laboratorien stammt.

Zu Beginn des Plastikzeitalters gab es nur halbsynthetische Kunststoffe. Kunststoffe entsprangen in der industriellen Praxis der noch in den Kinderschuhen steckenden Plastikära dem Bedürfnis, auch aus Abfällen noch ökonomischen Wert zu pressen. Der Umweltschutz spielte dabei keine Rolle, sondern allein unternehmerische Vernunft. Diese Form von Vernunft, die von stetem Mangel und steter Not ausgeht, aber den Himmel an Unternehmensgewinnen verspricht, erzeugte anscheinend Kreativität. Gerade nach dem Ersten Weltkrieg und der horrenden Inflation infolge des weltweiten Konjunktureinbruchs der Jahre 1921 und 1922 mahnten viele Experten, Abfallstoffe als Wertstoffe anzusehen und als Werkstoffe zu nutzen. Dazu boten sie reichlich kreative Vorschläge. »Das Blut des geschlachteten Tieres wird mittelst eines trichterartigen Messers aufgefangen und restlos in einen Behälter geleitet. Gleich am Schlachtort wird Formaldehyd zugesetzt. […] 100 l Blut ergeben etwa 14 kg Trockenmasse, die in Form zackiger, kleiner Koksstückchen erscheint.« Mit Blutkunststoff wollte der Autor dieses hier zitierten Artikels der Zeitschrift Kunststoffe die deutsche Knopfindustrie retten, die vor allem durch italienische Mitbewerber unter Druck geriet. Ein anderer Autor befand, es sei »eine ungeheure Verschwendung volkswirtschaftlich wichtiger Werte, wenn man bedenkt, daß Blut genau denselben Prozentsatz an Eiweiß und Nährwerten besitzt wie bestes Fleisch. […] Eine solche Verwertung […] erfordert der Neuaufbau des Volkes und der Industrie.«

Verschwendung wurde damals als tatsächlich materielles Problem verhandelt, nicht wie heute als Wachstumsmotor der Wirtschaft oder Hipster-Lifestyle. Heute haben wir kein Input-Problem. Alles scheint auf ewig überall zu haben zu sein. Manchmal frage ich mich – beim Gang durch den Supermarkt –, wo nur all das ganze Zeug herkommt. Wo damals materielle Probleme herrschten, ist die Kritik an Verschwendung Teil einer postmaterialistischen Haltung. Kapitalistische Verhältnisse ordneten jedoch damals schon Produktion und Distribution von Waren. Es wurde von den Kaufleuten nach Möglichkeiten gesucht, am Kunststoffboom teilzuhaben. Firmen wie Lehmann & Voss & Co. aus Hamburg vertrieben das sogenannte Blutmehl zur Kunststoffherstellung. Es werden auch Verfahren beschrieben, wie man aus Sojabohnen oder Holz Kunststoffe gewinnen kann. Mit Abfällen aus Zelluloid, Stearinpech, Asphalt, Teerölen und Baumwolle, die im rechten Verhältnis gemischt werden, erhält man laut Patent der Firma Franz Goertz, die eine Fabrik für Schuhputzpräparate betrieb, eine Ausfüllmasse für Schuhwerk. Aus Frankreich stammte 1934 der Vorschlag, aus Rinderknochen Knochenleim herzustellen und daraus Schaufensterpuppen zu fertigen.

Jeder Nationalstaat suchte in den 1930er- und 1940er-Jahren, aus heimischen Rohstoffen Kunststoffe zu fertigen. Während sich die Vereinigten Staaten von Amerika bereits auf die Produktion von Plastik aus Erdöl fokussierten, setzte Brasilien 1940 auf den Versuch, plastische Massen aus Kaffeebohnen herzustellen. Der deutsche Forscher Herbert Köhle soll laut Informationen der deutschen Zeitschrift Kunststoffe aus dem Jahr 1940 solche Ideen schon Jahre zuvor gehabt haben. Doch aus Zeiten des Dritten Reiches sind Quellen, die Deutsche als schlauer, schneller und besser als Angehörige anderer Nationen darstellen, mit höchster Vorsicht zu genießen.

Solche Ideen werden heute wieder aufgegriffen: Die Hochschule Hannover forscht zur Herstellung von Kunststoffen aus Kaffeesatz. Sollte das gelingen, könnte Starbucks zu einem neuen Rohstofflieferanten für Kunststoffhersteller avancieren. Im Moment verschenken manche Filialen dieses weltumspannenden Konzerns mit den skurrilen Kaffeespezialitäten ihren Kaffeesatz als Gartendünger. Auch aus dem Mehl von Sojabohnen wollte man Phenolharz-Pressmassen herstellen. Insbesondere die gute Färbbarkeit des Materials hob man dahingehend hervor. Heute gilt die Ernährung mit Sojaprodukten als besonders klimaschonend. Jedoch landet Soja in der Hauptsache in Futtertrögen und zu selten auf Tellern. Zudem verbraucht der Sojaanbau Flächen, die dann nicht mehr Bäumen zur Verfügung stehen, die als Gratisdienstleistung der Natur CO2 abbauen. In der Kunststoffproduktion sind die verwendeten Mengen kaum relevant, was sie aber nicht von den Umweltsünden losspricht. Wir sind mit der globalen Erwärmung an einem Punkt angelangt, an dem bald jeder dürre Baum zählt.

Während des Zweiten Weltkrieges war die deutsche Forschungsszene nahezu panisch auf der Suche nach Möglichkeiten zur Produktion neuer Kunststoffe. Die Forschungen zur Herstellung von Kunstfasern aus Meeresalgen beispielsweise scheiterten jedoch an der sich ständig verändernden Zusammensetzung von Meeresalgen bei sich verändernden Witterungsverhältnissen. Allein zur Frühjahrszeit erschien es möglich, die richtige Zusammensetzung zu erhalten. Da aber auch dies zu unsicher war, unterließ man weitere Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet. Auch hier versuchen heute Pioniere der Biokunststoffe Fuß zu fassen. Dem Franzosen Rémy Lucas gelingt, was den Deutschen zur Zeit des Naziregimes nicht gelang: die Herstellung von Biokunststoff aus Algen. Der Sohn von Algenzüchtern vertreibt inzwischen Verpackungen, die er an Großbäckereien ausgibt, zudem produziert er Strandspielzeug für Kinder. Doch der niedrige Kohlenhydratgehalt der Algen lässt Experten daran zweifeln, ob diese Idee sich wirklich trägt. Mehr als Füllmaterial werden sie kaum bieten können.

Essen könnte man die Algen auch. Wenn es ums Essen geht, werden die Menschen schnell moralisch. Kein Wunder, denn über 40 000 Jahre war der volle Magen eines der Hauptthemen der Menschen. Heutzutage entspinnt sich die Debatte meist am Mais: Tank oder Teller, lautet hier die Frage. Journalisten und Autoren greifen dieses Thema nur zu gern auf, weil sie damit eine Nähe zum Leser herstellen können. Die Leser kann man deshalb so gut einfangen, weil die Beifahrer im Individualverkehr auf den Land- und Bundesstraßen oft minutenlang in Maisfelder hineinträumen können. Kritiker sprechen gar von einer Vermaisung der Landschaft. Man diskutiert in diesen Texten die moralisch aufgeladene Frage, ob man aus Mais Bioethanol gewinnen sollte, um diesen als Kraftstoff für die Individualmobilität zu nutzen, oder ob man damit die Hungernden in der Welt ernähren sollte. Statistisch gesehen ist es zwar inzwischen wahrscheinlicher, dass man aufgrund von Fettleibigkeit frühzeitig den Plastiklöffel abgibt, aber das hilft dem einzelnen Hungernden auch nicht weiter. Dort, wo noch Hunger grassiert, erscheint es unangebracht, grobschlächtige Statistiken zu zitieren, während man sich Formfleisch von Tieren aus Massentierhaltung zwischen zwei Industriebrötchenhälften einverleibt. Die Debatte könnte man also auf die Alternativen Tank, Plastikteller oder Essen ausweiten. Aus Mais lässt sich schließlich auch Plastik gewinnen. Während des Zweiten Weltkrieges konnten die deutschen Kunststoffspezialisten nur spekulieren, wie die Amerikaner das anstellten und wie sie zu ihren damals sogenannten Mazeín-Kunststoffen gelangten.

Auch heutige Biokunststoffe werden aus Mais hergestellt. Die Tatsache, dass sie aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden, bedeutet jedoch erstens nicht, dass diese in der Umwelt besser abgebaut werden können, und geht zweitens damit einher, dass dafür Landfläche aufgebracht werden muss, die nicht anders genutzt werden kann, und dass womöglich Waldflächen für den Anbau gerodet werden müssen. Drittens bedeutet dies, dass der Austrag von Pestiziden notwendig wird, möchte der Maisbauer auf dem Markt konkurrenzfähig bleiben, und viertens schlicht und ergreifend, dass es moralisch durchaus fragwürdig ist, potenzielle Nahrungsmittel zu Kinderspielzeug zu verarbeiten, solange auf dieser Erde noch Kinder hungern. Es ist eine politische Frage, die jedoch viel zu wenig politisch geführt wird. Stattdessen wird sie an die Kassen der Warenhäuser und Supermärkte sowie immer mehr an die Bestellsysteme im Internet delegiert. Demokratie soll man inzwischen wohl mit dem Geldbeutel erledigen. Für mich ist das eine komische Vorstellung. Soll man denn nun auch Heroin erlauben in dem Glauben, dass die Zahl der Nachfrager mit gutem Zureden schon abnehmen werde? Die westlichen Gesellschaften sind bevölkert von Plastikjunkies und auch ich tippe gerade auf Plastiktasten mit Blick auf einen Plastikmonitor, gekleidet in Polyester werde ich gleich einen Schluck stilles Mineralwasser aus einer Plastikflasche trinken. Prost.

Halbsynthetische Kunststoffe lassen manche Ekel empfinden, wenn sie sich vorstellen, dass die Verpackung ihres Duschgels aus Blut- und Knochenmehl gefertigt wurde. Positiv bewerten dagegen viele, dass hier die Pole Kultur und Natur miteinander verknüpft werden. Halbsynthetische Stoffe wirken natürlicher, dadurch sympathischer, und erhalten auf diese Weise ein Image von Nachhaltigkeit und Ursprünglichkeit. Nichtsdestotrotz hat man es auch bei halbsynthetischen Kunststoffen mit Kunststoffen zu tun, auch wenn die Füll- oder auch Werkstoffe aus Pflanzen, Tieren oder schnödem Abfall gewonnen werden.

Während des Zweiten Weltkrieges wurden die halbsynthetischen Kunststoffe Heimstoffe, seltener auch Sparstoffe genannt. Sie sollten den Nachschub für die deutsche Wehrmacht sichern. Heute sollen sie uns vor einer Verschlimmerung der selbst verschuldeten Ökokrise retten. Das eine hat nicht funktioniert. Das andere wird wahrscheinlich auch nicht funktionieren. Der Blick in die Zukunft ist jedoch immer voll glänzend schimmernder Potenzialität. Jede Idee erscheint als Zukunftsfantasie vielversprechender, als ihre Umsetzung dann hergibt, vor allem, weil im Rausch der ersten Idee, des ersten Prototyps die Nebenwirkungen der Innovation noch gar nicht überblickt werden können. Kurz gesagt gilt der alte Spruch: »Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.«

Für eine nüchterne Zukunftsprognose hilft daher vielleicht ein Blick zurück in Zukunftsvorstellungen früherer Jahre. Der amerikanische Genforscher Chris Somerville wird im Magazin DER SPIEGEL im Jahr 1995 als »Prophet eines neuen Biozeitalters« gefeiert, da er zu zeigen vermochte, dass aus Zuckerrüben Plastik hergestellt werden kann. Ausgerechnet aus Zuckerrüben, einer Kulturpflanze, die sich der Mensch aus der Wilden Rübe (Beta vulgaris) herangezüchtet hat. Wo endet hier das vom Menschen aus der Kultur heraus definierte Natürliche und wo beginnt die Künstlichkeit? Im Jahre 1997 war sich der Danone-Geschäftsführer Bernard Hours sicher, dass in »zehn Jahren […] die gesamte Milchindustrie ihre Produktion auf naturnahe Verpackungen umgestellt« haben würde. Nun sind mehr als zwanzig Jahre vergangen und die große Mehrheit der Joghurtbecher wird nach wie vor nicht aus halbsynthetischem Material hergestellt. Selbst wenn das der Fall wäre, dann wäre der Nutzen, gemessen an einer Ökobilanz, gar nicht geklärt. Danone zeigte sich 2001 beleidigt und begründete das Ende dieser Forschung mit der hohen Zahl der »Fehlwürfe« der Kunden. An der Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit der Bürger – so wurde der Anschein erweckt – scheitern die Nachhaltigkeitsbemühungen der Industrie. Der Schwarze Peter, er landet doch immer zielsicher beim Bürger in seiner Rolle als Geldgeber, als Konsument. Danone warb mal für einen Fruchtjoghurt mit dem Spruch: »Irgendwann kriegen wir euch alle!« Sie scheiterten mit ihren »naturnahen Verpackungen« an ihrem eigenen Anspruch, nicht am blöden Verbraucher. Wenn der Hund den Hasen nicht erwischt, gilt nicht der Hase als der Schuldige. In der Welt der Nahrungsmittelindustrie wird dies anders gesehen. Es ist die wohlbekannte alte Leier: Immer sind die anderen schuld; am besten eine amorphe Masse. Denn wenn alle schuld sind, da jeder irgendwas kauft, dann trägt irgendwie niemand Schuld – oder nur eine diversifizierte und damit so geringe, dass es sich nur um kleine Umweltsünden und nicht um Umweltverbrechen handelt, und kleine Sünden sind schnell vergeben. Der Katholik spricht ein Vaterunser und betet einen Rosenkranz herunter und schon heißt es: »Schwamm drüber!« Aufwandsarm sind alle ent-verantwortet und können so weitermachen wie bisher. Schön praktisch eingeschweißt sind die wenigen Äpfelsorten, die man noch kaufen kann. Privatunternehmen verdienen sich mit diesem billigen Verpackungsmaterial eine goldene Nase. Der Verbraucher hat’s weiterhin bequem, es gibt keine Druckstellen auf dem Obst, und die kleinen Aufkleber auf den Äpfeln sind im Park schnell abgekratzt und weggeschnippt, während Steuergelder aufgewendet werden müssen, um die Freiflächen, Straßen und all die anderen öffentlichen Plätze vom Plastikmüll zu befreien. Jeder macht, was jeder macht, und entschuldigt sich mit dem Verhalten der anderen, damit das Rad der Wirtschaft sich weiterdrehen kann.

Die Bürger sind Plastikjunkies, sie wollen den billigen Kick, den Konsumrausch. Es ist, wie der Ruhrpottbarde Herbert Grönemeyer trällert: »Kaufen macht so viel Spaß.« Die Firmen, die mit Plastik Kapitalberge anhäufen, sind die Dealer für diesen Spaß, bis die günstigen Kredite aus der Fernsehwerbung (»Das kann ich auch!«, »Der Wie-für-michgemacht-Kredit«) von den Konsumwilligen mitsamt Zins, Gebühr und Mahnkosten zurückgezahlt werden müssen. Und wie Junkies so sind, lassen sie sich leicht verwirren. Es fällt den Konsumenten sehr schwer, zwischen Biokunststoffen und biologisch abbaubaren Kunststoffen zu unterscheiden. Dies ist in Fragen nachhaltigen Konsums jedoch von entscheidender Bedeutung. Nur weil nachwachsende Rohstoffe als Füllstoffe dienen, ist das Produkt aus Kunststoff nicht zwingend biologisch abbaubar. Und was biologisch abbaubar bedeutet, ist den Konsumenten auch nicht klar. Es bedeutet nämlich nicht, dass man den Kunststoffabfall wie abgenagte Apfelgehäuse oder Dünger ansehen kann. Sogenanntes Bioplastik im Meer, auf Äckern, auf dem hauseigenen Kompost oder im Wald unterliegt anderen Bedingungen als die Verwertung auf einem Industriekompost, der eine besondere Umgebung mit speziellen Bedingungen bietet. Verrottet der Kunststoff nur dort, dann kann der Beitrag zum Umweltschutz gering sein. Es kann sogar sein, dass sich so manch einer denkt: »Ach, ich werf’s einfach in die Hecke an der Ecke, ist ja ein Biokunststoff.« Schon ist mehr verloren als gewonnen und würde dann bestätigen, dass das Gegenteil von gut gut gemeint ist.

Umweltschutz war für den nächsten Protagonisten der Kunststoffgeschichte, die voller Missverständnisse steckt, kein Thema. Wolfgang Seidel experimentierte im ausgehenden Mittelalter mit Ziegenkäse als Hauptbestandteil von Plastik. Dank Georg Schnitzlein, der bereits 1981 zur Geschichte dieses Stoffes forschte und dessen Schriften es noch immer wert sind, gelesen zu werden, können wir uns heute beispielsweise Schmuck aus diesem frühen Kunststoff in der eigenen Küche selbst zusammenkochen.

3. Plastik aus Ziegenkäse