Gabriel García Márquez

Niculina trieb jeden Morgen die Geißen hoch auf die Foppa da trais, eine kleine Senke mit gutem Gras und einem Bächlein. Vom Maiensäß ihrer Eltern schlängelte sich ein Pfad empor, aber Niculina trieb die Herde steil den Hang hinauf und rannte und kletterte mit den Geißen um die Wette und hetzte sie, als wäre sie ein Wolf.

Sie knurrte und rief: »Rennt, oder ich fresse euch.«

 

Drei Familien teilten sich die Foppa da trais als Weide, darunter auch Ladinas. Ihr Maiensäß lag gleich neben der Senke, und wenn Niculina am Morgen mit den Geißen ankam, war Ladina mit ihrer Herde meist schon dort. Die Tiere fraßen über die Senke verstreut, Ladina selbst saß mit einem aufgeschlagenen Buch im Schoß beim Bach, darin hatte sie einen Haufen Gänseblumen

»Warum tust du das?«, fragte Niculina an jenem Morgen, nachdem sie keuchend die Senke erreicht hatte, und ließ sich neben Ladina ins Gras fallen. »Die Geißen fressen sie doch nur.«

»Ja, aber sie fressen sie gern.«

Ladina legte ihr verspielt einen ihrer Kränze auf das Gesicht. Gleich kam Fleck, eine von Niculinas Geißen, und mümmelte.

Niculina stieß sie weg, Ladina lachte.

»Willst du wissen, was ich lese?«, fragte sie, wartete aber Niculinas Antwort gar nicht ab. »Ein Buch über Alpengärten. Wir müssen dann unbedingt ein Beet Lupinen haben. Ein Süppchen von Lupinenbohnen ist das Gesündeste überhaupt.«

»Wer ist ›wir‹?«, fragte Niculina, obwohl sie die Antwort schon kannte.

Ladina sagte oft solche Dinge, als hätten sie je abgemacht, zusammen einen Bauernhof zu führen.

 

Dann kam Peider. Er war kein Bauernkind, sondern der Sohn eines Kaufmanns, Armon. Sie hatten ihr Maiensäß erst dieses Frühjahr erstanden,

In den ersten Sommerwochen war Peider noch nicht aufgetaucht. Dann hatte Ladina beobachtet, wie er oben auf dem Grat mit dem Feldstecher Ausschau hielt, und offenbar hatte auch er sie entdeckt, denn noch am selben Tag kam er in die Senke herab und gab vor ihr an. Seither war er jeden Tag da.

Allerdings kam er ohne Ziegen.

Als Ladina wissen wollte, wo er die Tiere gelassen habe, behauptete er, dass ein Wildmanndli sie hüte, Giki-Gäki mit Namen.

Sie fragte, was er dann den ganzen Tag so tue, wenn er keine Herde zu hüten habe, und Peider behauptete, er suche Schätze. Von denen seien nämlich ganz viele in den Bergen versteckt, man müsse sie nur finden. »Und darüber, wie man sie findet«, sagte er, »habe ich ein Buch.«

Außerdem hätten sie vor allem Kühe, und die

Dabei stand er die ganze Zeit mit dem Rücken zu Niculina, auch als er Ladina von einem Gamskäslein anbot, das der Giki-Gäki ihm zum Dank für seine Freundschaft geschenkt habe.

Niculina linste ihnen über die Schultern.

»Der sieht aber aus wie ganz normaler Geißkäse«, stellte sie fest.

»Er schmeckt süß«, sagte Ladina, »süßer als unser Geißkäse.«

»Dann wird es eben Geißkäse mit Zucker sein.«

Niculina stand auf, um ihre Herde höher zu treiben. Dabei versprengte ihr eine Geiß, und als sie ihr schimpfend nachrannte, rief Peider: »Mein Giki-Gäki hat siebentausend Gämsen, und die kommen alle, wenn er nur durch die Finger pfeift.«

»Und wo soll es hier oben siebentausend Gämsen haben?«, fragte Niculina, obwohl sie sich vorgenommen hatte, nichts zu sagen.

»Hinter dem Munt Nair«, erklärte Peider altklug. »Die kann nicht jeder sehen, dazu braucht es ›die Gabe‹.«

Ladina wollte jetzt natürlich wissen, wie man »die Gabe« bekam, und Peider rückte näher zu ihr, um es zu erklären.

 

Ladina und Peider sahen schweigend zu, dann sagte Peider: »Der Giki-Gäki hütet auch barfuß, aber in einen Stein gelatscht ist er noch nie.«

Niculina beschloss, ihn zu überhören, und trieb die Herde weiter in ein Kleefeld, wo sie ihre Ruhe hatten.

 

Am Abend versuchte sie zu Hause, ihre Schuhe zu flicken, aber sie waren nicht nur völlig zerlöchert, sondern auch hoffnungslos zu klein.

Ihre Eltern sprachen gerade über die kranke Großmutter, die Nona. Doch irgendwann stellte Niculinas Mutter, Luisa, fest: »Das Mädchen braucht Schuhe.«

»Vielleicht im Herbst, wenn der Käse verkauft ist«, antwortete Linard, ihr Vater. »Ich will bei Armon nicht noch mehr Schulden machen.«

»Ich brauche keine Schuhe«, sagte Niculina. »Ich gehe gern barfuß.«

»Sonst nimm halt meine«, schlug Linard vor. »Ich kann auch ohne Schuhe in den Stall. Stopfst

»Ich sage doch, ich brauche keine«, wiederholte Niculina.

»Oder nimm meine«, sagte Luisa.

Da wurde es Niculina zu bunt, sie schleuderte die Schuhe in die Ecke und ging aus der Hütte.

Sie hörte, wie Luisa zu Linard noch sagte: »Sie wird in letzter Zeit immer so schnell wütend.«

Und Linard: »Das ist das Alter.«

Dann war sie bei den Geißen und griff sich ein Kitz, um zu kuscheln.

»Ihr habt es gut, seid ihr keine Menschen«, sagte sie.

Doch das Geißlein wand sich, bis sie es fahren ließ.

 

Als Niculina am nächsten Tag auf die Foppa da trais kam, war Peider schon bei Ladina, und um ihnen aus dem Weg zu gehen, trieb sie die Herde an der Senke vorbei.

»Wisst ihr noch? Dort hinten war letztes Jahr der Wolf«, erzählte sie den Geißen, als sie sich niederließen, und schaute wieder nach ihm aus. »Es war der letzte Tag auf der Alp. Als mir die Mizi versprengt ist und ich ihr nach bin, stand er plötzlich dort

Sie legte sich auf den Rücken, kaute auf einem Halm und betrachtete den Himmel.

»Wenn er dieses Jahr wiederkommt, gehe ich ihm nach.«

 

Am Nachmittag, auf dem Rückweg zum Maiensäß, wollte sie sich wieder an der Foppa da trais vorbeischleichen. Doch Ladina hatte sie gesehen und winkte sie zu sich. Sie und Peider saßen auf der leichten Erhebung, die die Senke begrenzte, und waren dabei, mit Peiders schickem Feldstecher das kleine Bauerndorf im Tal zu beobachten, in dem sie ihre Höfe hatten und den Winter über lebten.

Im Frühling zogen sie jeweils mit dem Vieh auf das Maiensäß und ließen es dort weiden, im Sommer trieben sie die Tiere gar noch höher, bis unter die Gipfel.

Von hier aus hörte man auch die Schläge der Totenglocke aus dem Tal heraufdringen.