Über Paul Theroux

Ob er mehr Länder bereist hat als Bücher geschrieben, weiß womöglich nicht einmal der Autor selbst. Seine Bibliographie ist so lang wie das Register eines Atlas. Ruhm erlangte Theroux als Reiseschriftsteller, der vor allem mit dem Zug oder im Faltkanu die Welt erkundete. Ein Basar auf Schienen oder Der alte Patagonien-Express gelten längst als moderne Klassiker. Aber darüber sollte man den Romancier Theroux nicht vergessen, zu brillant, zu unterhaltsam sind seine Romane und Erzählungen. Gelebt hat Paul Theroux, der 1941 in Medford, Massachusetts geboren wurde, in Italien, Malawi, Uganda, Singapur und London. Heute sitzt er, wenn er nicht gerade unterwegs ist, an seinem Schreibtisch auf Cape Cod in Hörweite des Atlantiks. Und falls es dort im Winter zu sehr stürmt, schreibt er in seinem Haus auf Hawaii.

Immer, wenn ich fedrig leichten Schnee an einer Scheibe herabrieseln sehe und er sich zu einem weißen Polster auf der Fensterbank türmt, während der Wind leise stöhnend durch eine Ritze in ein Zimmer drängt, wo Flammen im Kamin singen, muss ich an das Weihnachtsfest denken, an dem ich neun war, und an unser Haus in Indian Willows.

Wir hatten uns verirrt, das sagte mir Vaters frostige Stimme. Er blaffte mich und dann meinen kleinen Bruder Louis an. Hätte er gewusst, wo wir waren, hätte er Witze mit uns gemacht. Wir fuhren in unserem Familienauto über Land. Als es anfing zu schneien und der Wagen auf der vereisten Straße schlingerte, beugte sich Vater knurrend übers Lenkrad. Das Land war weiß

Die Fahrt war an sich eine harmlose Unternehmung. Bis Weihnachten waren es noch drei Tage, wir wollten zum ersten Mal in das Haus. Mein Vater war gerade von einer Rundreise in Asien zurückgekommen – er war Vertreter –, und unsere Freude über seine Rückkehr war groß. Am Anfang der Reise hatten wir uns gebannt seine Geschichten angehört – von Schlangenbeschwörern, von Elefanten, die dazu abgerichtet wurden, Rupien zu erbetteln, und von Tanzbären. Er hatte von einem Affen gehört, der immer mit einem Tiger reiste, weil der Tiger blind war und den Affen als Pfadfinder brauchte. Es waren magische Geschichten, und ich spürte, dass auch Vater von dieser Magie, diesem Zauber angerührt war. Seine Erzählungen weckten in uns die Sehnsucht,

Vater widersprach. »Man muss nicht so weit gehen, um Magie zu erleben«, sagte er – und in diesem Augenblick fing es an zu schneien. Er lächelte. »Was ist Magie?«, fragte er. »Etwas, das als Beweis für etwas angeführt wird, was man nicht unbedingt verstehen muss, aber glauben soll. Der Trick ist der Befehl des Magiers, der da lautet: ›Glaubt an mich.‹«

Wir sahen auf den Schnee. Er wogte im Wind, es war, als wehten uns weißgekleidete Gespenster auf der Straße entgegen.

»Magie gibt es überall«, sagte Vater.

»In unserem Haus?«, fragte Louis.

»Überall«, bekräftigte Vater, »vor allem aber hier.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an den Kopf.

Ich sah mir die Aufnahme an. »Gibt es da auch Kinder?«

»Keine Nachbarn weit und breit«, erklärte er stolz. »Keinen einzigen. Es ist ganz abgelegen.«

Ich war enttäuscht, denn ich hatte auf andere Kinder zum Spielen gehofft. Und deshalb fürchtete ich mich, noch ehe wir unsere warme Stadtwohnung verlassen hatten, vor dem riesigen Holzhaus mit den dunklen Fenstern und dem grünen Hahn auf der Wetterfahne. Ich wollte da nicht hin, besonders nicht zu Weihnachten, wo ich zu Hause alles hatte stehen und liegen lassen. Aber Vater meinte, das Haus würde uns bestimmt gefallen. »Es hat einen Kamin«, sagte er. »Einen ganz großen altmodischen. Wir können Holz hacken und ein gewaltiges Feuer machen.«

An einem kalten Morgen fuhren wir los. Es war so früh, dass die Straßenlaternen noch brannten, einsame gelbe Leuchtfeuer in der leeren Stadt. Wir fuhren durch die Dunkelheit, als wären wir auf der Flucht. Wir hatten einen Picknicklunch mitgenommen, den wir am Straßenrand im Auto verzehrten, und während Mutter Sandwiches verteilte, studierte Vater die Karte. Am späten Nachmittag auf einer schmalen Straße (Vater

»Können wir anhalten und was kaufen?«, fragte ich.

Aber ich wollte nichts kaufen, ich wollte wissen, warum diese Häuser verlassen waren.

»Geht nicht«, sagte Vater. »Sie haben nur im Sommer geöffnet.«

Der Sommer schien sehr fern. Von der langen Fahrt und der Winterkälte war mir übel. Ich beneidete Louis, der fest schlief und schnarchte, die Hände in den Taschen vergraben.

»Warum?«, wollte ich fragen, aber da herrschte Vater uns an, wir sollten still sein. Mutter beugte sich nach hinten und strich mir übers Haar. Ich wusste, dass Vater sich verfahren hatte. Deshalb wirkte er so wütend, aber in Wirklichkeit sorgte er sich.

»Im Winter geschlossen«, sagte Vater und fluchte mit Wörtern, die er uns immer verboten hatte.

Der Wagen wurde langsamer. Durch den Schnee, der im Scheinwerferlicht tanzte, sah ich eine Kreuzung.

Mutter raschelte mit der Karte. »Ich werde daraus nicht klug«, sagte sie.

»Fahr nach links«, sagte ich.

Vater drehte sich um. »Warum?«

Die linke Straße war breiter, ich sah Reifenspuren und Telefonmaste und einen vertrauenerweckend soliden Zaun. Sie strahlte Sicherheit aus. Aber ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte. Auf breiten Straßen hatte ich immer das Gefühl, als wären wir auf dem Weg nach Hause, auf schmaleren hatte ich meine Zweifel, ob wir je ankommen würden, und bei ganz kleinen Straßen war mir, als könnten wir einfach verschwinden – da vorn, wo sie scheinbar aufhörten.

»Weil auf dieser hier Spuren sind«, sagte ich.