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Die
Kunst
des
Gehens

Ein literarischer Wegbegleiter

Herausgegeben von Stefan Geyer

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Inhalt

Vorwort

»Man fällt dabei von einem Fuß auf den andern«

»Langsam durch belebte Straßen zu gehen«

»Lichte, freie Weite in allen Richtungen«

»Meile um Meile ging ich, ohne den geringsten Anflug von Anstrengung«

Quellenverzeichnis

Editorische Notiz

Vorwort

»Es würde alles besser gehen, wenn man mehr ginge.«

Johann Gottfried Seume

Ich gehe. Mit diesem einfachen Satz besitzen wir den Schlüssel zu einem erfüllteren, intensiveren und nicht zuletzt gesünderen Leben. Wer hinaustritt, die Tür hinter sich schließt und einfach losgeht, wird schon nach kurzer Zeit die eigene Lebendigkeit spüren. Der Wind weht um die Nase, die Vögel zwitschern und die Geräusche von Stadt und Land werden unmittelbar wahrnehmbar. Es sind Schritte heraus aus dem Alltag und hinein in ein freieres Leben. Wir folgen dabei ausschließlich unserem eigenen Rhythmus, niemand diktiert uns Tempo und Richtung. Im Gehen sind wir frei. Die Gedanken verlassen ausgetretene Pfade, wenden sich bislang unbekannten Themen zu und bescheren uns neue Ideen. Unser Blick schweift ohne Einschränkung durch die Umgebung, bislang übersehene Details fordern unsere Aufmerksamkeit, die Umgebung ist unmittelbar wahrnehmbar. Die Welt wird größer. Daher folgt auf »Ich gehe« stets »Ich sehe«. »Ich ging durch Paris, folgte unwillkürlich den Straßen, ging ohne Ziel und Sinn, um zu gehen, um zu sehen; […].« So schreibt Tomas Espedal in seinem Roman Gehen oder die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen, (Berlin 2011). Oder, wie es bei Aurel Schmidt heißt: »Gehen, um zu sehen.« (Gehen, Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2007).

Das Zufußgehen erfüllt viele Zwecke – es dient der Fortbewegung, der Gesundheitsvorsorge, der Erholung, es schult die Aufmerksamkeit und fördert die Fähigkeit zu denken. »Heute ist ein Fußgänger ein ungleich aufmerksamerer Beobachter seiner Umwelt als jeder mobilisierte und motorisierte Mensch, der gebannt auf die Strasse schaut oder auch bloß auf das Armaturenbrett vor sich, aber nichts sieht von der Welt, durch die er fährt.« (Aurel Schmidt, Gehen, S. 68). Gehen ist ein kreativer Akt. Wer zu Fuß geht, eignet sich die Welt an, ohne sie zu okkupieren.

Für viele Autoren ist regelmäßiges und ausdauerndes Gehen unverzichtbar für den kreativen Prozess. »Ich kann nur beim Gehen denken; sobald ich anhalte, denke ich nicht mehr, und mein Kopf geht mit den Füßen«, sagte Jean-Jacques Rousseau. Friedrich Nietzsche ergänzte in Ecce Homo: »So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.« Und Søren Kierkegaard riet in den Briefen an Henriette Lund: »Vor allem aber verliert nicht den Wunsch zu laufen. Jeden Tag laufe ich mich selbst in einen Zustand des Wohlbefindens hinein und laufe jeder Krankheit davon. Ich habe mich selbst in meine besten Gedanken hineingelaufen und kenne keinen Gedanken, der so schwer ist, dass ich ihm nicht davonlaufen könnte.« Ein weiterer regelmäßiger Spaziergänger, Franz Kafka, notierte in seinen Tagebüchern: »Jetzt aber laß mich noch ein wenig spazierengehn, damit sich meine Gedanken klarer entwickeln.«

Lange Zeit war das Spazieren oder Flanieren ein männliches Privileg. Frauen, die ohne männliche Begleitung über das Land oder durch die Stadt spazierten, genossen alsbald einen sehr zweifelhaften Ruf. Das änderte sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts, als auch Frauen begannen Städte zu Fuß zu erkunden, Virginia Woolf in London etwa oder Jean Rhys in Paris. Eine frühe Spaziergängerin lernen wir in Dorothy Wordsworth kennen, die zunächst nur als die Schwester des romantischen Dichters William Wordsworth wahrgenommen wurde. Sie dokumentierte bereits um 1800 lange Spaziergänge, die sie regelmäßig in der Begleitung ihres Bruders unternahm, in ihren Tagebüchern (The Grasmere Journals), die erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Es ist Virginia Woolf zu verdanken, die sich regelmäßig in ihren Essays mit den Tagebüchern Dorothy Wordsworths beschäftigte, dass dieser romantischen Autorin posthum die Aufmerksamkeit zuteilwurde, die sie verdient.

Folgen wir also den Gedanken dieser Autorinnen und Autoren auf ihren Wegen durch Landschaften und Städte und lernen, mit offenen Augen durch die Welt zu GEHEN.

Stefan Geyer

»Man fällt
dabei
von
einem Fuß
auf
den andern«

Über das Gehen

Honoré de Balzac

Theorie des Gehens

Da wir nun in einer Zeit leben, in der mit jedem neuen Tage eine unendliche Zahl ideenhungriger Gehirne aufsteht, die abzuwägen weiß, was an Profit in einer Idee steckt und sich eiligst auf Ideenjagd begibt, weil jeder neue Daseinszustand unter dem Monde eine Idee erzeugt, die nur diesem eigen ist, kann es da nicht als höchst verdienstvoll gelten, in Paris, auf diesem gut durchforschten Boden, eine Ader zu finden, der noch ein Klümpchen Gold abgerungen werden kann? Das mag anspruchsvoll klingen, aber verzeihen Sie dem Autor seinen Ehrgeiz, ja, gestehen Sie ihm diesen doch bitte zu. Ist es in der Tat nicht merkwürdig, daß, seit der Mensch geht, niemand sich je gefragt hat, warum er geht, wie er geht, ob er geht, ob er besser gehen könnte, was er beim Gehen tut, ob es kein Mittel gäbe, seinen Gang zu reglementieren, zu verändern, ihn zu analysieren? Fragen, die jedes philosophische, psychologische und politische System, das die Welt jemals beschäftigt hat, angehn?

Franz Hessel

Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen

Das Spazierengehn, diese recht altertümliche Form der Fortbewegung auf zwei Beinen, sollte gerade in unserer Zeit, in der es soviel andre weit zweckmäßigere Transportmittel gibt, zu einem besonders reinen zweckentbundenen Genuß werden. Zu deinen Zielen bringen dich vielerlei Vehikel, Fahrräder, Trambahnen, private und öffentliche, winzige und mächtige Benzinvulkane. Um etwas für deine Gesundheit zu tun, pflegst du, moderner Mensch in der Stadt, wo du weder Skilaufen noch segeln und nur mit einem ziemlich komplizierten Apparate rudern kannst, das sogenannte Footing. Das hat beileibe nichts mit Spazierengehn zu tun, das ist eine Art beschwingten Exerzierens, bei dem man so beschäftigt ist, die Bewegungen richtig auszuführen und mit dem richtigen Atmen zu verbinden, daß man nicht dazu kommt, sich zu ergehen und dabei gemächlich nach rechts und links zu schauen. Das Spazierengehn aber ist weder nützlich noch hygienisch. Wenns richtig gemacht wird, wirds nur um seiner selbst willen gemacht, es ist ein Übermut wie – nach Goethe – das Dichten. Es ist mehr als jedes andre Gehen zugleich ein Sichgehenlassen. Man fällt dabei von einem Fuß auf den andern und balanciert diesen angenehmen Vorgang. Kindertaumel ist in unserm Gehen und das selige Schweben, das wir Gleichgewicht nennen.

Ich darf in diesen ›ernsten Zeiten‹ das Spazierengehn jedermann, der einigermaßen gut auf den Beinen ist, getrost empfehlen. Es ist wohl das billigste Vergnügen, ist wirklich kein spezifisch bürgerlich-kapitalistischer Genuß. Es ist ein Schatz der Armen und heutzutage fast ihr Vorrecht. Gegen den zunächst berechtigt erscheinenden Einwand der Beschäftigten und Geschäftigen: ›Wir haben einfach keine Zeit, spazieren zu gehn‹ mache ich dem, der diese Kunst erlernen oder, wenn er sie einmal besaß, nicht verlernen möchte, den Vorschlag: ›Steige gelegentlich auf deinen Fahrten eine Station vor dem Ziel aus und lege eine Teilstrecke zu Fuß zurück. Wie oft bist du, gerade du Exakter, Zeitsparender, Abkürzungen berechnender und nutzender, zu früh am Ziel und mußt eine öde leere Wartezeit in Büros und Vorzimmern mit Ungeduld und verärgerter Zeitungslektüre verbringen. Mach Minutenferien des Alltags aus solcher Gelegenheit, flaniere ein Stück Wegs.‹ ›Flanieren, das gibt es nicht mehr‹, sagen die Leute. ›Das widerspricht dem Rhythmus unserer Zeit.‹ Ich glaube das nicht. Gerade wer – fast möchte ich sagen: nur wer flanieren kann, wird danach, wenn ihn wieder dieser berühmte Rhythmus packt und eilig, konstant und zielstrebig fortbewegt, diese unsere Zeit umso mehr genießen und verstehn. Der andere aber, der nie aus dem großen Schwung heraus kommt, wird schließlich gar nicht mehr merken, daß es so etwas überhaupt gibt. In jedem von uns aber lebt ein heimlicher Müßiggänger, der seine leidigen Beweggründe bisweilen vergessen und sich grandios bewegen möchte. Und wenn ihm das glückt, dann wird die Straße, gerade weil er nichts von ihr will als sie anschauen, gerade weil sie ihm nicht dienen muß, besonders liebenswürdig zu ihm sein. Sie wird ihm ein Wachtraum. Die Schaufenster sind nicht mehr aufdringliche Angebote, sondern Landschaften; Firmennamen, besonders die Doppelnamen mit dem oft so Verschiedenes verbindenden &-Zeichen in der Mitte, werden mythologische Gestalten, Märchenpersonen. Keine Zeitung liest sich so spannend wie die leuchtende Wanderschrift, die Dachentlang über Reklameflächen gleitet. Und das Verschwinden dieser Schrift, die man nicht zurückblättern kann wie ein Buch, ist ein augenfälliges Symbol der Vergänglichkeit – einer Sache, die der echte Genießer immer wieder gern eingeprägt bekommt, um die Wichtigkeit und Einzigkeit seines Genusses und des zeitlosen Augenblicks im Bewußtsein zu behalten.

Ich schicke dich zeitgenössischen Spaziergangsaspiranten nicht in fremde Gegenden und zu Sehenswürdigkeiten. Besuche deine eigne Stadt, spaziere in deinem Stadtviertel, ergehe dich in dem steinernen Garten, durch den Beruf, Pflicht und Gewohnheit dich führen. Erlebe im Vorübergehn die merkwürdige Geschichte von ein paar Dutzend Straßen. Beobachte ganz nebenbei, wie sie einander das Leben zutragen und wegsaugen, wie sie abwechselnd stiller und lebhafter, vornehmer und ärmlicher, kompakter und bröckliger werden, wie und wo alte Gärten sich inselhaft erhalten mit seltenen Bäumen, Zypressen und Buchsbaum und regenverwaschenen Statuen, oder verkommen und von nachbarlichen Brandmauern bedrängt absterben. Erlebe, wie und wann die Straßen fieberhaft oder schläfrig werden, wo das Leben zum stoßweis drängenden Verkehr, wo es zum behaglich drängelnden Betrieb wird. Lern Schwellen kennen, die immer stiller werden, weil immer seltener fremde Füße sie beschreiten und sie die bekannten, die täglich kommen, im Halbschlaf einer alten Hausmeisterin wiedererkennen. Und neben all diesem Bleibenden oder langsam Vergehenden bietet sich deiner Wanderschau und ambulanten Nachdenklichkeit die Schar der vorläufigen Baulichkeiten, der Abbruchgerüste, Neubauzäune, Bretterverschläge, die zu leuchtenden Farbflecken werden im Dienst der Reklame, zu Stimmen der Stadt, zu Wesen, die rufend und winkend auf dich einstürmen mit Forderungen und Verlockungen, während die alten Häuser selbst langsam von dir wegrücken. Und hinter den Latten, durch Lücken sichtbar ist ein Schlachtfeld aus Steinen; manchmal, wenn die Arbeit stockt, ist es Walstatt und Verlassenheit, bis dann wieder die Steinsäge zischend die Luft zerschneidet und in die widerstandslose Masse eiserne Kräne und stählerne Hebel greifen.

Verfolge im Vorübergehn die Lebensgeschichte der Läden und der Gasthäuser. Lern das Gesetz, das einen abergläubisch machen kann, von den Stätten, die kein Glück haben, obwohl sie günstig gelegen scheinen, den Stätten, wo die Besitzer und die Art des Feilgebotenen immer wieder wechseln. Wie sie sich, wenn ihnen der Untergang droht, fieberhaft übertreiben, diese Läden mit Ausverkauf, aufdringlichem Angebot und großgeschriebenen niedrigen Preisen! Wieviel Schicksal, Gelingen und Versagen kannst du aus Warenauslagen und ausgehängten Speisekarten ablesen, ohne daß du durch Türen trittst und Besitzer und Angestellte siehst. Da ist wieder das große Vorrecht des Spaziergängers. Er braucht nicht einzutreten, er braucht sich nicht einzulassen. Er liest die Straße wie ein Buch, er blättert in Schicksalen, wenn er an Hauswänden entlang schaut. Und wenn er wieder wegblickt von den Gegenständen, den Dingen, sagen ihm auch die Gesichter der fremden vorübergehenden Menschen mit einmal mehr. Nicht nur der Fremden, an denen er täglich vorüberkommt, die den gleichen Alltagsweg haben wie er und zu heimlichen Mitspielern seines Lebens geworden sind; nein, auch und besonders Gesichter der ganz Unbekannten.

Es ist das unvergleichlich Reizvolle am Spazierengehn, daß es uns ablöst von unserm mehr oder weniger leidigen Privatleben. Wir verkehren, kommunizieren mit lauter fremden Zuständen und Schicksalen. Das merkt der echte Spaziergänger an dem seltsamen Erschrecken, das er verspürt, wenn in der Traumstadt seines Flanierens ihm plötzlich ein Bekannter begegnet und er dann mit jähem Ruck wieder identisch und nur Herr Soundso auf dem Heimweg vom Büro ist.

Spazierengehn ist nur selten eine gesellige Angelegenheit wie etwa das Promenieren, das wohl früher einmal (jetzt nur noch in Städten, wo es eine Art Korso gibt) ein hübsches Gesellschaftsspiel, eine reizvolle theatralische oder novellistische Situation gewesen sein mag. Es ist gar nicht leicht, mit einem Begleiter spazieren zu gehn. Es verstehn sich nur wenig Leute auf diese Kunst. Kinder, diese sonst in so Vielem vorbildlichen Geschöpfe, machen aus ihrem Weg ein Unternehmen mit heimlichen Spielregeln, sie sind so beschäftigt, beim Beschreiten der Pflastersteine das Berühren der Randflächen und sandigen Ritzen zu vermeiden, daß sie kaum aufschauen können; oder sie benutzen die Reihenfolge der Dinge, an denen sie vorbeikommen, zu abergläubischen Berechnungen; auch bewegen sie sich zu ungleichmäßig, sie trödeln oder eilen, sie gehn nicht spazieren. Leute, die berufsmäßig beobachten, Maler und Schriftsteller, sind oft sehr störende Begleiter, weil sie ausschneiden und umrahmen, was sie sehn, oder es ausdeuten und umdeuten, auch oft plötzlich stehn bleiben, statt das Wanderbild wunschlos in sich aufzunehmen. Mit Musikern geht es schon besser, auch mit manchen Frauen, die einen auf Besorgungen mitnehmen, ganz beschäftigt sind mit dem Ernst ihrer Einkäufe und dem Begleiter, der davon nichts versteht, das Glück des rein zuschauenden Daseins erhalten.

Aber meistens ist der echte Spaziergänger allein und da muß er sich etwas davor hüten, zu der düstern Romanfigur zu werden, die ihr eignes Leben von den Häuserkulissen abliest, wenn sie mit melancholisch hallenden Schritten die Straßen durchmißt, um dem Autor des Buches Gelegenheit zur Exposition seiner Geschichte zu geben. Man muß sich selbst vergessen, um glücklich spazieren zu gehn.

Der richtige Spaziergänger ist wie ein Leser, der ein Buch wirklich nur zu seinem Zeitvertreib und Vergnügen liest – auch das ist ein selten werdender Menschenschlag heutzutage, da die meisten Leser in falschem Ehrgeiz wie auch die Theaterbesucher sich für verpflichtet halten, ihr Urteil abzugeben. (Ach das viele Urteilen! Selbst die offiziellen Kunstrichter sollten lieber etwas weniger urteilen und mehr besprechen. Wäre es nicht schön, wenn sie das, was sie zu behandeln haben, besprechen könnten wie die alten Zauberer und Medizinmänner Krankheiten besprachen?)

Ist also die Straße eine Art Lektüre, so lies sie, aber kritisiere sie nicht zu viel. Finde nicht zu schnell schön oder häßlich. Das sind ja so unzuverlässige Begriffe. Laß dich auch ein wenig täuschen und verführen von Beleuchtung, Tageszeit und dem Rhythmus deiner Schritte. Das künstliche Licht, besonders im Wettstreit mit einem Rest Tageslicht und Dämmerung ist ein großer Zauberer, macht alles vielfacher, schafft neue Nähen und Fernen und ändert aufleuchtend und verschwindend, wandernd und wiederkehrend noch einmal Tiefe, Höhe und Umriß der Gebäude. Das ist von großem Nutzen, besonders in Gegenden, wo von der schlimmsten Zeit des Privatbaus noch viel greulich Getürmtes, schauerlich Ausladendes und Überkrochenes stehen geblieben ist, das erst allmählich verdrängt werden kann. Diese zackigen Reste verschwinden hinter den Augenblicks-Architekturen der Reklame, und wo man sie noch sieht, sind sie nicht mehr ›so schlimm‹, sondern mehr komisch und rührend. Vom freundlichen Anschauen bekommt auch das Garstige eine Art Schönheit ab. Das wissen die Ästheten nicht, aber der Flaneur erlebt es.

Wunderbar ist die sanfte Ermüdung, die nur er kennt, er, der immer unterwegs bleibt und nie eilt. Und eins seiner schönsten Erlebnisse ist der neue Schwung, den er bei langem Gehn nach der ersten Müdigkeit bekommt. Dann trägt das Pflaster ihn mütterlich, es wiegt ihn wie ein wanderndes Bett. Und was sieht er alles in diesem Zustand angeblicher Ermattung! An wieviel erinnern sich seine Sinne! Viele fremde Straßen von früher sind dann mit in der vertrauten, durch die er geht. Und was sieht ihn alles an! Die Straße läßt ihre älteren Zeiten durchschimmern durch die Schicht Gegenwart. Was kann man da alles erleben! Nicht etwa an den offiziell historischen Stellen, nein, irgendwo in ganz ruhmloser Gegend.

Habe ich vielleicht den Spaziergangsaspiranten etwas zu sehr ins allzu Unbewußte verführt, so will ich ihm nun doch empfehlen, nicht ganz ziellos zu gehn. Auch in dem ›Aufs Geratewohl‹ gibt es einen Dilettantismus, der gefährlich werden kann. Wenn du spazierst, beabsichtige, irgendwohin zu gelangen. Vielleicht kommst du dann in angenehmer Weise vom Wege ab. Aber der Abweg setzt immer einen Weg voraus.

Wenn du unterwegs etwas näher ansehn willst, geh nicht zu gierig darauf los. Sonst entzieht es sich dir. Laß ihm Zeit, auch dich anzusehn. Es gibt ein Aug in Auge auch mit den sogenannten Dingen. Es genügt nicht, daß du die Straßen, die Stadt wohlwollend anschaust. Sie müssen auch mit dir gut Freund werden.

Da habe ich nun immer nur vom Spazieren in der Stadt gesprochen. Nicht von der merkwürdigen Zwischen- und Übergangswelt: Vorstadt, Weichbild, Bannmeile mit all ihrem Unaufgeräumten, Stehengebliebenen, mit den plötzlich abschneidenden Häuserreihen, den Schuppen, Lagern, Schienensträngen und dem Fest der Laubenkolonien und Schrebergärten. Aber da ist schon der Übergang zum Lande und zum Wandern. Und das Wandern ist wieder ein ganz andres Kapitel aus der Schule des Genusses als das Spazierengehn. Schule des Genusses? Gibt es so etwas? Es sollte das geben, heute mehr denn je. Und wir sollten alle aus Menschenliebe in dieser Schule lehren und lernen.

Frédéric Gros

Draußen

Gehen heißt draußen sein. Draußen, »an der frischen Luft«, wie man sagt. Gehen verlangt die Umkehrung der Logik des Städters und selbst der unserer häufigsten Verfassung.

Wenn wir »nach draußen« gehen, dann immer, um von einem »Drinnen« zu etwas anderem zu gelangen: von der Wohnung ins Büro, von daheim in die Läden um die Ecke. Wir gehen hinaus, um an einem anderen Ort etwas zu erledigen. Draußen ist ein Übergang: das, was trennt, beinah ein Hindernis. Zwischen hier und dort. Aber es hat für sich keinen Wert. Den Weg von der Wohnung zur Haltestelle gehen wir bei jedem Wetter, wir haben es eilig, den Kopf noch voller privater Angelegenheiten und bereits auf das gerichtet, was uns am Arbeitsplatz erwartet, schnell ein Bein vors andere gesetzt, während die Hand hastig in den Taschen tastet, ob wir auch nichts vergessen haben. Das Draußen gibt es kaum: Es ist wie ein großer Flur zwischen zwei Stationen, ein Tunnel, eine riesige Luftschleuse.

Manchmal gehen wir aber auch einfach so hinaus, zum »Luftschnappen«: weil wir uns der drückenden Unbeweglichkeit der Gegenstände und Wände entziehen wollen, weil wir es drinnen erstickend finden, um »auszulüften«, wenn die Sonne strahlt und es einfach zu ungerecht erscheint, sich dem Licht zu verweigern, sich nicht von der Sonne bescheinen zu lassen. Also gehen wir hinaus, machen ein paar Schritte, einfach um draußen zu sein, nicht, um von hier nach dort zu gelangen. Um die prickelnde Frische einer Frühlingsbrise zu spüren oder den zarten Wärmestrahl einer Wintersonne. Ein Zwischenspiel. Eine Pause, die wir uns gönnen. Auch Kinder gehen hinaus, nur um draußen zu sein. »Hinausgehen« heißt in ihrem Fall spielen, rennen, lachen. Später heißt »ausgehen« Freunde treffen, von den Eltern weg sein, etwas Eigenes machen. Aber meistens ist draußen wieder zwischen zwei Innenräumen: eine Zwischenstation, ein Übergang. Es ist ein Raum, der Zeit meint.

Draußen.

Auf langen, mehrtägigen Wanderungen ist alles anders. Das »Draußen« ist nicht mehr ein Übergang, sondern das stabile Element. Es kehrt sich um: Wir gehen von Unterkunft zu Unterkunft, von Hütte zu Hütte. Das »Drinnen« verändert sich jedes Mal, ist unendlich variabel. Wir schlafen nicht zweimal im selben Bett, jeden Abend nehmen uns neue Gastgeber auf. Eine neue Umgebung und eine neue Einrichtung empfangen uns. Andere Wände, andere Steine.

Wir halten an. Der Körper ist erschöpft, die Nacht bricht herein, wir müssen ausruhen. Aber das Drinnen ist immer ein Halt, ein Mittel, um länger draußen bleiben zu können, ein Übergang.

Und wir müssen auch erwähnen, wie merkwürdig die ersten Schritte am Morgen sind. Wir haben die Karte studiert, entschieden, welchen Weg wir nehmen, uns verabschiedet, den Rucksack zurechtgerückt, die Markierung gefunden, uns vergewissert, dass die Richtung stimmt. Zu alldem gehört ein leichtes Zögern, ein Hin und Her, ein Innehalten: Wir bleiben stehen, überprüfen, schauen uns um. Und dann öffnet sich der Weg vor uns. Wir schreiten aus, finden unseren Rhythmus. Wir heben den Kopf, und nun sind wir aufgebrochen – aufgebrochen, um zu gehen, um draußen zu sein. Hier ist es, genau hier, wir sind da. Draußen sind wir in unserem Element: Es fühlt sich so an, als wohnten wir hier. Ich verlasse eine Herberge und gehe zur nächsten, aber die Kontinuität, das, was bleibt und Bestand hat, ist die Landschaft in meinem Umfeld, diese Hügelkette, die die ganze Zeit da ist. Und ich bewege mich, ich durchschreite die Landschaft wie meine Wohnung: Im Gehen vermesse ich mein Zuhause. Was wir durchqueren wie vorgeschriebene Wege, im wahrsten Sinn des Wortes zurücklegen, sind die Zimmer für eine Nacht, die Speisesäle für einen Abend, ihre Bewohner, ihre Geister, es ist nicht die Landschaft.

So wird die große Trennung von »draußen« und »drinnen« durch das Gehen erschüttert. Wir sollten nicht sagen, dass wir Berge überqueren, Ebenen durchschreiten, in Hütten haltmachen. Es ist beinah umgekehrt: Mehrere Tage lang bewohne ich eine Landschaft, ergreife ich langsam Besitz von ihr, wird sie mein Ort.

Und dann kann sich dieser seltsame Eindruck des Morgens entfalten, wenn wir die Mauern der Herberge hinter uns gelassen haben, wenn wir das Gesicht wieder in den Wind halten und uns mittendrin in der Welt fühlen: Das hier draußen ist mein Zuhause, hier werde ich wandernd wohnen.

Tomas Espedal

Gehen oder die Kunst, ein wildes poetisches Leben zu führen

Warum nicht mit einer Straße beginnen. Jener Straße und Strecke, die ich zwei Jahre fast täglich hin und zurück gegangen bin. Die Bjørnsonsgaten, viel befahren und schmutzig, Arbeiterwohnungen in Reihen zu beiden Seiten des Schattens, der einem Weg gleicht, einer Verkehrsader, blutarm und kalt, ein schmaler Bürgersteig, an Fabrikgeländen, Tankstellen vorbei, zum Danmarksplass, dem finstersten Lichtkreuz der Stadt. Eine schäbige Straße, durchzogen von entmutigenden Spuren: ein sterbender Baum, das halb verfallene Holzhaus und eine abgasstaubige Hecke, das Fenster, hinter dem sie steht und ihren Wollpullover auszieht.

Eine schäbige Straße, meine Adresse und Lieblingsroute in die Stadt. (Heute – ich wohne inzwischen auf der anderen Seite der Stadt, in einer hellen, sauberen Wohnung mit Terrasse und Blick aufs Meer – nehme ich zuweilen den Bus zur Bjørnsonsgaten, um wieder auf dieser Straße und der alten Strecke in die Innenstadt zu gehen.) Die Straße öffnet sich rechter Hand zur Berufsschule und zum Sportplatz Krohnsminde, linker Hand zu Hochhäusern und dem Wasser der Solheimsviken, ich schlendere an den Kochlehrlingen auf der Steintreppe zur Schule vorbei, sie rauchen im Stehen unter ihren luftigen weißen Kochmützen, als hielten sie mit den Mützen die Wolken in die Höhe; sieben, acht angehende Köche neben den Friseurlehrlingen aufgereiht, die man unschwer an ihren Frisuren erkennt, rote, grüne Mähnen in allen Längen und Richtungen (eine der jungen Frauen hat sich die Haare in einer Schiene von der Stirn bis in den Nacken abrasiert, als führte die Straße über ihren Kopf), und ich gehe geradeaus, zum Danmarksplass. Unter den Verkehrsknotenpunkt. Rechts oder links im Tunnel der Unterführung? Er gabelt sich, heute gehe ich nach rechts, und im Nachhinein muss ich froh sein, nicht nach links gegangen zu sein, denn kurze Zeit später, auf der rechten Route, gleich hinter dem Forum Kino, nach dem Hang zum Store Lungegårdsvann hinunter, auf der Brücke, wo auf dem Asphalt Fische liegen und sterben, treffen die Sonnenstrahlen ein Verkehrsschild und ein Glücksgefühl übermannt mich überraschend. Es sagt nichts weiter als: Du bist glücklich. Hier und jetzt. Grundlos. In diesem Moment bist du glücklich, ein Geschenk. Anders lässt es sich nicht beschreiben. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, glücklich zu sein, bin verkatert und deprimiert, habe vier Tage ununterbrochen getrunken, wohne allein in einem dreckigen Haus in einer schäbigen Straße, schlafe auf einer Matratze, keine Möbel, bin verlassen worden von ihr, mit der ich es schaffen zu können glaubte. Ich bin auf dem besten Weg, mich zugrunde zu richten, es ist eine harte und ernste Untergangsarbeit, ich trinke und gehe vor die Hunde, und dann bin ich urplötzlich glücklich. Warum? Weil die Sonnenstrahlen ein Verkehrsschild treffen? Es verschlägt mir den Atem, ich muss stehenbleiben. Mein Körper ist von warmer und jubelnder Klarheit erfüllt. Die Gedanken erwachen und verlieren an Gewicht, es ist eine ganz konkrete Erfahrung, meine Gedanken werden leichter, und ich gehe, nun leichter, weiter Richtung Nygårdshøyden und Innenstadt. Langsam wird mir klar: Du bist glücklich, weil du gehst.

Johann Gottfried Seume

Mein Sommer 1805

Ich war Willens, über meine jetzige Ausflucht nach dem Norden nichts zu sagen. Als ich nach Sicilien ging, fühlte ich in mir selbst das Bedürfnis, meinen Zeitgenossen ein kleines Denkmal meines Seins und Wirkens zu geben. Das hatte ich getan, und war zufrieden; der Drang war gestillt. Schreibsucht ist, wie alle meine Freunde bezeugen können, nicht meine Krankheit. Mehrere wackere Männer aber, die ich nennen könnte, haben mich aufgefordert, über meine letzte Reise ihnen meine Bemerkungen nach meiner Weise mitzuteilen: das habe ich denn getan. Ich setzte mich hin und nahm das Wesentliche aus meinem Taschenbuche; und das Ganze war fertig. Für Leute, welche alles wissen, habe ich nicht geschrieben; eben so wenig als für Leute, welche nichts wissen: für die ersten wäre es viel zu viel; für die letzten viel zu wenig.

Der Druck ist das gewöhnlichste und leichteste Mittel der Vervielfältigung. Ich mache weiter keine Apologie darüber; sondern stelle die Dinge vor, wie ich sie sahe. Ich bin mir der reinsten Absichten bewußt, ohne jemand meine Ansicht aufdringen zu wollen. Wenn meine Urteile zuweilen etwas hart sind, so liegt das leider in der Sache: ich wollte, ich hätte überall Gelegenheit gehabt, das Gegenteil zu sagen.

Diesmahl habe ich nur den kleinsten Teil zu Fuße gemacht; ungefähr nur hundert und funfzig Meilen. Lieber wäre es mir und besser gewesen, wenn meine Zeit mir erlaubt hätte, das Ganze abzuwandeln. Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossemen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvolleste und Selbstständigste in dem Manne, und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. Wer zu viel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. Das Gefühl dieser Wahrheit scheint unaustilgbar zu sein. Wenn die Maschine stecken bleibt, sagt man doch noch immer, als ob man recht sehr tätig dabei wäre: Es will nicht gehen. Wenn der König ohne allen Gebrauch seiner Füße sich ins Feld bewegen läßt, tut man ihm doch die Ehre an und spricht nicht anders, als: Er geht zur Armee; er geht mit der Armee: nach der Regel a potiori. Sogar wenn eigentlich nicht mehr vom Gange die Rede sein kann, behält man zur Ehrenbezeigung doch noch immer das wichtige Wort bei und sagt: Der Admiral geht mit der Flotte und sucht den Feind auf: und wo die Hoffnung aufhört, spricht man: Es will nicht mehr gehen. Wo alles zu viel fährt, geht alles sehr schlecht: man sehe sich nur um. So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll: man tut notwendig zu viel oder zu wenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht mehr zuweilen einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal nicht lange mehr leben.

Ich war Willens, hier eine kleine Abhandlung über den Vorteil und die beste Methode des Fußwandelns zu geben, wozu ich vielleicht ein Recht, so gut als irgend ein anderer, erworben habe; aber meine Seele ist jetzt zu voll von Dingen, die ihr billig wichtiger sind.

Wenn man mir vorwirft, daß dieses Buch zu politisch ist, so ist meine Antwort, daß ich glaube, jedes gute Buch müsse näher oder entfernter politisch sein. Ein Buch, das dieses nicht ist, ist sehr überflüssig oder gar schlecht. Wenn man das Gegenteil sagt, so hat man seine – nicht guten Ursachen dazu. Politisch ist, was zu dem allgemeinen Wohl etwas beiträgt oder beitragen soll: quod bonum publicum promovet. Was dieses nicht tut, ist eben nicht politisch. Man hat dieses Wort sehr entstellt, verwirrt und herabgewürdigt, oder es auch, nicht sehr ehrlich, in einen eigenen Nebel einzuhüllen gesucht, wo es dem ehrlichen schlichten Manne wie eine gespensterähnliche Schreckgestalt erscheinen soll. Meistenteils gelingt es leider sehr gut.

Wo das Denken gänzlich aufhört, haben die Spitzköpfe eben so sehr gewonnen, als wo das Verkehrtdenken anfängt. Der Mensch braucht durchaus nichts als sich selbst, um Wahrheit zu sehen; nichts als seine eigene Kraft, um ihr zu folgen; und nur seinen eigenen Mut, um dadurch so viel Glückseligkeit zu erlangen, als seine Natur ihm gewähren kann. Ich habe nicht vorgegriffen, sondern gewissenhaft alles gegeben, wie es damals war, und wie ich darüber dachte. Wenige werden vielleicht hier etwas neues finden; aber gewiß viele sich selbst: und ich bin so stolz, diese für gut zu halten. Hundert Tausende denken wie ich; aber niemand hat vielleicht die Pflicht oder die Gelegenheit, es öffentlich zu sagen. Wenn man mich nach meinem Berufe dazu fragt, so ist die Antwort: Ich bin ein Mensch, ein freier Mann, glaube vernünftig zu sein, und will allen meinen Mitbrüdern ohne Ausschluß gleich wohl. Dessen bin ich mir so innig und fest und wohltätig bewußt, daß ich dafür mein Haupt ohne Reue auf den Block legen würde, wenn es nötig wäre. Stürmen will ich nicht; aber offen sagen, wo ich glaube, daß die Krankheit liegt.

Hermann Bahr

Vom Gehen*

Der Arzt sagt mir: »Sie gehen zuwenig, da schläft Ihnen ja das Blut ein. Natürlich legt es sich dann schwer auf das Gemüt. Sie müssen mehr gehen. Jeden Tag sollen Sie doch eine Stunde, besser zwei, bei jedem Wetter spazieren. Sonst fehlt Ihnen gar nichts. Statt Zigaretten rauchend auf dem Sofa Fragen der Kunst zu betrachten, tun Sie es doch lieber draußen peripatetisch.« Was bleibt mir übrig? Wenn man Doktoren nicht folgen will, malen sie einem gleich solche Höllenstrafen vor, daß man sich lieber in jede Verordnung zu willigen bequemt. Und so kann man mich jetzt gegen meine sonstige, lieber sitzende, meditativ herumliegende Art fleißig in unserer lieben Stadt spazieren sehen, getreu mein Pensum abgehend, ganz wie der Vater Horaz sich gerne schildert, behaglich schlendernd, Schwänke im Sinn, ohne Plan. Erst habe ich mich wohl gelangweilt, bald ist es mir lustig geworden, und ich bin auf allerhand Gedanken gekommen; hurtig sind sie mir über den Weg gelaufen. Nun habe ich erst, seit ich um des Gehens willen gehe, begreifen gelernt, was das Gehen ist. Man glaubt gar nicht, wie eine Sache ganz anders ausschaut, wenn man sie nicht als bloßes Mittel behandelt, dann tut sie erst ihr Wesen auf, gibt ihren Sinn her und läßt ihre heimliche Schönheit sehen.

Selten ist es ja, daß jemand geht, um zu gehen. Immer soll es einem Zwecke dienen, wir wollen irgendwohin gelangen; dazu ist es ein Mittel; man läßt die Füße es besorgen, mit dem Kopf sind wir nicht dabei. Wer jedoch gezwungen ist, es für sich zu betreiben, wird erst die Bedeutung gewahr, die in ihm liegt. Und er wird wieder inne, daß gemeine und tägliche Verrichtungen selbst, die wir unnachdenklich üben, die größten Wunder enthalten.

Das Gehen scheint aus dem Tiefsten des Menschen zu kommen. Was hinter allen Taten oder Worten im Grunde eines Menschen liegt, was er sonst verhehlt, was er kaum vor sich selber bekennen mag, wird im Gange vernehmlich. Der Gang ist ein Verräter unserer Essenz. Unsere Mienen beherrschen wir, mit Worten verdecken wir uns, am ganzen Leibe haben wir heucheln gelernt; nur den Gang zu verstellen denkt niemand. Im Gehen wird der größte Lügner wahr. Was einer kaum selbst von sich weiß, so tief ist es, können alle an seinem Gange sehen. Ja, der Gang scheint eine besondere, Gedanken schaffende, Gefühle wirkende Kraft in sich zu tragen: Er kann Trauer bannen, Leidenschaft mäßigen, Würde geben. Man zwinge einen Zornigen zu langsamen, bedächtigen Schritten; andantino soll er uns seine Wut erzählen. Die aufheiternde Kraft des Tanzes beruht darin, daß er uns die Stimmung der Füße über den Kopf wachsen läßt. Das ist auch die Macht der Trommel: Sie nimmt beim Marschieren die Laune des einzelnen Soldaten aus seinen Schritten weg, erteilt ihnen dafür das allgemeine Tempo, und so uniformiert sie die Gemüter. Jemandem einen Schritt geben, heißt ihn in eine Stimmung bringen. Jeder kann das selber an sich versuchen. Ich habe es zufällig gefunden. Gelangweilt, so ohne Zweck nach der Uhr zu gehen, habe ich angefangen, mich mit den Beinen zu amüsieren, indem ich zur Unterhaltung versuchte, meine Schritte absichtlich zu ändern. Ich habe mich erinnert, wie Freunde von mir gehen, und es nachgeahmt. Wer das tut und sich dabei zu beobachten nicht unterläßt, wird gewahr, wie mit jeder Veränderung des Ganges auch alle Gedanken, Gefühle und Stimmungen sich verändern; ja, man kann die Gewalt des Ganges bis in die Miene verfolgen, die jede Veränderung des Schrittes annimmt. Es gibt eine Art, die Füße frohlockend, selbstbewußt und befehlend aufzusetzen, zu der man kein bescheidenes oder niedergeschlagenes Gesicht machen kann. Man mag noch so niedergeschlagen und traurig sein, wenn einem etwas die Beine in einen heiteren Gang bringt, wird aus der Miene jeder Gram sofort entweichen; sie kann nicht widerstehen. Wie der Fuß den Takt schlägt, müssen die Augen tanzen. Wenn es gelingt, den Gang eines anderen genau zu kopieren, der nimmt unwillkürlich seine Art, sich zu halten, und den ganzen Ausdruck seines Antlitzes an. Ja, er nimmt für diese Zeit auch seine innere Art, sein Denken und sein Fühlen an. Wenn ich gehe, wie ein anderer geht, und es zeigt sich, daß damit meine Miene von selbst einen anderen Ausdruck bekommt, der dem Ausdrucke jenes anderen gleicht, und es zeigt sich ferner, daß zugleich auch meine Seele andere Stimmungen bekommt, so darf ich wohl denken, daß es eben die Stimmungen jenes anderen sind. Und so wäre ein Mittel da, in die Geheimnisse der Seelen zu schlüpfen.