Die Autorin dankt dem Verein Nuoren Voiman Liitto und der Gemeinde Sysmä für die einmonatige Schreibzeit während der Residenz in der Villa Sarkia.

Ich esse keine Würmer

»Hallo, Hilja!«, ruft Taimi.

Sie steht an der Kreuzung zur großen Straße, wo sie jeden Tag auf mich wartet, und winkt mir zu. Zusammen gehen wir auf dem Sandweg nach Hause.

»Was gab es heute in der Schule zu essen?«, fragt sie.

»Gummikartoffeln und Würmersalat.«

»Igitt!«

»Und die Köchin überwacht mit dem Nudelholz in der Hand, dass man auch alles aufisst«, sage ich.

Taimi sieht mich mit großen Augen an.

»Ich schwöre es bei Opas Ofenrohr!«, versichere ich ihr.

»Ich esse keine Würmer«, sagt sie.

»In der Schule muss man«, sage ich und kicke nach einem großen Stein.

»Heute bin ich in der Lesestunde eingeschlafen«, erzähle ich.

»Kann man in der Schule etwa schlafen?«, wundert sich Taimi.

Ich nicke. »Na klar. Das Leben als Schülerin ist eben hart! Aber weißt du was: Bald fahren wir mit der Klasse in den Zoo!«

»Ich will auch mit!«, ruft sie.

»In die Schule kommst du erst, wenn dir die Zähne ausfallen.«

Taimi sieht mich ärgerlich an, und ich muss mir schnell etwas einfallen lassen, was sie aufmuntert.

»Wer zuerst zu Hause ist!«, rufe ich und renne los.

Wir stürmen auf unser Grundstück und wirbeln dabei jede Menge Sand und Staub auf. Papa steht ganz weit oben auf einem schwankenden Gerüst und streicht mit lockeren Bewegungen Farbe auf die Hauswand. Der Pinsel stoppt, und Papa schaut nach unten.

»Hilja behauptet, in der Schule kann man schlafen«, beschwert sich Taimi.

»Es ist doch eigentlich ganz gut, sich auszuruhen, wenn man müde ist«, sagt Papa und taucht den Pinsel in einen großen Eimer.

»Siehste, da hast du’s«, sage ich zu Taimi.

Papa streicht weiter, als Taimi die Stufen zu Mamas Friseursalon hochstiefelt und die Tür aufreißt.

»Hilja erzählt Quatsch«, verkündet sie.

Mama schneidet gerade einer knochigen älteren Frau die Haare, die kerzengerade auf dem Stuhl sitzt. Die Schere macht schnipp-schnapp, und erst dann dreht Mama sich zu uns um.

»Und du sagst immer die Wahrheit?«, fragt sie.

»Das hab ich nicht behauptet«, murmelt Taimi.

»Macht euch etwas zu essen, und dann spielt was zusammen«, sagt Mama.

»Und was?«, frage ich.

»Hauptsache, ihr geht rüber«, scheucht Mama uns davon.

Taimi und ich flüchten schnurstracks in die Küche und wühlen durch die Schränke.

Als wir gerade unser Schokomüsli kauen, kommt Aino nach Hause. Meine ältere Schwester ist schon in der Schule für Große und fährt dafür jeden Tag mit dem Bus in den nächsten Ort. Ich als Erstklässlerin muss zu Fuß zur Schule gehen, das ist ungerecht. Aino hat viele Schulstunden und macht außerdem noch Zirkustraining, und wenn sie zu Hause ist, sitzt sie nur in ihrem Zimmer.

Mama hat uns erklärt, dass Aino in einer schwierigen Phase ist, weil sie dieses bestimmte Alter hat.

»Hallo, Aino!«

»Gibt es bei euch in der Schule Würmer zu essen?«, fragt Taimi ernst.

»In unserer Mensa gibt es keine Insekten«, sagt Aino, während sie in einer Zeitschrift blättert. »Behauptet Hilja das etwa?«

»Ja«, sagt Taimi.

»Du musst ihr nicht glauben«, meint Aino.

Taimi ist wütend wie eine Knallerbse und starrt mich mit strengem Blick an.

»Veräppeln ist verboten!«

»Ich hab nicht geschwindelt«, versichere ich. »Einmal habe ich aus Versehen eine Fliege verschluckt, und die brummt immer noch in meinem Bauch rum.«

»Was da brummt, ist höchstens Luft«, sagt Aino hinter ihrer Zeitschrift.

»Hilja muss gleich pupsen«, kichert Taimi.

»Nein, das ist bloß die Fliege, die raus will«, sage ich und strecke Taimi die Zunge raus.

Da kommt Papa in seinem fleckigen Handwerkeroverall in die Küche. Er lässt kaltes Wasser in die

»Habe ich nicht darum gebeten, die Arbeitsklamotten im Flur auszuziehen?«, fragt Mama, die vom Salon rübergekommen ist, und kratzt Papa vorsichtig einen Farbspritzer von der Wange.

»Kann sein«, überlegt Papa.

»Mama hat das schon mindestens zehn Mal gesagt«, erinnere ich ihn.

Papa geht nach oben, um sich saubere Sachen anzuziehen, und Mama fragt uns drei, wie es in der Schule war.

Dann räumt sie die Müslischalen in die Spülmaschine und schlägt vor: »Macht eure Hausaufgaben am besten sofort, sonst vergesst ihr sie vielleicht noch!«

»Ich hab das ganze Wochenende Zeit dafür«, schnaubt Aino.

Sie geht mit ihrer Zeitschrift rüber zum Wohnzimmersofa.

»Ich muss mich auch entspannen«, fällt mir dabei ein.

Ich lege die Füße auf den Tisch und verschränke

Mama zupft Taimis Zöpfe zurecht und schaut auf den Terminkalender an der Wand.

»Noch zwei Mal Schneiden und ein Mal Farbe«, murmelt sie und ruft ins Wohnzimmer: »Aino, kannst du bitte gleich das Essen in den Ofen stellen?«

»Warum immer ich?«, brummelt meine Schwester.

»Weil ich keine elektrischen Geräte anfassen darf«, sage ich.

»Und das hat seinen Grund«, betont Mama.

Sie hat immer noch nicht vergessen, wie ich mit vier Jahren im Ofen einen Plastikkuchen gebacken habe, weil der Spielofen im Kinderzimmer kaputt war.

 

Papa findet, wenn das Wochenende anfängt, ist das ein Grund zum Feiern. Also essen wir jeden Freitag Hähnchennuggets mit Pommes. Ich finde, der beste Tag der Woche ist der Samstag, weil wir da Bonbontag haben. Mama mag den Montag am liebsten, weil sie da immer frei hat, und Opa den Donnerstag, weil der voller Hoffnung ist, wie er sagt.

»Jeder Tag«, sagt sie.

Meine kleine Schwester geht noch nicht in die Schule, und darum weiß sie natürlich nicht, dass das Wochenende am besten ist, weil man da frei hat. Am Wochenende darf man machen, was man will, außer andere beleidigen und schlagen, denn das darf man natürlich nie tun.

Opi-Nachrichten

Heute Morgen können wir nicht vor dem Kinderprogramm im Fernsehen herumlümmeln, denn Opa fährt mit Taimi und mir zu seinem Sommerhaus.

»Wir haben heute massig viel zu tun«, sagt er und stellt den Picknickkorb auf der Veranda ab.

Dann nimmt er ein zerknittertes Blatt Karopapier aus seiner Hosentasche und faltet es auseinander.

»Die Lüftungsklappen nicht vergessen«, liest er vor.

»Das ist alles?«, frage ich verwundert.

»Alle anderen Aufgaben sind hier gespeichert«, sagt Opa und tippt sich mit dem Finger an die Schläfe.

Zuerst machen wir uns daran, den Staub aus den Ecken zu putzen. Wir tragen die bunten Flickenteppiche nach draußen und hängen sie über das Geländer an der Veranda. Während Taimi und ich die

»Räumt ihr auch das Fensterbrett leer?«, fragt Opa.

Taimi und ich werfen alle Grashalme, Steine und Tannenzapfen, die wir den Sommer über angesammelt haben, zurück in den Wald, damit wir nächsten Sommer Platz für neue Schätze haben. Den

Dann geht Opa durch die niedrige Tür in die Rauchsauna. Er schaufelt Asche aus dem Ofen in einen Eimer und trägt sie zum Komposthaufen hinter dem Haus. Ich leere den riesigen Wasserbehälter aus, damit das Wasser im Winter nicht einfriert und das

Auf der Treppe zur Veranda machen wir unsere Brotzeit. Nach dem Essen nimmt Opa einen geflochtenen Korb in die Hand und geht mit uns zu einem Pfad, der im Schatten dicht gewachsener Fichten beginnt.

»Nah bei den Bäumen wachsen die besten Pilze«, erklärt Opa und bückt sich immer wieder.

Ich sammele mit einem langen Stock klebrige Spinnweben ein.

»Findest du was?«, fragt Taimi neugierig.

»Sagt doch mal, was das hier für ein Pilz ist«, fordert Opa uns auf.

In seiner flachen Hand liegt ein merkwürdiges braunes Etwas.

»Jedenfalls kein Fliegenpilz«, sage ich.

»Die sind giftig«, weiß auch Taimi.

»Was lernt ihr Kinners eigentlich heutzutage in der Schule, wenn ihr nicht mal unsere heimischen Pilze kennt?«, fragt Opa.

Opa seufzt. »Das hier ist ein Trompetenpfifferling.«