Cover

Kurzbeschreibung:

Der mitreißende Auftakt der »Biker Tales«-Reihe!

Nach einem dramatischen Beziehungsende muss Bea wieder einmal neu anfangen. Da sie noch dazu in finanziellen Schwierigkeiten steckt, hat sie keine andere Wahl, als zunächst von New York in das Provinzkaff Wolfville, Nevada, sprich, zu ihrer gleichgültigen, alkoholkranken Mutter zurückzukehren. Dort will sie nur so lange bleiben, bis sie einigermaßen auf die Beine gekommen ist, doch dann trifft sie auf einen alten Schulschwarm. Charlie erinnert noch immer an den Jungen von damals, ist aber inzwischen Vizepräsident des hiesigen Motorradclubs und Ärger steht ihm förmlich auf die Stirn geschrieben. Bea versucht, sich von dem Outlaw fernzuhalten und ihren Plan, Wolfville zu verlassen und ein besseres Leben zu führen, schnellstmöglich durchzuziehen. Sie scheitert jedoch kläglich an Charlies Anziehungskraft und den wieder aufkeimenden Gefühlen aus Schultagen. Schließlich lässt sie sich entgegen aller Vernunft auf ihn und den Club ein – mit schwerwiegenden Folgen ...

Sandra Binder

Biker Tales 1

Das dunkle Herz

Roman


Edel Elements

Prologue – Bea

Manche Situationen lösen Lawinen an Ereignissen aus und beeinflussen durch eine Kleinigkeit das gesamte restliche Leben. Das Gemeine daran ist, dass man es nicht weiß, wenn man sich gerade mitten in einem solchen Schlüsselmoment befindet. Alles wäre so viel leichter, wenn wir vorausahnen könnten, in welche Bahnen unser Leben steuert. Aber leider erkennen wir das erst im Nachhinein.

Wieso ich das Leben führe, das ich heute führe, verdanke ich nicht einer dieser Situationen. Es waren vielmehr dutzende, die mich immer wieder in diese Richtung gedrängt haben, fast, als hätte mich eine höhere Macht regelmäßig mit ihrem riesigen Zeigefinger dorthin geschubst. Jede gescheiterte Beziehung und jeder verlorene Job gehörten genauso dazu wie all die Ausreden und Lügen. Aber es war eine lachhaft banale Sache, die letztendlich die entscheidende Kehrtwende ausgelöst hatte. Wer konnte schon ahnen, dass sich alles verändern würde, bloß weil ich von einer schmerzhaften Blase am Fuß zu früh nach Hause getrieben worden war?

Dabei hatte dieser alles verändernde Tag absolut unspektakulär begonnen. Er war erst einmal wie jeder andere, es war ein Donnerstag, wenn ich mich recht erinnere. Ich war auf der Suche nach einem neuen Job, weil ich meinen vorherigen kurz vorher gekündigt hatte. Wieder einmal.

Nachdem ich rüde bei einer Beförderung übergangen worden war, dachte ich, meinen Chef und seine alberne Firma nicht nötig zu haben. Ohnehin war ich für die Sachbearbeiter-Stelle in der Buchhaltung überqualifiziert gewesen. Wie es aussah, hatten die New Yorker Firmen aber nicht gerade auf mich und mein abgebrochenes Betriebswirtschaft-Studium gewartet.

Die Hoffnung hatte ich jedoch noch nicht ganz aufgegeben, weshalb ich in meine schicken neuen Pumps schlüpfte und mir die Hacken auf der Suche nach einer passenden Stelle wund lief. Nach der dritten Abfuhr des immer gleichen Typs von arrogantem Personaler schwamm das Blut in meinem linken Schuh, und ich war derart frustriert, dass ich mein letztes Vorstellungsgespräch absagte und mit dem Taxi nach Hause fuhr. In Jacobs Wohnung, um genau zu sein. Aber wir waren verlobt, und somit wäre es bald auch offiziell mein Zuhause. So war zumindest der Plan.

Der Privataufzug brachte mich hinauf ins Penthouse, wo ich zuallererst meinen Fuß verarztete. Danach warf ich mich erschöpft auf die Couch und wäre vermutlich sofort eingeschlafen, wenn ich in diesem Moment nicht ein merkwürdiges Geräusch gehört hätte. Es war ein Quietschen, das aus den Tiefen des Appartements kam.

Alarmiert schoss ich hoch und schlich langsam nach hinten in Richtung Schlafzimmer. Ich überlegte, den Baseballschläger mitzunehmen, der in Jacobs Arbeitszimmer an der Wand lehnte, doch noch bevor ich das in die Tat umsetzen konnte, erkannte ich, dass es nicht nötig war, mich zu verteidigen. Denn je näher ich der Schlafzimmertür kam, desto eindeutiger und unverkennbarer wurden die Geräusche. Ich kannte das verzückte Quietschen genauso wie das dampflockartige Schnaufen.

»Oh Gott, Jacob!«, stöhnte eine Frau.

Merkwürdigerweise fühlte ich nichts, als ich meine Hand ans Holz legte und die Tür aufdrückte. Weder klopfte mein Herz schneller noch zitterten meine Finger; ich war völlig ruhig. Und nicht einmal überrascht. Natürlich war es nicht angenehm, meinen Verlobten in unserem gemeinsamen Bett hinter einer Latina knien und sie mit vollem Elan bearbeiten zu sehen, während die üppige Schwarzhaarige in mein Kopfkissen biss. Auch die verschwitzten und lustvoll verzerrten Gesichter waren ein Anblick, auf den ich gern verzichtet hätte. Aber es kam mir trotzdem so vor, als hätte unsere Beziehung die gesamte Zeit über insgeheim auf dieses Bild zugesteuert. Die Situation fühlte sich längst nicht so verletzend und demütigend an, wie sie sollte.

Ich schnaubte abfällig, und endlich wurde das Paar auf mich aufmerksam. Jacobs Gesichtsausdruck wechselte in Rekordtempo von verwirrt über schockiert bis hin zu verzweifelt. Während er aufsprang und sich die Bettdecke um die schlanken Hüften wickelte, verschränkte ich die Arme vor der Brust und fixierte ihn. Eine Weile lang starrten wir uns lediglich an.

»Bea«, hauchte er schließlich. »Es ist nicht …«

»Wie es aussieht?«, unterbrach ich ihn und lachte auf. »Ernsthaft? Du bist eines von diesen bemitleidenswerten Arschlöchern, die einen so lahmen Satz von sich geben, wenn sie mit einer anderen im Bett erwischt werden? Als Anwalt müsste dir aber eine kreativere Ausrede einfallen.«

Zumindest hatte er den Anstand, verlegen dreinzuschauen. Sein Betthäschen, das in der Zwischenzeit ihre Klamotten zusammengesucht hatte und vor ihren Körper presste, versuchte, an mir vorbei zu schlüpfen, doch ich fuhr herum, presste sie mit dem Unterarm an ihrer Kehle gegen die Wand und funkelte sie zornig an. Sie japste, und ich drückte fester zu; es war ein Instinkt. Ich wusste nicht, wieso er immer wieder durchbrach. Als ich ihren panischen Blick registrierte, zwang ich mich, von ihr abzulassen. Ich durfte die Kontrolle nicht verlieren. Nicht nachdem ich es geschafft hatte, diesen Teil von mir so lange zu unterdrücken. Einmal mehr fragte ich mich, wann ich es lange genug getan hätte, um den Zorn in mir endlich auszulöschen.

»Raus«, zischte ich sie an, und sie kam meiner Aufforderung sofort nach.

Ich blickte zu Jacob auf, sah ihm direkt in die weit aufgerissenen Augen und grinste. Seinem verstörten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, musste ich dabei ziemlich irre aussehen. Aber mir ging in diesem Moment schließlich auch auf, wie sehr ich mich getäuscht hatte: Jacob hatte es, wie so viele vor ihm, nicht geschafft, mich zu dem Menschen zu machen, der ich sein wollte. Und nun würde er eine Bea kennenlernen, die er in mir nie vermutet hätte.

Ich spürte Scham und Erleichterung zugleich. Okay, dieses eine Mal würde ich noch nachgeben. Er hatte es verdient, redete ich mir ein.

»Und jetzt zu dir«, sagte ich.

Interlude – I knew she was Trouble

Die meisten Leute konnten nicht verstehen, wieso Emma an ihren freien Abenden im Clubhaus hinter der Theke stand, aber für sie war es keine Arbeit. Es fühlte sich vielmehr an, wie daheim in der Küche zu stehen und für seine Familie zu sorgen. Das Clubhaus der Advocates war für Emma ohnehin viel mehr ein Zuhause als ihre winzige, leere Wohnung. Deshalb war sie auch froh, dass Rosemary heute pünktlich und fast nüchtern im Courtroom erschienen war und sie deshalb nun hier sein konnte. Bei der Familie, die sie sich ausgesucht hatte. Ihre Blutsverwandtschaft mied sie, so gut es ging; mit denen hatte man sowieso immer nur Ärger. Das sah man gerade deutlich an Rosie und Bea.

Natürlich hatte die Alkoholikerin bessere und schlechtere Tage – so war die Krankheit nun einmal. Aber seit ihre Tochter wieder in der Stadt war, schwankten ihre Stimmungen extrem. Im einen Moment schien es, als freute sie sich über Beas Besuch und versuchte ernsthaft, für sie durchzuhalten und nichts zu trinken. Dann lehnte sie sogar freie Drinks ab. Im anderen Moment war sie sichtlich am Ende und schüttete sich fünf Tequila hintereinander in die Kehle. Offensichtlich konnte sie sich nicht recht entscheiden, wie sie sich fühlen sollte. Das war besorgniserregend. Und nicht nur ihre Launen waren das, ein ähnliches Verhalten legte Blaze an den Tag.

Emma schnappte sich einen Lappen und gab vor, sich auf das Polieren der Theke zu konzentrieren, während sie B verstohlen musterte. Er saß in einem Sessel in der Ecke, starrte auf den Billardtisch, offenbar ohne die Partie wirklich zu verfolgen, und nippte von Zeit zu Zeit an seinem Bier. Er schien gedanklich meilenweit entfernt.

Es war nicht nur seine Verflossene, die ihn beschäftigte, das war Emma bewusst. Als Vizepräsident der Advocates lastete zurzeit einiges auf seinen Schultern; so war das eben, wenn der Präsident des Clubs in U-Haft saß. Zum Glück wurde Syds Fall bald verhandelt, und es war jetzt schon klar, dass er freigesprochen wurde. B musste nicht mehr lange die Verantwortung tragen und sich mit all dem Mist allein herumschlagen. Aber bis es soweit war, brauchte er einen kühlen Kopf. Sich zu konzentrieren war mit Beas Anwesenheit jedoch sichtlich schwerer für ihn.

Emma wusste, dass etwas im Argen lag. Sie bekam viel mehr von den Clubgeschäften mit, als die Jungs ahnten. Außerdem konnte sie eins und eins zusammenzählen. Immerhin hatte sie gesehen, dass Fernando, der President der Los Bribons, kürzlich da gewesen war.

Der Nachbarclub war für die Drogengeschäfte in Südnevada und Teilen Kaliforniens zuständig. Die Member der beiden Clubs waren nicht die besten Freunde, aber sie respektierten sich und machten Geschäfte miteinander, weshalb es nicht verwunderlich war, dass ein Bribon nach Wolfville kam. An jenem Tag war es allerdings Fernando selbst gewesen, der den Advocates einen Besuch abstattete, um den VP unter vier Augen zu sprechen. An seiner Haltung sowie an der Tatsache, dass er fünf schwerbewaffnete Männer dabei hatte, wurde deutlich, dass dies kein normaler Besuch gewesen war. Und auch B war anzusehen gewesen, dass Fernando keine guten Nachrichten überbracht hatte. Und als wäre das nicht beunruhigend genug, verschwanden nach dem Treffen zwei Advocates. Es konnte kein Zufall sein, dass Sonny und JJ nicht mehr auftauchten und keiner der Jungs diesen Umstand auch nur mit einem Wort erwähnte.

Wenn Emma raten müsste, würde sie sagen, dass die beiden den Club entweder verraten hatten oder es immer noch beabsichtigten und getürmt waren, als Fernando ihr Vorhaben wider Erwarten auffliegen ließ. Vermutlich waren die Jungs deshalb in letzter Zeit viel unterwegs: Sie versuchten, die Ratten zu finden, bevor diese weitere Dummheiten anstellen konnten. Bestimmt hatten Blaze, Pat und Moses heute deswegen das Vegas-Chapter aufgesucht; sie brauchten die Unterstützung ihrer Brüder.

Emma schaute zu Moses hinüber, der an der Wand lehnte und sich mit Jimmy D. unterhielt. Der Typ sah aus wie ein Bär: Groß, massig und mit lockigem Haar, das ihm in dicken Strähnen über die Schultern fiel. Auf den ersten Blick wirkte er furchteinflößend, aber im Herzen war er eher ein Teddybär. Obwohl er zum Grizzly werden konnte, wenn es um seine kleine Schwester Jessica ging. Jedenfalls musste es ein gutes Zeichen sein, dass er grinste und scherzte; garantiert hatten die Brüder aus Vegas ihre Hilfe zugesichert. So machte man das bei den Advocates. Man war füreinander da.

Dass B dennoch aussah, als hätte er heute einen Schwarm Heuschrecken am schwarzen Himmel gesehen, musste demnach wohl doch an Bea liegen.

Schnaubend schüttelte Emma den Kopf, warf den Lappen in die Spüle und drehte sich zur Kaffeemaschine um. Routiniert griff sie nach Filter und Pulver und setzte eine frische Kanne Kaffee auf, während sie an ihre erste Begegnung mit Bea zurückdachte.

Sie hatte sofort geahnt, dass die Frau Ärger machen würde! Schon als sie ihr zum ersten Mal ins Gesicht gesehen hatte, als sie noch nicht wusste, wer ihr da gegenüber stand, hatte sie ein mieses Gefühl bei ihr gehabt. Allein dieser Aufzug! Und welcher normale Mensch hatte derart samtene Haare und eine so ebenmäßige Pfirsichhaut? Diese Frau hatte ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt und dazu wache, bernsteinfarbene Augen, mit denen sie wirkte wie eine Raubkatze – schön, durchtrieben und hochgefährlich.

Emma war sicher, dass Bea nicht das elegante Mädchen aus der Großstadt war, das sie vorgab, zu sein. Die feinen Klamotten und die steife Haltung konnten nicht über das Feuer in ihren Augen hinwegtäuschen. Emma sah das Raubtier. Es lauerte. Die Frage war nur, auf was?

Sie schielte einmal mehr zu Blaze hinüber, der sich noch immer nicht bewegt hatte. Inzwischen waren seine Brauen sorgenvoll zusammengezogen. Wie schaffte es Bea nur, einen solchen Trauerkloß aus ihm zu machen? Emma hatte ihn noch nie so erlebt.

B war einer dieser Kerle, denen die Frauen von allein in den Schoß fielen. Mit seiner ruhigen, eher schweigsamen Art machte er die Mädels neugierig, sie standen auf das Geheimnisvolle. Außerdem war er ein lieber und humorvoller Kerl, wenn man es einmal geschafft hatte, ihn kennenzulernen. Deshalb – und natürlich, weil er superheiß war – konnte er sich auf Partys vor willigen Frauen kaum retten. B und sein bester Freund Chick hatten immer freie Auswahl und genossen das für gewöhnlich. Umso verwunderlicher, dass er sich nun von einer einzigen Frau derart runterziehen ließ.

Emma wusste nicht viel über die Beziehung der beiden; B hatte nur ein einziges Mal über sie geredet. Und das war ganz sicher ein Versehen gewesen. Damals war er stockbesoffen gewesen und dürfte sich heute nicht mehr daran erinnern, Emma überhaupt jemals einen Blick in sein Innenleben gewährt zu haben.

»Der größte Fehler meines Lebens war es, Bea gehen zu lassen«, erinnerte sie sich an seine Worte, und noch heute sah sie den verzweifelten Ausdruck in seinen silbergrauen Augen klar vor sich. Später hatte sie erfahren, dass B, Chick und Bea zusammen zur Schule gegangen waren. Alle anderen Geschichten handelten aber lediglich von irgendwelchen Vergehen und Teenie-Streichen, die sie miteinander ausgeheckt hatten, deshalb hatte Emma sein Geständnis irgendwann als alkoholbedingte Übertreibung abgetan. Nun musste sie diese Annahme überdenken. Denn dass er nie über seine erste Liebe hinweggekommen war, würde nicht nur seine Weltuntergangsmiene erklären, sondern auch seinen Frauenverschleiß.

Emma riss den Blick von B los und stellte stattdessen ein paar gespülte Becher etwas zu schwungvoll in den Schrank. Es machte sie wütend, ihn so zu sehen. Es war, als breche ihm Bea ein zweites Mal das Herz, und Emma musste tatenlos dabei zusehen. Sollte diese Yankee-Zicke doch dorthin zurückgehen, wo sie hergekommen war!

»Hey, was ist los?« Scars Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Der Prospect setzte sich auf den Hocker gegenüber und musterte sie eingehend. Seinen Namen, Scarface, verdankte er der riesigen Narbe, die von seiner rechten Schläfe, vorbei am Augenwinkel bis hinunter zum Mundwinkel verlief und seine Unterlippe leicht deformierte. Er sprach nie darüber, wie er sie sich zugezogen hatte, aber es sah aus, als hätte ihn ein ziemlich großes Messer erwischt. Mit der ausgefransten Linie im Gesicht, den pechschwarzen Haaren und Klamotten, der Lederkutte und seinen einzigartig hellen, fast eisblauen Augen sah er für die meisten Menschen vermutlich zum Fürchten aus. Doch Emma wusste es besser. Wie die meisten der Jungs war Scar insgeheim ein lieber Kerl.

»Was meinst du denn?«, fragte sie.

Er zog eine Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche, zündete sich eine Kippe an und blies den blaugrauen Rauch in die Luft. »Du starrst Blaze seit ungefähr einer Stunde an und traktierst dabei die armen Becher.«

Emma lehnte sich mit den Unterarmen auf die Theke und wies mit dem Kinn auf B. »Findest du nicht, dass er sich merkwürdig verhält? Ich mache mir allmählich Sorgen. Aber er würde ja wie immer lieber sterben, als über was zu reden.«

Scar hob vielsagend eine Braue, ehe er seinem VP einen Blick zuwarf. Dann zuckte er mit den Schultern. »Während der Pres in Pahrump einsitzt, hat B das Sagen. Und zurzeit gibt es einige harte Entscheidungen zu treffen. Klar, dass er angespannt ist. Aber das wird schon wieder, keine Sorge. Außerdem stehen wir alle hinter ihm.«

Emma nickte. Scar musste so etwas sagen, denn er konnte nicht wissen, was B sonst noch beschäftigte. Wie sie ihn kannte, hatte er seinen Brüdern nichts von Bea erzählt. Der Einzige, der vermutlich Bescheid wusste, war Chick, und der war gerade beim Chapter in Provo, Utah. Das jedoch stimmte Emma nicht sehr traurig. Von ihr aus konnte dieses Arschloch dort verrotten …

»Bestimmt hast du recht«, murmelte sie.

»Hey Süße, gibst du mir einen Becher Kaffee, ja?« Pat setzte sich neben Scar, klopfte dem Prospect freundschaftlich auf den Rücken und grinste Emma frech an. »Die Nacht war kurz, wenn du verstehst. Die Kleine hat einfach nicht genug gekriegt. Ich musste sogar eine extra Tagesschicht einlegen.« Er wackelte mit den Brauen. »Mann, bin ich durch.«

»Du armer Kerl«, sagte Emma mitfühlend, konnte sich das Grinsen allerdings kaum verkneifen. »Du musst ja völlig erschöpft sein.«

Sie schenkte den Becher voll und stellte ihn mit dem Zuckerstreuer vor Pat ab. Milch brauchte er nicht, das wusste sie. Sie wusste von jedem hier, wie er seinen Kaffee trank.

»Jaja, das Leben ist hart«, sinnierte er. »Aber das muss man ertragen, wenn Gott einem eine solche Gabe geschenkt hat.«

Emma kicherte. »Was wäre die Damenwelt unglücklich und vor allem unbefriedigt, wenn es dich nicht gäbe.«

»Meine Rede.«

Vom Flur her drang ein angewidertes Geräusch in den Raum, und kurz darauf erschien Lenny mit einer Zeitung unter dem Arm und gerümpfter Nase im Türrahmen.

»Wer hat denn eine solche Schweinerei auf dem Klo angerichtet?«, maulte er. »Ihr seid schlimmer als wilde Tiere. Ist ja ekelhaft.«

Kopfschüttelnd ging er an der Theke vorbei zur anderen Toilette im hinteren Bereich des Erdgeschosses und kommentierte das Gelächter der Jungs am Billardtisch mit einem Heben des Mittelfingers.

Scar und Pat wechselten einen amüsierten Blick, ehe der Ire herzhaft auflachte.

»Was schaust du mich an, Prospect?« Er deutete in Richtung Flur. »Schnapp dir ’nen Mopp.«

Ohne Zögern oder Widerworte erhob sich Scar und ging zu besagter, ekelhafter Toilette. Emma schaute ihm mitleidig nach.

Manchmal musste er schon eine Scheißarbeit verrichten, im wahrsten Sinne, aber was blieb ihm anderes übrig? Immerhin war er der Prospect, ein Anwärter, der sich seinen Patch noch verdienen musste. Und bis er zum vollwertigen Advocate wurde, musste er Frondienste für die Member leisten. So war das eben. Deshalb tat er Emma aber nicht weniger leid.

»Ist das Jahr immer noch nicht um?«, sinnierte sie leise.

»Er hat mindestens ein Jahr Anwartschaft«, grummelte Pat. Die Jungs konnten es nicht leiden, wenn sich Frauen in ihre Politik einmischten, deshalb wurden sie bei solchen Fragen immer etwas einsilbig. »Nächsten Monat.«

»Kommt mir vor wie eine Ewigkeit«, murmelte Emma.

Pat zuckte lediglich mit den Schultern, dann griff er nach dem Zuckerstreuer, hielt ihn über seinen Becher und schüttete das Zeug in kleinen Kreisen in seinen Kaffee. Emma beobachtete ihn mit vor der Brust verschränkten Armen, bis er den Behälter nach einer gefühlten Ewigkeit absetzte und in seinem Becher zu rühren begann.

»Glaubst du, dass das genug war? Willst du nicht noch ein paar Löffel reinkippen? Zur Sicherheit?«

»Du weißt doch, ich steh auf heiß und süß«, meinte er und rührte unbekümmert weiter.

»Du könntest genauso gut heißes Wasser trinken – mit der Menge an Zucker schmeckst du den Kaffee eh nicht mehr.«

»Die dünnflüssige Plörre, die ihr Amerikaner Kaffee nennt, ist ja auch kaum mehr als Wasser.«

Emma lachte auf. »Ach, ich vergaß: Iren sind die Feinschmecker dieser Welt.«

Seine grünen Augen blitzten schelmisch auf, ehe er ihr zuzwinkerte. »Zumindest kochen wir den besseren Kaffee.«

Emma ging um die Theke herum, legte ihm die Hände von hinten auf die Schultern und drückte ihm einen dicken Kuss auf die stoppelige Wange. »Du kannst hier ja mal einen Kaffee-Kochkurs geben.«

Pat lachte sein herzhaftes Lachen, das derart ansteckend war, dass jeder, der ihn hören konnte, automatisch mitlachte. Allerdings verging Emma das heitere Geplänkel, als ihr Blick erneut auf Blaze fiel. Zögerlich schlenderte sie zu ihm hinüber.

Sie saß bereits auf der Armlehne des Sessels und streichelte über seinen Schenkel, da bemerkte er sie erst. Langsam hob er den Blick und schaute ihr in die Augen, doch ihm war anzusehen, dass er gedanklich weit weg war.

»Kann ich dir irgendwas Gutes tun?«, fragte Emma.

B schüttelte den Kopf, tätschelte ihr das Knie und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche.

Er hatte ab und an seine Grüblerphasen – nie so schlimm wie in den letzten Tagen, aber phasenweise sehr ausgeprägt. Wann immer ihn etwas quälte, machte er es mit sich allein aus, zog sich zurück und zerdachte das Problem. Es gab in solchen Zeiten nur eines, was Emma für ihn tun konnte.

Sie lehnte sich näher zu ihm, streichelte mit einer Hand über seine breite Brust und strich provozierend mit der Nasenspitze seine Wange entlang, bevor sie ihm ins Ohr raunte: »Ich wüsste, wie ich dich auf andere Gedanken bringen könnte.«

Er fasste sie an den Oberarmen, schob sie sanft von sich und blickte entschuldigend zu ihr auf. »Bitte nimm’s mir nicht übel, Em, aber heute nicht.«

Sie wich zurück. Es traf sie fast wie eine Ohrfeige, dass er keine Lust hatte. Fragend blinzelte sie ihn an, aber er wendete den Blick von ihr ab.

Sie waren nicht zusammen, und sie hatte – Gott weiß – kein Anrecht auf ihn, diesen Gedanken hatte sie sich längst abgeschminkt. Sie war einfach nur eine gute Freundin, und damit war sie vollauf zufrieden. Sie war das für die meisten der Jungs hier. Eine Art Ersatzfreundin, mit der sie reden konnten, die sie tröstete und sie für eine Weile ihren harten Alltag vergessen ließ. Emma war glücklich, dass sie ihrer Familie, den Menschen, die sie aufgenommen hatten, etwas zurückgeben konnte, indem sie für sie da war. Jeder brauchte von Zeit zu Zeit eine Pause. B besonders. Und sie gab sie ihnen.

B und Emma hatten für gewöhnlich viel Spaß miteinander. Dass er sie heute abwies, verhieß daher nichts Gutes und machte ihr noch mehr Sorgen als seine Weltuntergangsmiene.

»Hör mal, B, ich weiß nicht, was los ist, aber eines möchte ich dir sagen.« Sie lehnte sich zu ihm, damit sie sonst niemand hörte. »Sie denkt offenbar, sie sei etwas Besseres als du. Wenn sie nicht erkennt, was für ein Mann du bist, dann hat sie dich nicht verdient.«

Sein Kopf wirbelte zu ihr herum. Er zog die Brauen zusammen und musterte Emma, schätzte offenbar ein, wie viel sie wusste. Wahrscheinlich ging ihm in diesem Moment auf, dass man ihm seine Gefühle ansehen konnte und Bea ihn schwach aussehen ließ. Aber der Vizepräsident der Satan’s Advocates Wolfville durfte nicht schwach aussehen. Vor allem nicht jetzt.

»Du solltest dir nicht den Kopf wegen jemandem zerbrechen, der keinen einzigen Gedanken an dich verschwendet«, fuhr Emma fort. »Tu dir das nicht an.« Sie drückte ihm die Schulter und schaute ihm eindringlich in die Augen. Hoffentlich verstand er, dass sie es gut mit ihm meinte. Sie wollte doch nur, dass er glücklich war. »Wenn du mich brauchst, ich bin immer für dich da«, schob sie hinterher und nickte ihm zu.

B nahm ihre Hand, küsste sie sanft auf die Fingerknöchel und nickte zurück.

Ein wenig leichter ums Herz erhob sich Emma und schlenderte zur Theke. Scar saß inzwischen wieder dort und nippte an irgendetwas, das aussah wie Milch mit Grenadine. Der trank doch echt alles, was man ihm hinstellte …

»Du kannst es nicht lassen, dich um die Probleme aller anderen zu kümmern, was?«, sagte er, als Emma sich neben ihn setzte.

Sie grinste. »Das sagst du zu mir, Prospect

Automatisch warf sie Blaze einen Blick zu. Er stand auf, ging zum Billardtisch hinüber und nahm sich einen Queue. Offenbar versuchte er, seine Laune hinunterzuschlucken, was ihm aber nicht ganz gelang.

Für B und Rosie konnte Emma nur hoffen, dass Bea schleunigst wieder verschwand, bevor sie noch richtig Ärger verursachte. Rosie stand kurz davor, noch tiefer in ihr Loch fallen und B war so angespannt, dass man es förmlich unter der Oberfläche knistern hörte. Derjenige, der ihn in nächster Zeit reizte, tat Emma jetzt schon leid. Allein wie fest er den Billardqueue umfasste, war bezeichnend. Es schien, als fehlte nur ein winziger Funken, um den Feuersturm in ihm zu entfachen. Sein Name kam nicht von ungefähr. Der coole Carl Hanson konnte nämlich innerhalb von Sekunden zum Blaze werden.

Emma fuhr es eiskalt den Rücken hinab, während sie ihn beobachtete. Wenn dieses Muskelpaket die Kontrolle über sich verlor, würde ihn so schnell keiner mehr bremsen können.

Chapter Two – The Dark Knight

Als Bea am Abend das Rathaus verließ, schwirrte ihr der Kopf. Sie war nicht mehr fähig gewesen, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, und hatte Maya stattdessen über Charlie und seine Biker-Gang ausgequetscht. Sie konnte nicht fassen, dass er ein Outlaw geworden war. Damit war er das exakte Gegenteil von ihr; das Gegenteil von dem, was sie befürchtet hatte, zu werden, wenn sie in Wolfville geblieben wäre. Einmal mehr war sie froh, rechtzeitig den Absprung geschafft zu haben.

Die leise Stimme, die ihr zuflüsterte, dass sie abermals hier – und pleite war, weil sie in New York mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, ignorierte sie geflissentlich. Diese Episode war nur ein winziger Stolperstein auf ihrem Weg zu dem perfekten Leben, das sie sich ausgemalt und geplant hatte. Bald hätte sie diesen Rückschlag überwunden, könnte von hier verschwinden und ein anständiges Leben führen.

Anders als Charlie. Er hatte den entgegengesetzten Weg gewählt; den, der offensichtlich nach unten führte …

Maya konnte Bea leider nicht erklären, wie es zu seiner Entscheidung gekommen war. Es musste jedenfalls in Vegas begonnen haben, wo Charlie und sein bester Freund Chris ein paar Jahre nach der High School Arbeit gefunden hatten. Bea erinnerte sich gut an Chris, den Frauenschwarm mit den abstehenden Ohren. Chris war furchtbar schlecht in der Schule gewesen, aber weil er immer schon groß und stark gewesen war, war er der geborene Sportlertyp. Bea war sicher, er hätte sehr viel mehr aus sich machen, ja sogar ein Sportstipendium erhalten können, wenn er sich nicht immer mit Charlie und ihr abgegeben hätte.

Bei den affigen Footballspielern und den arroganten Cheerleadern, mit denen vor allem Bea nicht ausgekommen war, machte er sich jedenfalls nicht durch seine Freundschaft zu ihnen beliebt, was sich wiederum auf das Verhalten seiner Teamkollegen in den Spielen auswirkte. Und dass er bei jedem Mist mitgemacht hatte, den sie anstellten, verärgerte nicht nur seinen Coach, sondern auch den Direktor – beide hielten Charlie und Bea für einen schlechten Umgang und pures Gift für das ach so große Potential ihres Supersportlers. Doch Chris war das immer egal gewesen. Es überraschte Bea daher nicht im Geringsten, dass die beiden Jungs zusammen in den Abgrund gerutscht waren.

Laut Maya war das mit den Bikern erst lange nachdem Bea die Stadt verlassen hatte, passiert. Anscheinend hatte man zwei Jahre lang nichts von Charlie und Chris gehört, bis sie urplötzlich mit Kutten, Bikes und einigen zwielichtigen Gestalten im Schlepptau nach Wolfville zurückgekehrt waren, ein altes Farmhaus an der Stadtgrenze gekauft und dort ein Chapter des landesweiten Motorradclubs Satan’s Advocates gegründet hatten. Zack – einfach so. So schien es zumindest.

Kurz darauf kursierten auch schon haufenweise Gerüchte in der Stadt. Drogen-, Waffen- und Frauenhandel klangen recht glaubhaft, und Bea stellten sich die Nackenhaare auf, als Maya von Auftragsmorden und Partnerschaften mit mexikanischen Kartellen und der Russenmafia erzählte. Sie hoffte, dass wie bei den meisten Gerüchten nur ein Bruchteil davon wahr war.

Offiziell besaßen die Advocates in der Gegend ›nur‹ einige Bordelle, Stripclubs und Spielhallen, was im Staate Nevada zwar nicht illegal war, Bea aber dennoch anekelte – wenn auch nicht annähernd so sehr wie die Gerüchte, dass Polizei und County Sheriffs bei den Outlaws gerne mal ein Auge zudrückten, weil sie dafür Jahreskarten im Puff ihrer Wahl bekamen. Das fiel Bea ausnehmend leicht zu glauben. Denn Wolfville war für sie schlichtweg verkommen und hatte immer schon etwas Höllenartiges an sich gehabt. Aus diesem Grund hatte Bea so verzweifelt hier weg gewollt und sich deshalb im letzten High School Jahr einen Freund mit Footballstipendium gesucht, mit dem sie wenig später nach LA fliehen konnte. Leider hatte sich Jared recht schnell als fatale Enttäuschung entpuppt – und war damit der Erste einer Reihe von frustrierenden Liebschaften gewesen …

Ein knatterndes Motorengeräusch riss Bea aus ihren Gedanken, als sie gerade in den Pick-up stieg. Wie automatisch schaute sie zur Straße hinüber. Ein dicker Kerl mit schulterlangen Locken, der selbstzufrieden wie ein Pascha auf seiner Harley saß, fuhr gemächlich an ihr vorbei. Diese Typen schienen zu glauben, ihnen gehörte diese Stadt.

Kopfschüttelnd lehnte sich Bea in den Sitz zurück und schaute in den wolkenlosen Himmel, sah dabei allerdings nur Charlies Gesicht vor sich.

In der ersten Zeit, nachdem sie fortgegangen war, hatte sie oft an ihn gedacht. Bis sie es endlich geschafft hatte, die Erinnerungen in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins zu schieben – direkt neben die Gefühle. Nun hatte sich all das wieder befreit, und sie sah den dünnen Jungen mit dem gequälten silbergrauen Blick glasklar vor sich.

Es zerriss ihr das Herz, zu erfahren, wie falsch sie gelegen hatte. Die Gedanken an Charlie zu verdrängen war ihr nur gelungen, weil sie sich immer vorgestellt hatte, dass er ebenfalls aus Wolfville abgehauen war. Indem sie sich einredete, er hätte es rausgeschafft, bevor seine beschissene Vergangenheit ihn auffressen oder sein Adoptivvater ihn brechen konnte. Aber das war nicht geschehen. Im Gegenteil. Charlie war jetzt ein Outlaw. Und sein Adoptivvater, Rektor Brown, war vor einiger Zeit auf mysteriöse Weise verschwunden, wie man hörte. Bea wehrte sich gegen die Vermutung, die sich ihr in diesem Zusammenhang zwangsläufig aufdrängte. Ohnehin wollte sie nicht über Charlie nachdenken.

Die alten Schuldgefühle konnte sie momentan genauso wenig brauchen wie die längst vergrabenen Emotionen einer ersten Liebe. Sie waren heute andere Menschen, sie beide. Sie hatten sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt, sich für verschiedene Leben entschieden. Nichts verband sie mehr. Selbstredend tat es ihr leid für den Jungen von damals, für den es offenbar zu spät war, aber mehr als ein leises Bedauern durfte sich Bea nicht erlauben. Denn für sie war der Weg noch nicht zu Ende. Und wenn sie sich auf ihren Plan konzentrierte, wäre sie bald wieder in der richtigen Spur.

Zunächst musste sie dringend ihre Schulden bei Jacob abbezahlen und ein weiteres Mal reumütig um Verzeihung bitten. Dann wäre er eventuell so nachsichtig, die Anzeige wegen Körperverletzung zurückzuziehen. Ihr Ex war zurecht sauer auf sie, denn als sie ihn in flagranti mit dieser Latina erwischt hatte, war die alte Bea in ihr durchgebrochen. Es war falsch gewesen, ihn zu schlagen, das war ihr vollkommen klar. Es tat ihr zwar nicht besonders leid, aber es war nicht richtig, zudem hatte sie sich fest vorgenommen, so etwas nie mehr zu tun. Diesen wütenden Teil von sich konnte sie zwischenzeitlich immer besser unterdrücken, und irgendwann wäre sie lediglich ein respektabler Mensch, der ein rechtschaffenes Leben führte. Das war alles, was sie immer gewollt hatte. Und nach der Begegnung mit Charlie war sie noch entschlossener.

Wolfville formte die bösesten Kreaturen, da war sie sicher. Deshalb musste sie so schnell wie möglich hier weg und durfte nicht zurückblicken.

Bea beschloss, die Rocker links liegen zu lassen und zu akzeptieren, dass der Junge, den sie einmal gekannt hatte, nicht mehr existierte. Der Mann, zu dem er geworden war, versprach nur Ärger, und Ärger wollte sie unter allen Umständen aus dem Weg gehen. Charlie erschien ihr wie das sprichwörtliche Fenster, das der Teufel öffnete, wenn Gott eine Tür schloss – die Versuchung, die sie auf den falschen Weg führen sollte.

Also wieso sich weiterhin damit auseinandersetzen? Wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal erkannt. Feierlich nickte sie sich im Rückspiegel zu, dann startete sie den Motor und fuhr in Richtung ihres Elternhauses durch den Ort.

Es war derselbe Weg, den sie heute Morgen genommen hatte, und doch schien er sich total verändert zu haben. Mit einem Mal war er voll von Erinnerungen: Hier waren sie oft zusammen entlanggegangen, da vorne in Fred’s Laden hatten sie sich immer mit Schnaps eingedeckt, und im Diner auf der anderen Seite waren sie stundenlang gesessen und hatten das eine Bier, das sie sich leisten konnten, so lange hin und hergeschoben, bis es warm geworden war. Hauptsache, sie waren zusammen …

Bea schüttelte den Kopf und richtete den Blick stur auf die Fahrbahn. Es gab nicht nur gute, sondern ebenso unzählige böse Erinnerungen, und auf die sollte sie sich konzentrieren. Denn sie würde sich nicht von einem irrationalen Anflug aus Sentimentalität und Schwäche von ihrem Weg abbringen lassen. Dafür hatte sie zu hart an sich und für ihr Leben gearbeitet. An all die Streits sollte sie denken, an all die Besäufnisse und die Schlägereien, all das Chaos und den Zorn. Sie sollte sich daran erinnern, warum sie diesem staubigen Höllenloch für immer den Rücken kehren wollte. Doch als sie an ihrem Elternhaus ankam und sich eine der bösen Erinnerungen mit der Gegenwart vermischte, fiel es ihr mit einem Mal gar nicht mehr schwer, sich an all das Schlechte zu erinnern …

Bea stieg aus dem Wagen, ging auf die Haustür zu und kramte dabei in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. Mist. Sie musste sie im Büro liegengelassen haben. Seufzend rüttelte sie an der Klinke, aber die Tür war verschlossen. Aus Gewohnheit hatte sie abgeschlossen, als sie heute Morgen zur Arbeit gegangen war, ohne daran zu denken, dass noch jemand in diesem Haus lebte: ihre Mutter, die heute anscheinend den ganzen Tag nicht draußen gewesen war.

Bea schaute durch das Fenster ins Wohnzimmer und sah das Licht des Fernsehers, das ins Rauminnere strahlte und stetig die Farbe veränderte, wodurch es wirkte, als blitzte es im Inneren. Durch den gelblich-grauen Vorhang nahm sie die liegende Gestalt auf dem Sofa nur verschwommen war, erkannte aber genug, um zu wissen, dass sich Rosemary mal wieder ins Whiskykoma versetzt hatte.

Der Anblick war alles andere als neu. Und die Situation, vor verschlossenen Türen zu stehen, war Bea ebenfalls nicht fremd. In ihrer Jugendzeit hatte ihre Mutter sie des Öfteren an die Luft gesetzt.

Fluchend marschierte sie ums Haus zur Küche. Glücklicherweise lag auf der Fensterbank noch immer das kleine Metallblättchen, das sie früher schon zum Aufhebeln des Fensters benutzt hatte. Zwar sah es verwitterter und rostiger aus, aber es war nach all den Jahren noch hier – als wäre die Zeit einfach stehen geblieben, während sie fort gewesen war.

Wie damals fuhr Bea mit dem dünnen Blättchen zwischen die Verriegelung, die nicht mehr vollständig schloss und schob das Fenster mit Leichtigkeit auf. Daraufhin zog sie sich hoch und schwang sich mit den Füßen voran ins Haus. Sie warf einen Blumentopf mit vertrockneten Kräutern um und rutschte mit einem Fuß in die Spüle ab, schaffte es jedoch, hinein zu klettern.

»Das ging schon mal besser«, murmelte sie, als sie von der Küchenarbeitsplatte kletterte.