Erstes Kapitel,

in dem Dorian Reisepläne schmiedet und sein Erzfeind Costin einen wichtigen Auftrag erhält

»Das ist nicht dein Ernst!« Dorian Dracula blickte seinen Vater ungläubig an. »Hast du Mama jetzt endgültig abgeschrieben?« Der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Vlad Dracula tat so, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt als seine frisch polierten Schuhe aus feinstem Karpatenhirschleder.

»Sag etwas, Papa!«, forderte Dracula ihn auf.

Vlad hob den Kopf. »Deine Mutter Aida ist jetzt über drei Jahre verschwunden.« Er vermied es, seinem Sohn in die Augen zu sehen. »Wir machen uns etwas vor, wenn wir hoffen, dass sie noch am Leben ist. Sie hätte sich doch sonst längst gemeldet oder uns wenigstens ein Zeichen zukommen lassen …«

Dorian lag eine heftige Erwiderung auf der Zunge. Tief im Innern war er überzeugt, dass sich seine Mutter noch irgendwo aufhielt und es einen wichtigen Grund dafür gab, dass sie keine Nachricht geschickt hatte. Und jetzt, als frischgebackener Agent der höchst geheimen Akademie der Vampire, boten sich ihm neue Möglichkeiten, nach ihr zu suchen.

Leider konnte Dorian seinem Vater nicht auf die Nase binden, dass er neuerdings im Dienst des vampirischen Geheimdienstes stand, denn sonst wäre es ja nicht mehr geheim. Verzweifelt suchte Dorian nach einem Weg, wie er die Pläne seines Vaters durchkreuzen könnte.

Vlad Dracula hatte eine Reise auf dem Kreuzfahrtschiff OLD LADY gebucht. Dieses Schiff gehörte zur Steigenbeißer Hotelkette, die sich speziell den Bedürfnissen der Vampire widmete. Es war keine normale Kreuzfahrt, sondern eine Vergnügungsreise für Singles, die andere Singles treffen wollten. Und das bedeutete, dass sich Papa nach einer neuen Frau umgucken wollte. Was für ein schrecklicher Gedanke!

»Hast du Mama denn schon vergessen?«, fragte Dorian vorwurfsvoll.

»Dorian, du weißt ganz genau, dass ich deine Mutter niemals vergessen werde«, antwortete Vlad Dracula. »Sie wird immer einen Platz in meinem Herzen behalten. Aber ich muss jetzt nach vorne sehen. Ich habe jedenfalls nicht vor, die nächsten Jahrhunderte allein zu leben!«

Dorian wandte sich enttäuscht ab. Er verabscheute die Pläne seines Vaters, und er verabscheute fast noch mehr diesen Kahn namens OLD LADY, der Vampire miteinander verkuppelte. Was konnte man nur an so einer Reise finden? Tanztee um Mitternacht, Mondscheinpicknick auf Deck, Klaviergeklimper und schluchzende Geigen, Kürbis-Lampions und so weiter. Ganz zu schweigen von den erlesenen Köstlichkeiten wie aufgeschäumte Herzklößchensuppe mit geraspelten Markknochen, überbackene Herzbeutel von frischen Wildschweinen und, für die Veggis unter den Vampiren, gefüllte Brokkoli-Käseherzbomben nach Schloss-Ortranto-Art. Ja, Dorian hatte den Werbeflyer für die Kuppelreise gelesen und vor lauter Herzen fast das Würgen bekommen. Seine Urgroßcousine (oder so ähnlich) Sarina hatte einen ganzen Stapel davon im Foyer des Dracula-Schlosses liegen gelassen. Opa Andreji hatte sofort angefangen, aus den bunten Prospekten Schiffchen zu falten, bis Oma Stoica ihm die Blätter entrissen und in den Kamin geworfen hatte. Aber einige Flyer waren trotzdem übrig geblieben – leider.

Dorian verließ mit großen Schritten den Saal und eilte so schnell die Wendeltreppe in sein Zimmer hinauf, dass er sich fast den Hals gebrochen hätte. Sein sonst so kühles Blut schäumte vor Wut. Er riss seine Zimmertür so heftig auf, dass seine Ratte Merlin von der Sargkante purzelte. Merlin hatte gerade wieder einmal geübt, mit geschlossenen Augen auf der Kante entlangzubalancieren. Angeblich war das gut für die Konzentration und schärfte die Gedanken.

»Beim verflixten Blutmond, was ist los?«, fauchte Merlin und rappelte sich mühsam wieder auf. Seine Schnurrhaare waren beim Sturz außer Form geraten, und er beeilte sich, alles wieder in Ordnung zu bringen.

»Mein Dad will sich mit Frauen treffen«, murmelte Dorian nur und griff nach seinem Smartphone, das auf dem Kopfkissen im Sarg lag. Er musste unbedingt mit jemandem sprechen, und niemand konnte ihm besser zuhören als Lilith, seine Freundin. Genau genommen war Lilith nicht seine Freundin, sondern eine Freundin, und zwar die beste. Eine Art weiblicher Kumpel, mit dem man durch dick und dünn gehen konnte.

»Hallo, Dorian«, meldete sich Lilith mit leicht verschlafener Stimme, aber trotzdem erfreut. »Was gibt’s denn so Wichtiges, dass du mich um diese Uhrzeit anrufst?«

Lilith war nämlich Halbvampirin, deswegen war sie nachts nicht ganz so wach wie Dorian. Im Gegensatz zu ihm war für sie das Sonnenlicht des Tages nicht tödlich, und das nutzte sie weidlich aus. Sie war sehr neugierig oder besser informationsbedürftig, wie sie es nannte.

Das Holz des Sarges knarrte, als sich Dorian auf die Kante setzte. »Tut mir leid, wenn ich dich aus dem Schlaf gerissen habe.«

»Macht nichts«, alberte Lilith. »Ich musste sowieso aufstehen, weil mein Handy geklingelt hat.« Sie kicherte.

Dorian erzählte ihr voller Empörung von den Plänen seines Vaters.

»Ist doch nicht so schlimm«, meinte Lilith. »Im Gegenteil, ich finde es gut, dass dein Vater mal was von der Welt sieht, anstatt sich immer nur in eurem düsteren Schloss zu vergraben.«

»Aber es ist eine Kuppelreise, verstehst du das nicht?«, klagte Dorian. »Papa hat vor, sich zu verlieben – wahrscheinlich in irgendeine hundertjährige Schnalle, die ihm schöne Augen macht, weil sie hinter seinem Geld her ist.«

»Du siehst das zu schwarz, Dorian«, meinte Lilith. »Du weißt doch gar nicht, ob dein Vater wirklich Frauen daten will. Und selbst wenn, na und? Du wirst sicher verhindern können, dass er ins Klo greift.«

»Häh?« Dorian verstand Liliths Logik nicht ganz.

»Willst du deinen Vater denn nicht begleiten, um ein Auge auf ihn zu haben?«, fragte Lilith und kicherte leise. »Ich an deiner Stelle würde ihm die Auswahl nicht allein überlassen.«

Dorian schluckte.

»Und außerdem hast du so die Gelegenheit, ihm die Dates tüchtig zu vermasseln«, plapperte Lilith munter weiter.

Auf Dorians Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. »Du bist unbezahlbar, Lilith!«

»Das stimmt nicht«, sagte Lilith schnell. »Du kannst dich für meinen Rat gerne revanchieren – und zwar, indem du mich mitnimmst! Ich habe noch so wenig von der Welt gesehen! Während du auf deinen Vater aufpasst, gucke ich mir die Städte und Sehenswürdigkeiten an! Außerdem wäre so eine Kreuzfahrt für dich weniger langweilig, wenn ich dabei wäre, stimmt’s?«

Wo sie recht hatte, hatte sie recht.

»Stimmt«, musste Dorian zugeben.

»Dann frag deinen Vater, ob wir mitkommen dürfen«, sagte Lilith. »Aber mach schnell, sonst sind schon alle Plätze weg!«

Fast zur gleichen Zeit fand zwei Meilen weiter eine wichtige Besprechung statt.

Das Schloss, in dem die Akademie der Vampire ihren Sitz hatte, befand sich hoch oben auf einem Felsen. Es sah aus, als würde es auf Wolken schweben.

Als Costin Lupo an das eichene Portal klopfte, war er so nervös, dass seine Baumwollhandschuhe auf der Innenseite feuchte Flecken bekamen.

Er knurrte einen Fluch. Cool sein ging anders.

Wie von Geisterhand bewegt schwangen die beiden Türflügel vor ihm auf. Niemand war zu sehen. Costin betrat die Eingangshalle. An den Wänden brannten Fackeln, und ihr Flackern machte Costin noch nervöser.

»Hallo, ist hier jemand?«, rief er mit belegter Stimme.

Zwei Männer, beide ganz in Schwarz und mit verspiegelten Sonnenbrillen, kamen nebeneinander die breite Marmortreppe herunter. Kein Laut war zu hören. Es schien Costin, als schwebten sie. Nur die besten Geheimagenten beherrschten die hohe Kunst der Lautlosigkeit.

Die Männer kamen einen halben Meter vor Costin zum Stehen. Jetzt erkannte Costin deutlich, dass sie tatsächlich fünf Zentimeter über dem Boden schwebten. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken.

»Costin Lupo?«, fragte der rechte. Seine Stimme hatte den Klang raschelnder Silberdisteln und war zugleich so scharf wie ein japanisches Schwert.

»Genau der bin ich«, rutschte es Costin heraus und bereute gleich darauf seine Worte. Ein knappes »Ja« hätte genügt.

»Sie wissen, warum Sie hier sind?«, wollte der andere wissen, ebenfalls mit einem Zischeln, das an eine Giftviper denken ließ.

Costin fühlte sich unwohl. Die Männer standen viel zu nah bei ihm. Außerdem hatte er keine Ahnung, warum man ihn so plötzlich zur Akademie der Vampire gerufen hatte.

»Sie werden es mir sicher gleich sagen«, entgegnete er und verzog seine Lippen zu einem Lächeln. Sogleich rutschten seine Reißzähne ein Stück heraus. Peinlich!

»Lupo«, sagte der zweite Mann, und sein Säuseln drang in Costins Ohren wie Schlangen, »Sie waren bereit, für die Akademie zu arbeiten. Deswegen werden Sie sich in Kürze auf eine weite Reise begeben. Nicht zu Ihrem eigenen Vergnügen, sondern als Bodyguard für ein Mädchen namens Raphaela del Monte.«

Costin konnte sich nicht erinnern, diesen Namen je gehört zu haben. »Müsste es bei mir klingeln?«, fragte er scherzhaft.

»Lupo!« Die Schlangen schienen sein Trommelfell zu durchbohren. »Lorenzo del Monte ist einer der reichsten und mächtigsten Vampire. Raphaela ist seine Tochter.«

Jetzt machte es bei Costin endlich klick! Natürlich! Lorenzo del Monte, besser bekannt unter dem Spitznamen Money-Monte, sorgte mindestens einmal pro Woche für Schlagzeilen. Er lebte in einer riesigen Villa in Südafrika und pflegte dort einen ausschweifenden Lebensstil. Im Augenblick war er mit einer blutjungen Blondine namens Bella Borg zusammen. »Und was soll ich genau tun?«, fragte Costin neugierig.

»Sie werden nicht von Raphaelas Seite weichen und dafür sorgen, dass sie heil bei ihrem Vater ankommt«, fuhr der Mann mit der Schlangenstimme fort. »Raphaela besucht ein Internat in Europa, aber jetzt wird es Zeit, dass sie zu ihrem Vater zurückkehrt.«

Aha. So ein Babysitter-Job war nicht gerade etwas, wonach sich Costin sehnte. Aber immerhin handelte es sich um die Tochter eines schwerreichen Mannes, und das machte es doch spannend. Lorenzo del Monte besaß mehrere Diamantenminen und hatte damit sein riesiges Vermögen verdient. Man munkelte, dass sich auch einige Diamanten in seinem Besitz befanden, die nicht nur sehr groß waren, sondern auch magische Eigenschaften haben sollten.

»Buchen Sie einen Flug nach Port Louis«, befahl der Mann. »Dort werden Sie Raphaela del Monte treffen und mit ihr auf dem Kreuzfahrtschiff OLD LADY einchecken. Sie haben eine Kabine in ihrer Nähe. Sorgen Sie dafür, dass Raphaela del Monte heil in Kapstadt ankommt, wo ihr Vater sie abholen wird.«

»Warum fliegt sie nicht direkt nach Kapstadt?«, wandte Costin ein. »Das wäre doch viel praktischer und würde auch schneller gehen.«

»Bei der OLD LADY handelt es sich um ein Kreuzfahrtschiff, das speziell auf die Bedürfnisse von Vampiren eingerichtet ist und allerlei Komfort bietet«, erklärte der erste Mann. »Die Fluglinien können da nicht mithalten, obwohl wir daran arbeiten. Ich bin sicher, in einigen Jahren wird es mindestens eine Fluggesellschaft geben, die sich auf Vampire einstellt. – Sie werden hoffentlich nicht seekrank?«

»Nein«, beteuerte Costin und rang sich wieder ein Lächeln ab.

Der zweite Mann zog etwas aus der Innentasche seines Anzugs. »Hier sind Ihre Reisepapiere und Ihr Geld. Wenn Sie Ihren Auftrag erledigt haben, dann fliegen Sie von Kapstadt aus zurück. Es steht Ihnen frei, ob Sie in einem Sarg im Frachtraum reisen oder als normaler Flugpassagier per Nachtflug.«

Costin nahm das Papierbündel entgegen. »Aber wie erkenne ich Raphaela?«

»Registrieren Sie sich bei Vampinstagram, falls Sie es nicht schon getan haben«, erhielt er zur Antwort. »Dort finden Sie genügend Fotos von ihr.«

»Fotos?« Costin zog die Augenbrauen hoch. »Echte Fotos? Warum lässt sie sich fotografieren?«

Vampire besaßen kein Spiegelbild und ließen sich weder filmen noch fotografieren. Obwohl schon lange eifrig geforscht wurde, hatte noch niemand eine Lösung für dieses Handicap gefunden.

»Echte Fotos«, bestätigte der erste Mann mit einem Nicken. Sein Partner nickte synchron mit.

»Aber wie kann das gehen?«, wunderte sich Costin.

»Sie werden es herausfinden und uns mitteilen«, sagte der erste Mann. »Das ist nämlich der zweite Teil Ihres Auftrags.«

Zweites Kapitel,

in dem sich Costin über Raphaela del Monte informiert und dabei selbst ausgeschnüffelt wird

Costin verließ mit klopfendem Herzen die Akademie. Er warf einen prüfenden Blick zum Horizont. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, bevor die Sonne aufging und ihn mit ihren tödlichen Strahlen verbrannte. Trotzdem zog er sein Smartphone hervor und rief die Seite von Vampinstagram auf. Er hatte sich vor zwei Jahren angemeldet, benutzte die Plattform aber seit einem halben Jahr so gut wie gar nicht mehr. Wie gut, dass er immer nur das Passwort CostinistderKing verwendete, sonst hätte er sich vielleicht gar nicht mehr einloggen können.

Auf Vampinstagram hieß er Cos, und sein Profilbild war das Foto eines Wachsabdrucks seiner Zähne. Er verzog das Gesicht. Was hatte ihn damals geritten? Egal. Er wollte sich ein Bild von Raphaela machen.

Ein paar Klicks später war er auf ihrer Seite. Ein superschönes Mädchen, wenn man auf den Halloween-Look stand. Groß, schlank, Top-Figur, schwarze Haare bis zum Po. Sie war vierzehn wie Costin, wirkte aber älter. Ihr Profilbild zeigte ein Selfie mit dem Vollmond über der Schulter. Sie nannte sich Rapha Ela.

Sie hatte unzählige Nahaufnahmen von ihren Augen und ihren Lippen gemacht. Sie lächelte selbstverliebt, verführerisch und ließ ihre Reißzähne blitzen. In einem war ein winziger Diamant eingearbeitet.

Manche Fotos zeigten Raphaela mit unsichtbaren Freunden und Freundinnen. Also genau genommen nur Raphaela und ihren Arm, den sie um die Schulter des anderen Vampirs gelegt hatte. Man sah ihr an, dass sie sich diebisch über diesen Scherz freute.

Das ist mein aktueller Freund, lautete beispielsweise ihr Kommentar. Bitte verzeiht mir, dass ihr ihn nicht sehen könnt.

Costin nagte an seiner Unterlippe. Was war ihr Geheimnis?

Sein Smartphone gab einen schrillen Ton von sich. Das Gerät warnte ihn vor dem Sonnenaufgang. Schnell steckte Costin es ein, rannte los und verwandelte sich beim Laufen in eine Fledermaus. Er kam gerade noch rechtzeitig nach Hause und zog in letzter Sekunde die Fensterläden zu.

Zur selben Zeit verabschiedete sich Lilith von Dorian. Sie hatten sich gemeinsam über die OLD LADY und die geplante Reiseroute informiert.

»O Dorian, ich wünschte, du wärest ein bisschen abenteuerlustiger«, sagte Lilith an der Tür.

»Ich bin abenteuerlustig!«, widersprach Dorian.

»Aber du freust dich kein bisschen auf diese Reise!«

»Sorry, mein Dad will sich nach einer Stiefmutter für mich umsehen. Schon vergessen?«

Lilith seufzte. »Ist doch gar nicht gesagt, dass es gleich etwas Ernstes wird. Ich schätze, dein Vater will einfach nur ein bisschen Spaß haben.« Sie hob den Kopf und sah sich in der düsteren Eingangshalle des Schlosses um. Würde sie hier wohnen, hätte sie schon längst Depressionen. Oma Stoica schien überall ihre Augen und Ohren zu haben. Und Opa Andreji zeigte jedem, der nicht bei drei in den Sarg sprang, seine Sammlung mittelalterlicher Folterinstrumente. Lilith wusste, dass Dorian seine Großeltern liebte, aber es tat ihm sicher gut, wieder einmal rauszukommen. Die Reise nach Italien vor ein paar Wochen hatte ihm ja auch gefallen. Außerdem waren sie und Dorian ein Superteam!

»Also, ich gehe jetzt«, kündigte Lilith an.

Dorian packte sie am Handgelenk. »Halt, die Sonne geht schon auf«, sagte er. »Wir haben völlig die Zeit vergessen.«

Lilith lachte. »Ach Dorian, du bist wirklich ganz durch den Wind. Ich bin Halbvampirin, mir macht ein bisschen Sonne nichts aus.«

Dorian schnitt eine Grimasse und ließ sie los.

»Trotzdem süß, dass du dir Sorgen um mich machst«, sagte Lilith. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Dann schubste sie ihn ein Stück in die Halle zurück und verschwand schnell durch die Tür.

Dorian berührte verwirrt seine Wange und schüttelte den Kopf. Dann schob er den schweren Riegel vor und lief die Wendeltreppe hinauf. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal. Beinahe hätte er Oma Stoica umgerannt, die auf der Plattform zum ersten Stock stand.

»Sie ist kein passender Umgang für dich«, keifte sie.

Diesen Spruch hatte Dorian schon unzählige Male gehört. Allerdings galt er sonst seinem Vater und bezog sich auf Aida, Dorians verschwundene Mutter. Erst nach zwei Sekunden kapierte Dorian, dass Oma Stoica diesmal ihn und Lilith meinte.

»Was hast du gegen Lilith?«, fragte er verblüfft.

»Es gefällt mir gar nicht, dass du so viel Zeit mit ihr verbringst«, sagte Oma Stoica und klopfte aufgebracht mit ihrem Stock auf den Holzboden. »Sie passt einfach nicht zu dir!«

»Aber Omi, Lilith geht in meine Klasse, und ich gebe ihr hin und wieder etwas Nachhilfe«, erwiderte Dorian. »Der Direktor der Schule der Nacht hat das ausdrücklich angeordnet.«

»So, hat er das?« Oma Stoicas Augen funkelten hinter den Brillengläsern. »Irgendetwas stimmt mit diesem Mädchen nicht, das spüre ich genau!«

Dorian bekam einen Schreck. Wenn jemand herausfand, dass Lilith keine echte Vampirin war, dann würde sie furchtbaren Ärger bekommen. Und Oma Stoica war mächtig gut darin, für Ärger zu sorgen.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, murmelte er und wollte sich an seiner Großmutter vorbeischieben.

Omas stahlharte Hand packte ihn am Ärmel. »Du hast in der letzten Zeit Geheimnisse vor mir«, beschwerte sie sich. »Früher hast du mir immer alles erzählt.«

»Früher war ich klein, und du hast mir mit deinen Horrorgeschichten Angst gemacht.« Dorian schüttelte ihre Hand ab. »Du hast mir gedroht, dass die Wölfe mich zerreißen, wenn du nicht alles über mich weißt. Aber jetzt funktioniert das nicht mehr, Oma. Ich bin fast erwachsen.«

»Fast erwachsen«, wiederholte Oma Stoica und wollte sich ausschütten vor Lachen. »Du bist gerade mal dreizehn, und es kommt mir vor, als hättest du noch vor zwei Wochen Windeln gebraucht.«

»Ich bin fast vierzehn«, sagte Dorian. Am liebsten hätte er hinzugefügt: »Und Agent der Akademie der Vampire.«

Oma Stoicas Lachen begleitete ihn, während er entschlossen in den zweiten Stock stapfte, wo sich sein Zimmer befand. Dorian war froh, als er die Tür hinter sich zuschlagen konnte.

»Probleme?«, fragte Merlin, der wieder einmal seine Konzentrationsübungen auf der Sargkante machte.

»Nicht wirklich«, antwortete Dorian. »Ich bin nur etwas genervt wegen meiner Großmutter.«

»Na, da passt es doch, wenn du sie eine Weile nicht siehst«, meinte Merlin. »Auf der Reise hast du deine Ruhe vor ihr. Und du brauchst in dieser Zeit auch keine Folterinstrumente für deinen Opa im Internet ersteigern. Du kannst tun und lassen, was du willst – außer ein bisschen auf deinen Vater aufzupassen. Volltreffer, würde ich sagen.«

»Du kommst natürlich mit«, sagte Dorian.

Merlin hatte Bedenken. »Ich weiß nicht, ob ein Kreuzfahrtschiff das Richtige für mich ist. Ich könnte seekrank werden, weißt du. Und was, wenn ich vierzehn Tage lang nur kotzen muss?«

»Ach Rattenzahn«, murmelte Dorian und nahm Merlin zärtlich auf die Hand. »Ich habe noch nie davon gehört, dass Ratten seekrank werden. Im Gegenteil. Sie scheinen sich auf Schiffen besonders wohlzufühlen. Außerdem würde dir ein bisschen Abspecken nicht schaden. Sie bieten dort ein super Fitnessprogramm an, vom Flugband bis hin zu Knochenhantel-Training. Du wiegst mit deinen sechshundert Gramm entschieden zu viel!«

»Ich habe eben schwere Knochen«, verteidigte sich Merlin.

»Papperlapapp. Du futterst zu viele Erdnüsse.« Dorian seufzte. »Ich kann machen, was ich will, du findest leider alle Verstecke. Dabei wollte ich dich die nächste Zeit hauptsächlich mit Gemüse wie Paprika und Brokkoli füttern!«

»Du willst, dass ich sterbe!«, sagte Merlin schockiert.

»Das will ich eben nicht«, widersprach Dorian. »Ich mache mir echt Sorgen um dich. Herzverfettung ist total gefährlich, und von Bauchfett hat man auch schon schlimme Dinge gehört. Sieh dich nur an!« Dorian zückte sein Smartphone und schaltete die Kamera ein, sodass sich Merlin auf dem Display wie in einem Spiegel betrachten konnte.

Merlin trat ganz nah an das Smartphone, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog den Bauch ein. Er hielt die Luft an, aber nach wenigen Sekunden musste er doch wieder atmen und sank in sich zusammen.

»Schlimm«, japste er.

»Du sagst es«, bestätigte Dorian.

»Ich wusste nicht, dass ich sooo dick bin.« Merlin wirkte ganz niedergeschlagen. »Ich dachte, du sagst das nur, weil du die Erdnüsse lieber selbst essen willst.« Er drehte sich zu Dorian und kuschelte sich in sein Hemd. Dorian hörte ihn leise schluchzen.

»Nicht doch!«, sagte Dorian und streichelte das zarte Rattenfell. »Sei nicht traurig! Das kriegen wir schon wieder hin. Etwas mehr Bewegung – und du bist wieder rank und schlank, wetten?«

»Wetten, dass nicht?«, jammerte Merlin, ohne seinen Kopf zu heben. »Alle werden mich nur noch Schwabbel nennen! Das habe ich neulich geträumt – und du weißt, dass meine Träume immer Wirklichkeit werden.«

Merlin bildete sich ein, hellsehen zu können. Okay, manchmal traf er mit seinen Vorhersagen tatsächlich ins Schwarze, aber das konnte auch ein Zufall sein. Man durfte ihn auf keinen Fall darin bestärken, dass er etwas Besonderes war, sonst stieg ihm die Sache noch mehr zu Kopf.

»Mit ein bisschen Disziplin bekommen wir dein Problem in Griff, Merlin«, beteuerte Dorian. »Das verspreche ich dir. Du darfst es nur nicht so wie die Passagiere auf der OLD LADY machen, die ›All you can bite‹ gebucht haben. Einfach aufhören, auch wenn ein noch so leckeres Stück Käse vor der Nase liegt, okay?«

»Das schaffe ich nie«, wisperte Merlin, der sich endlich wieder umgedreht hatte.

Dorian wiegte den Kopf. »Ich könnte auch Zuburr fragen, ob er dir hilft.« Zuburr war der Geist in seinem Smartphone. Dorian hatte ihn zufällig befreit, als er ein kniffeliges Sudoku seiner neuen App gelöst hatte. Dieser Geist konnte buchstäblich Berge versetzen – so wie es die Flaschen- und Lampengeister in den alten Geschichten getan hatten. Leider konnten Merlin und Zuburr einander nicht ausstehen. Merlin verhielt sich nur ungezwungen, wenn Zuburr in seinem Sudoku hockte und Zahlen hin und her schob. Zuburr wiederum nützte jede Gelegenheit, die Ratte zu ärgern und zu verspotten.

»Bloß nicht!« Merlin streckte abwehrend die Pfoten in die Höhe.

»Zuburr könnte sicher mit einem einzigen Zauberspruch dein Fett weghexen«, meinte Dorian.

»Der hext mich dann gleich ganz weg«, wimmerte Merlin. »Dann hat er dich für sich allein, und ich bin keine Konkurrenz mehr.«

»Quatsch!« Dorian musste lächeln. Er würde Merlin schrecklich vermissen. Andererseits war Zuburr mit seinen magischen Kräften enorm wichtig. Inzwischen zierte er sich allerdings, wenn es darum ging, Dorian einen Wunsch zu erfüllen. Eigentlich hatte Zuburr es nur ein einziges Mal getan – als Belohnung, weil Dorian ihn aus der App befreit hatte.

»Lass Zuburr bitte aus dem Spiel«, bettelte Merlin. »Ich verspreche dir, dass ich auf dem Schiff an mir arbeite.«

»Also gut«, sagte Dorian.

»Jetzt hätte ich aber gerne noch ein Betthupferl«, verlangte Merlin. Er gähnte, denn es war für ihn und Dorian längst Sargzeit. »Schließlich sind wir noch nicht an Bord.«

Nach dem Besuch der Akademie schlief Costin einige Tage ziemlich unruhig. Er wusste nicht, ob er sich über den Geheimauftrag als cooler Bodyguard freuen sollte oder ob der Job nicht doch mehr nach Babysitter klang und unter seiner Würde war. Aber schließlich buchte er seufzend einen Nachtflug nach Mauritius.

Als er das nächste Mal wach wurde und sich für die Schule fertig machen wollte, entdeckte er auf seinem Smartphone siebzehn verpasste Anrufe und vierzehn Nachrichten. Alle stammten von Augusta van Helsing. Costin verdrehte die Augen. Was wollte Augusta denn schon wieder von ihm? Sie hatten sich doch nach der letzten Mission einvernehmlich getrennt!

Augusta war nämlich in Wirklichkeit eine Vampirjägerin, und der Umgang mit ihr war für Costin eine heikle und nicht ganz ungefährliche Angelegenheit.

Da in jeder Nachricht ungefähr dasselbe stand, reichte es, die letzten fünf zu lesen.

Wir müssen reden. (gesendet um 21 Uhr 13)

Verdammt, Costin, es ist dringend! Ich muss wirklich mit dir sprechen! (gesendet um 21 Uhr 25)

WIR MÜSSEN DRINGEND REDEN!!!! (gesendet um 21 Uhr 55)

WIR MÜSSEN UNBEDINGT DRINGEND REDEN!!!!!! (gesendet um 22 Uhr 10)

WIR MÜSSEN REDEN!!!!!!! (gesendet um 23 Uhr 01).

Costin stöhnte und tippte mit nervösen Fingern zurück: »Nach dem Unterricht am Modersee. Bei der morschen Bank! Und wehe, es ist eine Falle!«

Augustas Antwort kam in Sekundenschnelle. »Alles okay, ich werde da sein.«

OLDLADY

Costin blieb die Spucke weg. Woher wusste sie von seinen Plänen? Und warum, verflixt noch mal, wollte sie sich schon wieder an seine Fersen heften?

»Woher kennst du das Schiff?«, fragte er.

»Ich bitte dich«, sagte sie. »Dafür wird doch jetzt ständig geworben. Glaubst du, wir Menschen lesen keine Prospekte?«

»Und woher weißt du von meinen Plänen?«, knurrte Costin.

»Smartphones sind ganz wunderbare Spione.« Sie lachte leise. »Ich habe dir einen Trojaner geschickt. So konnte ich deine letzten Aktionen mitverfolgen. Ich habe gesehen, wie du die Fahrt gebucht hast. Und ich konnte mich auch in den Computer der Reederei einhacken und die Passagierliste ansehen. Vlad Dracula ist ebenfalls an Bord, er hat sich für diese lächerliche Singletour angemeldet. Gibt es eine bessere Gelegenheit für mich, mir endlich diesen fetten Fisch zu angeln?«

»DU HAST MIR EINEN TROJANER GESCHICKT?«, schnaubte Costin. Er war so wütend, dass er die Zähne fletschte und sich auf sie stürzen wollte. Im letzten Moment konnte er sich beherrschen. Dass er sie versehentlich zur Vampirin machte, würde Augusta vielleicht noch gefallen! Und dann hätte er sie für alle Ewigkeiten an der Backe.

»Nur ein klitzekleines Trojanerchen«, meinte Augusta. »Ich wollte einfach wissen, was du so treibst, weil du auf keine meiner Nachrichten reagiert hast.«

Costin hatte große Lust, sein Smartphone in den See zu werfen. Wer weiß, was sie alles mitbekommen hatte!

»Beruhige dich«, sagte Augusta sanft. »Du hasst Vlad und die ganze Dracula-Sippe. Es kann dir doch nur recht sein, wenn ich mich um ihn kümmere.«

»Und warum buchst du nicht einfach einen Platz auf dem Schiff und lässt mich in Ruhe?«, fauchte Costin.

»Ach komm, wir waren doch neulich so ein gutes Team«, säuselte Augusta. »Hast du das vergessen? Ich dachte, wir können uns gegenseitig unterstützen. Beispielsweise könnte ich auf diese Raphaela aufpassen, wenn du mal keine Zeit oder keine Lust hast. Sie scheint ja ziemlich anstrengend zu sein.«

Sie wusste von seinem Auftrag!

»Du stalkst mich!«

»So würde ich es nicht nennen.«

»Wie dann?«

»Ich denke nur an unsere Zukunft, Costin. An unser beider Zukunft. Ich schnappe mir Vlad Dracula und vielleicht noch ein paar andere bedeutende Vampire. Das wird mir in meinen Jägerkreisen endlich die lang verdiente Anerkennung verschaffen. Und du bringst deinen Auftrag mit Bravour zu Ende. Also eine Win-win-Situation, oder?« Sie lächelte. »Deal?« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Es wurde wirklich Zeit, dass er sie loswurde, und zwar für immer! Eine Kreuzfahrt auf dem offenen Meer bot da vielleicht gute Möglichkeiten … Vampirjägerinnen waren bestimmt ein leckeres Haifischfutter!

»Deal«, sagte Costin und griff nach ihrer Hand. Sie war eklig warm und weich. Er konnte fühlen, wie ihr Blut unter der Haut strömte. Sein Magen begann zu knurren. Er trat rasch einen Schritt zurück.

»Freut mich, dass wir uns einig sind«, meinte Augusta. »Jetzt müssen wir nur noch ein paar Einzelheiten klären …«