Europäisches Prozessrecht

 

von

Dr. Christoph Herrmann, LL.M. European Law (London)
o. Professor an der Universität Passau

 

und

Ass. jur. Herbert Rosenfeldt
Richter auf Probe am Verwaltungsgericht Karlsruhe

 

 

1. Auflage

 

kein Alternativtext verfügbar

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Vorwort

Während an Lehrbüchern zum allgemeinen Europarecht kein Mangel herrscht, fristet das Europäische Prozessrecht in der Ausbildungsliteratur ein relatives Schattendasein, obwohl es für die Ausbildung im vertieften Europarecht von besonderer Bedeutung sein muss.

Mit dem vorliegenden Werk möchten wir das diesbezügliche Angebot ergänzen, aktualisieren und dabei den Blickwinkel auf das Europäische Prozessrecht erweitern. Mit in den Blick genommen werden neben den Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (GHEU) auch die Einflüsse des Unionsrechts auf das Prozessrecht der Mitgliedstaaten. Zusätzlich wird das Rechtsschutzsystem des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) beleuchtet, das mit dem Unionsrecht in vielfältiger Weise verknüpft wird.

Die Ausgangsbasis für dieses Buch bildet ein Onlinekursangebot der virtuellen hochschule bayern (vhb). Der vhb gilt unser Dank für die Unterstützung bei der Kursentwicklung sowie für die Einwilligung in die vorliegende Buchpublikation. Für diese haben wir den Kurs in Buchform gebracht, umfassend überarbeitet und aktualisiert sowie inhaltlich gestrafft. Nach der Konzeption der Schwerpunktbereichs-Reihe behandelt das Werk nicht sämtliche Fragen des europäischen Prozessrechts und geht an manchen Stellen auch nicht in die mögliche Tiefe, sondern konzentriert sich auf die für die Ausbildung (aus unserer Sicht) relevantesten Fragen und Zusammenhänge. Weitere Vertiefungen erlauben die umfangreichen Literaturangaben zum Abschluss der jeweiligen Kapitel. Zur Selbstkontrolle und besseren Verständlichkeit dienen die insgesamt neun integrierten Fälle, zahlreiche Beispiele sowie die 90 Lernerfolgskontrollfragen.

Ohne die Unterstützung zahlreicher anderer Menschen wäre dieses Buch naturgemäß nicht zustande gekommen. Unser Dank gilt dem gesamten Team des Lehrstuhls, darunter namentlich insbesondere Frau Wiss. Mitʼin Gesa Kübek und Frau Wiss. Mitʼin Julia Münzenmaier für die Mitwirkung an der vhb-Kurserstellung sowie Herrn Wiss. Mit. Christopher Hook für die Hilfe bei der Überarbeitung des Kurses und Transformierung ins Buchformat. Herrn stud. iur. Tim Ellemann danken wir sehr herzlich für die Unterstützung bei der Fahnenkorrektur.

Für Kritik und Anregungen – bitte per Mail an christoph.herrmann@uni-passau.de – sind wir jederzeit dankbar.

Passau/Karlsruhe im März 2019

Prof. Dr. Christoph Herrmann, LL.M.

Ass. iur. Herbert Rosenfeldt

Inhaltsverzeichnis

 Vorwort

 Abkürzungsverzeichnis

§ 1Einführung

 A.Bedeutung des Prozessrechts

 B.Thematische Begrenzung

  I.Gerichtliche Rechtsdurchsetzung

  II.Europäisches Prozessrecht

  III.Europäisierung des nationalen Prozessrechts

 C.Komplementärer und kooperativer Rechtsschutz in Europa

  I.Rein nationale Verfahren

  II.Rein unionale Verfahren

  III.Mischformen in Vollzug und Rechtsschutz

  IV.Zentrale Rolle des GHEU

§ 2Die EU als Rechtsgemeinschaft

 A.Begriffsgenese und Adaption durch die Rechtsprechung

 B.Rechtsstaatlichkeit in der EU

  I.Rechtsstaatliche Verbürgungen

  II.Adressaten und Durchsetzbarkeit des Rechtsstaatsprinzips

  III.Kopenhagen-Dilemma und Rechtsstaatsmechanismus

 C.Unionaler Rechtsschutz durch Gerichte

  I.Rolle des GHEU

   1.Wahrung der Kompetenzordnung

   2.Konkretisierung des Rechts

   3.Fortbildung des Rechts

  II.Rolle der nationalen Gerichte

 D.Recht auf effektiven Rechtsschutz

  I.Rechtsgrundlagen

  II.Adressaten und Gewährleistungen

 E.Zusammenfassung

§ 3Der Gerichtshof der EU

 A.Rechtsgrundlagen

 B.Aufbau der Unionsgerichtsbarkeit

  I.Gerichtshof (EuGH)

   1.Zusammensetzung

   2.Spruchkörper

  II.Gericht (EuG)

   1.Zusammensetzung

   2.Spruchkörper

   3.Fachgerichte

 C.Zuständigkeit des GHEU

  I.Verbandszuständigkeit der EU

  II.Organzuständigkeit des GHEU

  III.Zuständigkeitsbeschränkungen

  IV.Verteilung der sachlichen Zuständigkeit

   1.Zuständigkeit des Gerichtshofs

   2.Zuständigkeit des Gerichts

   3.Zuständigkeit der Fachgerichte

 D.Verfahrensablauf vor dem EuGH

  I.Verfahrenseinleitung

  II.Schriftliches Verfahren

  III.Mündliches Verfahren

  IV.Verfahrensabschluss

 E.Auslegung des Unionsrechts

  I.Anerkannte Auslegungsmethoden

   1.Grammatikalische Auslegung

   2.Systematische Auslegung

   3.Historische Auslegung

   4.Teleologische Auslegung

  II.Grenzen der Auslegung

 F.Reformen am GHEU

  I.Vergrößerung des Europäischen Gerichts

  II.Parlamentarische Mitwirkung bei der Richterwahl

  III.Änderung der GHEU-Verfahrensvoraussetzungen

 G.Ausblick: Auswirkungen des Brexits

 H.Zusammenfassung

§ 4Das Vertragsverletzungsverfahren

 A.Charakter und Funktion des Verfahrens

 B.Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens

  I.Zuständigkeit

  II.Parteifähigkeit

  III.Ordnungsgemäße Durchführung des Vorverfahrens

   1.Das Vorverfahren der Aufsichtsklage

    a)Das Mahnschreiben der Kommission

    b)Die begründete Stellungnahme der Kommission

   2.Das Vorverfahren der Staatenklage

    a)Der Antrag eines Mitgliedstaats und das kontradiktorische Verfahren

    b)Die abschließende Stellungnahme der Kommission

  IV.Klagegegenstand

  V.Ordnungsgemäße Klageerhebung

  VI.Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

 C.Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens

  I.Verstoß gegen Unionsrecht

  II.Nachweispflichten/Beweislast

  III.Rechtfertigung des Vertragsverstoßes

 D.Entscheidung des EuGH

 E.Die Durchsetzung des Urteils

 F.Zusammenfassung

§ 5Die Nichtigkeitsklage

 A.Funktion und Bedeutung der Nichtigkeitsklage

 B.Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage

  I.Zuständigkeit

  II.Parteifähigkeit

   1.Parteifähigkeit des Klägers

    a)Privilegiert Klageberechtigte

    b)Teilprivilegiert Klageberechtigte

    c)Nicht-privilegiert Klageberechtigte

   2.Parteifähigkeit des Beklagten

  III.Tauglicher Klagegegenstand (Statthaftigkeit)

   1.Rechtlich existente Handlung der EU

   2.Rechtswirkung nach außen

  IV.Richtiger Beklagter

  V.Klageberechtigung

   1.Privilegiert klageberechtigte Kläger (Abs. 2)

   2.Teilprivilegiert klageberechtigte Kläger (Abs. 3)

   3.Nicht-privilegiert klageberechtigte Kläger (Abs. 4)

    a)Adressatenstellung

    b)Unmittelbare und individuelle Betroffenheit

    c)Klagen gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter

  VI.Geltendmachung von Klagegründen

  VII.Ordnungsgemäße Klageerhebung

  VIII.Rechtsschutzbedürfnis

 C.Begründetheit der Nichtigkeitsklage

 D.Entscheidung und Urteilswirkungen

  I.Grundsatz der kassatorischen Urteilswirkung

  II.Ausnahmen von der kassatorischen Urteilswirkung

 E.Zusammenfassung

§ 6Die Untätigkeitsklage

 A.Funktion und Bedeutung der Untätigkeitsklage

 B.Zulässigkeit der Untätigkeitsklage

  I.Zuständigkeit

  II.Parteifähigkeit

  III.Tauglicher Klagegegenstand

   1.Klagen der EU-Organe und der Mitgliedstaaten

   2.Individualuntätigkeitsklagen

  IV.Richtiger Beklagter

  V.Klageberechtigung

  VI.Geltendmachung von Klagegründen

  VII.Ordnungsgemäßes Vorverfahren

   1.Aufforderung zum Tätigwerden

   2.Ergebnisloser Fristablauf

  VIII.Ordnungsgemäße Klageerhebung

  IX.Rechtsschutzbedürfnis

 C.Begründetheit der Untätigkeitsklage

 D.Entscheidung und Urteilswirkungen

 E.Zusammenfassung

§ 7Die Amtshaftungsklage

 A.Funktion der Amtshaftungsklage

 B.Zulässigkeit der Amtshaftungsklage

  I.Zuständigkeit

  II.Parteifähigkeit

   1.Aktive Parteifähigkeit

   2.Passive Parteifähigkeit

  III.Ordnungsgemäße Klageerhebung

  IV.Rechtsschutzbedürfnis

   1.Verhältnis zu innerstaatlichem Rechtsschutz

   2.Verhältnis zur Nichtigkeitsklage

 C.Begründetheit der Amtshaftungsklage

  I.Abgrenzung zu vertraglichen Haftungsansprüchen

  II.Voraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs

   1.Handeln eines Organs oder Bediensteten der Union

   2.Verletzung der Rechte Einzelner

   3.Qualifizierter Rechtsverstoß

   4.Schaden

   5.Kausalzusammenhang zwischen Rechtsverstoß und Schaden

 D.Entscheidung des GHEU

 E.Zusammenfassung

§ 8Das Vorabentscheidungsverfahren

 A.Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens

  I.Objektivrechtliche Dimension

  II.Individualrechtsschützende Dimension

 B.Zulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens

  I.Zuständigkeit

  II.Zulässiger Vorlagegegenstand

   1.Auslegungsfragen

   2.Gültigkeitsfragen

    a)Prüfungsumfang

    b)Verhältnis zur Nichtigkeitsklage

   3.Formulierung der Vorlagefragen

  III.Vorlageberechtigung

  IV.Entscheidungserheblichkeit

   1.Doppelte Folgenbewertung

   2.Beurteilungsperspektive und Ausnahmen

  V.Ordnungsgemäße Vorlage

  VI.Allgemeines Vorlageinteresse

 C.Beantwortung der Vorlagefragen

 D.Entscheidungswirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens

  I.Entscheidungswirkung für den Ausgangsrechtsstreit

  II.Allgemeine Entscheidungswirkungen

   1.Auslegungsfragen

   2.Gültigkeitsfragen

    a)Bestätigung der Gültigkeit

    b)Feststellung der Ungültigkeit

 E.Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte

  I.Vorlagepflicht letztinstanzlich entscheidender Gerichte

   1.Adressaten der Vorlagepflicht

   2.Ausnahmen von der Vorlagepflicht

    a)Gesicherte Rechtsprechung des EuGH

    b)Acte-Clair-Doktrin

    c)Acte éclairé

    d)Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes

  II.Annahme der Ungültigkeit einer Unionsrechtsnorm

  III.Vorlagepflicht im vorläufigen Rechtsschutz

  IV.Folgen eines Verstoßes gegen die Vorlagepflicht

   1.Vertragsverletzungsverfahren

   2.Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch

   3.Nationalrechtliche Rechtsbehelfe

 F.Zusammenfassung

§ 9Weitere Verfahrensarten

 A.Gutachtenverfahren

  I.Zulässigkeit

  II.Verhältnis zu anderen Rechtsbehelfen

  III.Prüfungsumfang

  IV.Wirkungen des Gutachtens

 B.Beamtenstreitigkeiten

 C.Klagen in Schiedssachen

  I.Zuständigkeitsbegründende Schiedsklauseln

  II.Zuständigkeitsbegründende Schiedsverträge

 D.Sonstige Verfahren

 E.Zusammenfassung

§ 10Der einstweilige Rechtsschutz

 A.Zulässigkeit

  I.Zuständigkeit

  II.Anhängiges Hauptsacheverfahren

  III.Antragsberechtigung

  IV.Keine offensichtlich unzulässige Klage in der Hauptsache

  V.Keine Vorwegnahme der Hauptsache

  VI.Ordnungsgemäße Antragstellung

 B.Begründetheit

  I.Notwendigkeit

  II.Dringlichkeit

  III.Interessenabwägung

  IV.Entscheidung über den einstweiligen Rechtsschutz

 C.Zusammenfassung

§ 11Das Rechtsmittelverfahren

 A.Vor- und Nachteile

 B.Allgemeine Grundsätze der GHEU-Rechtsmittel

 C.Rechtsmittel gegen Entscheidungen des EuG

  I.Zulässigkeit

  II.Anschlussrechtsmittel

  III.Begründetheit

  IV.Entscheidung des EuGH

 D.Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Fachgerichte

 E.Überprüfungsverfahren vor dem EuGH

 F.Zusammenfassung

§ 12Die Inzidentrüge

 A.Anwendbarkeitsvoraussetzungen

  I.Anhängigkeit eines Verfahrens am GHEU

  II.Rügeberechtigung

  III.Rügegegenstand

  IV.Entscheidungserheblichkeit

 B.Begründetheit und Wirkung der Inzidentrüge

 C.Zusammenfassung

§ 13Die Einwirkung des Unionsrechts auf den nationalen Rechtsschutz

 A.Unionsrechtlicher Einfluss auf die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit

  I.Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen

  II.Deutschen-Grundrechte

  III.„Grundrechte“ auf Unionsrechtsbeachtung

   1.Recht auf den gesetzlichen Richter

   2.Allgemeiner Gleichheitssatz

   3.Allgemeine Handlungsfreiheit

 B.Unionsrechtlicher Einfluss auf Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess

  I.Bestandskraft unionsrechtswidriger Verwaltungsakte

   1.Aufhebung begünstigender Verwaltungsakte

   2.Aufhebung belastender Verwaltungsakte

  II.Sofortvollzug und vorläufiger Rechtsschutz

  III.Klagebefugnis und subjektiver Rechtsschutz

 C.Unionsrechtlicher Einfluss auf die Zivilgerichtsbarkeit

  I.„Grenzüberschreitender Bezug“ als Anwendungsvoraussetzung weitergehenden Unionsrechts

  II.Internationale Entscheidungszuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung

   1.Internationale Entscheidungszuständigkeit

   2.Gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung

  III.Europäische Erkenntnisverfahren

   1.Europäisches Mahnverfahren

   2.Europäisches Bagatellverfahren

  IV.Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes

   1.Anliegen und Inhalt der Kommissionsempfehlung

   2.Grenzen der Kommissionsempfehlung

   3.Vor- und Nachteile kollektiver Rechtsschutzelemente

 D.Unionsrechtlicher Einfluss auf die Strafgerichtsbarkeit

  I.Europäischer Haftbefehl

  II.Eurojust

  III.Europäische Staatsanwaltschaft

 E.Zusammenfassung

§ 14Der prozessuale Grundrechtsschutz in Europa

 A.Menschenrechtsschutz in der EU

  I.Ausgangslage und Rechtsfortbildung durch den EuGH

  II.Grundrechtsschutz durch den Vertrag von Maastricht

  III.Aktuelle Rechtsquellen

   1.Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC)

   2.Allgemeine Rechtsgrundsätze

  IV.Bedeutung und Funktion der Grundrechte im Unionsrecht

   1.Primärrechtlicher Maßstab für unionales Handeln

   2.Maßstab für die mitgliedstaatliche Durchführung des Unionsrechts

   3.Auswirkungen auf die Ausübung von Grundfreiheiten

  V.Gerichtliche Durchsetzung

   1.Anforderungen an die gerichtliche Durchsetzbarkeit

   2.Verfahren vor dem GHEU

   3.Verfahren vor mitgliedstaatlichen Gerichten

 B.Das EMRK-System

  I.Die EMRK

   1.Rechtswirkungen der EMRK

    a)Deutsche Rechtsordnung

    b)Recht der EU

   2.Gewährleistungsumfang

   3.Prüfungsstruktur

    a)Sachlicher und persönlicher Schutzbereich

    b)Eingriff

    c)Rechtfertigung

  II.Der EGMR

   1.Zusammensetzung

   2.Arbeitsanfall

   3.Auslegungsgrundsätze

  III.Die Individualbeschwerde

   1.Zulässigkeitsvoraussetzungen

    a)Zuständigkeit des Gerichtshofs

    b)Beschwerdeführer

    c)Keine offensichtliche Unbegründetheit

    d)Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

    e)Frist

    f)Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen

   2.Verfahrensgang

   3.Rechtsfolgen und Durchsetzung der Urteile

  IV.Weitere Verfahrensarten

   1.Die Staatenbeschwerde

   2.Das Gutachtenverfahren

 C.Der avisierte EMRK-Beitritt der EU

  I.Rahmenbedingungen und praktische Bedeutung

  II.Unionsrechtskritische Mechanismen des Vertragsentwurfs

   1.Ausschließliche Zuständigkeit des GHEU

   2.Mitbeschwerdegegnermechanismus

   3.Vorabbefassung des EuGH

   4.Abstimmung zwischen EMRK und GRC

   5.Überprüfbarkeit der GASP

  III.Einordnung des EuGH-Gutachtens 2/13

  IV.Weiterführende Überlegungen

 D.Zusammenfassung

 Lernerfolgskontrollfragen

 Sachverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

a.A.

andere Ansicht

ABl.

Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/Union

Abs.

Absatz

a.E.

am Ende

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

a.F.

alte Fassung

Arg. e.

Argument aus

Art.

Artikel

Aufl.

Auflage

Az.

Aktenzeichen

BAG

Bundesarbeitsgericht

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl.

Bundesgesetzblatt

Bd.

Band

BRD

Bundesrepublik Deutschland

Brüssel Ia-VO

Verordnung über gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

Brüssel IIa-VO

Verordnung über Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung

BSt.

Beamtenstatut

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

bzgl.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

CETA

Comprehensive Economic and Trade Agreement

ders.

derselbe(n)

dies.

dieselben

d.h.

das heißt

Ed.

Edition

EG

Europäische Gemeinschaft

EGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EL

Ergänzungslieferung

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

EMRK-ÜE

Beitrittsübereinkommen der EU zur EMRK

Energie-VO

Energieeffizienz-Verordnung

ESZB-Satzung

Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken

etc.

et cetera

EU

Europäische Union

EuBagatellVO

Verordnung zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen

EuErbVO

Verordnung über Zuständigkeit, anzuwendendes Rechts, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses

EuG

Gericht der Europäischen Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EuKontPfändVO

Verordnung zur Einführung eines Verfahrens für Europäischen Beschluss zur vorläufigen Kontenpfändung

EuMahnVO

Verordnung zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens

EuR

Zeitschrift Europarecht

Euratom

Europäische Atomgemeinschaft

EUStA

Europäische Staatsanwaltschaft

EuUntVO

Verordnung über Zuständigkeit, anwendbares Recht, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen

EUV

Vertrag über die Europäische Union

EuVTVO

Verordnung zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen

EUZBLG

Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EWGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

EWSA

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

EZB

Europäische Zentralbank

f., ff.

folgend(e)

GA

Generalanwalt

GASP

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

gg.

gegen

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

ggf.

gegebenenfalls

GHEU

Gerichtshof der Europäischen Union

GHEU-Satzung

Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union

GmbH

Gesellschaft mit begrenzter Haftung

GöD

Gericht für den öffentlichen Dienst

GRC

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz

GWB

Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen

h.M.

herrschende Meinung

Hrsg.

Herausgeber

Hs.

Halbsatz

IED

Richtlinie über Industrieemissionen

IntVG

Integrationsverantwortungsgesetz

i.S.d.

im Sinne des/der

ISDS

Investor-state dispute settlement

i.V.m.

in Verbindung mit

KapMuG

Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz

lat.

lateinisch

lit.

litera

m.w.H.

mit weiteren Hinweisen

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

No.

Number

Nr.

Nummer

OLG

Oberlandesgericht

OMT

Outright Monetary Transactions

ÖR

Öffentliches Recht

OVG

Oberverwaltungsgericht

PJZS

Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

RB-EUHb

Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten

RFSR

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

RL

Richtlinie

Rn.

Randnummer(n)

Rs.

Rechtssache

Rspr.

Rechtsprechung

s.

siehe

S.

Satz/Seite(n)

Slg.

Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz

s.o./s.u.

siehe oben/unten

sog.

sogenannte(n)

SpielRL

Spielzeugrichtlinie

st. Rspr.

ständige Rechtsprechung

StPO

Strafprozessordnung

SubProt

Subsidiaritätsprotokoll

tlw.

teilweise

TTIP

Transatlantic Trade and Investment Partnership

TzBfG

Teilzeit- und Befristungsgesetz

u.

und

u.a.

unter anderem/und andere

UA

Unterabsatz

UAbs

Unterabsatz

UKlaG

Unterlassungsklagengesetz

UN

United Nations (Vereinte Nationen)

UVP-Richtlinie

Richtline über Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten

UWG

Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

v.

von/vom

Var.

Variante

verb.

verbundene

VerfO-EuG

Verfahrensordnung des Gerichts

VerfO-EuGH

Verfahrensordnung des Gerichtshofs

vgl.

vergleiche

VO

Verordnung

Vol.

Volume

Vorb.

Vorbemerkung(en)

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz

wg.

wegen

WRVK

Wiener Vertragsrechtskonvention

z.B.

zum Beispiel

ZP

Zusatzprotokoll zur EMRK

ZPO

Zivilprozessordnung

z.T.

zum Teil

§ 1 Einführung

Inhaltsverzeichnis

A.Bedeutung des Prozessrechts

B.Thematische Begrenzung

C.Komplementärer und kooperativer Rechtsschutz in Europa

1

„Ubi ius, ibi remedium“.[1] Nach diesem alten lateinischen Rechtsgrundsatz soll ein Recht stets mit der Möglichkeit der Abhilfe bei Verletzungen und mit prozessualen Durchsetzungsmechanismen verbunden sein. Im Einklang damit bestimmte schon § 89 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794: „Wem die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die Mittel, ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann.“[2] Im Grundsatz verhält es sich mit dem Recht der Europäischen Union (Unionsrecht, Europarecht i.e.S.[3]) nicht anders. Als „Rechtsgemeinschaft“ (dazu § 2) durchdringt die Europäische Union (EU) die heutige Rechtswirklichkeit in mannigfaltiger Weise und gehört daher zu Recht zum Pflichtstoff der juristischen Staatsexamina. Regelmäßig umfasst der dort beschriebene Kanon auch das „Rechtsschutzsystem des Unionsrechts“.[4] Dem entsprechend finden sich in allen Standardlehrbüchern zum Europarecht Kapitel, die sowohl den Gerichtshof der Europäischen Union (GHEU) als Institution als auch das von diesem anzuwendende Verfahrensrecht mehr oder weniger ausführlich erörtern. Das vorliegende Lehrbuch behandelt das Rechtsschutzsystem in der EU eingehend. Es befasst sich neben den Verfahrensarten vor dem GHEU (§§ 3 bis 12) auch mit den Bezügen zwischen dem europäischen Recht und einzelstaatlichem Rechtsschutz (§ 13). Schließlich behandelt es andere zwischenstaatliche Gerichtsverfahren in Europa, insbesondere das Individualbeschwerdeverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, § 14).

§ 1 Einführung › A. Bedeutung des Prozessrechts

A. Bedeutung des Prozessrechts

2

Obgleich zum Wesen des Rechts – wie der Grundsatz ubi ius, ibi remedium andeutet – seine zwangsweise Durchsetzung zählt,[5] kann und ist der dem Recht innewohnende Anspruch, durchgesetzt zu werden, in zweierlei Hinsicht auf das flankierende Prozessrecht angewiesen.

3

Erstens ist denkbar, dass gesetztes Recht zwar verbindlich wirkt und mittels einseitiger Maßnahmen auch durchgesetzt werden könnte, von den Betroffenen aber unterschiedlich ausgelegt wird. Es bedarf dann nach rechtsstaatlichen Grundsätzen der Klärung durch eine zur Streitentscheidung berufene Instanz, z.B. durch ein Gericht. Dieses hat die Möglichkeit und die Aufgabe, den Parteien, insbesondere den strukturell nicht mit Zwangsbefugnissen ausgestatteten Akteuren (natürliche oder juristische Personen), Rechtsschutz zu gewähren. Daraus ergibt sich das Verbot der Selbstjustiz.

4

Zweitens sind die Rechtsbeziehungen der Akteure und der Rechtsunterworfenen in Bezug auf überstaatliches Recht häufig ohne einseitige Durchsetzungs- und Zwangsbefugnisse ausgestaltet, insbesondere wenn es sich um verbandsinterne Regelungen handelt.

Beispiel:

Erst durch das Urteil des Gerichtshofs in der Rs. C-303/94[6] wurde klargestellt, dass die Anhörung des Parlaments ein notwendiger Bestandteil des im damaligen Art. 43 II EWG-Vertrag (heute: ordentliches Gesetzgebungsverfahren nach Art. 43 II, Art. 294 AEUV) vorgeschriebenen Konsultationsverfahrens ist und ein Verstoß deswegen zur Nichtigkeit einer ohne Parlamentsbeteiligung erlassenen Richtlinie führt.

§ 1 Einführung › B. Thematische Begrenzung

B. Thematische Begrenzung

5

Der Begriff des Prozessrechts ist zunächst in Abgrenzung zum materiellen Recht zu verstehen. Materiell-rechtliche Regelungen treffen inhaltliche Vorgaben unterschiedlichen Abstraktionsniveaus, die auf die Vielzahl der Akteure und Lebenssachverhalte im Mehrebenensystem des europäischen Rechtsschutzes (d.h. der nationalen Ebene, der Unionsebene und der internationalen, d.h. zwischenstaatlichen Ebene) angewandt werden. Sie legen fest, wem welche Rechte oder Pflichten unter welchen Voraussetzungen zustehen oder nicht zustehen.

Beispiel:

Das unionsrechtliche Loyalitätsgebot begründet eine Pflicht sowohl der Union als auch der Mitgliedstaaten, sich loyal zueinander zu verhalten, woraus verschiedene Informations- und Rücksichtnahmepflichten sowie das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung resultieren. Dies wirkt sich auf verschiedenen Ebenen aus. Art. 4 III EUV modifiziert zum Beispiel nationales Verwaltungsrecht, indem der Ermessenspielraum der Verwaltungsbehörden bei der Rücknahme unionsrechtswidriger Beihilfen auf null reduziert wird.[7] Im Grundrechtsschutz folgt aus Art. 4 III EUV eine möglichst unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, weshalb Art. 19 III GG dahingehend ausgelegt wird, dass sich auch EU-ausländische juristische Personen auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen können.[8]

I. Gerichtliche Rechtsdurchsetzung

6

Derartige Streitigkeiten zwischen Rechtsträgern werden durch Gerichte entschieden, die dem Recht zu seiner Durchsetzung verhelfen. Das Prozessrecht regelt dabei die Mechanismen, wie Gerichte zu ihren Entscheidungen gelangen. Das materielle Recht hingegen regelt, welchen Inhalt die Entscheidung hat – wenngleich auch hier prozessuale Regelungen von Bedeutung sein können. Unter den in diesem Lehrbuch eng verstandenen Begriff des Prozessrechts fallen nur die Verfahren zur Rechtsdurchsetzung vor Gerichten. Andere Verfahrensregelungen bleiben weitgehend außer Betracht. Zu diesen nicht-gerichtlichen Verfahren gehören auf Unionsebene das Petitionsverfahren vor dem Europäischen Parlament (Art. 24 II, Art. 227 AEUV) und die Untersuchungen des Europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 228 AEUV). Auf nationaler Ebene steht in Deutschland mit dem behördlichen Ausgangsverfahren (VwVfG und den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder), dem Widerspruchsverfahren (§§ 68 ff. VwGO) und dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 80 IV VwGO) verwaltungsinterner Rechtsschutz zur Verfügung. Hierauf wird nur insoweit eingegangen, als Unionsrecht auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren einwirkt (s. Rn. 606 ff.).

II. Europäisches Prozessrecht

7

Aus dem so verstandenen „Prozessrecht“ behandelt das vorliegende Lehrbuch die Teilmenge des „europäischen“ Prozessrechts. Als institutionelles, d.h. rechtlich verfasstes, „Europa“ (ein ansonsten primär geografisch und historisch belegter Begriff) liegt zunächst die Konzentration auf die Mitgliedstaaten des Europarates, einer bereits 1949 gegründeten internationalen Organisation mit heute 47 Mitgliedstaaten, nahe. Prozessrechtlich ergiebig ist hier die Individual- und Staatenbeschwerdemöglichkeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur Wahrung der in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleisteten Menschenrechte (§ 14). Infolge der deutlich breiteren und zugleich tieferen rechtlichen Verfasstheit meint „Europa“ aber auch und im rechtlichen Sinne vor allem die EU und ihre (noch)[9] 28 Mitgliedstaaten. Nach herrschender Lesart handelt es sich bei der EU um eine supranationale internationale Organisation, für die das Bundesverfassungsgericht den Begriff des „Staatenverbundes“ geprägt hat.[10] Durch das hohe Maß der mitgliedstaatlichen Integration in ein rechtlich und institutionell ausdifferenziertes System ist die EU für die Rechtswirklichkeit in Europa bedeutsam und für die Rechtswissenschaft herausfordernd.

8

Europäisches Prozessrecht ist danach das Verfahrensrecht zur Durchsetzung des materiellen Europarechts, d.h. des Rechts der EU sowie der EMRK. Das hier zugrunde liegende Verständnis von Europäischem Prozessrecht umfasst somit schwerpunktmäßig das Unionsprozessrecht. Dazu zählen die Unionsgerichtsbarkeit (§ 3) und die dort angesiedelten Verfahren (§ 4 bis 12). Darüber hinaus werden die Wechselbeziehungen zwischen Unionsrecht und nationalem Recht im Sinne eines „europäischen Rechtsraums“ (A. v. Bogdandy)[11] und das EMRK-System umfasst (§§ 13 und 14).

III. Europäisierung des nationalen Prozessrechts

9

Zu Europa und damit zum europäischen Prozessrecht könnten auch die europäischen Staaten und ihre nationalen Rechtsschutzsysteme gezählt werden. Ihnen kommt eine wichtige Rolle in Bezug auf das Unionsrecht zu (vgl. Art. 19 I UA 2 EUV), mit denen sich dieses Lehrbuch ebenfalls befasst. Der Bezug kann darin bestehen, dass die nationalen Gerichte europäisches Recht unmittelbar anwenden oder europäische Gerichte anrufen können, oder dass nationales Prozessrecht durch Europarecht beeinflusst bzw. determiniert wird (Europäisierung des Prozessrechts). Mitgliedstaatliche Gerichte werden insoweit regelmäßig auch als „Unionsgerichte im funktionellen Sinne“ bezeichnet[12] – im Gegensatz zum GHEU-System als Unionsgerichtsbarkeit im institutionellen Sinne.

§ 1 Einführung › C. Komplementärer und kooperativer Rechtsschutz in Europa

C. Komplementärer und kooperativer Rechtsschutz in Europa

10

Der aus dem deutschen Verwaltungsrecht bekannte Grundsatz, dass der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz den Handlungsformen der Verwaltung folgt,[13] gilt ebenso für das europäische Prozessrecht. Dabei sind die europäische und die nationalen Gerichtsbarkeiten einander nicht vor- oder nachgeordnet, sondern stehen nebeneinander. Einen Instanzenzug, wie er in nationalen Rechtsordnungen anzutreffen ist, gibt es zwar innerhalb des GHEU, nicht aber zwischen den nationalen und europäischen Gerichten. Auch der EGMR ist kein Teil eines Instanzenzugs, obwohl seine Anrufung die nationale Rechtswegerschöpfung voraussetzt. Das entspricht im deutschen Prozessrecht der Situation der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Der EGMR nimmt die Rolle eines spezialisierten Menschenrechtsgerichts mit Auslegungsautorität über die EMRK ein.

11

Im Ergebnis herrscht also eine durch den jeweiligen Rechtsstreit indizierte und im Hinblick auf die jeweiligen Letztentscheidungszuständigkeiten ausdifferenzierte kooperative Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Gerichtsbarkeiten. Das Verhältnis zwischen dem GHEU und dem BVerfG wird von letzterem selbst explizit als „Kooperationsverhältnis“ charakterisiert.[14]

I. Rein nationale Verfahren

12

Rein national gelagerte Sachverhalte betreffende Rechtsstreitigkeiten, auf die nur innerstaatliches Recht Anwendung findet, werden von den zuständigen einzelstaatlichen Gerichten nach Maßgabe der nationalen Gerichtsverfassungen und Prozessordnungen behandelt und entschieden. Daran können sich Verfahren vor dem EGMR anschließen, wenn die Sachverhalte menschenrechtlich relevante Fragen aufwerfen.

13

Allerdings können nationalrechtliche Verweise in das Unionsrecht oder Gleichbehandlungsgebote des nationalen Rechts bewirken, dass auch rein innerstaatliche Sachverhalte, auf die auch kein harmonisiertes Unionssekundärrecht Anwendung findet, unionsrechtliche Fragestellungen begründen.

Beispiele:

Dies gilt für die sog. überschießende Richtlinienumsetzung[15] oder die Anwendung der Grundfreiheiten auf innerstaatliche Sachverhalte (wie z.B. in Österreich oder Italien wegen der dort verfassungsrechtlich verbotenen Inländerdiskriminierung[16]). In solchen Fällen sind Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte zur Auslegung des in Bezug genommenen Unionsrechts nach Art. 267 I AEUV regelmäßig zulässig, auch wenn dies von den Mitgliedstaaten ebenso häufig bestritten wird.

II. Rein unionale Verfahren

14

Rechtsstreitigkeiten, die aus der Ausübung von Hoheitsgewalt resultieren, die die Mitgliedstaaten ausdrücklich der EU übertragen haben, werden durch den GHEU selbst oder mittelbar durch Beantwortung von Vorlagefragen (Art. 267 AEUV) entschieden. In diesen Bereichen wurde der Vollzug des Unionsrechts zuvor unmittelbar den Unionsorganen oder anderen EU-Institutionen übertragen (sog. unmittelbarer oder direkter Vollzug des Unionsrechts, z.B. im Wettbewerbsrecht (Art. 101 ff. AEUV) oder im Außenwirtschaftsrecht (Art. 206 ff. AEUV). Gleiches gilt für inter-institutionelle Streitigkeiten der EU oder für aus der EU-Mitgliedschaft erwachsende Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten. Diese können auch als „EU-verfassungsrechtliche“ Streitigkeiten bezeichnet werden. Die so beschriebenen Zuständigkeitsbereiche des GHEU setzen eine mitgliedstaatliche Zuständigkeitsübertragung für ein bestimmtes Verfahren im Einzelnen voraus. Denn auch die Organkompetenz des GHEU wird von der auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung basierenden Verbandskompetenz der EU (Art. 4 I, Art. 5 I f. EUV) determiniert.

III. Mischformen in Vollzug und Rechtsschutz

15

Vollziehen mitgliedstaatliche Behörden Unionsrecht, das in die nationalen Rechtsordnungen punktuell einwirkt, ohne einen Sachverhalt gänzlich zu regeln, wird europarechtlich determinierte, aber im Kern nationale Hoheitsgewalt ausgeübt. Den Rechtsschutz gegen solche Maßnahmen gewähren in erster Linie die mitgliedstaatlichen Gerichte als Unionsgerichte im funktionellen Sinne.[17] Da sie dabei als staatliche Stellen die Anwendung und Durchsetzung (auch) des Unionsrechts sicherstellen, kommt ihnen eine wichtige Rolle im europäischen Rechtsschutzsystem zu. Das Unionsrecht nimmt die mitgliedstaatlichen Gerichte in die Pflicht, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten (Art. 19 I UA 2 EUV). Dafür müssen die Mitgliedstaaten nötigenfalls die erforderlichen Vorkehrungen treffen. Der Prüfungsmaßstab der nationalen Gerichte hängt hingegen davon ab, inwieweit die einzelstaatlichen Hoheitsakte durch Unionsrecht determiniert werden.

16

Den „Brückenschlag“ zwischen den nationalen Gerichten und dem GHEU bildet das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV. Es ist das prozessuale Pendant zu den Rechtsinstituten der unmittelbaren Anwendung und des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts.[18] Durch Vorlagen erhält der GHEU die Möglichkeit, letztverbindlich über die Wirksamkeit und Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, während die mitgliedstaatlichen Gerichte für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits und die Auslegung und Anwendung nationalen Rechts zuständig bleiben. Dieser „Dialog der Gerichte“ führt dazu, dass die komplementären Zuständigkeitsbereiche der Gerichtsbarkeiten nicht unverbunden nebeneinander stehen. So wird den differenzierten Handlungsformen nationaler und unionaler Hoheitsgewalt innerhalb eines Rechtsstreits auch insoweit kooperativ Rechnung getragen, als die nationalen Gerichte innerhalb eines „europäischen Justizverbundes“[19], wie ihn Art. 19 I EUV vorsieht, agieren und entscheiden.

IV. Zentrale Rolle des GHEU

17

Eine wichtige Rolle innerhalb der EU nimmt der GHEU ein, der aus dem Gerichtshof (EuGH) und dem Gericht (EuG) besteht (Art. 19 I UA 1 S. 1 EUV). Der GHEU ist Hüter der Verträge und Garant für die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Überdies sichert er das institutionelle Gleichgewicht zwischen den europäischen Institutionen und Organen.

18

Für die Erfüllung dieser Funktionen sehen die Verträge verschiedene Rechtsschutzverfahren vor. In ihrer Gesamtheit führen diese Verfahren dazu, dass der GHEU einerseits als Fachgericht über die Auslegung und richtige Anwendung des materiellen Unionsrechts entscheidet. Andererseits kommen ihm durch die Auslegung des primären Unionsrechts und der Entscheidung über die darin vorgesehenen Rechte und Pflichten der Unionsorgane (diese zählt Art. 13 EUV auf) sowie die unionsrechtlich übernommenen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten auch verfassungsgerichtliche Funktionen zu, soweit man das Primärrecht als die Verfassung der Europäischen Union ansieht.

Beispiel:

Die Zuständigkeiten für die Nichtigkeitsklage werden zwischen EuGH und EuG in einem differenzierten System zugewiesen. Im Ergebnis werden dabei die eher verwaltungsrechtlichen Fälle dem EuG, die hingegen als verfassungsrechtlich zu charakterisierenden Fälle dem EuGH zugewiesen (s. Rn. 221 ff.).[20]

19

Auch der GHEU ist ein Geschöpf der Verträge, errichtet durch den Willen der Mitgliedstaaten nach den Art. 19 EUV, Art. 251 ff. AEUV und begrenzt durch das geltende Unionsrecht. Doch da der GHEU die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft (so der Gerichtshof selbst in der Rs. 294/83 [Les Verts/Parlament][21]) maßgeblich konkretisiert, nimmt er eine zentrale Funktion im Gesamtkonstrukt der EU ein. Ausschließlich ihm unterliegt die Kontrolle unionaler Rechtsakte sowie die letztverbindliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts (vgl. Art. 19 I UA 2 EUV), ohne dass er dabei selbst über dem Primärrecht steht. Die Schwerfälligkeit des Vertragsänderungsverfahrens (Art. 48 EUV) führt allerdings dazu, dass eine dem Willen der primärrechtssetzenden Mitgliedstaaten nicht entsprechende GHEU-Interpretation jedenfalls der EU-Verträge nur schwerlich korrigiert werden kann.

20

kein Alternativtext verfügbar

Vertiefende Literatur:

von Bogdandy, Was ist Europarecht?, JZ 2017, 589 ff.; Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, EuR 2009 Beiheft 1, 71; Haratsch, Die kooperative Sicherung der Rechtsstaatlichkeit durch die mitgliedstaatlichen Gerichte und die Gemeinschaftsgerichte aus mitgliedstaatlicher Sicht, EuR 2008, Beiheft 3, 81 ff.; Kraus, Die kooperative Sicherung der Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union durch die mitgliedstaatlichen Gerichte und die Gemeinschaftsgerichte, EuR 2008, Beiheft 3, 109 ff.; Lenaerts, Kooperation und Spannung im Verhältnis von EuGH und nationalen Verfassungsgerichten, EuR 2015, 3 ff.; Pernice, Die Zukunft der Unionsgerichtsbarkeit, EuR 2011, 151 ff.; Schwarze, Die Wahrung des Rechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union, DVBl 2014, 537 ff.; Sydow, Europäisierte Verwaltungsverfahren, JuS 2005, 97 ff.; Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 ff.

Anmerkungen

[1]

Abgedruckt in Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 7. Aufl. 2007, S. 236.

[2]

Hattenhauer/Bernert (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, 3. Aufl. 1996, S. 60.

[3]

Zum Begriff des Europarechts s. Streinz, Europarecht, 10. Aufl. 2016, § 1 Rn. 1.

[4]

Vgl. z.B. § 18 II Nr. 6 der bayerischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) vom 13.10.2003 in der seit 1.7.2017 geltenden Fassung.

[5]

Lesenswert insofern das kurze, sich kritisch gegen das positivistische Rechtsverständnis des Nationalsozialismus wendende Manifest Gustav Radbruchs, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 12.9.1945, zitiert in ders., Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 327 ff.

[6]

EuGH, Rs. C-303/94, Europäisches Parlament/Rat, Slg. 1996, I-2943, Rn. 33.

[7]

Herrmann, Examensrepetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 6. Aufl. 2017, Rn. 125 ff.

[8]

Herrmann, Examensrepetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 6. Aufl. 2017, Rn. 73.

[9]

Nach derzeitigem Stand wird das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland am 29.3.2019 die EU gemäß Art. 50 Abs. 3 S. 1 EUV verlassen (dazu s. Rn. 146 ff.).

[10]

BVerfGE 89, 155 (181 ff.).

[11]

von Bogdandy, Was ist Europarecht, JZ 2017, S. 589 ff. (597).

[12]

Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rn. 1.

[13]

Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Grundgesetz-Kommentar, 81. EL September 2017, Art. 19 Abs. 4 GG Rn. 67.

[14]

BVerfGE 89, 155 (175); Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 ff. (1 ff.).

[15]

EuGH, Rs. C-297/88, Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Rn. 29-43; Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 62. EL 2017, Art. 288 AEUV Rn. 131.

[16]

EuGH, Rs. C-451/03, Servizi ADC, Slg. 2006, I-2941, Rn. 28 f.; EuGH, Rs. C-250/03, Mauri, Slg. 2005, I-1267, Rn. 21.

[17]

Calliess/Ruffert/Wegener, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV Rn. 1.

[18]

Streinz, Europarecht, 10. Aufl. 2016, § 8 Rn. 717.

[19]

Pernice, Die Zukunft der Unionsgerichtsbarkeit, EuR 2011, S. 151 ff. (153 f.).

[20]

Im deutschen Recht hingegen schafft § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO mit der Anforderung einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit „nichtverfassungsrechtlicher Art“ im Zusammenspiel mit Art. 93 GG eine vergleichbare Trennung, allerdings zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgerichtsbarkeit (vgl. insb. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 GG sowie § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO für den „nichtverfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streit“).

[21]

EuGH, Rs. 294/83, Parti écologiste „Les verts“/Europäisches Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23.

§ 2 Die EU als Rechtsgemeinschaft

Inhaltsverzeichnis

A.Begriffsgenese und Adaption durch die Rechtsprechung

B.Rechtsstaatlichkeit in der EU

C.Unionaler Rechtsschutz durch Gerichte

D.Recht auf effektiven Rechtsschutz

E.Zusammenfassung

21

Die EU bildet – auch nach ihrem Selbstverständnis und der Rechtsprechung des EuGH – eine Gemeinschaft des Rechts. Art. 2 S. 1 EUV zählt die Rechtsstaatlichkeit zu den grundlegenden Werten der EU. Auch die zentrale Rechtsschutznorm des Art. 19 I EUV und Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) bringen dies zum Ausdruck. Gleichzeitig umfasst die Rechtsgemeinschaft neuartige, unionsspezifische Elemente des Rechtsstaates, die gerade im Lichte aktueller politischer Entwicklungen an Relevanz gewonnen haben. Von zentraler Bedeutung ist das im Unionsrecht verbürgte Recht auf effektiven Individualrechtsschutz. Rechtsgemeinschaft, ein vollständiges Rechtsschutzsystem und effektiver Rechtsschutz stellen gleichsam die unionsverfassungsrechtlichen Grundsätze dar, die den einzelnen Verfahrensarten des europäischen Prozessrechts zugrunde liegen.

§ 2 Die EU als Rechtsgemeinschaft › A. Begriffsgenese und Adaption durch die Rechtsprechung

A. Begriffsgenese und Adaption durch die Rechtsprechung

22

Die heutige EU wurde schon früh als Rechtsgemeinschaft bezeichnet. Der erste Kommissionspräsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Walter Hallstein, führte dazu bereits im Jahr 1973 aus, dass die EWG in dreifacher Hinsicht ein Phänomen des Rechts sei: Schöpfung des Rechts, Rechtsquelle, und Rechtsordnung.[1] Diese drei Wesensmerkmale bestehen fort.

23

Anders als die Mitgliedstaaten, deren Existenz auch durch gravierende verfassungsrechtliche (Um)Brüche nicht in Frage gestellt wird, existiert die EU überhaupt nur Kraft ihrer Gründungsverträge. Sie ist infolge ihres vertragsrechtlichen Charakters – vergleichbar juristischen Personen des innerstaatlichen Rechts – eine Schöpfung des Rechts. Die Gründungsverträge beschränken sich dabei nicht auf Regelungen der jeweils bi- oder multilateralen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, sondern haben eine eigenständige Rechtsperson geschaffen (Art. 47 EUV), die kraft ihres institutionellen Rahmens handlungsfähig ist (Art. 13 ff. EUV). Rechtssubjekte des Unionsrechts sind neben der EU aber nicht allein die Mitgliedstaaten, sondern vielmehr auch natürliche und juristische Personen, für die das Unionsrecht als eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“ zum nationalen Recht hinzutritt.[2]

24

Als Rechtsquelle, so Hallstein, müsse die EU für das Erreichen ihrer Ziele ein dynamisches Eigenleben entfalten, indem sie selbst verbindliche Regelungen hervorbringt. Die EU tritt hier durch ihre gesetzgebenden Organe, das Europäische Parlament und den Rat, in Erscheinung. Daneben ist die Europäische Kommission gesetzgebungsinitiativberechtigt und z.T. mit eigenen Normsetzungsbefugnissen betraut. Das so geschaffene abgeleitete Unionsrecht (Sekundär- oder Tertiärrecht) erfährt durch die Möglichkeit, unmittelbar und mit Anwendungsvorrang wirksam zu werden, eine erhebliche Stärkung und Bedeutung im Rechtsverkehr und der Lebenswirklichkeit der Unionsbürger.

25

Als Rechtsordnung schließlich begründet die EU ein geschlossenes System von Rechtssätzen, die durch die Verträge und das abgeleitete Recht geschaffen wurden. Dieses System ist von der Gesetzmäßigkeit jeglichen Organhandelns (Art. 13 II EUV) und dem Rechtsschutz der Normunterworfenen geprägt. Mithin bedarf es nicht nur materiell-rechtlicher Vorgaben, sondern auch formeller Normen verbandsorganisatorischer Natur wie die Normenhierarchie, das interinstitutionelle Gleichgewicht und Durchsetzungsmechanismen für das geltende Recht. Sie konstituieren das Rechtssystem der EU.

26

Der EuGH nahm die Idee der Rechtsgemeinschaft in der Entscheidung Les Verts auf. Er folgerte aus dieser Idee, dass die Handlungen sämtlicher EU-Organe gerichtlich überprüfbar sein müssten:

„Dazu ist zunächst hervorzuheben, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen. Mit den Artikeln 173 und 184 EWG-Vertrag auf der einen und Art. 177 EWG-Vertrag auf der anderen Seite ist ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen worden, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe übertragen ist.“[3]

27

Für die Entscheidung der Rechtssache Les Verts bedeutete dies, dass die Kläger mittels Nichtigkeitsklage gegen das Europäische Parlament vorgehen konnten, obwohl der einschlägige Art. 173 EWG-Vertrag das Parlament nicht als zulässigen Klagegegner aufführte. Unter Hinweis auf den Geist und das System des Vertrags sah es der EuGH als zwingend an, sämtliche Rechtsakte der Union einer gerichtlichen Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit zuführen und dabei insbesondere auf eine bestehende Verbandskompetenz überprüfen zu können.

28

In der Entscheidung Kadi u.a. bestätigte der EuGH dieses Verständnis der EU als Rechtsgemeinschaft. Im zugrunde liegenden Sachverhalt hatten sich die Kläger gerichtlich gegen EU-Gesetzgebung gewehrt, die in Umsetzung von UN-Sicherheitsratsresolutionen im Kampf gegen Terrorismus den Klägern u.a. den Zugriff auf ihre innerhalb der EU verwalteten Geldkonten verwehrte. Doch auch gegenüber dem völkerrechtlich mit Vorrangwirkung ausgestattetem UN-Sanktionsregime (vgl. Art. 103 UN-Charta) bewahrt nach dem dualistischen Verständnis des EuGH[4] die Unionsrechtsordnung ihre Eigenständigkeit:

„Internationale Übereinkünfte können die in den Verträgen festgelegte Zuständigkeitsordnung und damit die Autonomie des Rechtssystems der Gemeinschaft, deren Wahrung der Gerichtshof aufgrund der ausschließlichen Zuständigkeit sichert, die ihm durch Art. 220 EGV übertragen ist, einer Zuständigkeit, die zu den Grundlagen der Gemeinschaft selbst zählt, nicht beeinträchtigen.“[5]

29

EU-Rechtsakte, die bindendes Völkerrecht in den Rechtskreis der EU einführen, müssen daher ebenfalls gerichtlich umfassend auf ihre Vereinbarkeit mit EU-Primärrecht, insbesondere den EU-Grundrechten, überprüft werden können.[6] Nur so löst die EU ihren Anspruch ein, ein vollständiges Rechtsschutzsystem zur Verfügung zu stellen.