cover image

Über dieses E-Book

Yorkshire, England, 1871: Jeremy Rawlings kümmert sich wenig um die Verantwortung, die sein Titel als Lord mit sich bringt. Als er von der Universität geworfen wird, kehrt er nach Hause zurück. Dort trifft er auf seine Jugendfreundin Maggie, die er prompt kompromittiert. Obwohl auch Maggie sich zu Jeremy hingezogen fühlt, will sie nichts mit dem Schuft zu tun haben, zu dem er geworden ist. Statt seinen Heiratsantrag anzunehmen, geht sie nach Paris, um Kunst zu studieren, während Jeremy im Auftrag des Militärs in Indien dient.
Fünf Jahre später kehrt Jeremy nach England zurück mit nur einem Ziel: Maggies Herz erobern. Doch Maggie ist inzwischen verlobt und auch ihr Stolz steht weiterhin zwischen den beiden. Trotzdem zweifelt Jeremy keine Sekunde daran, dass die Leidenschaft zwischen ihnen sich nicht länger in die Vergangenheit verbannen lässt ...

 

Impressum

dp Verlag

Deutsche Erstausgabe Februar 2019

Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-635-9

Copyright © 1999 by Patricia Cabot by arrangement with St. Martin’s Press
Titel des englischen Originals: Portrait of my Heart

Übersetzt von: Katharina Radtke
Covergestaltung: Rose & Chili Design
unter Verwendung von Motiven von
Periodimages.com: © Mary, © VJ Dunraven Productions
depositphotos.com: © FairytaleDesign

Korrektorat: Sofie Raff

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier

Website

Folge uns, um immer als Erster informiert zu sein

Newsletter

Facebook

Instagram

Twitter

Youtube

dp Verlag

 

 

 

Dieses Buch ist für meinen Mann, Benjamin.

Teil 1

Kapitel 1

Yorkshire, im Mai 1871

»Sag mir, dass du das nicht getan hast«, stöhnte Lord Edward Rawlings und verbarg sein Gesicht in den Händen. »Nicht von Oxford, Jeremy.« 

Besorgt sah Jeremy seinen Onkel über den Tisch des Wirtshauses hinweg an. Er fragte sich, ob er das Schankmädchen herrufen und ein Glas von etwas Stärkerem als Ale bestellen sollte. Edward sah aus, als könne er ein oder zwei Whisky gebrauchen. Allerdings war es noch früh und sie befanden sich in der Bierschenke »Goat and Anvil«, nur ein paar Kilometer von Rawlings Manor die Straße hinunter. Die Bediensteten würden vielleicht komisch gucken, wenn der Herzog von Rawlings und sein Onkel schon vormittags einen Whisky nach dem anderen herunterstürzten. 

»Es ist wirklich nicht so schlimm, wie du sagst. Komm schon, Onkel Edward«, meinte Jeremy unbekümmert. »Und du kannst nicht behaupten, du hättest so etwas nicht erwartet. Schließlich hatte ich bereits die Ehre, von Eton und Harrow verwiesen worden zu sein. Dieses Vergnügen wollte ich auch deiner Alma Mater nicht vorenthalten.«

Edward lachte nicht. Jeremy hatte das auch nicht wirklich erwartet und so musterte er den gesenkten Kopf seines Onkels nachdenklich. In den sechs Monaten seit Weihnachten, als er ihn zuletzt gesehen hatte, waren die dunklen Haare an Edwards Schläfen zunehmend ergraut. Jeremy bildete sich nicht ein, dass er der Grund für diese Farbveränderung war. Immerhin war sein Onkel momentan einer der einflussreichsten Männer im Oberhaus. In einer Machtstellung wie der seinen wurde ein bisschen Grau nicht nur erwartet, es war auch notwendig war, um einem kaum über vierzigjährigen Mann Autorität zu verleihen – die eher konservativen Genossen hätten ihn wohl sonst als zu jung erachtet. Aber zu wissen, dass er zu den ohnehin lästigen Sorgen seines Onkels beitrug, passte dem Herzog nicht wirklich. 

»Von der Oxforder Universität verwiesen«, stöhnte Edward abermals in den Schaum, der über seinen Bierkrug ragte. 

Er hatte diesen Satz wieder und wieder gesagt, seitdem Jeremy beiläufig den Grund für sein plötzliches Erscheinen in Yorkshire erwähnt hatte. Jeremy bedauerte langsam, dass er überhaupt etwas gesagt hatte. Er hätte – das realisierte er im Nachhinein – mit der Nachricht warten sollen bis zum Abendessen im Herrenhaus, wenn seine Tante Pegeen anwesend war. Während es niemanden auf der Welt gab, den Jeremy weniger enttäuschen wollte als seine Tante, war sie im Gegensatz zu ihrem Ehemann immerhin in der Lage, die vielen und mannigfaltigen Missgeschicke ihres Neffen im rechten Licht zu sehen. Die Tatsache, dass Jeremy von der Oxforder Universität verwiesen worden war, würde sie nicht einmal veranlassen, eine Augenbraue hochzuziehen. Sicher, wenn sie wüsste, weshalb er verwiesen worden war ... ja, das würde sie unglücklich machen und gerade deshalb hatte sich Jeremy entschlossen, seinen Onkel allein zu treffen, bevor er sich auf den Weg zum Anwesen machte.

»Verdammter Mist«, fluchte Edward und sah endlich auf, um den Blick seines Neffen zu treffen, der dieselben klaren, grauen Augen hatte wie er selbst. »Musstest du den Mann unbedingt umbringen, Jerry? Hättest du ihn nicht einfach nur anschießen können?«

»Wenn ein Mann erklärt hat, dass er beabsichtigt, bis auf den Tod mit dir zu kämpfen, Onkel«, sagte Jeremy mit einiger Bitterkeit, »ist es im Allgemeinen am klügsten, ihn dauerhaft zu beseitigen, wenn es irgendwie geht. Hätte ich ihn angeschossen, hätte er sich erholt und wäre wieder auf mich losgegangen. Und ich kann mich nicht mein ganzes Leben lang nach durchgedrehten Attentätern umsehen.« 

Edward schüttelte den Kopf. »Aber du behauptest doch, du hättest das Mädchen nie angefasst?« 

Jetzt schien sich Jeremy zum ersten Mal unwohl zu fühlen. Da er genauso hochgewachsen war wie sein Onkel, der mit seinen gut Einsneunzig die meisten Menschen überragte, hatte Jeremy Schwierigkeiten, bequem auf den schmalen Bänken im »Goat and Anvil« zu sitzen und musste seine Ellenbogen auf den Tisch stützen, um sich Platz zum Atmen zu verschaffen. Das war jedoch nicht der Grund für sein momentanes Unbehagen. 

»Nun ja«, begann er, »ich habe nicht gesagt, dass ich sie nie angefasst hätte –«

»Jeremy«, knurrte sein Onkel mit warnendem Unterton.

» – aber ich wollte sie ganz sicher nicht heiraten! Und da liegt der Hund begraben.«

»Jeremy«, sagte Edward erneut mit der tiefen Stimmlage, die er sich für die Arbeit im Parlament und das Maßregeln von Kindern aufsparte. »Habe ich dir nicht erklärt, dass es Frauen gibt, mit denen ein Mann ... ähm ... tändeln kann, ohne die Erwartung einer baldigen Hochzeit zu wecken und andere Frauen, mit denen er am besten gar nicht verkehren sollte, außer seine Absichten sind –« 

»Ich weiß«, sagte Jeremy und bügelte eilig den Vortrag ab, den er bereits auswendig konnte. Seit er alt genug war, um sich zu rasieren, bekam er ihn mindestens zwei Mal im Monat zu hören. »Ich weiß, Onkel Edward. Und ich habe im Laufe der Jahre ganz bestimmt den Unterschied verstanden. Aber mit dieser bestimmten jungen Dame wurde ich absichtlich bekannt gemacht, das weiß ich inzwischen – und zwar von ihrem eigenen Bruder, wenn du dir so etwas Schäbiges vorstellen kannst. Er stellte sie mir auf solche Weise vor, dass jeder Mann geglaubt hätte, sie wäre nichts als ein charmantes leichtes Mädchen, das jeder haben kann, wenn er bloß fragt. Sie hat mein Geld mehr als bereitwillig angenommen, das versichere ich dir. Erst, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war, kam Pierce an und krakeelte, dass ich die Ehre seiner Schwester befleckt hätte.« Jeremy erschauderte ein wenig beim Gedanken daran. »Er blieb dabei, dass ich das Biest heiraten müsse oder seinen Degen kennenlernen würde. Ist es denn verwunderlich, dass ich den Degen gewählt habe?« Jeremy hob seinen Krug und nippte an dem Hefegebräu. »Pech für Pierce, dass er fechten wollte«, bemerkte er amüsiert. »Ich nehme an, er hätte sich mit der Pistole besser geschlagen.«

»Jeremy.« Edwards Gesicht, das in den elf Jahren, seit er ihn erstmals getroffen hatte, zeitgleich mit dem weniger ausschweifenden Lebensstil seines Onkels schlanker und attraktiver geworden war, wirkte todernst. »Du bist dir darüber im Klaren, dass du einen Mord begangen hast, oder nicht?« 

»Jetzt mach aber halblang, Onkel Edward«, widersprach Jeremy. »Es war ein fairer Kampf. Sein eigener Sekundant hat ihn ausgerufen. Und ich gebe ja zu, dass ich mich auf seinen Arm gestürzt habe, aber doch nicht auf sein Herz. Aber der verdammte Dummkopf hat versucht, eine Finte zu schlagen und als Nächstes weiß ich nur –« 

»Ich billige keine Duelle«, unterbrach ihn Lord Edward herrisch. »Ich habe bereits versucht, dir das klarzumachen, als das letzte Mal so etwas passiert ist. Und ich erinnere mich deutlich, dich damals darauf hingewiesen zu haben, dass du es, wenn du unbedingt kämpfen musst, auf dem Festland tun sollst, Herrgott nochmal. Du bist vielleicht adlig, aber weißt du, du stehst nicht über dem Gesetz. Jetzt hast du keine andere Wahl, als das Land zu verlassen.«

»Ich weiß«, sagte Jeremy und verdrehte die Augen. Auch diesen Vortrag hatte er schon einige Dutzend Male gehört. 

Edward nahm keine Notiz vom Überdruss seines Neffen. »Ich denke, die Villa in Portofino wäre wohl am besten, obwohl die Wohnung in Paris momentan leer steht, wie ich meine. Es liegt bei dir. Sechs Monate sollten genügen. Du hast ein verdammtes Glück, Jerry, dass das College keine ausreichenden Beweise hat, um dich rechtlich zu belangen, sonst –« 

»Richtig«, unterbrach ihn Jeremy und zwinkerte gerissen. »Sonst wäre ich jetzt hinter Gittern, statt mit meinem guten alten Onkel Ed einen zu heben.«

»Ich wäre dir dankbar, wenn du nicht darüber scherzen könntest«, sagte Edward streng. »Du bist ein Herzog, Jerry, und als solcher hast du sowohl Vorrechte als auch Pflichten erworben. Eine davon ist, das Töten deiner Mitmenschen zu unterlassen.«

Jetzt war es an Jeremy, wütend zu werden. Nachdem er den Bierkrug mit einem Rums abgesetzt hatte, schlug er seine geballte Faust mit aller Kraft in die Tischmitte und platzte heraus: »Denkst du, ich wüsste das nicht?« Er sprach gerade leise genug, um die Aufmerksamkeit der anderen Gäste der Bierschenke nicht auf sich zu ziehen. »Glaubst du, du hättest mir diesen Leitsatz im Laufe der letzten zehn Jahre nicht erfolgreich eingebläut? Seit dem Tag, an dem du vor unserer Tür in Applesby erschienen bist und Pegeen erzählt hast, ich wäre der Erbe des Rawlings-Herzogtums, habe ich nichts zu hören bekommen, als ›Du bist ein Herzog, Jerry, du kannst dies nicht machen‹ und ›Du bist ein Herzog, Jerry, du musst das tun.‹ Mein Gott, hast du eine Ahnung, wie satt ich es habe, ständig zu hören, was ich zu tun und zu lassen habe?

Edward, der angesichts des plötzlichen Wutausbruchs etwas überrascht wirkte, blinzelte. »Nein ... Aber ich habe das Gefühl, dass du es mir gleich sagen wirst.« 

»Ich wollte niemals aufs Internat gehen«, fuhr Jeremy verbittert fort. »Ich wäre weitaus glücklicher auf der Dorfschule hier in Rawlingsgate gewesen. Aber du hast mich nach Eton verfrachtet und als ich mich von dort verweisen ließ, hast du die Leute in Harrow bestochen und dann in Winchester und so weiter, bis mir dann vorgeschrieben wurde, dass ich die nächsten paar Jahre meines Lebens an einem College zu verbringen hätte. Ich hatte kein Interesse daran, nach Oxford zu gehen – du wusstest, dass es so war – und trotzdem hast du darauf bestanden, obwohl es überdeutlich war, dass ich mit dem Schwert weitaus talentierter bin als mit dem Stift. Und jetzt, als Schlimmstes meiner Vergehen, werde ich von Oxford verwiesen wegen des Verdachts, mich mit einem Kommilitonen duelliert zu haben –« 

»Den du, wie du offen zugibst, umgebracht hast«, betonte Edward. 

»Natürlich habe ich ihn umgebracht!« Jeremy streckte ihm in einer hilflosen Geste seine offenen Handflächen entgegen. »Pierce war ein Prolet und ein Trittbrettfahrer, und ich bin nicht der Einzige, der froh über seinen Tod ist, obwohl es mir nicht mehr Vergnügen bereitet hat, ihn zu erledigen, als eine Mücke zu zerquetschen. Und du besitzt die Dreistigkeit, mir vorzuwerfen, ich würde darüber witzeln. Tja, was sonst sollte ich tun? Mein ganzes bisheriges Leben war ein Witz, oder nicht?« Jeremy funkelte seinen Onkel über den Tisch hinweg an. »Na? Oder etwa nicht?« 

Edwards Gesicht, das genauso feingeschnitten und gutaussehend war wie das seines Neffen, verzog sich zu einer zynischen Miene. »O ja«, sagte er mit einer Stimme, die vor Sarkasmus triefte. »Du führst in der Tat eine tragische Existenz. Ungeliebt und verkannt. Deine Tante Pegeen hat keinerlei Opfer für dich gebracht, in all den Jahren, die sie für dich gesorgt hat, ohne die leiseste Ahnung, dass du jemals ein Herzogtum erben würdest. Sie hat nicht etwa selbst ihr Essen entbehrt, nur damit du ein vernünftiges Frühstück bekommst –« 

»Lass Pegeen aus der Sache raus«, unterbrach Jeremy seinen Onkel hastig. »Ich rede nicht von Pegeen. Ich rede davon, wie du, nachdem du uns nach Rawlings gebracht und sie geheiratet hast –« 

Zum ersten Mal, seit Jeremy ihm von seiner Verweisung erzählt hatte, wirkte Edward belustigt. »Wenn du dich über die Tatsache aufregst, dass ich deine Tante geheiratet habe, Jerry, dann möchte ich dich darauf hinweisen, dass es ein wenig zu spät ist, um etwas daran zu ändern. Schließlich haben wir dich bereits mit vier Cousins und Cousinen ausgestattet. Es wäre harte Arbeit, den Erzbischof zum jetzigen Zeitpunkt noch zu einer Annullierung zu überreden.« 

Jeremy lachte nicht. »Hör mal, Onkel Edward«, sagte er, »Ich werde es so formulieren: Warum hast du vor elf Jahren all die Zeit und all das Geld darauf verwendet, mich zu finden, obwohl du auch einfach den Leuten hättest erzählen können, dass dein älterer Bruder kinderlos war, um den Titel dann selbst zu beanspruchen?« 

Edward sah verblüfft aus. »Weil das ehrlos gewesen wäre. Ich wusste, dass John ein Kind gezeugt hatte, bevor er starb und es war nur recht, dass dieses Kind den Titel seines Vaters erben sollte.« 

»Das ist nicht das, was Sir Arthur mir erzählt hat«, sagte Jeremy kopfschüttelnd. »Er sagte, dass du die Verantwortung eines Herzogs nicht tragen wolltest und dass du alles getan hättest, um den Titel auszuschlagen.« 

»Nun«, sagte Edward und zuckte unter dem einwandfrei geschnittenen Jackett unbehaglich mit den Schultern, »das ist nicht ganz richtig, aber auch nicht sehr weit gefehlt ...«

»Also was denkst du, wie ich mich fühle?«, fragte Jeremy mit Nachdruck. »Ich will das auch nicht!« 

»Warum nicht, in Gottes Namen?« Edwards Stimme klang einen Tick zu herzlich. »Hast du etwa nicht eins der beträchtlichsten Vermögen in ganz England? Die besten Pferde, die man für Geld kaufen kann? Besitzt du etwa nicht das Stadthaus in London, eines der größten Anwesen in Yorkshire und eine Wohnung in Paris sowie eine Villa in Italien? Du hast über einhundert Bedienstete, den besten Schneider Europas und einen Sitz im Oberhaus, den ich dir, jetzt da du volljährig bist, gern überlassen werde. Dir ist jedes Privileg zuteilgeworden, jede Ehre, die jemand deines Standes verdient –« 

»Außer der Freiheit, zu tun was ich möchte«, unterbrach ihn Jeremy halblaut. 

»Natürlich, ja.« Wieder setzte Edward eine sarkastische Miene auf. »Das ist in der Tat ein hoher Preis. Aber was genau möchtest du denn tun? Außer der Unzucht und dem Morden nachzugehen, meine ich?« 

Zu Jeremys Glück hatte das Schankmädchen in diesem Moment beschlossen, sich ihrem Tisch zu nähern. Sonst hätte er sich vielleicht noch eines weiteren Mordes schuldig gemacht.

»Kann ich Euer Gnaden was bringen?« Rosalinde, ein Mädchen, das mit ihren roten Wangen und dem Kussmund ihrem Namen mehr als gerecht wurde, schenkte den beiden Männern ein hübsches Lächeln. Als sie sich vorbeugte, um die Tischplatte mit einem feuchten Lappen abzuwischen, bot sie Jeremy einen unverstellten Blick auf ihren prall gefüllten Ausschnitt. »Vielleicht noch’n Krug Bier?«

»Danke, nein, Rosalinde«, sagte Jeremy und hob seinen Blick mit etwas Mühe von ihrem Busen zu ihrem Gesicht. »Für dich, Onkel?« 

»Nein, bei mir ist alles gut«, sagte Edward. Er schien nicht bemerkt zu haben, dass Rosalindes Mieder auseinanderklaffte, stellte Jeremy mit einiger Empörung fest. Andererseits hatte Jeremy nie erlebt, dass sein Onkel Augen für irgendeine andere Frau als Pegeen gehabt hätte. 

»Wie geht es Ihrem Vater, Rosalinde?«, fragte Edward freundlich. »Ich hörte, er fühlt sich nicht wohl.«

»Oh, ’s geht ihm besser, gnädiger Herr. Nachdem er das Tonikum ausgetrunken hatte, das ihre Lady uns geschickt hat, war er wieder kerngesund.« Rosalinde schaffte es, Edward diese Neuigkeit mitzuteilen, ohne ihren Blick von Jeremy zu wenden, der den Versuch, ihr nicht ins Dekolletee zu gucken, aufgegeben hatte und stattdessen unentwegt aus dem Bleiglasfenster starrte. »Werdet Ihr denn ’ne Weile auf dem Anwesen bleiben, Euer Gnaden, oder geht Ihr sofort zurück auf die Schule?« 

»Ich weiß noch nicht genau«, antwortete Jeremy steif. »Ich werde wohl zumindest noch ein paar Tage bleiben ...« 

Weil er den Blick so sorgfältig abgewandt hatte, sah er nicht, wie Rosalinde lächelte und wie ihre blauen Augen glänzten, als sie schwärmte: »Oh, das freut mich aber. Und ’s wird auch Miss Maggie freuen. Ach, gerade vor ein paar Tagen habe ich sie draußen vor dem Handelskontor gefragt, wann sie Euer Gnaden wieder sehen wird, und sie sagte, sie wüsste das nicht recht, allerdings wäre ’s letzte Mal schon so lange her, dass man sich keinesfalls wiedererkennen würde, schätzte sie!« 

Auf diese Information reagierte Jeremy lediglich mit einem höflichen Kopfnicken, aber das schien für Rosalinde genug zu sein, denn sie schwebte davon, als wären ihr plötzlich Flügel gewachsen. Sobald sie außer Hörweite war, riss Jeremy seinen Blick von dem Karrengaul los, auf den er ihn geheftet hatte, während Rosalinde mit ihm sprach, und fixierte stattdessen seinen Onkel. »Siehst du?«, fragte er nachdrücklich. »Siehst du, was ich meine? Ich bin nicht mal im örtlichen Pub sicher! Ich muss nach Aasgeiern Ausschau halten, wohin ich auch gehe!« 

»Rosalinde Murphy ist wohl kaum ein Aasgeier, Jerry«, antwortete Edward besänftigend. »Ich denke, sie hat ein aufrichtiges Interesse an deinem Wohlergehen.« 

»Nicht an meinem Wohlergehen«, korrigierte ihn Jeremy, »An meinem Wohlstand.« 

»Wohl an deiner Person«, sagte Edward und lachte. »Die junge Dame ist von dir angetan. Was ist daran so falsch?« 

Jeremy atmete ungeduldig aus. »Weil es ihr nicht um mich geht!«, beharrte er. »Es geht ihr um mein Geld und den verdammten Titel! Sobald ich eine Frau treffe und sie erfährt, dass ich ein Herzog bin, heißt es nur noch Euer Gnaden hier, Euer Gnaden da. Alles, an was eine Frau denken kann, wenn sie mich kennenlernt, ist der Tag, an dem sie endlich ihren Namen mit dem Zusatz ›Herzogin von Rawlings‹ schreiben kann. Ich sehe es in ihren Augen. Sie stellen sich schon vor, wie sie mit einem Diadem auf dem Kopf und einem Hermelin um die Schultern aussehen werden.« 

»Was du in ihren Augen siehst, Jerry, ist Verlangen – und nicht etwa nach deinem Titel.« Edward versuchte erfolglos, ein Glucksen zu unterdrücken. »Sieh dich an, Jerry. Du siehst in dir vielleicht noch den kleinen, dürren Spitzbuben, der du als Zehnjähriger warst, aber Rosalinde sieht etwas ganz anderes. Sie sieht einen hochgewachsenen, kräftigen jungen Mann mit dunklem Haar und hellen Augen und mit guten Zähnen –«

»Ich glaube kaum, dass Rosalinde Murphy jemals meine Zähne beachtet hat«, murmelte Jeremy, um die Verlegenheit zu kaschieren, die die Beteuerungen seines Onkels in ihm auslösten. 

»Vielleicht nicht«, lachte Edward. »Aber jedenfalls bist du ein schönes Mannsbild, Jerry, und du kannst nicht erwarten, dass die Frauen dafür nicht empfänglich sind. Und wenn sie es sind, tu dieses Interesse nicht gleich als reine Geldgier ab.«

Jeremy, nun gründlich in Verlegenheit gebracht, murmelte in sein Bier: »Na ja, ein Herzog zu sein, macht solche Sachen ganz bestimmt nicht einfacher. Ich meine, großer Gott, ich kann nicht einmal heiraten, wen ich möchte! Ich muss eine Frau heiraten, die eine ordentliche Herzogin abgibt.« 

»Das stimmt«, sagte Edward. »Aber daraus folgt nicht zwangsläufig, dass man mit der Art von Frau, die eine ordentliche Herzogin abgibt, keine Ehefreuden erfahren könnte.« Nachdenklich hob er seinen Bierkrug. »Mir ist es immerhin gelungen.« 

»Zu blöd, dass mein Vater nicht so anspruchsvoll war«, bemerkte Jeremy bitter. »Von zwei Schwestern schaffte er es, diejenige auszuwählen, die ihn schließlich das Leben kosten würde.« 

Edward räusperte sich unbehaglich, als er den Krug wieder absetzte. »Nun ja. Pegeen war erst zehn Jahre alt, glaube ich, als John deiner Mutter zum ersten Mal Avancen machte, daher denke ich nicht, dass sie ernsthaft im Rennen war.« Dann, als ob er sich plötzlich an etwas erinnerte, beugte sich Edward vor und sagte in einer ganz anderen Tonlage: »Du wirst deiner Tante nicht erzählen, warum du dieses Mal verwiesen wurdest, Jerry.« 

»Als ob ich das täte«, sagte Jeremy bitter. »Dass Pegeen davon weiß, ist das Letzte, was ich will. Aber sie wird nicht umhinkommen, es herauszufinden. Es wird wahrscheinlich in der Zeitung stehen.«

»Gewiss wird es in der Zeitung stehen«, sagte Edward und nickte barsch. »Das ist allerdings etwas anderes, als wenn du es ihr gegenüber freiheraus zugibst. Das wäre überhaupt die einzige Möglichkeit, wie Pegeen je glauben könnte, dass du zu einem Mord imstande wärst.« 

»In der Tat«, stimmte Jeremy zu und grinste dabei genauso zynisch, wie sein Onkel es zuvor getan hatte. »Ich, der kleine Junge, der nach seinem ersten Jagdausflug stundenlang geheult hat, weil ihm der Fuchs so leidtat.« 

»Ganz so lang hast du nicht geheult«, sagte Edward und rutschte bei der Erinnerung an diesen unglücklichen Tag unbehaglich auf seinem Platz herum. »Aber du hast recht. Es ist schwer, den Jungen von damals mit dem Mann, der du heute bist, in Einklang zu bringen.« 

Jeremys Blick war immer noch voller Sarkasmus. »Und wer bin ich heute, Onkel?«

»Das liegt an dir, oder etwa nicht?« Edward nahm noch einen Schluck von seinem Bier und fragte dann: »Was für ein Mann möchtest du sein?« 

»Einer, der kein Herzog ist«, antwortete Jeremy prompt. 

»Aber das«, sagte Edward, »ist nicht möglich.« 

Jeremy nickte, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. Ohne ein weiteres Wort begann er, sich von der Bank zu erheben. Überrascht sah Edward zu ihm auf. »Wohin gehst du?«, fragte er. 

»Zum Teufel«, antwortete Jeremy beiläufig. 

»Aha«, sagte Edward und nickte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hob den Krug an, um seinem aufbrechenden Neffen feierlich zuzuprosten: »Dann sei pünktlich zum Abendessen zu Hause.«

Kapitel 2

»Oh Maggie!«, rief Lady Edward Rawlings aus, als sie das Seidenpapier auf der kleinen Leinwand beiseiteschob. »Oh! Oh, das ist entzückend!« Maggie Herbert, die hinter Pegeens Stuhl stand, kräuselte skeptisch ihre mit Sommersprossen übersäte Nase und sah von ihrem Platz auf das Gemälde herab. Zu viel Grün, dachte sie. Ja, viel zu viel Grün im Hintergrund. Als sie das Gemälde studierte, fiel eine weiße Blüte von den Zweigen, die sich über ihnen ausstreckten, in einer kreiselnden Bewegung nach unten auf die frisch getrocknete Leinwand. Maggie gefiel es so besser, aber Pegeen wischte die Blüte ungeduldig fort. 

»Oh, ich kann nicht erwarten, es Edward zu zeigen«, verkündete Pegeen, während ihr Blick immer noch auf dem Gemälde ruhte. »Er wird es einfach nicht fassen können. Ich finde, auf keinem der anderen Porträts, die wir von den Kindern haben anfertigen lassen, sind sie so gut getroffen wie auf diesem –« 

»Tatsächlich?« Maggies Tonfall klang ein wenig ungläubig. Sie kniff ihre Augen zusammen, bis das Bild auf der Leinwand, das sie am Tag zuvor gemalt hatte und von dem Pegeen so schwärmte, verschwamm und sie nur noch farbige Umrisse erkennen konnte. Und zu viel Grün. 

»Oh ja«, beteuerte Pegeen. »Es ist ja, als ob du imstande wärst, ihre kleinen Seelen einzufangen!« 

Maggie lachte. »Wohl kaum! Wenn ich das getan hätte, würde Lizzie ganz anders aussehen. So sieht sie viel zu lieb aus –«

»Wie meinst du das, zu lieb?« Pegeen nahm die Leinwand, die nur fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter groß war, und hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich hoch. Sie war immer noch so entzückt, dass sie nicht wegsehen konnte. »Lizzie sieht vollkommen hinreißend aus. Und John auch. Oh, und sieh dir Marys kleinen Schmollmund an! Und Alistairs Kinn. Du hast es genau getroffen! Ich habe gewisse Leute sagen hören, Alistair hätte ein trotziges Kinn, aber weißt du, es ist nur markant, das ist alles.«

Maggie hob ihren Blick und betrachtete das Gesicht ihrer Mutter, die in einem schmiedeeisernen Gartenstuhl Pegeen gegenüber saß. Lady Herberts Lächeln war ebenso vielsagend wie Maggies. Das Kinn aller Sprösslinge der Rawlings war natürlicherweise stur nach vorn gereckt, eine unbewusste Imitation des Gesichtsausdrucks ihrer Mutter, wenn sie besonders störrisch war. Dass Pegeen sich weigerte, sich dies einzugestehen, sorgte unter ihren Freunden und Nachbarn für einige Belustigung.

»Oh Maggie«, seufzte Pegeen, die immer noch außerstande war, ihren Blick von dem Porträt abzuwenden. »Es ist einfach wunderschön. Ich weiß nicht, wie du das machst.«

»Ich weiß auch nicht, wie sie das macht.« Lady Herbert beugte sich vor, um sich auf dem kleinen Klapptisch, der zwischen den Gartenstühlen aufgestellt worden war, eine weitere Tasse Tee aus dem silbernen Teegeschirr einzugießen. Da Pegeen guter Hoffnung war – allerdings nicht so weit fortgeschritten wie Maggies ältere Schwester Anne, die Lady Herbert gegenübersaß und ihre Teetasse auf der großzügigen Wölbung ihres Bauches balancierte –, hatte die ältere Frau automatisch die Aufgaben der Gastgeberin übernommen. Zwar waren sowohl Lady Herbert als auch ihre Töchter Gäste des Anwesens, in dem Sir Arthur, Maggies Vater, als Berater für den jungen Herzog arbeitete. Doch die Herberts verbrachten so viel Zeit in Rawlings Manor, dass Maggie es seit langem als ihr zweites Zuhause betrachtete und dazu neigte, sich auch so zu verhalten – eine Tatsache, die der ausgesprochen damenhaften Anne nicht unbedingt passte. Vor allem, wenn sie ihre jüngere Schwester dabei erwischte, wie sie die Treppengeländer herunterrutschte, was bis vor einem oder zwei Jahren nur allzu häufig vorgekommen war.

»Sie hat ihr Talent sicherlich nicht von mir geerbt«, verkündete Maggies Mutter und rührte Zucker in ihren Tee. »Es muss von der väterlichen Seite der Familie stammen.«

»Papa?« Anne wirkte, als fühle sie sich unwohl – so wie immer, wenn der talentierte Umgang ihrer Schwester mit Pinsel und Farbe erwähnt wurde. »Sicher nicht! Niemand auf Papas Seite der Familie hat je das Malen angefangen. Meine Güte, Mama, wie kannst du so etwas sagen?« 

Maggie richtete ihren Blick wieder auf das kleine Porträt, das sie abgeliefert hatte und schüttelte ihren Kopf. »Nein, Lizzies Lächeln passt nicht«, sagte sie zu sich selbst. »Nicht annähernd schelmisch genug.« Leider hörte Lizzies Mutter das.

»Schelmisch!«, rief Pegeen und drückte das Gemälde an ihre Brust, als fürchtete sie, Maggie könne versuchen, es ihr für einige Änderungen zu entreißen. »Unsinn. Meine Tochter ist keinen Deut schelmisch. Sie ist ein kleiner Engel. Es sind alles Engel.« Als sie erkannte, dass Maggie nicht die Absicht hatte, ihr Geschenk wieder zurückzuholen, wagte Pegeen noch einen Blick und ergoss sich sofort in weitere Verzückungen. »Oh, Anne, schau wie sie Johns Augen gemalt hat. Hast du je etwas so Frappierendes gesehen?« 

Maggie, die immer noch nicht überzeugt war, wandte ihren Blick von dem Gemälde ab und schaute in den Garten, wo Pegeens »kleine Engel« gerade damit beschäftigt waren, eines der Rosenbeete zu verwüsten. Sie hatten bei ihren Bemühungen Unterstützung von Annes Kindern, wobei Maggies wohlerzogene Nichten und ihr Neffe deutlich weniger ungestüm waren als die Rawlings-Brut. Ungefähr fünfzehn Findelkinder des Rawlings-Waisenhauses, die Lady Pegeen anlässlich des Maifeiertages mit einem Picknick in den Gärten des Anwesens bewirtete, vervollständigten das Spektakel. Ein einziger Blick auf Pegeens und Edwards ältestes Kind zeigte Maggie, dass sie sich tatsächlich geirrt hatte, was den Liebreiz anging. Elizabeth Rawlings war ein hübsches Mädchen, aber offensichtlich so eigenwillig wie ihre Eltern. Dies wurde durch den Dreckklumpen belegt, den sie in Richtung ihres Bruders John warf, weil es ihm misslang, ihre Anweisungen auszuführen.

»Und hast du es geschafft, deinen Vater zu überreden, dass er dich diese Pariser Kunstschule besuchen lässt, von der du mir erzählt hast, Maggie?«, wollte Pegeen wissen.

»Nein«, sagte Maggie. Sie konnte nicht verhindern, dass eine Spur Missmut sich in ihre Stimme mischte. »Er hat schreckliche Angst, dass ich mich, sobald ich ohne Begleitung englischen Boden verlasse, verführen und nach Marokko verschleppen lasse, wo ich sicher als Sklavin an einen arabischen Prinzen verkauft werde.«

»Maggie!« Annes ließ ihre Teetasse auf den Unterteller krachen. 

Lady Herbert stimmte ihrer ältesten Tochter zu, allerdings mit deutlich sanfterer Stimme: »Wirklich, Maggie. Wovon um alles in der Welt sprichst du? Dein Vater denkt nichts dergleichen.« 

»Das tut er allerdings«, sagte Maggie und lehnte sich seufzend gegen den Stamm des Kirschbaumes. »Papa ist sich meiner sonderbar fleischlichen Neigungen durchaus bewusst.« 

»Maggie!« Annes Wangen hatten sich vor Scham purpurrot gefärbt. »Wie oft muss ich dich noch bitten, in der Öffentlichkeit keine Worte wie ... wie« – sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern – »fleischlich zu benutzen?« Sie wandte sich Pegeen zu und bat sie inständig: »Oh, bitte, hören Sie auf zu lachen, Lady Edward. Sie werden sie nur bestärken.«

»Oh!« Pegeen wischte sich die grünen Augen, in denen Lachtränen standen. »Oh, Liebes! Maggie, meine Liebe, du darfst keine – du darfst wirklich keine solchen Wörter benutzen. Du wirst dir noch deinen guten Ruf verderben –« 

»Bei wem denn?«, fragte Maggie angewidert. »Bei den hiesigen Gutspächtern? Ich glaube kaum, dass sie sich darum scheren, ob ich das Wort fleischlich benutze oder nicht.« 

»Nicht bei den Pächtern, Maggie, Liebes«, sagte Lady Herbert leise. »Bei jungen Männern.« 

»Welchen jungen Männern?« Maggie drehte sich um und begann, mit einem spitzen Stock, den sie auf der Frühlingswiese im frischen Gras gefunden hatte, die Rinde vom Stamm des Kirschbaums zu kratzen. »Die einzigen jungen Männer, die es hier gibt, sind die Schafshirten und ich wette, dass es nicht viel gibt, was sie über Fleischlichkeit nicht wissen.« 

»Maggie!« Anne sah aus, als hätte sie ihre kleine Schwester am liebsten gekniffen. Leider waren ihr aufgrund der beträchtlichen Größe ihres Bauches schnelle Bewegungen unmöglich und sie wusste aus Erfahrung, dass sie in der Tat sehr schnell sein musste, wenn sie Maggie kneifen und der darauffolgenden Backpfeife entgehen wollte. »Herrgott nochmal!« 

Maggie zuckte mit den Schultern. »Na ja«, sagte sie. »Es ist nur die Wahrheit.« 

»Ja, aber du bist jetzt fast siebzehn, Liebes.« Anne musste sich offensichtlich zwingen, ihre Stimme ruhig zu halten. »Du wirst nächstes Jahr in die Gesellschaft eingeführt werden. Die jungen Männer, die du während deiner ersten Saison in London treffen wirst, werden sicher nichts über deine ... äh ... Neigungen hören wollen.«

»Eigentlich«, warf Pegeen nachdenklich ein, »bin ich mir ziemlich sicher, dass sie schrecklich gerne davon hören würden, aber ich bin nicht sicher, dass es etwas ist, mit dem Maggie hausieren gehen sollte ...« 

»Da hast du’s«, verkündete Anne. »Hast du gehört, Maggie? Hör auf Lady Edward. Das habe ich schon die ganze Zeit versucht, dir zu sagen. Wenn du in London einen Ehemann finden willst, wirst du anfangen müssen, dich mehr wie eine Dame zu benehmen –« 

»Ich will mich nicht wie eine Dame benehmen«, murmelte Maggie. Ihre volle Aufmerksamkeit ruhte auf dem Loch das sie in den Baumstamm geritzt hatte. »Jedenfalls nicht, wenn das heißt, den ganzen Tag nichts zu tun, als Kleider anzuprobieren«, sie grunzte, als ein großes Stück Rinde unter der Spitze ihres Stock nachgab, »und mir die ganze Nacht die geistlosen Unterhaltungen von blödsinnigen Baronets anzuhören –«

»Was machst du da mit dem Baum?«, fragte Lady Herbert nachdrücklich. »Komm, setz dich hin und leg den dreckigen Stock weg.« 

Maggie ließ den Stock fallen, aber sie setzte sich nicht hin. Stattdessen drückte sie ihren Rücken gegen das Loch, das sie in den Baumstamm gekerbt hatte. Sie wusste nicht, warum sie das Bedürfnis gehabt hatte, ihre Aggressionen an einem unschuldigen Baum auszulassen, aber sie dachte, dass der Baum alles in allem eine bessere Wahl wäre als ihre ältere Schwester. 

»Wenn du dich nicht wie eine Dame benehmen willst, Margaret«, erkundigte sich Maggies Mutter mit einiger Belustigung, »was willst du denn dann machen?« 

»Das habe ich dir doch gesagt, Mama.« Maggie seufzte. »Ich möchte malen. Das ist alles, was ich will. Und ich möchte zu Madame Bonheur gehen, um zu lernen, wie man es richtig macht.« 

Lady Herbert hob ihren Blick zum Himmel, aber es war Anne, die herausplatzte: »Aber Madame Bonheurs Kunstschule steht außer Frage! Mama, du musst es ihr sagen und bleib dieses Mal standhaft. Maggie darf nicht die Erlaubnis bekommen –«

»Aber warum?« Pegeen klang ungeduldig. Maggie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Es war, als würde Lady Edward Rawlings stets etwas Neues finden, für das sie sich einsetzen konnte, und heute hatte sie sich Maggie ausgesucht. »Warum steht das außer Frage? Es ist wirklich irrsinnig, ein Talent wie das deiner Schwester zu verschwenden, Anne. In Wahrheit ist Maggie tausendmal begabter als das alberne Malerchen, das Edward letztes Jahr angeheuert hat, um mich zu porträtieren. Seht euch die Farben in dem Bild an, das sie von den Kindern gemalt hat.« Pegeen hielt die Leinwand hoch, sodass die anderen Frauen sie betrachten konnten. »Die Art und Weise, wie sie sie zusammengestellt hat, dass jedes aussieht wie ein einzigartiges Juwel. Und wie sie die Gesichtsausdrücke der Kinder eingefangen hat – doch, das ist präziser als auf jedem Daguerreotyp!« 

»Ich gebe dir da vollkommen recht, Pegeen«, sagte Lady Herbert ein wenig müde. »Aber –«

»Sir Arthur hat doch nicht etwa die altmodische Einstellung, dass man für die Ausbildung eines Mädchens kein Geld verschwendet, oder?«, hakte Pegeen nach. »Denn falls doch, werde ich sehr gern persönlich rüber nach Herbert Park gehen und ihn aufklären –« 

»Es ist nicht nur deswegen, Pegeen«, sagte Anne ernst. »Papa sieht es nicht gern, wenn Frauen einem Beruf außerhalb des Haushalts nachgehen und dann auch noch Kunst – Himmel! Wenn das Thema nur erwähnt wird, ist er einem Herzanfall nahe! Aber ich muss sagen, ich kann ihm nur zustimmen. Es ist wirklich skandalös, wie viele Mädchen nach London gehen, um ein Leben als Krankenschwester oder Sekretärin oder Lehrerin – oder ach, ich weiß nicht als was noch alles – zu führen! Aber ich nehme an, sie können nicht anders – sie müssen arbeiten, du weißt schon, um auszukommen. Aber Maggie? Sie muss gar nicht arbeiten. Sie will es einfach und das ist natürlich vollkommen lächerlich. Jeder weiß, dass die Mutterschaft der einzige Beruf ist, der für Frauen geeignet ist –« 

»Ja, meine Liebe«, unterbrach Lady Herbert und lächelte geduldig. »Wir kennen alle deine Meinung zur Bedeutung der Mutterschaft. Aber ich glaube, die Bedenken, die euer Vater gegen Maggies Weggang hegt, liegen hauptsächlich daran, dass sie die Jüngste von euch Mädchen ist. Sie ist die Einzige, die noch zuhause ist.« Lady Herbert lächelte Maggie liebevoll an, die zu den Kirschblüten über ihrem Kopf schielte. »Keiner von uns ist wirklich bereit, sie einfach so erwachsen werden zu lassen.« 

»Na ja, irgendwann werdet ihr sie aber gehen lassen müssen«, sagte Pegeen. »Ich meine, falls sie in der nächsten Saison in die Gesellschaft eingeführt wird.« 

Lady Herbert stieß einen leidenden Seufzer aus und führte einen Bissen Kuchen zum Mund. »Und so wie ich Maggie kenne«, seufzte sie, nachdem sie die Gabel wieder auf dem Teller in ihrem Schoß abgelegt hatte, »wird sie jede Minute davon hassen wie die Pest.« 

Pegeen lachte nicht. »Natürlich wird sie es hassen. Ein Mädchen wie Maggie –« 

»Ein Mädchen wie Maggie wird nicht mal eine Minute in London bestehen«, unterbrach Maggie sie, genervt davon, dass jeder über sie, aber nicht mit ihr redete. »Die haut monde wird sie zerreißen. Die anderen Mädchen werden über sie lachen, weil sie zu groß und zu laut ist und Farbe unter den Fingernägeln hat und die Männer werden, falls sie ihr überhaupt ein bisschen Aufmerksamkeit schenken, von der Tatsache angewidert sein, dass sie Wörter wie fleischlich bei Konversationen in der Öffentlichkeit benutzt.«

»Oh nein«, rief Pegeen. »Sicher nicht, Maggie! Du bist doch so überaus hübsch mit dem vollen dunklen Haar und den großen braunen Augen. Du bist weitaus hübscher als die älteste Tochter der Smythes und schau, wie gut sie sich verheiratet hat ...« 

»Welche Rolle spielt es, wie sie aussieht?«, fragte Anne eindringlich. »In der Sekunde, in der sie ihren Mund aufmacht, beginnt das Zimmer sich zu leeren. Sie ist viel zu forsch –« 

»Das ist sie nicht«, protestierte Pegeen. »Sie sagt bloß ihre Meinung. Das hat sie schon immer getan.« Sie drehte den Kopf, um Maggies Lächeln zu erwidern. »Das mag ich so an ihr.« 

Im Gegensatz zu ihr hatte Anne kein Lächeln für ihre jüngere Schwester übrig. »Sie sagt das, was ihr als erstes in den Kopf kommt, ohne über die Folgen nachzudenken, und zwar immer dann, wenn niemand sie nach ihrer Meinung gefragt hat.«

»Sie ist erfrischend aufrichtig«, sagte Lady Herbert, um Maggie zu verteidigen. 

»Mutter, sie hat keinen Sinn für Anstand, nicht mal einen Hauch! Neulich habe ich sie erwischt, wie sie den Saum ihres Kleides in den Bund ihrer Unterwäsche gestopft hatte und einen Baum hochkletterte!« 

Die Gesichter aller drei Frauen wandten sich anklagend in Maggies Richtung. Sie richtete sich auf und sagte mit so viel Würde, wie sie aufbringen konnte: »Ich brauchte Blüten. Für ein Stillleben, an dem ich gearbeitet habe.« 

»Margaret«, rief ihre Mutter, »Wirklich, manchmal gehst du doch ein wenig zu weit. Du hättest den Gärtner bitten können, dir einen Blütenzweig zu holen.« 

»Ich glaube«, sagte Maggie und schluckte, »ich sollte einmal nachsehen, was die Kinder treiben.«

»Ich denke, das solltest du, Liebes«, stimmte ihr Lady Herbert so bereitwillig zu, dass es für Maggie offensichtlich war, dass ihre Mutter die feste Absicht hatte, über sie zu reden, sobald sie sich außer Hörweite befand. 

Mit einem Seufzer stieß sich Maggie von dem Baum ab und schlenderte in die Richtung, aus der sie die Kinder rufen hören konnte. Es war für einen Tag im Mai ungewöhnlich heiß und das erste Mal in diesem Frühling richtig warm. Maggie hatte sich seit dem Morgen irgendwie träge gefühlt. Sie wusste, dass diese Trägheit teilweise aus Langeweile entstanden war. Seit sie das Porträt der Rawlings-Kinder beendet hatte, hatte sie nicht mehr wirklich etwas zu tun und keine neuen Projekte in Aussicht. Oh, da gab es das Porträt, das die alte Freifrau zu Ashforth machen lassen wollte, aber das war von zwei Katzen und Maggie hatte kein großes Interesse daran, Katzen zu malen. Menschen zu malen war sehr viel herausfordernder: ihren Gesichtsausdruck genau zu treffen und eine exakte Wiedergabe zu erreichen, ohne sie aber zu kränken ... ja, das war spannend. Katzen waren einfach zu leicht.

Als sie sich den Kindern näherte, sah sie, dass Elizabeth, deren Lächeln sie zu liebreizend dargestellt hatte, sich den Kopf ihres Bruders unter dem Arm geklemmt hatte. Ihr Kindermädchen und die Aufseherin des Waisenhauses waren nirgendwo zu sehen. So wie sie die Kinder kannte, wäre Maggie nicht überrascht gewesen, zu erfahren, dass sie die arme junge Frau geknebelt und gefesselt im Gestrüpp der Büsche zurückgelassen hatten. Seufzend hob sie den Saum ihres weißen Musselinkleides an und eilte zu ihnen, um den kreischenden kleinen Jungen aus der Tyrannei seiner Schwester zu befreien. 

»Aber er sagt die ganze Zeit, er wäre der Premierminister«, erklärte Lizzie, als Maggie sie zurechtwies. »Und ich sollte heute der Premierminister sein. Mama hat gesagt, ich darf!«

»Aber Mädchen können keine Premierminister sein«, widersprach John. »Das hat Papa gesagt!« 

Maggie, die sich an ähnliche Diskussionen zwischen ihr und dem Herzog von Rawlings vor einigen Jahren erinnerte, sah zu John herunter und sagte: »Warum spielen wir heute nicht etwas anderes als Parlament? Was hältst du davon, wenn ich dir das Spiel zeige, das dein Cousin Jerry und ich immer gespielt haben, als wir klein waren?« 

Lizzie, die den Hals recken musste, um Maggie ins Gesicht zu schauen, wirkte neugierig. »Willst du etwa sagen, dass du auch mal klein warst?«, fragte sie ungläubig. »Du bist so riesig!« 

Maggie versuchte, ihren Unmut zu kaschieren und murmelte: »So groß bin ich auch wieder nicht.« 

»Doch, bist du wohl«, verkündete John. »Du bist größer als Papa.« 

»Ich bin nicht größer als euer Vater«, sagte Maggie zunehmend gereizt. »Vielleicht als eure Mutter, aber nicht als euer Vater.« 

»Bist du wohl«, sagte John voller Überzeugung. »Das ist sie doch, oder, Lizzie?« 

Elizabeth betrachtete Maggie von oben und unten und sagte schließlich: »Nein, das ist sie nicht. Aber sie ist trotzdem sehr groß. Für ein Mädchen jedenfalls.« 

Maggie spürte, wie sie errötete und war zugleich wütend auf sich selbst, weil sie zuließ, dass das unschuldige Geplapper von Kindern sie ärgerte. Sie wusste, dass sie zu empfindlich war, was ihre Größe anging. Was machte es schon, dass sie in ihrer Schule immer das größte Mädchen war? Wenigstens hatte sie inzwischen aufgehört, zu wachsen. Mit gut einssiebzig – der Größe, die sie im Alter von zehn Jahren erreicht hatte – war sie größer als ihre Mutter und all ihre Schwestern und nur wenig kleiner als ihr Vater.

Aber zweifellos hatte es auch Vorteile, so groß zu sein. Sie wusste, dass sie in den neuen Turnüren, die gerade Mode waren, wirklich sehr gut aussah. Die Form – vorne flach und hinten aufgebauscht – schmeichelte ihrer kurvigen Figur. Außerdem konnte sie sich immer darauf verlassen, dass sie im Handelskontor auch an die Artikel auf den obersten Regalen herankam, was beim Einkaufen sehr nützlich war. 

»Hört mal«, sagte Maggie zu den Rawlings-Kindern. »Als euer Cousin Jerry und ich jünger waren, spielten wir oft ein Spiel namens Maharadscha und das hat wirklich Spaß gemacht. Einer von euch kann der indische Prinz oder die indische Prinzessin sein. Ein anderer ist der furchtlose englische Forscher, den der Maharadscha gefangen nimmt und an einen Pfahl bindet, um ihn als Opfer für einen heidnischen Gott lebendig zu verbrennen. Und der Rest von euch kann die britischen Soldaten spielen, die versuchen, ihn zu retten, oder Wilde, die um den brennenden Scheiterhaufen tanzen und versuchen, die Soldaten mit vergifteten Pfeilen abzuschießen. Hört sich das nicht spannend an?« 

»Ich werde der Maharadscha sein«, verkündete Lizzie. 

»Nein«, rief John, »ich!« 

»Du«, sagte Lizzie ruhig, »kannst der furchtlose Forscher sein.« 

John wurde auf der Stelle wütend, genau wie Jeremy damals, wenn Maggie darauf bestanden hatte, dass er der Forscher sein sollte. Weil sie das Gefühl hatte, sie hätte ihre Pflicht getan, drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zurück zu den Frauen, die im Schatten des Kirschbaumes Platz genommen hatten. Allerdings ließ der Klang ihrer Stimmen sie auf halbem Wege innehalten.