Cordula Neuhaus

Lass mich, doch verlass mich nicht

ADHS und Partnerschaft

 

 

 

 

Originalausgabe 2005
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40448 - 8 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 34106 - 6

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Inhaltsübersicht

Vorwort: ADHS – Auf der Suche nach Hilfe?

Einleitung: Der zunehmende Erkenntnisgewinn – oder: »Bitte, die Hoffnung nicht aufgeben!«

Der derzeitige Wissensstand – ein Störungsbild im Wandel der Erkenntnis?

Es wird spannend!

ADHS – die Störung der ungebremsten Emotion?

Und was könnte das bedeuten?

Die Symptomatik von ADHS im Erwachsenenalter – ganz anders als bei Kindern?

Die Diagnostik von ADHS im Erwachsenenalter

Differenzialdiagnostik und Comorbiditäten

Irgendwann hat alles begonnen – oder: »Das Leben ist ungerecht!«

Kommunikationsmuster bei ADHS

Die Identitätsentwicklung bei ADHS – oder: »Lass mich, aber hilf mir trotzdem!«

ADHS und die Paarbeziehung – oder: »Es beginnt immer wieder neu …«

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

ADHS und Sexualität – wunderschön und sehr kompliziert

ADHS und das leidige Thema Eifersucht

Kleine Dramen entstehen aus typischen Symptomen

»Ordnungsprinzipien«

Falschparken und andere Autogeschichten

ADHS und Beruf

ADHS und die Gesundheit – alles ein bisschen anders?

Bewältigungsstrategien – oder: »Gehe ich jetzt gleich zum Psychiater oder trinke ich erst einmal eine Tasse Kaffee?«

Ordnung ist das halbe Leben?

Was habe ich meinen Eltern zu verdanken?

Wenn ich nicht meine Großmutter gehabt hätte

Und nun? – Voraussetzungen für den besseren Umgang mit sich und anderen

Zeitmanagement und Einstellungsänderungen

Der trickreiche Umgang mit »Zwischenbeschäftigungen«

Der Umgang mit dem lieben Geld

Aufschreiben und Selbstgespräch

Wenn es unerwartet schwierig wird – Hilfe durch Mikroanalysen

Techniken aus dem ADHS-Nähkästchen

Das Spiel mit dem Blick

Tipps für die Kommunikation und den Umgang mit dem Gefühlschaos

Leitsätze hinterfragen

Erwachsen werden und sein

In Ordnung, aber wenn mein Partner es nicht einsieht?

Und bei wirklich harter Auseinandersetzung?

Zauberformel Störungsbildverständnis

Medikation – ein leidiges Thema, aber oft so hilfreich

Und so kann es auch gehen – Zukunftsmusik?

Literatur

Vorwort

ADHS – Auf der Suche nach Hilfe?

»Die Schule interessierte mich nicht wirklich, dafür hatte ich häufig einen munteren Spruch auf Lager, was nicht jeden Lehrer freute.

Meine Schrift war angeblich grauenhaft, Hausaufgaben machte ich eher selten. Ich hatte auch immer irgendetwas vergessen und musste viel nachsitzen – nun, wie mein Sohn eben. Dass aus mir doch noch etwas geworden ist, verdanke ich vermutlich meiner Mutter und zwei Lehrern, ein paar glücklichen Zufällen und der Tatsache, dass ich einen Beruf ausüben kann, der mir wirklich Spaß macht. Und ich bin froh, dass man meinem Sohn jetzt schon helfen kann.«

Ein Erwachsener mit ADHS

 

Trotz des an sich erfreulich großen Bekanntheitsgrades des Störungsbilds und seiner Behandlung wird die derzeitige Diskussion über ADHS in der Presseberichterstattung, leider aber zum Teil auch in der fachlichen Auseinandersetzung seitens einiger Experten der Medizin, Psychotherapie und Pädagogik in immer schärferem Ton geführt – verwirrend selbst für Fachleute, die sich neu in das Thema einarbeiten wollen, und natürlich erheblich irritierend und verunsichernd für Betroffene.

 

»Man kann doch jetzt nicht alles mit ADHS erklären wollen!«

So äußerte sich auf typische Weise der Vater eines aus seiner Sicht lediglich »faulen« Jugendlichen, der nichts für die Schule tun »will«, aber stundenlang auf hohem Niveau Homepages am PC »bastelt«. Ähnlich reagieren skeptische Lehrer, Psychologen oder Ärzte angesichts der komplexen und vielschichtigen Problematik bei ADHS (auf jeder Altersstufe ähnlich und doch auch wieder ganz anders), der Fähigkeit beispielsweise, in manchen Situationen durchaus sehr gut »funktionieren« zu können, in anderen Situationen aber offensichtlich regelrecht unfähig zu sein, den eigenen Erwartungen oder denen anderer zu entsprechen.

 

»Ich bin es leid, es immer wieder erklären zu müssen!«

Dies ist die ebenso typische Äußerung einer Mutter zur Notwendigkeit, in jedem Schuljahr aufs Neue den Lehrern die störungsbildspezifischen Handikaps ihrer beiden Söhne erklären zu müssen. Die gleiche Aussage macht sie aber auch über die Gespräche, die sie mit Psychotherapeuten und Ärzten auf der Suche nach zielführender Hilfestellung für sich selbst geführt hat und die sie als frustrierend erlebte. Sie kommt nicht mit dem Argument zurecht, dass ja »an sich jeder einmal nervös oder launisch« sei und Konzentrationsprobleme habe.

Hilfen zur Selbsthilfe im »Kampf mit dem Chaos« und »zur Verbesserung der Konzentration« fruchten genauso wenig: So empfindet sie auch die zwölf Prinzipien der »Anonymen Messies« als nicht hilfreich, wenn es da zum Beispiel heißt: »Ich schulde es mir selbst, ein geordnetes Leben zu leben, weil Ordnung meine Selbstachtung fördert und Unordnung sie zerstört.« Regelpläne für ihre Kinder hat sie schon ausprobiert, To-do-Listen für sich selbst, und sie weiß mittlerweile gut, was sie tun soll: Sie soll »ihr Tempo verlangsamen«, »ihrer Neigung entgegenwirken, sich ablenken zu lassen« und »sich nicht zu sehr in Ordnung oder Unordnung, Kontrolle oder mangelnde Kontrolle, Hoffnung oder Verzweiflung hineinsteigern«.

 

»Schon am frühen Morgen ist es mir einfach zu viel!«

Das heißt für sie, dass sie sich schlecht motivieren kann – auch nicht mit einem Satz wie dem folgenden aus dem Zwölf-Schritte-Programm der »Anonymen Messies«: »Ich werde jeden Funken Begeisterung am Leben erhalten, um mich nicht durch den Haushalt, andere Menschen oder mein eigenes Zaudern des Herzens entmutigen zu lassen« –, wenn sie selbst morgens noch nicht richtig »angelaufen« ist, die Kinder schon streiten, Hektik entsteht, lauter Fragen beantwortet werden sollen, gerechte und überlegte Entscheidungen getroffen werden müssen, weil der eine Sohn sich bereits zu dieser Uhrzeit persönlich zurückgesetzt fühlt und der Meinung ist, dass der Bruder erst gestern als Erster im Badezimmer war 

 

Bereits Ende der 80er Jahre fragten mich immer häufiger Eltern während oder nach intensiven Elterntrainings-Wochenenden (mit Schwerpunktlegung vor allen Dingen auf das funktionelle Verstehen der Symptomatik), ob es denn eigentlich auch Erwachsene gebe, die sich, genau wie die Kinder, blitzartig von einer unerwarteten Situation überwältigt fühlten und damit zu kämpfen hätten, dann nicht sofort gereizt zu reagieren. Wie ihr Kind ertappten sie sich manchmal auch selbst bei einer vorschnellen Äußerung und machten unüberlegt ein Zugeständnis – das vom Kind dann gleich als ein Versprechen oder eine bestehende Regel interpretiert wurde und damit schwer wieder zu relativieren war. Sie übernahmen privat oder im Beruf Aufgaben, bei denen sie sich über die Langzeitkonsequenzen im Moment der Zusage gar nicht konkret »im Klaren« waren und erst hinterher bemerkten, »was sie davon hatten«…

Es sei so schwer, einen konsequenten Erziehungsstil durchzuhalten, selbst wenn man es wirklich wolle, und dabei gelassen und ruhig zu bleiben. Natürlich war in der Elternberatung, die im Rahmen der Kindertherapie stattfand, auch schon früher aufgefallen, dass der eine oder andere Elternteil selbst immer wieder dazwischenplatzte, heftig emotional überreagierte, immer das letzte Wort haben »musste«, blitzschnell von einer Problematik, die man selbst noch nicht vollständig geklärt wähnte, auf ein anderes Problem zu sprechen kam – oder trotz aller Bemühung seitens des Beraters irgendwie »vergessen« hatte, was man in der letzten Sitzung zusammen erarbeitet hatte 

Damals war der Fokus meiner Aufmerksamkeit (und der vieler anderer erfahrener Behandler auch) jedoch darauf gerichtet, überhaupt erst einmal Verständnis bei den Eltern und Lehrern für das »andere« Funktionieren der Kinder und Jugendlichen zu erringen. Es ging darum, in einer Zeit, in der in deutschen Schulen immer früher selbstständiges, eigenmotiviertes Lernen im Team gefordert wurde, für Akzeptanz von ADHS zu werben.

Als Therapeut beziehungsweise Therapeutin war man damit beschäftigt, den Eltern im Umgang mit den Kindern aufzuzeigen, dass durch Schimpfen, Kritisieren und Strafandrohungen nicht nur Abwehr ausgelöst wird, sondern die Kinder regelrecht »blockiert« werden: Ihre Stimmung fällt sofort ab, und zeitgleich die Fähigkeit, sich zu aktivieren, was leider »bockig« wirkt. Des Weiteren musste man erläutern, dass auch Ignorieren oder Nachgiebigkeit kontraproduktiv wirken, mit der unmittelbaren Folge vermehrten Forderns und gesteigerter Aggressivität. Wir hatten die Hoffnung – und waren dabei wohl selbst ein bisschen »blind und taub« –, dass durch Erklärungen und Hilfestellungen zur Einstellungsänderung (wie mit dem Vorstellungsbild des Bären Balou für Ruhe und Gelassenheit, vgl. Neuhaus 1996) Eltern dazu bewegt werden könnten, für die Kinder einschätzbarer zu werden und einen liebevoll-stur-konsequent-gleichmäßigen Umgang mit ihnen zu entwickeln.

Zur Erleichterung boten wir Regelpläne an, mit deren Hilfe die Routinen mit den Kindern gut eingeübt werden konnten – prinzipiell. Verstärkt wurden sie durch Belohnungspunkte, die regelmäßig direkt nach Erfüllung der Aufgabe und über einige Monate hinweg gegeben werden sollten, bis sich die Abläufe »verautomatisiert« hatten. In vielen Fällen klappte das ganz gut, bisweilen nicht – aber nicht nur, weil die Kinder »den Aufstand« probten, sondern weil die Erwachsenen einfach vergaßen, die Regeln wirklich täglich im freundlichen Ton gleichmäßig einzufordern sowie zeitnah unaufgeregt die Bilanz über Erfüllung und Nichterfüllung zu ziehen. Oft wurde es für einen Elternteil »auf Dauer« sichtlich »zu anstrengend«, dies durchzuführen. Manchmal wurde es auch nicht durchgehalten, weil andere gewichtige Fachleute meinten, man dürfe Kinder doch nicht so »gängeln«.

 

Bei der rasanten Zunahme von Daten, die jedes Individuum im Rahmen der Hochtechnologieentwicklung der beginnenden 90er Jahre zu verarbeiten hatte, ergänzt durch vielfältige Umstrukturierungen der Arbeitsplätze, Leanmanagement, Benchmarking, Qualitätssicherung etc., schilderten Eltern zunehmend spontan auch bei sich selbst Vergesslichkeit und Überforderung sowie deren zum Teil gravierende Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, die Effektivität im Beruf und leider auch auf die Partnerschaft – von anderen oft sehr deutlich registriert und benannt! Die Entwicklungsgeschichten und oft sogar die Verhaltensbeobachtungen in der nun immer häufiger eingeforderten Erwachsenendiagnostik ähnelten sehr denen der Kinder: Erwachsene werteten sich beispielsweise im Intelligenztest genauso spontan ab wie sie: »Oje, in Mathe war ich immer eine Niete, das kann ich ganz sicher nicht!« etc.

1988 baten mich erstmals einige sehr engagierte, deutlich selbst betroffene Elternteile um die Gründung einer Erwachsenengruppe: Sie wollten sich selber besser verstehen lernen und abgleichen können, wie es anderen Betroffenen geht. Sie äußerten die Hoffnung auf ganz gezielte Hilfestellung – vor allen Dingen für das Zusammenleben mit denen, die sie liebten, mit denen sie aber immer wieder nicht klarkamen: Partner und Kinder. Sie verstanden sie oft nicht und fühlten sich umgekehrt von ihnen nicht richtig verstanden.

Je größer die Erfahrung mit Betroffenen wurde, desto mehr zeigte sich, dass sich nicht nur Kinder und Jugendliche mit ADHS regelrecht gegenseitig anzuziehen schienen – mit Ausleben bisweilen regelrechter »Hass-Lieben«. Bei genauerer Betrachtung in den letzten Jahren erwies sich außerdem, dass offensichtlich Menschen mit ADHS auch bei der Partnerwahl überzufällig häufig »unter sich bleiben«, wobei sich die Partner unterschiedlichen, zum Teil auch nur diskreten Ausprägungsformen zuordnen ließen, was zunächst nicht so leicht erkennbar war.

Die ersten öffentlichen Äußerungen darüber riefen heftigen Widerstand hervor: »Sie sieht überall nur noch ADHS!« Inzwischen berichten Krause und Krause 2003 in ihrem klaren Lehrbuch über Erwachsene mit ADHS, es bestehe eine außerordentlich große Wahrscheinlichkeit, dass ADHS genetisch verursacht werde. Sie schreiben: »Hochwahrscheinlich wird eine ADHS beim Kind dann, wenn beide Eltern deutlich betroffen sind.« Der aktuelle Stand der Forschung belegt dies nun immer mehr (Barkley 2004).

Auswirkungen dieser konstitutionell bedingten Neurodynamik bei ADHS (die zu einer spezifischen Regulierungsdynamik führt und damit dann zu einer ganz spezifischen Psycho- und Funktionsdynamik) erweisen sich immer sicherer auch für das Erwachsenenalter als »Hochrisiko« nicht nur für die eigene Entwicklung, sondern speziell auch für die Beziehungsgestaltung – und dies trotz aller positiven Aspekte, die der Wahrnehmungsstil von ADHS ja auch in sich birgt, wie die oft verblüffende Kreativität, die Beharrlichkeit bei großem Interesse, die häufig zu erstaunlichen Erfolgen führt, die nicht selten als einzigartig empfundene Hilfsbereitschaft, der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn und vieles mehr.

Fast entlastend wirkte die Feststellung von Barkley 1996, dass die Ehezufriedenheit bei Erwachsenen mit ADHS deutlich niedriger sei als bei Nichtbetroffenen, die Trennungs- und Scheidungsrate dagegen deutlich höher! Denn auch in meiner eigenen gutachterlichen Tätigkeit für Familiengerichte sah ich mich in hochstrittigen Sorgerechts- und Umgangsrechtsverfahren immer wieder mit ganz typischen und mir sehr vertrauten Kommunikationsmustern konfrontiert. Die Auswirkungen auf die Bindungs- und Beziehungsentwicklung von Kindern in diesem Zusammenhang wurde bereits ausführlich dargestellt (vgl. Neuhaus 2003).

Eine merkwürdige Form der Selbsterfahrung (und der Validierung, das heißt der generalisierbaren Gültigkeit) machte ich auf einem Kongress der Selbsthilfegruppe AÜK in Hannover 1993 bei der Schilderung der Symptomatik Erwachsener mit ADHS durch: Von Betroffenen, die ich noch nie gesehen hatte, kam ungewöhnlich viel bestätigendes Feedback. Bei einem Referat über die Probleme bei ADHS in der Paarbeziehung auf dem Kongress in Bad Boll 1999 musste ich fast erschrocken registrieren, dass es plötzlich mucksmäuschenstill geworden war und viele Zuhörer zu Taschentüchern griffen. Ähnlich irritierte die heftige, bestätigende emotionale Reaktion anlässlich eines Vortrags über Frauen mit ADHS und ihre speziellen Probleme in Koblenz 2000. Dennoch kribbelte es im Dezember 1999 recht unangenehm in meinem Bauch, als Dr. Altherr und ich bei einer ersten Fachfortbildung über ADHS im Erwachsenenalter in einer Fachklinik für Psychosomatik über das Ansinnen berichteten, die Diagnose ADHS auch bei Erwachsenen stellen zu wollen. Wie erwartet, wurde sehr skeptisch, teilweise mit Zurechtweisung reagiert: »Die Symptomatik klingt doch typisch emotional-instabil!« oder »Das hört sich doch an wie bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung!« Die Realität der Folgen von ADHS im Alltag ist jedoch gewaltig. Prägnant hatte in den USA ja Paul Wender schon 1995 formuliert: »ADHD (amerikanische Bezeichnung für ADHS) ist wahrscheinlich die am meisten nicht diagnostizierte chronische, psychiatrische Erkrankung der Erwachsenen.«

Ermutigt durch amerikanische Kollegen – vor allen Dingen Edna Copeland und Steven Copps –, aber auch durch Eltern, Supervisanden und viele inzwischen erwachsene, »ehemalige« Patientenkinder (die zum Teil auch schon eigene Kinder haben), die mir Dinge sagten wie: »Es ist vor allen Dingen so gut, dass man weiß, was es ist!«, bis hin zu: »Seit wir im Elterntraining Ihre Schilderungen und Erklärungen zu Erwachsenen mit ADHS gehört haben, geht es uns auch in der Ehe viel besser!«, möchte ich aus der Erfahrung des Arbeitens und Lebens mit Betroffenen in den folgenden Ausführungen ergänzend zu bereits erschienenen Veröffentlichungen einen Mosaikstein des Verstehens und der Hilfestellung hinzufügen. Dabei ist es mir ein Anliegen, die immer »extreme Gefühlslage« bei ADHS mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung darzustellen und etwas Hilfestellung zu geben.

 

Dank gilt meiner Familie, meinen Mitarbeitern und Freunden, speziell meiner Mutter, Dr. med. Cornelia Seifert, die sich im hohen Alter noch bewundernswert mit dem Arbeitsschwerpunkt ihrer Tochter auch aus ihrer medizinischen Sicht und ihrer Lebenserfahrung auseinander setzt. Besonderer Dank gilt meinem äußerst kompetenten und belastbaren Sekretariatsteam mit Evi Abele, Ute Wulff, Bärbel Matt und Vreni Neuhaus, meinem Arzt und Coach Thomas Wirth und seiner Frau Moni sowie Sabine und Mike Townson für ihre liebevolle freundschaftliche Unterstützung in einer schwierigen und turbulenten Zeit, vor allem aber auch meiner Klientel der älteren Jugendlichen, der jungen und reifen Erwachsenen, von denen und mit denen ich buchstäblich täglich lernen darf, sowie, in memoriam, meinem Mann Eberhard.

Einleitung

Der zunehmende Erkenntnisgewinn –

oder: »Bitte, die Hoffnung nicht aufgeben!«

In einer gemeinsamen Erklärung, die internationale, mit ADHS als Schwerpunkt befasste Wissenschaftler im Januar 2002 (Barkley et al.) abgaben, wird eines besonders betont: Man könne die Tatsache kaum genügend hervorheben, dass die Vorstellung, es gebe ADHS nicht, einfach falsch sei. Diese Experten (nicht nur aus den USA, sondern auch aus Australien, Israel, England, Neuseeland, Schweden, Kanada, den Niederlanden und Norwegen) erläutern in dieser Erklärung vielmehr, dass ADHS »mit schwerwiegenden Defiziten in einer Aggregation von psychologischen Fähigkeiten verbunden ist und dass diese Defizite einen schwerwiegenden Schaden für die meisten Personen, die diese Störung haben, darstellen. Die aktuelle Erkenntnislage zeigt, dass Defizite in der Verhaltenssteuerung und Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit zentrale Bestandteile dieser Störung sind – das sind Fakten, die durch hunderte von Studien aufgezeigt werden.« (Barkley et al., S. 2) Nach sehr deutlichen Ausführungen zur neurobiologischen Verursachung wird festgehalten: »ADHS ist keine gutartige Störung.« Und einmal mehr wird anhand von aktuellen Studien belegt, dass viele Betroffene die Schule vorzeitig abbrechen und »wenige oder überhaupt keine Freunde« haben (50 bis 70 %). Auch die Risiken, beispielsweise antisozial zu entgleisen oder mehr Verkehrsunfälle zu haben, sind hinreichend belegt.

Im Oktober 2002 berichtete E. C. Ross, dass das US Federal Government’s Center for Disease Control and Prevention (CDC) die Elterninitiative CHADD als eine nationale offizielle Anlaufstelle benannt hat (und auch mit finanzieller Unterstützung versehen hat), da ADHS in den USA vom Staat nicht nur als eine valide Störung eingeschätzt wird, sondern auch als signifikant genug gilt, dass ausreichend Information darüber vorgehalten werden muss 

Eine aktuelle Übersichtsarbeit von Faraone et al. 2003 zeigte kürzlich auf, dass es keine überzeugenden Unterschiede gibt hinsichtlich der Prävalenz von ADHS in den USA und den meisten anderen Ländern oder Kulturen, aus denen Studien vorliegen (wobei gemahnt wird, dass eine verbesserte Symptombeschreibung zu einer verbesserten Messsicherheit und Vergleichbarkeit der diagnostischen Kategorien führen werde). Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass eine bessere Beachtung der Störung und der damit assoziierten Probleme sowie der Belastung für Individuum und Gesellschaft als wesentlich für die klinische Praxis angesehen werden.

Verwendet man zur Diagnose von ADHS die Kriterien des amerikanischen Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM IV), zeigen die Studien, dass es sich mit einer internationalen Prävalenz von 5 bis 9 % um die häufigste kinderpsychiatrische Störung handelt (vgl. unter anderem Swanson et al. 1998). In diesem Manual gibt es den Hinweis darauf, dass ADHS beim Jugendlichen und beim Erwachsenen »teilremittiert« weiterhin bestehen kann – für genau beobachtende Fachleute und informierte Betroffene schon früher erkennbar, die sehr wohl registrieren, dass sich ADHS nicht »auswächst«…

1994 erschien in den USA das faszinierende Buch der Autoren Hallowell und Ratey über Erwachsene mit ADHS, das den Titel ›Driven to Distraction‹ trug (unter dem Titel ›Zwanghaft zerstreut‹ 1998 in Deutschland veröffentlicht). Aufgrund der großen Resonanz und vielen Fragen folgte im selben Jahr ein ebenso fesselnder Band derselben Autoren mit dem Titel ›Answers to Distraction‹.

Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland gestand zudem der eine oder andere Elternteil, bisweilen schon einmal von der Medikation des Kindes »genascht« zu haben, natürlich heimlich, mit mehr oder minder schlechtem Gewissen – oft aber verblüfft über die Wirkung. Insbesondere angesichts des häufigen Substanzmissbrauchs bei Erwachsenen mit ADHS werden inzwischen Überlegungen angestellt, inwieweit sich Erwachsene zur Linderung ihrer Symptome selbst »medizieren« – meist mit Nikotin oder »zum Abschalten« auch mit Alkohol … Dabei wussten in Deutschland manche Ärzte schon vor einigen Jahren, dass bei Konzentrationsstörungen und Merkschwierigkeiten »einer ganz spezifischen Art« (ohne sie zu benennen) zentralnervös stimulierende Medikamente wie Tradon® (Pemolin) oder Captagon® (Fenetyllin) in der Prüfungsvorbereitung gute Dienste taten 

Erste ausführliche Beschreibungen der »Residualform« von ADHS im Erwachsenenalter erschienen 1995 (P. Wender, K. Nadeau). Der Ratgeber ›Women with Attention Deficit Disorder‹ (1995) von Sari Solden (deutsch unter dem Titel ›Die Chaosprinzessin‹ 1999) beeindruckte viele. Anlässlich eines EU-Projekts mit dem Titel ›Knowing me, Knowing You‹ stellten 2002 in Stockholm Fachleute und Betroffene aus 14 europäischen Nationen ganz in Übereinstimmung mit der oben zitierten wissenschaftlichen Erklärung fest, dass in ihren Ländern ADHS mit seinen Folgen und Begleiterkrankungen eine deutliche Bedrohung auch für Erwachsene darstelle, da bei ihnen ebenfalls eine Gefahr sozialer Ausgrenzung bestehe.

Im selben Jahr erfolgte am Deutschen Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (klärend angesichts der steigenden Zahlen bezüglich der Diagnosestellung und der Methylphenidatverschreibung bei Kindern) eine zweite »Konsensus-Konferenz« über das Störungsbild, auf der das »Eckpunktepapier« erarbeitet wurde, das Sie im Internet nachlesen können (Pressemitteilung des BMGS vom 27. 12. 2002, siehe unter www.bmgesundheit.de). Ziel war eine Definition der wesentlichen Kriterien zur Diagnose und Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen in Zusammenarbeit der medizinischen, pädagogischen und therapeutischen Fachgruppen zu einer qualitätsgesicherten und bedarfsgerechten Versorgung mit wirkungsvoller Hilfe. Mittlerweile hat eine Expertenrunde die damals noch fehlenden Leitlinien zur Diagnostik und Therapie für das Erwachsenenalter formuliert, die in der Zeitschrift ›Nervenarzt‹ im Oktober 2003 unter dem Titel ›ADHS im Erwachsenenalter – Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN‹ veröffentlicht wurden (www.dgppn.de). Trotz immer mehr Publikationen, Seminaren und Symposien, unter anderem einem ersten »ADHS-Frauentag« in Olten/Schweiz im Mai 2003, nutzte ›Der Spiegel‹ das Sommerloch 2003 zu einer Titelstory mit der Headline: »Erfundene Krankheiten – wie die Medizin Gesunde für krank verkauft«. Systematisch, so wird darin festgestellt, erfänden Pharmafirmen und Ärzte neue Krankheiten, wie die »atypische, agitierte, larvierte Depression« (bekannt auch als »Sissi-Syndrom«), die soziale Phobie, die Internetsucht, die Hypercholesterinämie etc. – und natürlich ADHS.

Trotz Quellenbenennung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde aus dem Jahr 2002 bezüglich ADHS erklärt der Autor Jörg Blech lapidar, dass die Zahlen zur Häufigkeit einer Erkrankung bestenfalls auf Stichproben beruhten, die auf das ganze Volk hochgerechnet würden. Die Verbreitung einer solchen Krankheit sei auf beliebige Schätzungen zurückzuführen. Und so könne bekannt gemacht werden, dass das »Zappelphilippsyndrom« nicht nur bei deutschen Kindern grassiere, sondern auch zwei Millionen Erwachsene krankhaft hyperaktiv sein sollten – zur Freude der Pharmafirmen 

In einer Zeit, in der immer wieder neu über Einsparmöglichkeiten im Gesundheitssystem und in der Jugendhilfe nachgedacht wird, Eltern mit ihren Kindern nach wie vor lange Odysseen bis zur Diagnose und zielführenden Behandlung durchlaufen müssen, viele Erwachsene bisweilen langwierige und kostspielige Psychotherapien ohne ausreichenden Erfolg für die Verbesserung ihrer Lebenssituation machen und schließlich eine flächendeckende medizinische Versorgungsstruktur für ADHS fehlt, mutet ein solcher Beitrag merkwürdig und problematisch an, ebenso wie die Aussage eines süddeutschen anthroposophischen Heilpädagogen: »In 10 Jahren ist ADHS weg vom Fenster.«

Nach wie vor scheint das »Allgemeinwissen« über ADHS bei Ansprechpartnern und Behörden, von denen sich Betroffene Hilfe erhoffen, in Deutschland – anders als in den USA – von Unkenntnis, Hilflosigkeit und Vorurteilen geprägt (Droll 1997 in Hallowell 1998). Elternselbsthilfeverbänden unterstellte man kürzlich sogar öffentlich »mafiöse« Strukturen, bescheinigte ihnen »zweifelhafte Allianzen« im »Kreuzzug« gegen Kritiker der medikamentösen Behandlung (ARTE-Themenabend ›Zappelphilipp und Co.‹, ausgestrahlt am 16. 09. 2003). Private Krankenversicherungen, so klagen die Eltern jedoch, wollen kein Kind beziehungsweise keinen Jugendlichen mit der Diagnose ADHS versichern. Ähnliches schildern Betroffene bei Anträgen auf Unfall-, Haftpflicht- und Berufsunfähigkeitsversicherungen. So scheint das Störungsbild doch offensichtlich auch in Deutschland als außerordentlich »valide« betrachtet zu werden 

Die Not ist groß.

 

»Ich wünsche mir sehr, diese ständige Angst vor Ablehnung durch andere zu verlieren, das ewige, hintergründig schlechte Gewissen, wenn ich einmal nach meinen eigenen Wünschen handle. Natürlich schäme ich mich auch wegen meiner Vergesslichkeit und meinem schlechten Erinnerungsvermögen. Oder verdränge ich nur?

Was kann ich tun, damit ich nicht so rasch wieder desinteressiert bin, nachdem ich mich kurz zuvor spontan für etwas begeistert habe? Warum beziehe ich alles, was andere kritisch äußern, sofort auf mich? Später stelle ich oft fest, dass ich gar nicht gemeint war 

Eigentlich will ich es ja allen recht machen, aber warum reagiere ich bei zu viel ›Druck‹ plötzlich wie ein Kleinkind? Oder gerate in Panik? Wie fühlen sich ›echte‹ Gefühle an? Ich wäre so gern ›normal‹, was auch immer das heißt!«

 

Die sehr bedrückt wirkende 42-Jährige versucht seit ihrer Kinderzeit nach dem Motto zu leben: »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!« Sie scheine aber immer jemanden zu brauchen, der sie »anschiebe« – aber nicht zu sehr, denn dann blockiere sie sofort. Sie wisse aber nicht, warum. Es falle ihr immer schwerer, aktiv auf andere zuzugehen. Selbst in einer »anfallsartigen Ausmistaktion« könne sie sich nicht von den vielen Dingen trennen, die sie aufhebe. Sie könne sich nicht erklären, warum sie so an Gegenständen hänge, und ebenso wenig, wieso sie fast zwanghaft perfektionistisch ihr Bad putze, aber einfach nicht in der Lage sei, ihre Wohnung gleichmäßig in Ordnung zu halten.

Weder gutes Zureden lieber Mitmenschen noch eine Kur – medizinisch dringlich erachtet aufgrund von »chronischer nervöser Erschöpfung« –, weder eine psychotherapeutische noch eine medikamentöse Therapie – nach der Diagnose »Depression« – hätten geholfen. Über ein Kind im Bekanntenkreis, das mit ADHS diagnostiziert wurde (die Hinweise darauf waren rasche und heftige Stimmungswechsel, Trödeln bei ungeliebten Tätigkeiten, »chronische« Schlampigkeit und eine zunehmende Außenseiterposition in der Schule), sei sie schließlich darauf gestoßen, was ihr selbst fehlen könne.

Sie kann nun überhaupt nicht verstehen, warum man vielerorts noch diskutiert, ob ADHS eine »Mode-Diagnose« sei oder, was sie am schlimmsten findet, »eine Wunschkrankheit, mit der alles salonfähig werde, was schiefzulaufen drohe«. Sie hat sich selbst zunächst sehr skeptisch mit der Diagnose ADHS auseinander gesetzt, ebenso wie mit dem Vorschlag einer medikamentösen Therapie, die parallel zu einer erneuten Psychotherapie erfolgen sollte. Dennoch wird sie ärgerlich über das, was sie »auch noch im Internet gefunden hat«, ebenso über einen Artikel in der FAZ vom 30. 7. 2003 mit dem Titel »Superhirne – der neue Kult: Mit Arzneien den Verstand puschen«, in dem es unter anderem heißt, dass Ritalin® längst nicht mehr nur von Kindern mit ADHS genommen werde, sondern auch »von gesunden Menschen, deren schulische oder berufliche Leistung nicht mehr den Erwartungen ihres Umfelds oder ihren eigenen Vorstellungen entsprechen«.

Angesichts ihres eigenen, ständigen emotionalen »Achterbahnfahrens« erscheint es ihr als regelrecht zynisch und kaum erträglich, lesen zu müssen, Menschen würden diese Medikamente nur nehmen, damit ihnen die Arbeit leichterfalle, diese ihnen dann mehr Erfolg beschere und als Konsequenz »der Drang, sich einer neuen Herausforderung zu stellen, kleiner würde, und die Unzufriedenheit als Triebfeder für neue Entwicklungen wegfiele«.

 

Viele Erwachsene haben die Erfahrung machen müssen, dass bei einer Schilderung ihrer Probleme, die mitunter recht heftig ausfallen und mit »psychiatrischer« Begrifflichkeit unterlegt sein können, meist relativ schnell eine »Diagnosenschublade« aufgezogen wird: »depressive Erkrankung«, »Angsterkrankung«, »Persönlichkeitsstörung« (besonders bei Frauen des Borderline-Typus), »bipolare Störung« oder, vor allen Dingen bei einem jungen Erwachsenen mit massiven Gefühlsabstürzen (zum Beispiel infolge von außergewöhnlich stark erlebten Enttäuschungen in Liebesbeziehungen), »Vorstufe zur Psychose«.

Diese gängigen und anerkannten Diagnosen stehen entsprechend auch im Vordergrund eines aktuellen Lehrbuchs über die ›Neurobiologie in der Psychotherapie‹ (Schipek 2003), in dem der Begriff ADHS nur ein einziges Mal auftaucht (nicht auffindbar übrigens im Stichwortverzeichnis) und nur im Zusammenhang mit der medikamentösen Behandlung – ausgerechnet in einem Artikel, der in Koautorenschaft von einem »in der ADHS-Szene« sehr bekannten (leider in einem negativen Sinne) Neurobiologen verfasst wurde.

Schwierig erscheint die Situation derzeit oft nicht nur für Hilfe suchende Patienten, sondern auch für Fachleute. Prof. Thomas Brown nannte als Ursache dafür in einem Vortrag in Zürich 2002, dass »wir uns hinsichtlich der Verursachung psychischer Störungen derzeit in einem Paradigmenwechsel befinden«. 2003 schreibt Antonio R. Damasio, der berühmte Professor für Neurologie, angesichts der Fortschritte der Emotionsforschung: »Im Laufe der nächsten 20 Jahre, vielleicht schon früher, wird die Neurobiologie der Emotionen und Gefühle der Biomedizin ermöglichen, wirksame Behandlungsmethoden für Leid und Depression zu entwickeln.« Er prophezeit, dass neue Behandlungsmethoden die Psychiatrie vollkommen umkrempeln werden und die bisherigen Therapieformen »uns dann so roh und archaisch erscheinen (werden), wie heute die Chirurgie ohne Anästhesie«.

Hilfe Suchenden erscheint die Abwehr von vielen Behandlern in der Psychotherapie unverständlich. ADHS mit der altersspezifischen Symptomveränderung ist ja nicht nur bei der Bewältigung von Alltagsroutinen und »Entwicklungsaufgaben« hinderlich, sondern führt oft zu traumatischen »Übergriffen« durch Mitmenschen, zum Teil schon seit frühster Kinderzeit, das heißt durch Eltern, Verwandte, Nachbarn, Erzieher, Lehrer oder Gleichaltrige. Verständnislose, kränkende und verletzende Einwirkungen führen zur Verschärfung der leider fast immer schon sehr früh entstehenden, hintergründigen Verlust- und /oder Existenzängste. Alternativ kommt es zur Entwicklung von Angst vor Kontrollverlust, wenn jemand, als Folge seiner Erziehung oder motiviert durch ein Vorbild, versucht hat, sich mit Willen und Verstand zu disziplinieren; er kann zum Teil beachtlich anmutende Leistungen in beruflicher oder sozialer Hinsicht erbringen und erscheint seiner Umgebung als ein Mensch, der gut ausgestattet ist mit »Power«, Stärke und Souveränität … Wie hart dies jedoch erkauft und wie groß oft das hintergründige Leiden ist (ohne dass der Betroffene jemals von sich aus Hilfe in Anspruch genommen hat), ist viel zu wenig bekannt und akzeptiert. Möglicherweise werden bisher ohnehin nur die schwersten und damit zumeist auch comorbiden Fälle gesehen beziehungsweise akzeptiert.

 

»Es bedeutet keine Hilfe für Menschen mit ADHS, Literaturverzeichnisse angeboten zu bekommen, in denen die Wissenschaftlichkeit ihrer Diagnose bestätigt wird. Das Thema wird behandelt, aber wo sind die griffigen Formulierungen darüber, was zu tun ist? Keine Buchveröffentlichung, kein Seminar und keine Kongressaktivität hat noch einen Sinn, wenn nicht endlich ›Tools‹ entwickelt werden, die Betroffene aus der Sackgasse herausführen. Und zwar Tools, die man handhaben kann! Und diese bitte auch für Erwachsene, vor allem für Ehepaare!«

Ein Vater, selbst betroffen, Ehemann einer »Chaosprinzessin« mit zwei heranwachsenden Töchtern

 

Diese griffigen »Tools«, diese Werkzeuge, die schnell und sicher »Abhilfe« schaffen sollen – sowohl der mangelnden Lust zu lernen, der Tendenz, sich so schnell zurückgesetzt zu fühlen, oder der schnell »hochkochenden« Wut oder Verzweiflung –, gibt es (noch) nicht, zumindest nicht in der gewünschten Form. Lynn Weiß erörterte bereits 1992, dass man sich die Frage stellen müsse, ob es überhaupt Sinn macht, wirklich eine »Abhilfe« schaffen zu wollen, zumal eine »Gleichschaltung« mit Nichtbetroffenen wohl sicher nie möglich sein wird, auch nicht mithilfe von Trainingsmanualen und/oder Medikation.

Vielmehr wird sich bei Betroffenen selbst und natürlich auch in der Fachwelt die Erkenntnis etablieren müssen, dass ADHS ein sehr »spezieller« Wahrnehmungs- und Reaktionsstil ist – mit unterschiedlichsten Ausprägungsgraden, mit und ohne Begleiterkrankungen und Folgestörungen –, der sich unter anderem auf das Lernen, auf das Verhalten und damit auch auf die Beziehungsgestaltung auswirkt. ADHS erweist sich dabei vor allem deutlich geprägt von einer immer ganz schnell extremen Gefühlslage: von Verletzlichkeit zum Beispiel im Sinne einer Unfähigkeit, Gefühle angemessen kontrollieren zu können; eine solche Verletzlichkeit ist aber ganz sicher nicht primär eine »emotionale Störung«, die aus schlechten Beziehungs- und Erziehungsbedingungen entstanden ist, sondern sie wird bei der biologischen Disposition im Laufe der Lebensentwicklung durch entsprechend günstige oder weniger günstige Umfeldeinflüsse verbessert oder verschlechtert.