Über Claire Messud

Claire Messud, geboren 1966, wuchs in den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien auf. Sie studierte an der Yale University sowie an der Cambridge University. Ihr Großstadtroman Des Kaisers Kinder war ein weltweiter Erfolg. Sie unterrichtet Kreatives Schreiben an verschiedenen amerikanischen Colleges und ist mit dem britischen Literaturkritiker James Wood verheiratet; das Paar hat zwei Kinder und lebt in Washington, D.C. und in Somerville, Massachusetts. Bei Hoffmann und Campe erschien von Claire Messud zuletzt Das brennende Mädchen (2018).

die alles verändert haben;

und, wie immer, für J.W.

ANTHONY POWELL, Books Do Furnish a Room

Unser Chefkoch ist in London eine Berühmtheit

»Willkommen, ihr Süßen! Sie sind bestimmt Danielle?« Lucy Leverett, zierlich, geschmeidig und mit riesigen Kajalaugen, erinnerte zwar an eine Babyrobbe, sprach aber mit eindrucksvoll rauchiger Stimme. Ihre Fächerohrringe klirrten, als sie sich vorbeugte, um ihre Gäste zu küssen, Danielle eingeschlossen, und obwohl sie die Zigarette, die in einer Perlmuttspitze steckte, auf Armeslänge von sich weghielt, trieb der Rauch Danielle Tränen in die Augen.

Sie wischte sie nicht ab, aus Angst, ihr Make-up zu zerstören. Nachdem sie vor dem trüben Spiegel in Moiras und Johns Bad eine halbe Stunde damit zugebracht hatte, ihre Schönheitsfehler anzustarren und energisch zuzuschminken – die bläulich geschwollenen Tränensäcke unter den müden, ovalen Augen, die seltsam geröteten Nasenflügel, die hohe Stirn, von der sich die Haut schälte –, hatte sie nicht die Absicht, fremden Leuten den Zerfallsprozess unter der Farbschicht zu enthüllen.

»Rein mit euch, ihr Süßen, rein mit euch!« Lucy folgte den dreien und manövrierte sie in Richtung der Gäste. Das Wohnzimmer der Leveretts war dunkelviolett gestrichen – aubergine nannte man das hier – und die Fenster waren mit Samtvorhängen drapiert. Von der Decke hing ein monströser schmiedeeiserner Leuchter herab, der aussah, als habe man ihn aus einer mittelalterlichen Burg entwendet. Drei Männer lehnten am Erkerfenster und starrten auf die Straße hinaus, während sie sich unterhielten. Ihre Rotweingläser funkelten im Widerschein des Abendlichts. Auf einem langen, kissenübersäten Sofa, das eine ganze Wand einnahm, hatten sich

»Rog? Rog, mehr Wein!«, rief Lucy ins Innere des Hauses, wandte sich wieder ihren Gästen zu und legte Danielle in einer vereinnahmenden Geste die Hand auf den Oberarm. »Rot oder weiß? Wahrscheinlich hat er auch Rosé, wenn Ihnen danach ist. Ich für meinen Teil ertrage das Zeug nicht – ist mir zu sehr Westcoast.« Sie grinste; und aus den Krähenfüßen, die dabei um ihre Augen entstanden, schloss Danielle, dass sie wohl um die vierzig sein musste.

Zwei Männer traten, mit Flaschen in der Hand, aus dem Halbdunkel des kerzenerleuchteten Esszimmers, beide waren schlank, beide wirkten auf den ersten Blick etwas geistesabwesend. Danielle vermutete, dass es sich bei dem imposanten Mann, der vorausging – er trug ein lavendelbaues Hemd, und die hohe, glatte Stirn über den Augen mit den hängenden Lidern ließ sie an Nabokov denken –, um ihren Gastgeber handelte. Sie streckte die Hand aus. »Ich bin Danielle.« Seine Finger waren gepflegt, seine Handfläche fühlte sich kühl an.

»Aha«, sagte er.

Der andere Mann, mindestens zehn Jahre älter, mit Spitzbart und leicht vorstehenden Zähnen, meldete sich hinter seiner Schulter hervor zu Wort. »Ich bin Roger«, sagte er. »Freut mich, Sie kennen zu lernen. Machen Sie sich nichts draus, Ludo spielt gern den Unnahbaren.«

»Ludovic Seeley«, stellte Lucy vor. »Danielle –«

»Die Freundin von Moira und John. Aus New York.«

»New York«, wiederholte Ludovic Seeley. »Da ziehe ich nächsten Monat hin.«

»Rot oder weiß?«, fragte Roger, dessen offenes Hemd eine gebräunte, von grauen Haaren spärlich bedeckte Brust enthüllte. Er trug ein dünnes Goldkettchen.

»Rot, bitte.«

»Gute Wahl«, sagte Seeley leise. Er musterte sie von oben bis unten – sie spürte es mehr, als dass sie es sah; sein Blick unter den hängenden Lidern wirkte völlig reglos. Danielle hoffte, dass ihr Make-up nicht verschmiert war.

Sie spürte es sofort. Ausgerechnet hier, in dieser seltsamen, unbedeutenden Enklave, hatte sie einen Vertrauten entdeckt. Sie fragte sich, ob auch er es empfand: dass es sich hier um etwas Bedeutsames handelte. Ludovic Seeley: Sie wusste nicht, wer er war, und doch hatte sie das Gefühl, ihn zu kennen oder sogar auf ihn gewartet zu haben. Es lag nicht nur an seiner äußeren Erscheinung, der großen, katzenhaft geschmeidigen Gestalt, die ihn gleichzeitig lässig und beherrscht wirken ließ, ganz so, als ob er mit der Illusion von Lässigkeit nur spiele. Es lag auch nicht am Timbre seiner Stimme – tief und doch nicht sonderlich sonor, der australische Tonfall so vage, dass er fast britisch klang. Es musste, dachte sie, an seinem Gesichtsausdruck liegen: Er wusste es. Sie hätte allerdings nicht sagen können, was er wusste. Da waren die Augen, von überraschend tiefem, goldgeflecktem Grau, deren leicht abwärts verlaufende Falten ihm einen traurigen und zugleich amüsierten Anschein gaben, und die sonderbare kleine Furche, die sich schon beim kleinsten Lächeln in seine rechte Wange grub. Seine dicht am Kopf anliegenden Ohren verliehen ihm etwas Ordentliches; das dunkle Haar, so kurz geschoren, dass der Schädel bläulich durchschimmerte, unterstrich sowohl seinen spöttischen Ausdruck als auch seine Beherrschtheit. Die Haut war blass, fast so blass wie die Danielles, und seine Nase bildete eine feine, scharfe Knorpelgerade. Sein Gesicht, ein Cha

»Kommen Sie, Schätzchen.« Lucy nahm sie am Ellbogen. »Jetzt stellen wir Sie dem Rest der Clique vor.«

 

Dies, das Dinner bei den Leveretts, war Danielles letzter Abend in Sydney vor ihrer Heimreise. Am nächsten Morgen würde sie ins Flugzeug steigen und schlafen, sich nach gestern zurückschlafen oder, von morgen aus gesehen, nach heute, in New York. Sie war eine Woche lang weg gewesen, um mit Hilfe ihrer Freundin Moira für ein Fernsehprojekt zu recherchieren. Gedreht würde, wenn überhaupt, erst in ein paar Monaten, ein Feature über die Beziehung zwischen den Aborigines und ihrer Regierung, über die formalen Entschuldigungen und die Wiedergutmachungsversuche der letzten Jahre. Der Witz dabei war, Wege möglicher Entschädigungen für Afroamerikaner – ein prominenter Professor veröffentlichte gerade ein Buch darüber – aus australischer Perspektive zu erforschen. Nicht einmal Danielle selbst war klar, ob das funktionieren würde. Was interessierten den amerikanischen Zuschauer denn schon die Aboriginies? Waren die Situationen überhaupt vergleichbar? Die Woche war voll hektischer Termine gewesen – das exaltierte Getöse ihrer Branche, die vorgetäuschte Gewissheit, wo es eigentlich keine gab. Moira glaubte fest daran, dass es klappen konnte, klappen musste; doch Danielle war nicht überzeugt.

Von Sydney nach New York war es ein weiter Weg. Eine Woche lang hatte sich Danielle, im angenehmen Schwebe

Herbstanfang in Sydney, zu Hause war es noch bitterkalt. In den Jacarandabäumen Schwärme kleiner, schreiend bunter Vögel, die fröhlich lärmten. Sehr früh am Morgen hatte sie vor einem im dämmrigen Licht gräulich wirkenden Busch im Garten ein enormes, vom Tau funkelndes, fein gesponnenes Spinnennetz entdeckt, an dessen Rand eine riesige haarige Spinne balancierte. Hier gab es noch Natur in der Stadt. Es war eine andere Welt. Sie hatte sich ausgemalt, die 747 ohne sie davonfliegen zu lassen und ein neues Leben zu beginnen.

Aber nicht wirklich. Sie war New Yorkerin. Für Danielle Minkoff gab es nur New York. Dort arbeitete sie, dort waren ihre Freunde – sogar ihre Kommilitonen von der Brown University vor zehn Jahren waren noch da –, und sie hatte sich in der komfortablen Kakophonie des Village eingerichtet. Von ihrem Studio aus, in dem verblichenen Backsteingebäude in der Sixth Avenue Ecke Twelfth Street, blickte sie wie eine Kapitänin im Schiffsbug über Lower Manhattan. So schlecht und bedrängt sie sich auch manchmal fühlte, sosehr sie sich im Meer aus Asphalt und Eisen manchmal nach Abwechslung sehnte, nach einem Moment der Stille in der Flut des Geschwätzes, sowenig konnte sie sich vorstellen, dies alles aufzugeben. Manchmal sagte sie im Scherz zu ihrer Mutter –

Dieses letzte Abendessen in Sydney war ein rein gesellschaftlicher Event. Es schien denkbar, dass in der Wohngegend der Leveretts immer noch der eine oder andere, nicht bürgerlich gewordene Aborigine herumlungerte, grauhaarig, mit trübem Blick, vor dem Pub am Ende der Straße: Leute, die, ein Bier in der Hand, die Entschuldigung der Regierung nicht akzeptiert hatten und nicht sesshaft wurden. Vielleicht aber auch nicht, vielleicht stellte Danielle sich diese Gegend, ihre Bewohner, auch nur so vor, wie sie früher einmal gewesen waren: denn ein zweiter Blick auf die BMWs und Audis, die den Rinnstein säumten, ließ darauf schließen, dass sich das neue Sydney (wie das neue New York) hier bereits vehement auf dem Vormarsch befand.

Moira war befreundet mit Lucy Leverett, die eine kleine, aber einflussreiche Galerie in The Rocks besaß, spezialisiert auf die Kunst der Aborigines. Ihr Mann, Roger, war Romancier. Als John vor dem großen viktorianischen Reihenhaus der Leveretts parkte, hatte Moira erklärt: »Lucy ist fantastisch. Sie hat eine Menge für die hiesige Kunstszene getan. Und wenn du Aborigine-Künstler kennen lernen willst, um sie für den Film zu interviewen, ist sie genau die Richtige.«

»Und er?«

»Tja« – John hatte kläglich das Gesicht verzogen –, »seine Romane sind nicht so besonders –«

»Aber wir mögen ihn«, schloss Moira energisch.

»Ich gebe zu, sein Weingeschmack ist erlesen.«

»Roger ist reizend«, beharrte Moira. »Das mit seinen Büchern stimmt, aber er ist sehr einflussreich hier in Sydney. Er könnte dir wirklich behilflich sein.«

»Roger Leverett?« Danielle dachte kurz nach. »Hab nie von ihm gehört.«

»Überrascht mich nicht.«

»Wie bitte?«

»Im East Village gibt es ein schmuddeliges chinesisches Restaurant mit einem handgeschriebenen Schild im Fenster – auch das Fenster ist dreckig –, auf dem steht: ›Unser Chefkoch ist in London eine Berühmtheit‹. Jedenfalls nicht in New York oder sonst wo außerhalb von London.«

»Und in London selbst wahrscheinlich auch nicht, was?«,hatte John gesagt, als sie sich der Haustür der Leveretts näherten.

»Roger Leverett ist in Sydney aber wirklich eine Berühmtheit, Liebling, egal was du sagst.«

 

Beim Abendessen – Garnelen und Wachteleier mit Tintenfischnudeln, gefolgt von Emu, der fast wie Steak schmeckte und den sie nur mühsam hinunterwürgte – saß Danielle zwischen Roger und einem schönen asiatischen Jungen – Ito? Iko? –, er war der Freund eines älteren Architekten namens Gary am anderen Ende des Tischs. Ludovic Seeley saß neben Moira. Den Arm lässig, vertraulich, über ihre Rückenlehne gelegt, hatte er die Angewohnheit, sich vorzubeugen, wenn er mit ihr sprach, ganz so, als seien die Dinge, die er ihr sagte, nur für sie allein bestimmt. Danielle musste unwillkürlich immer wieder zu ihm hinübersehen, doch er erwiderte ihren Blick kein einziges Mal, bis das Passionsfruchtsorbet vor ihnen stand. Als er endlich zu ihr herüberschaute, wirkten seine eindrucksvollen Augen wieder amüsiert und wichen den ihren nicht aus. Sie war es, die den Blick senkte, auf dem Stuhl hin und her rutschte und plötzlich Interesse an Ito/Ikos jüngster Reise nach Tahiti heuchelte.

Jetzt erschien ihr der Abend wie eine raffinierte Theaterinszenierung, deren einziger Zweck darin bestand, dass sie Ludovic Seeley kennen lernte. Dass irgendjemand so für Lucy, Roger, Gary oder Ito/Iko empfinden konnte wie Danielle für ihre Freunde in New York, schien ihr kaum vorstellbar: für sie waren diese Leute Schauspieler. Nur Ludovic, mit seinem vertraulichen Geflüster und seinem unverwandten Blick, war

Roger neben ihr war heiter und beflissen. Danielle hatte überwiegend das Gefühl, ihr Gastgeber sei ein Narziss, berauscht vom Klang seiner eigenen Stimme, von seinen eigenen Witzen und von seiner Pfeife, mit der er zwischen den einzelnen Gängen herumspielte, wenn er nicht gerade an ihr sog. Er schenkte großzügig Wein nach, mehr ihr und sich selbst als den weiter entfernt sitzenden Gästen, und wurde mit jedem Glas redseliger.

»Waren Sie in McLaren Vale? Diesmal nicht? Wann fliegen Sie zurück? Ach so, na ja. Versprechen Sie mir, dass Sie nächstes Jahr die Weinroute machen! Und vor der Küste gibt es tolle Stellen zum Tauchen. Schon mal getaucht? Nein, schon klar, das könnte Ihnen Angst einjagen. Ich bin früher viel getaucht, aber man kann in sehr brenzlige Situationen kommen, wirklich sehr brenzlige Situationen. Vor etwa zwanzig Jahren – ich war nicht älter als Sie jetzt – wie alt sind Sie? Dreißig? Mädchen, man sieht’s Ihnen wirklich nicht an. So zarte Haut. Das müssen diese tollen jüdischen Gene sein – Sie sind doch Jüdin, nicht wahr? Also jedenfalls, das Reef. Ich war mit ein paar Kumpels tauchen, das war noch vor Lucy, die würde mir das heute bestimmt nicht mehr erlauben. Ich hab da noch in der Nähe von Brisbane gewohnt, hatte gerade meinen zweiten Roman beendet – Revelation Road, kennen Sie vermutlich nicht? Nein, na ja, macht nichts. War damals ein großer Erfolg. Und dieser Ausflug zum Reef sollte die Belohnung sein, für gute Arbeit, der Verleger in Sydney war total aus dem Häuschen, ganz wild auf das Manuskript, aber ich hab gesagt, du kannst mich mal, George, ich hab jetzt erst mal das Recht zu feiern, bevor ich zurückkomme, man lebt schließlich nur einmal, stimmt’s? Wo war ich stehengeblieben? Das Reef, ja. Ich war zum ersten Mal dort draußen, per Helikopter natürlich – mein

Mit jedem Schluck Claret erschien ihr Rogers munterer Redeschwall unergründlicher, und Danielle entschloss sich zu einem Dauerlächeln – ganz ungekünstelt: Sie amüsierte sich und es kostete sie nicht die geringste Mühe. Sie lächelte, während sie die Tintenfischnudeln schlürfte und die mit langen Fühlern bewehrten Garnelen zerlegte. Ihr kam es vor, als lächle sie sogar beim Zerkauen des ziemlich zähen Emufilets, dessen dicke Scheiben sie aus dem blutig roten Polenta-Bett fischte. Sie lächelte, während sie zu Ludovic Seeley hinübersah, der ihren Blick nicht erwiderte, und sie lächelte nacheinander Moira, Lucy und John an. Als Roger aufstand, um das Dessert zu holen – »Ich bin für den Wein zuständig, meine Liebe, und fürs Tischabräumen. Ich hole Nachschub, wenn was fehlt. Und ich mache das göttlichste Risotto, das Sie je gegessen haben, aber nicht heute Abend, nicht heute Abend« –, wandte Danielle sich Ito/Iko zu und erfuhr, dass er zweiundzwanzig war und Lehrling in einem Modehaus; dass er Gary seit acht Monaten kannte und dass sie neulich einen supertollen Urlaub in Tahiti erlebt hätten. »So Gauguin, und so sexy. Ich meine, die Bewohner dieser Insel sind so sexy, zum Niederknien

»Wurde da nicht Captain Cook ermordet?«, fragte Danielle und fühlte sich sehr kultiviert, als sie den Namen des Gründers erwähnte.

»Nein, Schätzchen, das war auf Hawaii. Törnt einen wieder ganz anders an. Ganz anders.« Ito/Iko lächelte strahlend und bauschte sein Haar auf, das Danielles Meinung nach bläulich getönt war und im Kerzenlicht schimmerte. »Sie sind noch nicht lange hier, stimmt’s? Jeder hier weiß, dass es Hawaii war. Das weiß ja sogar ich, und ich bin mit sechzehn von der Schule geflogen.«

 

Nach dem Essen zog die Gesellschaft ins Wohnzimmer um, und Ito/Iko kuschelte sich unter Garys Arm wie ein Küken unter den Flügel der Henne. Danielle stellte dankbar ihr

»Was führt Sie nach New York?«, fragte sie.

Er beugte sich vor, wie er es auch bei Moira getan hatte: Vertraulichkeit oder zumindest der Eindruck davon, war eindeutig seine Masche. Aber er berührte sie nicht. Leuchtend hob sich sein Ärmelaufschlag vom pflaumenblauen Samt der Armlehne ab. »Die Revolution«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Ich werde die Revolution schüren.«

Sie blinzelte, trank einen Schluck und wartete still eine Erklärung ab. Sie wollte nicht plump, ironieresistent, amerikanisch auf ihn wirken.

»Im Ernst? Im Ernst werde ich eine Zeitschrift herausgeben.«

»Was für eine Zeitschrift?«

»The Monitor.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Natürlich haben Sie noch nichts davon gehört – ich bin noch nicht so weit. Die Zeitschrift gibt es noch nicht.«

»Eine echte Herausforderung.«

»Merton steht hinter mir. Ich mag Herausforderungen.« Danielle nahm es einfach zur Kenntnis. Augustus Merton, der australische Mogul. Damit beschäftigt, Europa, Asien, Nordamerika aufzukaufen. Alle englischsprachigen, konservativen Blätter. Der Feind.

Plötzlich stand, zart und winzig, Lucy vor ihnen und brachte Kaffee. »Er hat das schon mal gemacht, Danielle. Man muss Angst vor unserem Ludo haben. Er hält hier in der Stadt sämtliche Politiker und Journalisten auf Trab, The True Voice – haben Sie das gesehen?«

»Oh. Moira hat mir davon erzählt. Das heißt, sie hat mir von Ihnen erzählt.«

Er neigte leicht den Kopf. »Ein echtes Kompliment. Und der erste Schritt auf dem Weg zur Revolution.«

»Und jetzt wollen Sie es mit New York aufnehmen?«

Danielles Skepsis ärgerte ihn offenbar. »Ja«, sagte er entschieden und fixierte sie aus seinen grauen, nun ganz geöffneten Augen, diesmal ohne jedes Amüsement. »Genau das habe ich vor.«

 

Auf der Heimfahrt saß Danielle auf dem Rücksitz, die meiste Zeit mit geschlossenen Augen. Sie öffnete sie immer mal wieder, um einen Blick auf die Stadt zu erhaschen, die schwefelgelben Lichter auf dem Asphalt und den marineblauen Himmel. »Roger ist ja wirklich ziemlich gesprächig«, sagte sie.

»Hat er dir von seinen Romanen erzählt? Dich mit sperrigen Plots zu Tode gelangweilt?«, frage Moira.

»Nein, es ging ums Tauchen. Und um die Weinroute. Aber immer noch besser als dieser junge Asiate.«

»Garys neuer Freund? Der sah doch niedlich aus.«

»Niedlich?«, spottete John. »Niedlich?«

»Er war niedlich. Doch, wirklich. Aber nicht besonders interessant.«

Es herrschte Stille, und Danielle hätte sich zu gern nach Seeley erkundigt, wollte aber nicht zeigen, dass er sie interessierte. Aus der trüben Unschärfe des Abends stach Seeley als Einziger deutlich konturiert heraus.

»Hast du dich am Schluss noch mit Ludo unterhalten?«, fragte Moira.

»Ach, jetzt heißt er schon Ludo?«, meinte John. »Meine Güte, wie versnobt.«

»Ist er wirklich so eine große Nummer?« Danielle hoffte,

»Er zieht übrigens nach New York«, sagte Moira. »Man hat ihn engagiert, um eine Zeitschrift herauszubringen – sein Vorgänger wurde gefeuert, vielleicht hast du es gelesen. Merton fand seine Visionen falsch – Billings? Billington? Buxton, glaube ich. Ein Riesenskandal. Jetzt wirkt Seeley natürlich wie der Auserwählte, den man vom anderen Ende der Welt geholt hat. Er fliegt sehr bald.«

»Nächsten Monat«, sagte Danielle. »Ich habe ihm meine E-Mail-Adresse gegeben. Er wird sie vermutlich nicht brauchen, aber falls er mal nicht weiterweiß. Ich wollte einfach nur hilfsbereit sein.«

»Das ist gut«, sagte John. »Seeley und nicht weiterwissen! Das würde ich gern erleben.«

»Glaubt ihr, er schafft es?«, fragte Danielle.

»Er glaubt es auf jeden Fall«, erwiderte Moira. »Vielmehr, er weiß es. Aber er lässt nicht viel raus, deshalb ist schwer zu sagen, was er eigentlich plant. Und schwer zu sagen, ob er auf etwas zuläuft oder vor etwas davon. Er hat hier dermaßen Furore gemacht, in den letzten, na, sagen wir fünf Jahren – mein Gott, wie alt ist er? Dreiunddreißig? Fünfunddreißig? Ein Kind! –, und er hat viele Freunde –«

»Und viele Feinde«, sagte John.

»Und wahrscheinlich gibt es hier für ihn keine Herausforderungen mehr, das ist alles. Aber dafür eine Menge Ärger. Mit dieser Art von Rückendeckung – meine Güte, Merton will ihn! – meint er vermutlich, er kann erst New York erobern und dann die ganze Welt!«

»Wie Kim Jong Il? Oder Saddam Hussein?«, sagte John.

»Vielleicht wird es nicht ganz so leicht, wie er denkt«, sagte Danielle, die fand, dass sie für diese Unmengen Rotwein noch erstaunlich schlagfertig war. »Vielleicht auch nur ein Fall von ›Unser Chefkoch ist in London eine Berühmtheit‹.«

»Durchaus möglich«, sagte John, sichtlich zufrieden bei diesem Gedanken. »Durchaus möglich.«

Bootie, der Professor

»Bootie?«, schrie Judy Tubb hinauf. Sie stand im Morgenrock am Fuß der Treppe, vom trüben Perlmuttlicht überflutet, das vom Schnee draußen reflektiert wurde. »Bootie, kommst du gefälligst runter und hilfst mir mal, uns freizuschaufeln?«

Da alles still blieb, setzte sie den Fuß auf die knarrende Stufe, die Hand auf dem glänzend polierten Knauf des Treppengeländers, und stapfte hinauf, so laut es ging. »Bootie? Hast du mich gehört?«

Eine Tür ging auf, ihr Sohn schlurfte auf den düsteren Treppenabsatz hinaus und schob blinzelnd seine Brille die Nase hinauf. Zerknittert umschloss der altmodische braune Flanellpyjama seinen weichen, massigen Leib, und Booties Hauptsorge schien darin zu bestehen, seinen dicken bleichen Bauch vor den Blicken der Mutter zu verbergen: Er umklammerte die Pyjamakordel, zog die Hose hoch und entblößte so stattdessen seine seltsam schlanken Fußknöchel und seine langen haarigen Zehen.

»Hast du die ganze Zeit geschlafen, seit dem Frühstück?« Judy sprach in scharfem Ton, empfand jedoch plötzlich überschwängliche Zärtlichkeit für ihren schlaftrunkenen Jungen, der schwankend vor ihr stand, fast 1,80 groß. »Bootie? Frederick? Schläfst du noch?«

»Hab gelesen, Ma. Im Bett gelesen.«

»In der Einfahrt liegt ein halber Meter Schnee, und es kommt immer noch mehr runter!«

»Ich weiß.«

»Wir sollten hinausgehen können, oder?«

»Schule fällt aus. Du musst doch nirgendwohin.«

»Dass ich nicht unterrichten muss, heißt nicht, dass ich nicht irgendwo hinmuss. Und was ist mit dir?«

Frederick schob eine Faust hinter seine Brille und rieb sein linkes Auge.

»Draußen ist ein Schneesturm. Alles hat zu, nicht nur die Schule. Man kann heute nirgends hin, und man kriegt heute auch keinen Job.« Mit seiner massigen Gestalt wirkte er auf einmal stark, ja: stur. »Außerdem, wenn ich lese, tu ich ja auch was. Das ist auch Arbeit. Nur weil es nicht bezahlt wird, heißt das ja nicht, dass es keine Arbeit ist.«

»Fang bitte nicht wieder damit an.«

»Frag Onkel Murray. Liest der vielleicht nicht den ganzen Tag?«

»Ich weiß nicht, womit dein Onkel seine Zeit verbringt, Bootie, aber ich möchte dich daran erinnern, dass er gut dafür bezahlt wird. Sehr gut sogar. Und ich weiß, dass er in deinem Alter auf dem College war und einen Job hatte. Vielleicht sogar zwei Jobs. Pawpaw und Nana konnten es sich nämlich nicht leisten, dass –«

»Ich weiß, Ma. Ich weiß. Ich les mein Kapitel zu Ende. Und dann, wenn’s nicht mehr schneit, schaufle ich die Einfahrt frei.«

»Auch wenn es noch schneit, Bootie. Seit sieben Uhr heute Morgen kam hier schon zweimal der Schneepflug vorbei.«

»Nenn mich nicht Bootie«, sagte er, während er sich wieder in sein Zimmer zurückzog. »So heiße ich nicht.«

 

Judy Tubb und ihr Sohn lebten in einem geräumigen, aber langsam zerfallenden viktorianischen Haus im Ostteil von Watertown, an der Straße nach Lowville, inmitten ähnlich weitläufiger, ähnlich baufälliger Gebäude. Manche hatte man in Apartments aufgeteilt, und eines, am Ende der Straße, stand verlassen da, die eleganten Fenster mit Brettern vernagelt, die Veranda zusammengebrochen; aber in Watertown schien das ganz normal. Das Haus der Tubbs war immer noch eine gute Adresse, ein herrliches Haus auf einem herrlichen quadratischen Grundstück im vornehmen Teil der Stadt, noch ebenso respektabel wie damals vor zwanzig Jahren, als Bert und Judy

Eine Meile von diesem Haus entfernt war Judy zur Welt gekommen. Sie hatte ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, bis auf die Collegezeit und eine mehrjährige Lehrtätigkeit in Syracuse. In Watertown war sie so sehr zu Hause, dass ihr die schäbigen Ladenfronten und schiefen Veranden gar nicht mehr auffielen (wenn sie ihr überhaupt je aufgefallen waren). Die imposante Innenstadt, einst bekannt als Garland City, deren Steingebäude und zentrale Piazza in hochherrschaftlichem Stil erbaut worden waren, wirkte auf sie nur selten desolat: Wenn sie auf dem Weg zur Highschool oder zum Price Chopper durch die Innenstadt fuhr, hatte sie meist das tröstliche Gefühl vollkommener Vertrautheit. Ebenso erging es ihr mit ihrer Wohngegend, ihrem Haus: Sie hing daran, einfach deshalb, weil sie zu ihr gehörten.

Das Haus besaß steile Eingangsstufen und eine kleine betonierte Terrasse. Sie wurde von einem schmalen Balkon überdacht, auf den man vom Flur im ersten Stock aus gelangte. Die Tubbs hatten Anfang der achtziger Jahre eine Aluminiumverschalung anbringen lassen – weiß, schlicht –, aber sie war schäbig geworden, mit Moos und Schmutz gesprenkelt, an manchen Stellen ein- oder ausgebeult, Ersteres durch herabgestürzte Dachrinnen, Letzteres durch fleißige Eichhörnchen oder Vögel, die sich zwischen Verschalung und Außenwand eingenistet hatten. Die verbleibenden Holzleisten, ursprünglich grün gestrichen, waren rissig, überall blätterte die Farbe ab. Der Schnee bedeckte die schmachvollsten Makel des Gebäudes (einschließlich der verrottenden Backsteinummauerung am Fundament) und zeichnete seine Umrisse weich, so dass das spitz zulaufende Dach – einst aus Schiefer, jetzt aus schlecht geklammerter Asphaltdachpappe – sich mit solidem Selbstvertrauen in den bewölkten Himmel zu recken schien.

Innen war das Haus der Tubbs immer noch elegant – bis auf Booties Zimmer vielleicht, ein Bezirk, auf den Judy keinen Anspruch erhob. Jahrelang war an den Zimmern nichts

Sie liebte ihr Haus, vor allem (aber nicht nur), weil es so viel Geschichte in sich barg, und ganz besonders lag ihr das obere Stockwerk am Herzen – das prächtige Schlafzimmer zur Straße hin, das sie mit ihrem geliebten Mann geteilt hatte, und in dem er, hätte man ihn nicht ins Krankenhaus gebracht, gestorben wäre; den großen Flur mit dem Balkon und den glänzenden Geländern; selbst der ausgeblichene, rosarot geblümte, schwach nach Staub duftende Läufer, der ihr so vertraut war, dass sie, ohne hinzusehen, seine zernagten Ecken, fadenscheinigen Stellen und hartnäckigen Flecken vor Augen hatte. Als sie aus dieser Eingangshalle in ihr geliebtes Schlafzimmer ging, voller Sorge um ihren mürrischen Sohn (es ist das Alter, sagte sie sich immer wieder, seines und das der Zeit) hatte sie das Gefühl, ins Licht zu treten: Die beiden hohen Fenster warfen ihr schattenloses Licht auf die Familienfotos auf der Kommode und ließen die Zweigmustertapete schillern. Selbst ihre gestern abgestreiften Strümpfe, die noch die Form ihrer kräftigen Beine bewahrten, schienen, scharf

Judy Tubb machte ihr Bett – ordentlich strich sie das Laken glatt, klaubte die grauen Haare vom Kopfkissen, zog das Betttuch und die senffarbene Wolldecke straff und schlug sie an den Seiten ein. Lange mühte sie sich damit ab, dass der Überwurf, unter dem sich die runden Kopfkissen wölbten, an beiden Seiten gleich lang herunterhing. Sie machte sich nichts aus Steppdecken, dünn und ungewohnt: Sie mochte das Gewicht eines Federbetts und die Arbeit, die man damit hatte. Im Bad in der Halle – das viktorianische Gebäude hatte nur dieses eine Bad, trotz seiner vier Schlafzimmer – duschte sie sich, trocknete sich ab, zog sich um und verließ es in ihrem roten Lieblings-Turtleneckpullover und der avocadogrünen Angorajacke, die sie letzten Winter gestrickt hatte. Eigentlich hatte sie die Jacke für ihre Nichte Marina gestrickt – Gott allein wusste, warum, denn sie standen sich nicht besonders nahe; aber sie strickte nun mal gerne und hatte für ihre Tochter und ihre Enkel bereits ein Dutzend Pullis gemacht. Allerdings wurde die Jacke nicht rechtzeitig zu Weihnachten fertig, und als sie das Geschenk sah, das Marina ihr geschickt hatte – einen karmesinroten Samtschal mit aufgenähten Blumen und seidenen Fransen, wie das Schultertuch einer viktorianischen Dame –, da hatte sie gewusst, dass die Jacke nicht das Richtige war. Und so hatte sie ihr stattdessen einen Geschenkgutschein geschickt und die Jacke behalten. Im Übrigen konnte sie den Schal in Watertown, New York, nirgends tragen – schon gar nicht in der Highschool, wo sie Erst- und Zweitklässler in Geographie unterrichtete – weshalb sie ihn, in Papier gewickelt, ganz hinten in ihrer Frisierkommode verstaut hatte. Das Komische war, dass sie die Jacke liebte wie ein kostbares Geschenk und sie manchmal als Geschenk von Marina betrach

Als sie sich in ihren Parka einwickelte, ihre Bean Boots anzog, die rosa Wolltoque aufsetzte (auch eine ihrer Handarbeiten, mit einem hübschen Streifenmuster und einer Bommel obendrauf), ihre Hände in dicke Fäustlinge steckte und die Aluminiumschaufel von der Veranda nahm, dachte sie wieder sorgenvoll an Bootie dort oben, so kindlich in seinem Pyjama. Sie würde ihn nicht noch einmal bitten, ihr beim Schneeschaufeln zu helfen – das rhythmische Scharren und Schleifen war von seinem Fenster aus schließlich nicht zu überhören –, aber sie hoffte, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, er würde doch noch freiwillig herunterkommen. Andererseits würde dies natürlich bedeuten, dass er wieder nicht gebadet hatte. Sie wies ihn zwar nur ungern darauf hin (wer wollte schon eine dieser ewig zankenden, krittelnden Mütter sein?), aber sie konnte sich nicht erinnern, in der letzten Woche auch nur ein einziges Mal gehört zu haben, wie das Badewasser einlief. Er duschte sich nie, sondern badete lieber, allerdings selten; und wenn, lag er stundenlang im abkühlenden Wasser und las dabei eins seiner grässlichen Bücher.

Judy Tubb kümmerte sich erst einmal um den Schnee in der Einfahrt, und obwohl die köstliche Kälte der Schaufel durch ihre Fäustlinge drang, obwohl der beißende Frost ihre Wangen rötete, obwohl ihr Rücken fast unmittelbar wohlig zu schmerzen begann, verflüchtigte sich ihre gute Laune, als sie wieder an ihren Jungen dachte. Ihr Augapfel. Ihr Ein und Alles. Was war jetzt? März, jetzt war März, fast schon Ostern. Und Bootie hatte schon vor einem Jahr seinen Schulabschluss gemacht, als Klassenbester. Damals hätte sie sich nie träumen lassen, dass er heute immer noch hier sein, dass er wieder zurück sein würde; als er im September nach Oswego gegangen war, hatte sie gedacht, jetzt beginne sein Leben in der großen weiten Welt. Er konnte Gott weiß was erreichen. Und wenn Bert noch am Leben gewesen wäre, hätte er nun gesehen,

Bootie jedoch: Er wolle Politiker werden, hatte er gesagt, oder Journalist wie sein Onkel, vielleicht auch Universitätsprofessor. So hatten ihn die Kids in der Highschool genannt: der Professor. Er war ein pummeliger, bebrillter Junge gewesen, aber immer respektiert, sogar bewundert, auf eine seltsame Art und Weise. Er hatte die Abschlussrede halten dürfen. Und dann kam er an Weihnachten nach Hause, mit noch mal zwanzig, dreißig Pfund mehr auf den Rippen und einer Handvoll fehlender Scheine und sagte, das College sei Scheiße, zumindest sei Oswego Scheiße, seine Lehrer seien Idioten und er wolle auf keinen Fall zurück. Sie vermutete, dass ihm ein Mädchen, irgendein Mädchen, das Herz gebrochen oder ihn bloßgestellt hatte – er tat sich nicht leicht mit Mädchen, war zu schüchtern –, oder es lag an seinen Zimmergenossen, zwei beschränkten Muskelprotzen, deren Hirn in Bier schwamm; aber Bootie erzählte nichts, jedenfalls nicht ihr. Und seit Weihnachten war er immer in seinem Zimmer gewesen, hatte gelesen oder Gott weiß was am Computer getrieben (Pornographie? Das wäre okay gewesen, sie hätte es verstanden, in seinem Alter, aber zur Ablenkung, nicht als Obsession; sie hätte es einfach nur gern gewusst), oder in der

Und plötzlich stand er auf der Veranda, ohne Handschuhe, ohne Mütze, eine Skijacke über dem Pyjama, und schwang die zweite Schaufel, die rostige alte, wie eine Waffe, und seine Brillengläser beschlugen in seinem dampfenden Atem.

»Hör auf jetzt, Ma!«, rief er. »Es reicht. Hab schon kapiert. Ich mache den Rest.« Und er begann so ungewohnt energisch die Schneemassen wegzuschaufeln, dass feiner Schneestaub aufstob, ein zweiter Schneesturm in der Einfahrt, und sie stand ein Weilchen da, starrte auf die seltsame Erscheinung mit der schneeverkrusteten Pyjamahose und den zerzausten dunklen, flockenglitzernden Locken, und – sie leistete insgeheim Abbitte dafür, konnte aber nicht anders – stellte sich vor, wie jetzt die Nachbarn durch die Vorhänge herüberstarrten und rätselten, was da wohl schiefgelaufen war, dass sich dieser blitzgescheite junge Tubb vom Wunderkind zum Wirrkopf verwandelt hatte; und wortlos reichte sie ihm ihre neue, schöne Schaufel, nahm die ramponierte alte an sich und stapfte auf die Veranda zurück, stampfte den Schnee von den Stiefeln, und ihre Wangen brannten vor Kälte und Scham, aber er sollte, er durfte es nicht sehen, und so ging sie ins Haus und hörte die Fliegentür hinter sich zufallen.

Fußreflexzonenmassage

Weil Julius nervte, hatte Marina ihn gebeten, ihr die Füße zu massieren. Ihre Fußsohlen waren voll quälender knubbliger Knoten, die, wie ihr einmal eine indische Bekannte erklärt hatte, mit der Wirbelsäule korrespondierten; oder war es der Darm? –, und eine Massage schien gut geeignet, ihren Ärger zu lindern. Julius hörte zwar nicht auf zu reden – während er ihren Fuß hin und her bog, sagte er irgendetwas über Krieg und Frieden und dass er nie wisse, ob er in seinem Leben ein Pierre oder lieber eine Natascha sein wolle, der isolierte, grüblerische Einzelgänger oder lieber der muntere extrovertierte Paradiesvogel; oder vielmehr, dass er nie wusste, ob er Pierre oder Natascha war, was in seinem Fall beides möglich gewesen wäre –, aber sie brauchte so nicht mehr auf die gleiche Weise zuzuhören und wurde augenblicklich von Empfindungen überflutet, die von den Extremitäten her nach oben strömten und den Vordergrund ihres Bewusstseins ausfüllten.

Sie war selber schuld: Nach zwei Wochen allein im Haus ihrer Eltern am Rand von Stockbridge – jede Nacht war sie bis in die frühen Morgenstunden auf gewesen, hatte in das seltsam unruhige Dunkel gestarrt, sich dann ins Ehebett der Eltern gelegt, ein Obstmesser unterm Kopfkissen und, an Abenden, an denen Rehe oder Bären oder was auch immer im Wald hinterm Haus die Zweige brachen, einen Stuhl unter die Klinke der Schlafzimmertür geklemmt, vermutlich vergebens – war Marina zu dem Schluss gekommen, dass sie Gesellschaft brauchte.

Das Haus, fünfzehn Autominuten entfernt vom Ort mit seinem Wirtshaus, einem Gebäude mit einer Säulenfront, seinen spießigen Läden und den Touristenströmen rund ums Jahr, lag am Ende einer gewundenen Kieseinfahrt zwischen Bäumen auf einer Lichtung. Die Bäume, vorwiegend Nadelhölzer, begrenzten finster die eine Seite des Hauses und ließen auf

Das Haus selbst war ein pseudokoloniales modernes Bauwerk, nacherbaut im alten Stil, soweit das eben möglich war. Massig, zweistöckig, schimmerte es in künstlichem Ochsenblutrot; eine Veranda und vier Bleiglasfenster – ordentlich mit Fensterläden und Tüllgardinen versehen – wiesen beidseitig im oberen und unteren Stockwerk zur Kieseinfahrt hin, die vor dem Haus endete. Auf der Rückseite jedoch ließ das Haus jeglichen historischen Anspruch missen und besaß, was Marina, wenn sie dort allein war, besonders Angst einjagte, Terrassentüren und hohe, große, kahle Fenster von erschreckender Durchlässigkeit, die auf das Kuppeldach des Heckenschützen und den finsteren Wald hinausgingen. Wenn sie sich nach Einbruch der Dunkelheit ein Spiegelei briet, vor dem Fernseher saß oder sich kritisch im Badezimmerspiegel beäugte, war Marina sich stets quälend bewusst, dass man sie vielleicht nicht wirklich beobachtete, aber beobachten konnte. Daher übernachtete sie im Schlafzimmer ihrer Eltern: Es war zur Einfahrt hin gelegen.

Im Laufe der Zeit spürte sie, dass ihre Furcht eher wuchs als nachließ, wenn sie sich vorstellte, wie der imaginäre Stalker – ihr war durchaus bewusst, dass er nur in ihrer Fantasie existierte – sich ihre Gewohnheiten einprägen, ja sogar erkunden konnte, wo sie schlief (obwohl sie komplizierte Täu

Und so hatte sie Julius herbeizitiert. Danielle war weit weg, auf der anderen Seite der Welt, und die wenigsten ihrer arbeitenden Freunde hatten die Zeit, einen Wagen zu mieten und spontan nach Massachusetts zu fahren. Natürlich konnte auch Julius keinen Wagen mieten, denn er besaß keinen Führerschein, aber als Freiberufler konnte er seine Arbeit mitbringen, und Marina hatte ihm (voreilig, wie sie nun fand, nachdem er drei Tage bei ihr war) angeboten, ihn vom Bahnhof Albany abzuholen, der über eine Stunde entfernt lag. Dies hieß natürlich, dass zwar sie allein über den Zeitpunkt seiner Rückfahrt bestimmte, gleichzeitig aber keinerlei Einfluss darauf hatte: Ohne sie kam er nicht von hier weg, aber gerade diese Abhängigkeit sorgte dafür, dass sie ihn nicht bitten konnte zurückzufahren, ja nicht einmal eine Andeutung machen durfte, ohne zu riskieren, dass sie ihn kränkte (der liebe Julius war ein wenig sensibel); und jetzt wusste sie nicht genau, was sie mehr fürchtete: die dumpfe Stille des Hauses, wenn sie wie ein bleiches Gespenst durch die Zimmer wanderte, oder Julius’ Geplapper, das selbst in den leerstehenden Räumen nachzuhallen schien wie ein elektronisches Dauersummen, so dass Marina, schon wenn sie in der dunklen Morgendämmerung erwachte, spüren konnte, dass sie nicht allein war.