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Übersetzung aus dem Schwedischen von Leena Flegler

© Niklas Natt och Dag 2017
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: favoritbuero, München
Coverabbildungen: Johan Sevenbom (1768) und
shutterstock.com
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Karte


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Inhalt

Teil 1: Herbst 1793 | Das Gespenst aus dem Hause Indebetou

Mickel Cardell treibt in kaltem Wasser …

Kapitel 1: Häscher Mickel! …

Kapitel 2: Auf dem Sekretär liegt …

Kapitel 3: So sauber, wie er sich …

Kapitel 4: Mit der Morgendämmerung …

Kapitel 5: Die Schenke ist …

Kapitel 6: Niemand spricht es laut aus …

Kapitel 7: Als er im grauen Dunst …

Kapitel 8: Im Flaggen-Keller am Ufer …

Kapitel 9: Der Stadtteilkommissar der Mariengemeinde …

Kapitel 10: Winge hat bereits den ganzen Tag …

Kapitel 11: Cardell wacht schweißgebadet auf …

Kapitel 12: Sich per Tragesessel durch die Stadt …

Kapitel 13: Die Konditorei von Gustav …

Kapitel 14: Der Sekretär Isak Reinhold Blom …

Kapitel 15: In der Nacht vertreiben Wahnvorstellungen …

Kapitel 16: Bei den Röda Bordarna …

Teil 2: Sommer 1793 | Die roten Wasser

Kapitel 1: Liebe Schwester! …

Kapitel 2: Liebe Schwester, es sind ein paar Tage …

Kapitel 3: Liebe Schwester! Heute bin ich …

Kapitel 4: Liebe Schwester, wunderbare Tage …

Kapitel 5: Am Donnerstagabend machten wir …

Kapitel 6: Wir blieben auf der Treppe …

Kapitel 7: An jenen Tag erinnere ich mich …

Kapitel 8: Als ich zum dritten Mal …

Kapitel 9: Wir müssen in jener Nacht …

Kapitel 10: Ich wachte von dem befremdlichen Gewicht …

Kapitel 11: Ich blieb mit dem Gefesselten …

Kapitel 12: Während der Hochsommer …

Teil 3: Frühling 1793 | Nachtfalter

Kapitel 1: Anna Stina weiß, dass Feuer …

Kapitel 2: Mit dem Frühling kommt die Wärme …

Kapitel 3: Womit verdienst du dein Geld …

Kapitel 4: Zwei Männer fragen nach dir …

Kapitel 5: Es geht genauso schnell …

Kapitel 6: Der Wachmann mit dem angesengten Gesicht …

Kapitel 7: Langsam, aber sicher gewöhnt sie sich …

Kapitel 8: Zwei Wochen vergehen, ehe …

Kapitel 9: In dieser Nacht findet sie keinen Schlaf …

Kapitel 10: Das Zimmer von Wachtmeister …

Kapitel 11: Das Bett neben Anna Stina …

Kapitel 12: Der Sommer neigt sich …

Kapitel 13: Kristofer Blix hat seit dem Ende …

Kapitel 14: Ende Oktober bricht die Kälte …

Teil 4: Winter 1793 | Der Tüchtigste unter den Wölfen

Kapitel 1: Als Mickel Cardell aufwacht …

Kapitel 2: Im Schneetreiben sieht ihn …

Kapitel 3: Als Schwalbe, der Totengräber …

Kapitel 4: Mickel Cardell hat eine neue Bleibe …

Kapitel 5: Als sie sich am Vormittag …

Kapitel 6: Sie laufen durch die stürmische Nacht …

Kapitel 7: Ihr Fuhrwerk wartet am Zoll …

Kapitel 8: Die Sonne scheint weiter entfernt denn je …

Kapitel 9: Der Junge wächst so einsam auf …

Kapitel 10: Es ist Montagnachmittag …

Kapitel 11: Der Frühling war warm …

Kapitel 12: Cecil Winge zieht sein Halstuch enger …

Kapitel 13: Seine Kammer ist ausgekühlt …

Kapitel 14: An einer Ecke der Prästgatan …

Kapitel 15: Cardell schüttelt den gesunden Arm aus …

Kapitel 16: Der Norrmalmstorget liegt verwaist …

Kapitel 17: Es ist still und dunkel …

Kapitel 18: Der Hinterhof der Meerkatze …

Kapitel 19: Sie sind heute deutlich später dran …

Kapitel 20: Anna Stina Knapp ist für einen kurzen Moment …

Kapitel 21: Es ist schon Nachmittag, als …

Nachwort des Autors

1793 basiert auf einer großen Menge historischen Quellenmaterials …

 

List gebiert Gegenlist,
Gewalt gebiert Gegengewalt.

Thomas Thorild, 1793

 

TEIL 1 | HERBST 1793

Das Gespenst aus dem Hause Indebetou

Seither leben wir hier unten in großer Angst. Abertausende von Gerüchten machen die Runde, wovon mir eins absurder erscheint als das andere. Es ist schier unmöglich, gesicherte Erkenntnisse zu gewinnen, weil selbst die Vielgereisten Unterschiedliches vermelden und bei alledem, was erzählt wird, ein jeder seiner Neigung zur Ausschmückung nachgibt. Die Brutalität der Tat jedoch ist zu gewaltig, als dass ich wüsste, was ich davon halten sollte.

Carl Gustaf af Leopold, 1793

 

 

Mickel Cardell treibt in kaltem Wasser. Mit der freien rechten Hand packt er den Kragen von Johan Hjelm, der reglos mit rotem Schaum in den Mundwinkeln neben ihm herdriftet und dessen Waffenrock von Blut und Brackwasser verschmiert ist. Als eine Welle Cardell anhebt und ihm den Stoff aus den Fingern reißt, will er am liebsten schreien, doch aus seiner Kehle dringt lediglich ein Winseln. Neben ihm verschwindet Hjelm wie ein Stein in der Tiefe. Cardell taucht mit dem Kopf unter und blickt für einen Moment dem hinabsinkenden Körper nach. Ein Stück weiter unten, an der Grenze dessen, was er erkennen kann, glaubt er noch etwas anderes zu sehen: Zu Tausenden sinken dort verstümmelte Matrosen bis vor das Höllentor. Des Todesengels Schwingen legen sich um ihre Leiber, und obenauf thront ein blanker Schädel. In der Strömung öffnet sich der Unterkiefer zu einem stummen, höhnischen Lachen.

 

 

1»Häscher Mickel! Wachen Sie auf!«

Als Stadtknecht Jean Michael Cardell unter den unermüdlichen Stößen langsam zu sich kommt, verspürt er für einen Moment Schmerzen im linken Unterarm, der nicht mehr da ist. Anstelle der abgetrennten Gliedmaße sitzt dort nur mehr eine geschnitzte Hand aus Buchenholz. Der Stumpf selbst ruht in einer Vertiefung an seiner Seite, während das Holz mit Lederriemen an seinem Ellbogen befestigt ist. Die Riemen schneiden ihm ins Fleisch. Mittlerweile müsste er es besser wissen und sie aufknoten, sobald er einzunicken droht.

Widerwillig schlägt er die Augen auf und sieht als Erstes die fleckige Landschaft einer Tischplatte vor sich. Sowie er versucht, den Kopf zu heben, spürt er, dass seine Wange am Holz festklebt. Als er sich schließlich aufrichtet, zieht ihm der klebrige Dreck die Perücke vom Kopf. Er flucht und schiebt sie sich zerstreut unter die Jacke, nachdem er sich damit den Schweiß aus dem Gesicht gewischt hat. Sein Hut ist zu Boden gefallen, die Krone eingedellt. Er schlägt die Delle heraus und setzt ihn wieder auf.

Langsam kehrt die Erinnerung zurück. Er befindet sich noch immer im Hamburger Keller. Offenbar hat er sich an seinem Tisch bewusstlos gesoffen. Ein Blick über die Schulter – da sind noch andere, denen es ähnlich ergangen sein muss. Eine Handvoll Betrunkener, die der Wirt offenbar für hinreichend betucht gehalten hat, um sie nicht hinaus in den Rinnstein zu befördern, liegt auf Bänken und unter den Tischen und wartet auf den Morgen, um sich endlich nach Hause zu schleppen und die Standpauke der daheim Wartenden über sich ergehen zu lassen. Bei Cardell ist das anders. Als Krüppel lebt er allein, und nur er selbst bestimmt über seine Zeit.

»Mickel, Sie müssen kommen! Da liegt ein Toter im Fatburen!«

Zwei Straßenkinder haben ihn geweckt. Ihre Gesichter kommen ihm vage bekannt vor; an die Namen kann er sich nicht mehr erinnern. Hinter den beiden steht Bagge, der fette Liebhaber und Handlanger der Wirtin. Sein Gesicht ist stark gerötet, auch er scheint eben erst aufgewacht zu sein. Er hat sich zwischen die beiden Kinder und den Stolz des Kellers geschoben, der hinter Schloss und Riegel in einem blauen Schrank verwahrt wird: eine Sammlung geritzter Gläser.

Hier im Hamburger Keller machen die Todgeweihten halt, bevor sie auf dem Karren hinauf zum Galgenberg am Skanstull gebracht werden. Hier bekommen sie einen letzten Schluck zu trinken. Dann werden ihre Gläser eingesammelt, mit ihren Namen versehen und der Sammlung hinzugefügt.

Wer immer später daraus trinken will, wird streng beaufsichtigt und muss einen Preis entrichten, der sich an der Berühmtheit des Toten bemisst – und das soll Glück bringen. Cardell hat nie richtig verstanden, warum.

Er wischt sich den Schlaf aus den Augen. Natürlich ist er immer noch alkoholisiert. Als er die Stimme hebt, klingt sie breiig.

»Was zur Hölle ist hier los?«

Das Mädchen – das ältere der beiden Kinder – antwortet. Der Junge, nach der Ähnlichkeit zu urteilen womöglich der Bruder, hat eine Hasenscharte und rümpft die Nase, als er Cardells Atem riecht. Er geht hinter seiner Schwester in Deckung.

»Im Wasser liegt ein Toter, direkt am Ufer.«

In ihrer Stimme liegt eine Mischung aus Schrecken und Erregung. Die Adern um Cardells Stirn fühlen sich an, als könnten sie jeden Moment zerplatzen, und sein Puls droht die wattigen Gedanken zu übertönen, zu denen er schon wieder in der Lage ist.

»Und was hab ich damit zu tun?«

»Bitte, Mickel, es ist sonst niemand da, und wir wussten, dass Sie hier sein würden.«

In der vergeblichen Hoffnung auf ein wenig Linderung reibt er sich die Schläfen.

Über Södermalm beginnt es gerade erst zu dämmern. Die nächtliche Finsternis hängt noch immer in der Luft, die Sonne hat sich noch nicht hinter der Sicklaön und dem Danviken heraufgeschoben. Cardell stolpert über die Treppe des Hamburger Kellers nach draußen und dann hinter den zwei Kindern her die leere Borgmästaregatan entlang. Mit halbem Ohr hört er zu, wie sie von einem durstigen Zugochsen erzählen, der am Ufersaum des Fatburen mit einem Mal zurückschreckte und dann in Richtung Tanto flüchtete.

»Er hat mit seinem Maul die Leiche berührt, und die hat sich dann einmal um die eigene Achse gedreht.«

Am See, wo der Weg nicht mehr gepflastert ist, wird der Boden lehmig. Hier unten am Fatburen war Cardell schon lange nicht mehr, aber es hat sich nichts verändert. Angeblich sollte das Ufer für neue Anlegestellen und Brücken geräumt werden, aber nichts dergleichen ist passiert. Kein Wunder, da Stadt- und Staatskasse leer sind – das weiß er genauso gut wie jeder andere, der seinen mickrigen Lohn mit allerhand zusätzlichen Einkünften aufbessern muss. Sämtliche Güter am Ufer wurden zu Manufakturen umgebaut, und die Werkstätten leiten ihren Dreck ungefiltert in den See. Der für Ausscheidungen vorgesehene Holzverschlag ist überschwemmt, wird von den meisten aber ohnehin gemieden. Cardell stößt einen saftigen Fluch aus, als sein Stiefelabsatz durch den Lehm furcht und er den gesunden Arm nach hinten reißen muss, um das Gleichgewicht zu halten.

»Euer Rindvieh hat sich erschreckt, weil es die Überreste eines alten Kameraden gewittert hat. Hier kippen Schlachter ihre Abfälle ins Wasser. Ihr habt mich wegen ein paar Ochsenrippen oder dem Rückgrat eines Schweins geweckt!«

»Wir haben ein Gesicht im Wasser gesehen, das Gesicht eines Menschen!«

Wasser plätschert und spült fahlgelben Schaum ans Ufer. Die Kinder haben insofern recht, als ein paar Meter in den See hinein etwas Verrottetes im Wasser treibt, ein dunkles Bündel. Als Erstes schießt Cardell durch den Kopf, dass es zu klein ist. Das kann kein Mensch sein.

»Das sind Schlachtabfälle, genau wie ich vermutet habe. Irgendein Tierkadaver.«

Doch das Mädchen bleibt stur, und der Junge nickt nachdrücklich. Cardell schnaubt resigniert.

»Ich bin betrunken. Verstanden? Besoffen. Nicht bei Sinnen. Merkt euch das, falls irgendwer euch fragt, wie es kommen konnte, dass ihr einen Stadtknecht dazu gebracht habt, im Fatburen baden zu gehen, und dass er euch anschließend verdroschen hat, als er tropfnass und stinksauer wieder aus dem Wasser kam.«

Nur unter Mühen, wie es jedem Einarmigen gegangen wäre, schält er sich aus seiner Jacke. Die Wollperücke, die er schon wieder ganz vergessen hat, fällt auf den Lehmboden. Auch egal, er hat das Ding für eine Handvoll Zwölftelschillinge gekauft, es ist inzwischen ohnehin längst aus der Mode, und er trägt es nur noch, weil mit einem ordentlichen Auftreten seine Chancen als Kriegsveteran steigen, den einen oder anderen Schluck spendiert zu kriegen. Cardell legt den Kopf in den Nacken. Hoch über dem Årstafjärden funkeln immer noch die Sterne wie auf einer Perlenschnur. Er schließt die Augen, um die Schönheit dieses Anblicks in seinem Innern zu verschließen, und setzt erst dann den rechten Stiefel in den See.

Der durchweichte Ufersaum kann sein Gewicht nicht tragen. Er sinkt bis zum Knie ein und spürt, wie das Wasser in den Schaft des Stiefels strömt, der prompt im Schlamm stecken bleibt, als er das Bein nachziehen muss, um nicht zu stolpern. In einer Mischung aus Waten und Schwimmzügen arbeitet er sich voran.

Das Wasser fühlt sich zwischen seinen Fingern zäh und dickflüssig an. Um ihn herum treibt all das, was man nicht einmal in den Elendsvierteln Södermalms für aufhebenswert hält.

Der Alkohol beeinträchtigt sein Urteilsvermögen. Er empfindet Panik, sobald er keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Dieser Tümpel ist tatsächlich tiefer, als er vermutet hat, und mit einem Mal fühlt er sich in den Svensksund zurückversetzt – drei Jahre zuvor, inmitten der Schrecken eines Malstroms, der den schwedischen Verband zu verschlingen drohte.

Er schiebt sich mit Beinschlägen vorwärts und streckt sich nach dem Kadaver. Erst glaubt er, dass er recht gehabt hat: Es ist kein menschliches Wesen. Es ist ein totes Tier, das aus der Schlachtschwemme gespült wurde und jetzt an die Wasseroberfläche getrieben ist, weil Faulgase sich in den Eingeweiden ausbreiten. Doch dann dreht sich das Bündel, und er sieht sich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Verrottet ist es nicht, trotzdem starren ihn leere Augenhöhlen an. Hinter den zerfetzten Lippen kein einziger Zahn. Nur das Haar scheint noch zu schimmern, auch wenn die Nacht und der Fatburenschlamm ihr Bestes tun, um die Farbe zu verschleiern. Doch der Schopf ist ohne Zweifel blond. Cardell schnappt hektisch nach Luft und schluckt Wasser.

Als er endlich aufhört zu husten, lässt er sich kurz neben der Leiche im Wasser treiben. Er sieht ihr ins zerstörte Gesicht. Von den Kindern am Ufer hört er keinen Mucks mehr. Stumm warten sie darauf, dass er wiederkommt. Er macht kehrt und stößt sich mit dem nackten Fuß ab in Richtung Ufer.

Dort, wo das Wasser ihrer beider Gewicht nicht mehr trägt, wird die Bergung zusätzlich erschwert. Cardell rollt sich über den Rücken ab, stemmt sich auf die Beine und schleppt seinen Fund mithilfe der Fetzen, in die er gehüllt ist, aus dem Wasser. Die Kinder machen keine Anstalten zu helfen, im Gegenteil, sie weichen erschrocken zurück und halten sich die Nase zu. Cardell hustet Wasser und spuckt auf den Lehmboden.

»Lauft zur Schleuse, und holt die Stadtwache!«

Und wieder machen die Kinder keine Anstalten. Sie sind ebenso darauf erpicht, sicheren Abstand zu halten, wie einen Blick auf Cardells Fang zu erhaschen. Erst als er die Faust hebt, setzen sie sich in Bewegung.

»Lauft zum Nachtposten, und ruft einen verdammten Blaurock, zum Teufel!«

Als er ihre kleinen Füße nicht mehr hören kann, dreht er den Kopf zur Seite und übergibt sich. Am Ufer ist es wieder totenstill, und dort unten allein am Wasser spürt er, wie eine kalte Hand die Luft aus seiner Lunge presst und ihm der Atem stockt. Sein Herz hämmert immer schneller, Blut schießt durch die Adern an seinem Hals, und eine überwältigende Angst ergreift von ihm Besitz. Er weiß nur zu gut, was als Nächstes kommt: Er spürt, wie sich sein nicht länger vorhandener Arm aus dem Dunkel heraus förmlich verdichtet, bis jede Faser seines Leibs ihm zuraunt, dass der Arm wieder da sei, wo er hingehöre. Er spürt, wie sich vom Unterarm ein Schmerz ausbreitet, der so übermächtig ist, dass er die Welt übertönen könnte: ein Schädel mit eisernen Zähnen, die durch Fleisch und Knochen nagen.

Panisch reißt er die Lederriemen vom Ellbogen und lässt die Holzhand auf den Lehmboden fallen. Dann packt er mit der Rechten den Stumpf und knetet die vernarbte Haut, um seine Sinne wieder daran zu erinnern, dass jener Unterarm, den sie zu spüren glauben, nicht länger da und die schmerzende Wunde schon seit Jahren verheilt ist.

Die Attacke währt nicht länger als eine Minute. Endlich kriegt er wieder Luft, atmet erst ganz flach, dann immer ruhiger und langsamer. Die Angst schwindet, und die Welt nimmt wieder erkennbare Konturen an. Derlei jähe Panikattacken überkommen ihn schon seit drei Jahren – seit er mit nur einem Arm und um einen Kameraden ärmer zurück an Land gekrochen ist. Dabei liegt der letzte Anfall schon eine Weile zurück. Er hat eigentlich geglaubt, ein, zwei Mittelchen gefunden zu haben, die den Alb auf Abstand halten: den Branntwein und Schlägereien. Cardell sieht sich trostsuchend um, doch es sind nur er und die Leiche da. Immer noch mit der Hand am Stumpf, schaukelt er vor und zurück.

Er nimmt nicht einmal zur Kenntnis, wie lange die Stadtwache braucht. Still sitzt er am Ufer und starrt vor sich hin. Seine durchnässte Kleidung ist eiskalt, aber noch hat er genügend Branntwein in den Adern, dass ihm warm ist. Als sie kommen, sind sie zu zweit: zwei Männer in blauen Uniformjacken über weißen Hosen, jeder mit einer bajonettbewehrten Muskete im Arm. Ihrem Gang kann er ansehen, dass auch sie getrunken haben, was zwar strafbar, aber an der Tagesordnung ist. Einen der beiden kennt er sogar namentlich. Viele jener schlecht bezahlten Ordnungskräfte neigen dazu, ihre Sorgen im Branntwein zu ertränken, und die Wirtshäuser sind brechend voll.

»Sieh mal einer an: Mickel Cardell auf Badeausflug in der Stadtlatrine. Haben Sie darin etwas von Wert gesucht, was Sie versehentlich vor ein paar Tagen verschluckt und nicht mehr aus der Schüssel haben retten können? Oder haben Sie nach einer verirrten Hure gesucht, die ins Wasser gegangen ist?«

»Halten Sie die Klappe, Solberg. Ich mag gerade nach Kloake stinken, aber Sie und Ihr Freund – Sie stinken nach Fusel. Gehen Sie besser runter ans Wasser, und gurgeln Sie durch, bevor Sie Ihren Korporal wecken.«

Cardell steht auf und streckt den steifen Rücken durch. Dann zeigt er neben sich auf die Leiche.

»Da.«

Sowie Kalle Solberg sich ihr nähert, zuckt er erst einmal heftig zurück.

»Pfui Teufel!«

»Genau. Einer von Ihnen bleibt am besten hier, würde ich sagen, während der andere in Richtung Schlossberg läuft und einen Konstabler von der Wache holt.«

Cardell wickelt seine Jacke um die Holzhand und klemmt sich das Bündel unter den Stumpf. Gerade will er sich auf den Weg machen, als er sich wieder an den eingebüßten Stiefel erinnert. Er wirft sein Bündel auf den Hang, macht kehrt und watet steifbeinig und doch so würdevoll, wie er nur kann, in seinen eigenen Fußstapfen zurück, bis er den eingesunkenen Stiefel findet. Dann zerrt er das Leder aus dem Schlamm, der wie zur Antwort enttäuscht schmatzt. Solberg hat das Glück auf seiner Seite und darf sich auf den Weg in die Stadt machen. Sein Kamerad steht derweil wortlos da und legt weder Spott noch Hohn an den Tag. Der Schrecken, der einen überkommt, wenn man allein mit einer Leiche zurückbleibt, ist ihm anscheinend nicht fremd. Cardell nickt ihm im Vorbeigehen zu. Er hat einen Cousin, der hier im Viertel wohnt und der einen Brunnen und mit etwas Glück auch eine Kanne Seifenwasser übrig hat, die er bereit ist, mit Cardell zu teilen.

 

 

2Auf dem Sekretär liegt ein Bogen Papier mit einem aufgezeichneten Schachbrettmuster. Cecil Winge legt die Taschenuhr vor sich auf die Arbeitsplatte, nimmt die Kette ab und zieht den Leuchter mit dem hellen Wachslicht ein Stück näher heran. Schraubendreher, Pinzette und die eine oder andere Zange liegen aufgereiht vor ihm. Er hält die Hände vor sich ins Kerzenlicht. Nicht das geringste Zittern.

Konzentriert macht er sich an die Arbeit. Er öffnet das Gehäuse, zieht die Stifte heraus, auf denen die Zeiger sitzen, und legt sie in den jeweils vorgesehenen Quadranten auf dem Papierbogen. Dann nimmt er das Ziffernblatt, legt das Uhrwerk frei, hebt es ebenfalls aus dem Gehäuse. Er nimmt es auseinander und ölt Zahnrad um Zahnrad. Aus ihrem Gefängnis befreit, lockert sich die flach aufgerollte Feder zu einer zierlichen Spirale. Darunter liegt der Unruhring, dann das Federhaus. Mit Schraubendrehern, die kaum breiter als Nähnadeln sind, zieht er die winzigen Schrauben aus den Gewinden.

Ohne funktionsfähige Uhr ist Winge auf den Klang der Kirchenglocken angewiesen, die die fortschreitende Stunde verkünden. Im Ladugårdslandet ist es die große Glocke der Hedvig-Eleonora-Kirche. Vom Saltsjön her kann er das schwache Echo vom Glockenturm der Katarinenkirche hören. Die Zeit verrinnt.

Sobald er das Uhrwerk komplett auseinandergenommen hat, macht er sich daran, es in umgekehrter Reihenfolge wieder zusammenzufügen. Indem jeder Teil an seinen angestammten Platz gelegt wird, nimmt es nach und nach wieder Gestalt an. Winges schlanke Finger beginnen, sich zu verkrampfen, und er muss mehrmals Pausen einlegen, damit sich Muskeln und Sehnen erholen. Er ballt die Fäuste, spreizt die Finger, reibt sich die Hände, presst die Handgelenke auf die Knie. Die unbequeme Sitzhaltung fordert ihren Tribut, und die Krämpfe in der Hüfte, die er immer häufiger hat, breiten sich über seinen unteren Rücken aus und zwingen ihn, in einem fort die Sitzposition zu verändern.

Als die Zeiger wieder an ihrem Platz sitzen, führt er den winzigen Schlüssel ins Loch, dreht ihn herum und spürt den Widerstand der Feder. Sobald er loslässt, kann er das wohlbekannte Ticken hören und hat zum bestimmt hundertsten Mal seit dem vergangenen Sommer ein und denselben Gedanken: Genau so sollte die Welt funktionieren, rational und greifbar – jedes Zahnrad an seinem ureigenen Platz, präzise Bahnen, die man anhand des benachbarten Zahnrads exakt berechnen kann.

Doch der Trost, den er diesem Gedanken abgewinnt, ist nicht von Dauer. Er ist verflogen, sobald die Ablenkung vorbei ist und die Welt, in der für einen Augenblick die Zeit stillgestanden hat, um ihn herum wieder Gestalt annimmt. Er hängt seinen Gedanken nach, legt einen Finger aufs Handgelenk und zählt die Pulsschläge, während der Sekundenzeiger über das eingelassene Ziffernblatt wandert, auf dem der Name des Uhrmachers steht: Beurling, Stockholm. Einhundertvierzig Schläge pro Minute. Die Schraubendreher und das übrige Werkzeug liegen wieder an ihrem Platz, und er will die ganze Prozedur gerade von Neuem angehen, als er mit einem Mal Essensgeruch wahrnimmt. Dann kratzt das Mädchen an der Kammertür, und eine Stimme ruft zu Tisch.

Eine blau gemusterte Suppenterrine wird auf den Tisch gestellt. Der Gastgeber, Reepschläger Olof Roselius, neigt den Kopf zu einem kurzen Tischgebet, ehe er die Hand ausstreckt und den Deckel von der Terrine hebt. Er verbrennt sich am Griff, verkneift sich einen Fluch und schüttelt die Finger aus.

Auf seinem Platz zur Rechten des Reepschlägers tut Cecil Winge so, als studierte er die hölzerne Tischplatte, auf der das Kerzenlicht Schattenstreifen erzeugt. Währenddessen eilt die Magd mit einem Handtuch zu Hilfe. Der Duft von Rüben und gegartem Fleisch glättet die Runzeln in der Stirn des Reepschlägers. Mit seinen siebzig Jahren ist jegliche Farbe aus seinem Kopfhaar und dem Bart gewichen. Leicht gekrümmt sitzt er auf seinem Stuhl. Roselius eilt der Ruf eines rechtschaffenen Mannes voraus. Jahrelang hat er sich für die Arbeit des Armenhauses der Hedvig-Eleonora-Kirche eingesetzt und andere großzügig an seinem Vermögen teilhaben lassen, das einst hinreichend war, um den Gutshof des Grafen Spens am Rande des Ladugårdslandet zu erwerben. Doch in den letzten Jahren fordern missglückte Geschäfte mit seinem Nachbarn Ekman, Kämmerer der Verwaltungsbehörde, ihren Tribut. Ein Sägewerk im Västerbottnischen hat sich als Fehlinvestition entpuppt. Winge hat so eine Ahnung, dass Roselius sich für Jahrzehnte der Wohltätigkeitsarbeit ungerecht entlohnt fühlt. Eine gewisse Bitterkeit scheint wie eine Glocke über dem gesamten Besitztum zu hängen.

Winge kann als Mieter nicht umhin, sich selbst als eine Mahnung an schlechtere Zeiten zu betrachten. Doch heute Abend macht Roselius einen noch niedergeschlageneren Eindruck als sonst, und er begleitet jeden Löffelvoll mit einem Seufzer. Als er sich schließlich räuspert und die Stille durchbricht, ist sein Teller beinahe leer.

»Der Jugend Ratschläge zu erteilen ist bekanntlich mühsam; man kassiert dafür nur Schelte. Trotzdem will ich Klartext reden, Cecil. Seien Sie so gut, und hören Sie mir zu, ich will nämlich Ihr Bestes.«

Roselius erlaubt sich einen neuerlichen Seufzer, ehe er ausspricht, was offenbar ausgesprochen werden muss.

»Was Sie da tun, ist nicht natürlich. Ein Ehemann muss bei seiner Frau sein. Haben Sie ihr nicht geschworen – und sie Ihnen –, in guten wie in schlechten Tagen beieinanderzubleiben? Kehren Sie zu ihr zurück.«

Blut steigt Winge in das blasse Gesicht, und er ist ob der Vehemenz seiner Gefühle selbst überrascht. Ein derart getrübtes Urteilsvermögen und übermächtiger Zorn stehen einem Mann der Vernunft nicht gut zu Gesicht. Er atmet tief ein, hört das Blut in seinen Ohren rauschen und ringt um Fassung. Währenddessen bleibt er dem Reepschläger die Antwort schuldig. Winge weiß, dass sich die List, die sein Gegenüber einst zum Erfolgreichsten seiner Zunft gemacht hat, über die Jahre nicht gemindert hat. Er kann regelrecht hören, wie hinter dessen Stirnfalten ein argwöhnischer Gedanke den anderen jagt. Die Spannung zwischen ihnen schwillt in der Stille an und verebbt wieder. Roselius seufzt, lehnt sich zurück und hebt die Hände zu einer versöhnlichen Geste.

»Wir haben schon oft miteinander gegessen, Sie und ich. Ich kenne Sie ein bisschen. Sie sind belesen und haben einen scharfen Verstand. Ich weiß überdies, dass Sie kein schlechter Mensch sind, ganz im Gegenteil. Aber Sie lassen sich von neuen Ideen blenden, Cecil. Sie glauben, Sie könnten alles kraft des Verstandes lösen – kraft Ihres Verstandes. Aber da liegen Sie falsch. Gefühle lassen sich nicht an die Kette des Verstandes legen. Kehren Sie zu Ihrer Frau zurück, um Ihrer beider willen, und wenn Sie ihr etwas angetan haben sollten, bitten Sie sie um Verzeihung.«

»Was ich getan habe, war zu ihrem Besten. Ich hatte es mir gut überlegt.«

Selbst in seinen eigenen Ohren klingt diese Erwiderung wie die Rechtfertigung eines bockbeinigen Kindes.

»Cecil, was immer Sie damit beabsichtigt hatten – es ist anders gekommen.«

Winge kann seine Hände nicht am Zittern hindern. Er legt den Löffel beiseite, damit es nicht auffällt. Seine Stimme ist zu seinem Verdruss kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

»Es hätte funktionieren müssen.«

Als Roselius antwortet, ist seine Stimme weicher als zuvor.

»Ich habe sie heute gesehen, Cecil, ihre Frau – beim Fischhändler am Katthavet. Sie erwartet ein Kind. Sie kann ihren Bauch nicht länger verbergen.«

Winge rückt seinen Stuhl zurecht und sieht dem Reepschläger jetzt erstmals ins Gesicht.

»War sie allein?«

Roselius nickt und lehnt sich vor, um die Hand auf Winges Unterarm zu legen, doch der weicht intuitiv aus, und zwar so schnell, dass es ihn selbst verblüfft.

Winge schließt die Augen, um sich wieder zu sammeln. Er hat erneut den Eindruck, als stünde die Zeit still, während er in der Bibliothek seiner Gedanken steht, in der um ihn herum die Bücher stumm aufgereiht sind. Er wählt einen Band von Ovid, schlägt das Buch auf einer wahllosen Seite auf. Omnia mutantur, nihil interit. Alles wandelt sich, aber nichts geht komplett zugrunde. Derlei tröstliche Worte braucht er gerade.

Als er die Augen wieder aufschlägt, verrät sein Blick nicht das geringste Gefühl. Mit Mühe hält er seine zitternden Hände unter Kontrolle, rückt behutsam den Löffel zurecht, schiebt seinen Stuhl zurück und steht vom Tisch auf.

»Ich danke Ihnen für die Suppe und Ihr Mitgefühl, aber rechnen Sie damit, dass ich das Abendessen von nun an in meiner Kammer zu mir nehme.«

Die Stimme des Reepschlägers folgt ihm nach draußen.

»Wenn der Gedanke das eine, die Wirklichkeit aber das andere sagt, muss doch der Gedanke falsch gewesen sein. Wie kann das ausgerechnet Ihnen mit Ihrer humanistischen Ausbildung nicht einsichtig sein?«

Darauf hat Winge keine Antwort, aber indem er davonmarschiert, kann er so tun, als hätte er es nicht gehört.

Auf unsicheren Beinen stolpert Cecil Winge hinaus in den Flur und dann die Treppe hoch zur Kammer, die er seit dem Sommer im Haus des Reepschlägers angemietet hat. Er kommt im Moment sehr leicht außer Atem und muss sich vornübergebeugt an den Türrahmen lehnen.

Vor seinem Fenster erstreckt sich das stille Gut. Die Sonne ist schon vor einer Weile untergegangen. Der Hang hinunter zum Saltsjön steht voller Obstbäume. Jenseits der Wipfel schimmern die Lichter von Skeppsholmen, wo die Seeleute in der Hoffnung, alsbald unter Deck verschwinden zu dürfen, ihr Tagwerk beenden. Noch weiter entfernt zeichnet sich der Turm der Katarinenkirche am Himmel ab. Der Wind frischt auf, wie jeden Abend, als würde die Stadt tagaus, tagein morgens Meeresluft einatmen und abends wieder ausatmen, woraufhin sich jedes Wetterfähnchen in Richtung Wasser dreht. Kurckan, die alte Windmühle, reißt aus Protest an den Tauen, die ihre Flügel fixieren. Ein Stück entfernt antwortet eine ihrer unsichtbaren Schwestern in derselben Sprache.

In der Fensterscheibe sieht Winge sein Spiegelbild. Er ist noch keine dreißig, und sein bleiches Gesicht zeichnet sich scharf gegen sein dunkles Haar ab, das er im Nacken zusammengebunden hat. Ein hoch geknotetes Tuch verdeckt seinen Hals. In der Dunkelheit kann er nicht mehr erkennen, wo der Horizont aufhört und das Himmelszelt ansetzt. Erst ein ganzes Stück weiter oben funkeln die Sterne. So ist wohl die Welt – jede Menge Finsternis und nur wenig Licht. Am oberen Rand kann er durch die Scheibe eine Sternschnuppe sehen – einen Strich, der blitzschnell über den Himmel schießt. Als er noch ein kleiner Junge war, durften sie sich immer etwas wünschen, wenn sie eine Sternschnuppe entdeckten. Dem Aberglauben kann er schon lange nichts mehr abgewinnen; dennoch formuliert er einen stummen Wunsch.

Zwischen den Linden im Hof sieht er ein Licht, obgleich kein Besuch mehr erwartet wird. Dann ruft jemand seinen Namen. Er zieht den Rock über, und als er auf die Stimme zuläuft, entdeckt er zwei Gestalten. Roselius’ Magd hält die Laterne. Neben ihr steht ein kleiner, vornübergebeugter Kerl, stützt die Hände auf die Knie, ringt um Atem, und von den Lippen trieft der Speichel. Als Winge näher tritt, drückt ihm die Magd ihre Laterne in die Hand.

»Besuch für den Herrn. In dem Zustand lass ich den aber gewiss nicht rein.«

Sie macht auf dem Absatz kehrt und marschiert breitbeinig zurück ins Hauptgebäude, während sie über die Torheit der Welt den Kopf schüttelt. Der Kerl ist jung, hat immer noch eine helle Stimme, und unter all dem Schmutz sind seine Wangen glatt.

»Also?«

»Sind Sie Winge? Cecil Winge, der im Inbetoska arbeitet?«

»Die Polizeikammer ist im Hause Indebetou untergebracht und nirgends sonst. Nichtsdestoweniger: Ja, der bin ich.«

Unter dem schmutzig blonden Haarschopf blinzelt der Junge ihn an. Ohne einen Beweis will er ihm offenbar nicht glauben.

»Auf dem Schlossberg heißt es, der Herr zahlt dem Schnellsten ein Trinkgeld.«

»Ach ja?«

Der Junge kaut auf einer Haarsträhne herum, die aus seiner Kappe gerutscht ist.

»Ich war schneller als die anderen. Jetzt hab ich Seitenstechen und schmecke Blut, und heute Nacht muss ich in nassen Kleidern draußen auf der Straße schlafen. Einen Zwölftelschilling will ich dafür schon haben.«

Der Junge hält den Atem an, als hätte Winge seine Dreistigkeit mit einem Würgegriff gestraft. Doch der wirft ihm nur einen abschätzigen Blick zu.

»Du hast gesagt, es gebe noch andere, die sich auf den Weg hierher gemacht haben. Da muss ich ja nur einen Moment warten, bis die Angebote nur so hereinströmen.«

Er kann regelrecht hören, wie der Junge mit den Zähnen knirscht und sich für seinen Lapsus verflucht. Trotzdem zückt Winge seine Geldbörse, nestelt die gewünschte Münze heraus und hält sie zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Heute Abend hast du Glück. Geduld ist nämlich nicht gerade meine Stärke.«

Erleichtert grinst ihn der Junge an. Ihm fehlen zwei Schneidezähne. Blitzschnell schiebt er die Zunge durch die Lücke und leckt sich den Rotz von der Oberlippe.

»Der Kammerdirektor will sich mit dem Herrn unterhalten, und zwar jetzt gleich, in der Yxsmedsgränd.«

Winge nickt und streckt die Hand mit der Münze aus. Der Junge macht ein paar Schritte nach vorn und schnappt sich seine Belohnung. Dann wirbelt er herum, rennt los und springt mit einem so langen Satz über das Mäuerchen, dass er beinahe die Balance verliert.

»Kauf Brot davon«, ruft Winge ihm nach, »und keinen Branntwein!«

Der Junge bleibt stehen. Dann zieht er sich die Hose herunter, dreht Winge die Kehrseite zu, klatscht sich mit der flachen Hand deutlich vernehmbar auf beide Gesäßbacken und ruft über die Schulter: »Noch mehr solcher Botengänge, und ich werde so reich, dass ich mir beides leisten kann!«

Dann lacht er triumphierend und verschwindet im Laufschritt in Richtung Ladugårdslandet. Im Handumdrehen verschlucken ihn die Schatten. Cecil Winge muss unwillkürlich an die Sternschnuppe denken.

Eine Dienstwohnung wurde Kammerdirektor Johan Gustaf Norlin bereits vor Monaten zugesichert, doch bis dato ist nichts passiert. Er wohnt mit seiner Familie immer noch im selben Haus wie zuvor, drei Querstraßen von der Börse entfernt. Es ist schon weit nach Mitternacht, als Winge es bis hinauf in den dritten Stock geschafft hat, wo er stehen bleibt und nach Luft ringt. Die früheren Besucher in dieser Nacht haben offenbar nicht nur den Kammerdirektor, sondern auch den Rest der Großfamilie geweckt. In der Wohnung singt eine Frau ein weinendes Kind in den Schlaf.

Norlin wartet in der Diele auf ihn. Er hat seine Perücke abgelegt, und zwischen Uniformjacke und Hose hängt ein Zipfel seines Nachthemds heraus.

»Cecil. Danke, dass du so kurzfristig kommen konntest.«

Winge nickt und lässt sich auf Norlins Geste hin auf einen Stuhl nieder, den jener neben den Kachelofen gerückt hat.

»Catharina hat schon Kaffee aufgesetzt, und warm wird es auch gleich.«

Dann nimmt der Kammerdirektor erschöpft gegenüber seinem Besucher Platz und räuspert sich, bevor er zur Sache kommt.

»Im Fatburen auf Södermalm ist ein Mann tot aufgefunden worden. Ein paar Kinder haben einen betrunkenen Häscher überreden können, ihn aus dem Wasser zu ziehen. Der Zustand des Toten allerdings … Der Kerl, der mich in Kenntnis gesetzt hat, ist seit knapp zehn Jahren bei der Wache, und in dieser Zeit hat er sicher das Schlimmste gesehen, was ein Mensch einem anderen antun kann. Trotzdem musste er eine Weile zusammengekrümmt und keuchend hier auf meiner Schwelle stehen, um ja sein Abendbrot bei sich zu behalten, während er mir den Zustand der Leiche schilderte.«

»Wenn du denselben Mann meinst wie ich, dann mag sich da auch der Branntwein bemerkbar gemacht haben.«

Keiner der beiden lacht, und Winge reibt sich die müden Augen.

»Johan Gustaf, wir haben uns darauf geeinigt, dass mein jüngster Auftrag für dich auch mein letzter sein sollte. Ich bin der Kammer im vergangenen Jahr gerne behilflich gewesen. Aber es ist höchste Zeit für mich, meine eigenen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.«

Norlin steht auf, um den brodelnden Kupferkessel aus dem Nachbarzimmer zu holen, und gießt ihnen zwei Becher Kaffee ein.

»Niemand wäre dir für alles, was du getan hast, dankbarer als ich, Cecil. Ich kann mich nicht an eine einzige Gelegenheit erinnern, bei der du meine Erwartungen nicht übertroffen hättest. So wie du seit dem letzten Winter die Zahlen der Kammer verbessert hast, muss es für einen Außenstehenden aussehen, als hättest du mir einen enormen Dienst erwiesen. Korrigiere mich, wenn ich falschliege, Cecil … aber habe ich damit nicht auch dir einen Dienst erwiesen?«

Norlin versucht über den Becherrand hinweg, Winges Blick aufzufangen – vergebens. Er nimmt noch einen Schluck und stellt den Becher beiseite.

»Wir waren alle einmal jung, Cecil, hatten das Juridicum gerade hinter uns gelassen und waren begierig darauf, uns im Rechtswesen einen Namen zu machen. Du warst immer der Idealist, hast von uns allen stets am vehementesten für deine Überzeugungen eingestanden und warst willens, dafür jeden Preis zu zahlen. Du bist der Alte geblieben, während ich mit der Zeit abgestumpft bin. Nur indem ich Kompromisse eingegangen bin, konnte ich zum Kammerdirektor aufsteigen. Ausnahmsweise scheinen wir die Rollen getauscht zu haben, denn jetzt frage ich dich: Wie oft werden wir eigentlich mit Fehlern konfrontiert, die es wirklich wert sind, bereinigt zu werden, vorausgesetzt, wir können es kraft unserer Position? Die wenigsten Fälle, in denen du für mich ermittelt hast, waren deiner Aufmerksamkeit wert! Falschmünzer, die nicht buchstabieren konnten. Ehemänner, die ihre Frauen erschlagen und nicht einmal das Blut vom Hammer gewischt hatten. Gewalttäter und andere Delinquenten, die der Branntwein und der anschließende Kater zur Raserei getrieben hatten. Aber das hier, das ist etwas anderes, das hat keiner von uns beiden je zuvor erlebt. Wenn ich irgendjemand anderen kennen würde, dem ich eine solche Sache anvertrauen könnte, hätte ich nicht lange gefackelt. Aber ich kenne niemand anderen. Und irgendwo dort draußen ist ein Ungeheuer immer noch auf freiem Fuß. Die Leiche ist zur Marienkirche gebracht worden. Tu mir diesen einen Gefallen, und ich werde dich in Zukunft nie wieder um etwas bitten.«

Winge sieht Norlin in die Augen, und diesmal schlägt der Kammerdirektor den Blick nieder.

 

 

3So sauber, wie er sich am Brunnen seines Vetters waschen konnte, und in einem geliehenen frischen Hemd stapft Cardell den Kvarnberget hinab und spuckt braunen Kautabak in die Gosse. Hinter den weiß gekälkten Gebäuden, die bis hinunter zum Gullfjärden an den Hängen stehen, kann er die Stadt auf ihrer Insel und direkt daneben Riddarholmen erahnen. Zusammen bilden sie einen düsteren Koloss, der sich aus dem Mälarsee erhebt und von vereinzelten Lichtern erhellt wird.

Kaum dass er die Gegend hinter sich gelassen hat, bleibt sein Blick an einem Mann mit Pockennarben im Gesicht hängen, der die silberne Erkennungsmarke eines Polizeikonstablers an einer Kette um den Hals trägt und unterwegs zur Polhemschleuse zu sein scheint.

»Verzeihung, aber Sie wissen nicht zufällig, was mit der Leiche aus dem Fatburen passiert ist? Ich heiße Cardell. Ich hab sie vorhin herausgefischt.«

»Hab schon gehört. Sie sind Stadtknecht, oder nicht? Die Leiche liegt fürs Erste im Beinhaus der Marienkirche. Grausam, ehrlich wahr, so was Schlimmes hab ich wirklich noch nie gesehen. Wenn man bedenkt, wie Sie über die Sache gestolpert sind, sollte man annehmen, dass Sie damit nicht länger zu tun haben wollen. Aber jetzt wissen Sie ja Bescheid. Ich muss weiter, mein Bericht soll bis Sonnenaufgang im Indebetou sein.«

Sie gehen ihrer Wege, und Cardell marschiert weiter durch den taunassen Dreck auf der Maria Kvarngränd. Am Fuß des Hügels hat er im Handumdrehen die Kirchenmauer erreicht. Genau wie Cardell selbst ist die Marienkirche ein Krüppel: Im selben Jahr, da er zur Welt gekommen ist, hat sich ein Funke aus einer Backstube zu einer Feuersbrunst ausgewachsen, die zwanzig Straßenzüge tief alles in Schutt und Asche gelegt hat. Der Tessin-Turm stürzte durch das gegipste Deckengewölbe, und bis heute hat er seine Spitze nicht wieder, auch wenn seither gut drei Jahrzehnte vergangen sind.

Jenseits eines Törchens liegt der Friedhof. Die Gräber scheinen stumm zu ihm herüberzuspähen. Dann durchbricht ein unheimliches Geräusch die Stille dieses Ortes, und im Zwielicht braucht Cardell einen Moment, ehe er versteht, was er da hört und dass der Ursprung des Geräusches ein Mensch ist. Erst klingt es, als würde ein Hund unter der Erde kläffen, doch dann entdeckt er in der Reihe, an der sowohl die Ställe als auch die Behelfshütten der Totengräber liegen, eine einsame Gestalt im Kies, die in ein Taschentuch hustet.

Ratlos bleibt Cardell stehen. Er weiß nicht, wo er sich hinwenden soll, als der Unbekannte wieder Herr über seinen Körper wird, auf den Boden spuckt und sich umdreht. Von den Hütten hinter ihm dringt aus einer Fensterluke der Schein einer Laterne, und während Cardell im Gegenlicht rein gar nichts mehr erkennen kann, hat der andere für einen Moment Zeit, die erhellte Gestalt des Häschers zu mustern.

Er durchbricht die Stille erneut, mit einer Stimme, die erst kaum mehr als ein heiseres Flüstern ist, aber Wort für Wort an Stärke gewinnt.

»Sie haben den Toten gefunden. Sie sind Cardell.«

Cardell nickt bloß und wartet, was als Nächstes kommt.

»Der Polizist war sich nicht mehr ganz sicher, aber Cardell ist bestimmt nicht der vollständige Name?«

Cardell zieht den nassen Hut vom Kopf und verbeugt sich steif.

»Wenn es nur so wäre … Jean Michael Cardell. Beim ersten Blick auf seinen Erstgeborenen wurde mein Vater prätentiös. Aber wie Sie sehen, hat es nichts genutzt. Nennen Sie mich Mickel, wie alle anderen auch.«

»Bescheidenheit ist eine Zier. Bedauerlich für Ihren Vater, dass er das nicht wusste.«

Der Schatten macht einen Schritt ins Licht.

»Mein Name ist Cecil Winge.«

Cardell mustert ihn. Er sieht jünger aus, als die kratzige Stimme vermuten ließ. Seine Kleidung macht einen ordentlichen Eindruck, auch wenn sie leicht altmodisch wirkt: schwarzer, eng geschnittener Leibrock mit abgestochenen Schößen und Stehkragen, dezent bestickte Weste, Kniehose aus schwarzem Samt. Das weiße Krawattentuch ist hoch oben am Hals zu einem doppelten Knoten gebunden. Das lange pechschwarze Haar hat er mit einem roten Band im Nacken zusammengezurrt. Seine Haut ist so weiß, dass sie fast leuchtet.

Winge ist zartgliedrig und dünn, beinahe unnatürlich dünn. Er könnte Cardell kaum unähnlicher sein, der seinerseits aussieht wie so viele Männer auf Stockholms Straßen – Männer, die durch Elend und Krieg ihrer Jugend beraubt wurden und vorzeitig gealtert sind. Seine Schultern sind beinahe doppelt so breit wie Winges, unschön spannt die Jacke über seinem muskulösen Rücken, seine Beine sind kräftig wie zwei Baumstämme, und die rechte Faust ist groß wie ein Schweinebug. Die abstehenden Ohren haben allem Anschein nach schon eine Reihe Schläge abbekommen; entlang der Ränder sind die Ohrmuscheln knotig und verdickt.

Cardell hüstelt verlegen, während Winge ihn von Kopf bis Fuß betrachtet, ohne im Geringsten von den Narben auf seinem Gesicht irritiert zu sein. Um seinen größten Makel zu verbergen, dreht Cardell sich instinktiv nach links.

Die ungemütliche Stille, die Winge kein bisschen unangenehm zu sein scheint, treibt die Worte über Cardells Lippen.

»Ich habe den Konstabler oben am Hügel getroffen. Kommen Sie auch vom Indebetou? Von der Polizeikammer?«

»Ja und nein. In der Kammer nehme ich eine Sonderrolle ein. Der Kammerdirektor hat mich geschickt. Und selbst, Jean Michael? Was führt Sie zu dieser späten Stunde ins Beinhaus der Marienkirche? Haben Sie in der vergangenen Nacht nicht schon genug für den Toten getan?«

Als ihm dämmert, dass er auf die Frage keine glaubwürdige Antwort hat, spuckt Cardell einen imaginären Tabakkrümel zu Boden, um Zeit zu schinden.

»Ich habe meine Geldbörse verloren, als ich den Mann an Land gezogen habe. Womöglich ist sie ja noch bei ihm … Nicht dass viel drin gewesen wäre, aber immerhin genug, um einen nächtlichen Spaziergang zu rechtfertigen.«

Winge wartet einen Moment, ehe er reagiert.

»Ich selbst bin hier, um den Toten in Augenschein zu nehmen. Inzwischen ist die Leiche gewaschen worden. Ich wollte mich gerade mit dem Totengräber unterhalten. Folgen Sie mir, Jean Michael, dann können wir ja sehen, ob wir Ihre Börse finden.«

In seiner Baracke an der Friedhofsmauer hört es der Totengräber klopfen. Er ist schon alt, von kleiner Statur und mit krummen Beinen, geht gebeugt und hat die Andeutung eines Buckels über einem Schulterblatt. Ein deutscher Akzent klingt mit, wenn er spricht.

»Herr Winge?«

»Ja.«

»Mein Name ist Dieter Schwalbe. Sie sind hier, um sich den Toten anzusehen? Sie haben bis Sonnenaufgang Zeit, der Pfarrer will ihn bis zur Morgenmesse unter die Erde bringen.«

»Weisen Sie uns den Weg.«

»Einen Augenblick bitte.«

Schwalbe zündet mithilfe eines Spans zwei Leuchten an und wedelt das Hölzchen wieder aus. Auf dem Tisch streicht sich eine wohlgenährte Katze mit der abgeleckten Pfote über den Kopf. Schwalbe drückt Cardell ein Licht in die Hand, zieht die Tür hinter sich zu und übernimmt hinkend die Führung. Am anderen Ende des Friedhofs steht eine gemauerte Halle. Schwalbe hebt die Hand an den Mund und stößt einen leisen Pfiff aus, bevor er die Tür aufschließt.

»Wegen der Ratten. Besser, ich erschrecke sie, als dass sie mich erschrecken.«

In den Ecken liegt Schutt: Eisenstangen, Spaten, neue wie alte Sargbretter, Bruchstücke von Grabsteinen, die im Winter der Frost zersprengt hat. Die Leiche liegt auf einer niedrigen Bahre unter einem Tuch. Es ist kühl hier drinnen, doch unverkennbar hängt der Tod in der Luft.

Der Totengräber deutet hinüber zu einem Eisenhaken in der Wand, wo Cardell seine Laterne einhängen kann. Dann starrt er zu Boden und ringt die schwieligen Hände, während er unruhig von einem Fuß auf den anderen tritt. Ihm scheint nicht wohl zu sein in seiner Haut. Winge bedenkt ihn mit einem neugierigen Blick.

»Wäre da noch etwas? Wir haben einiges zu tun und nur wenig Zeit.«

Schwalbe hält den Blick auf den Boden gerichtet.

»Niemand kann hier Gräber ausheben, ohne gewisse Dinge mitzubekommen, die anderen vielleicht entgehen … Die Toten mögen ihre Stimme zwar nicht mehr erheben, aber sie haben andere Mittel und Wege, um sich mitzuteilen. Und der dort auf der Bahre … ist wütend. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es ist fast, als verwitterte unter seinem Zorn der Mörtel in diesem Gemäuer.«

Was der Totengräber da sagt, beschert Cardell ein mulmiges Gefühl. Er will schon ein Kreuz schlagen, hält aber inne, als er den skeptischen Blick auffängt, mit dem Winge Schwalbe bedenkt.

»Tote zeichnen sich durch die Abwesenheit von Leben aus. Die Seele hat den Körper verlassen. Ich kann Ihnen zwar nicht sagen, wo genau sie sich befindet, aber hoffen wir einfach, dass sie einen besseren Ort gefunden hat als jenen, den sie hinter sich gelassen hat. Was immer aber übrig bleibt, kennt weder Regen noch Sonne, und nichts von dem, was wir hier tun, kann seine Ruhe stören.«

Was Schwalbe davon hält, kann man ihm an den missmutigen Stirnfalten ansehen. Er zieht die buschigen Augenbrauen kraus und macht noch immer keine Anstalten zu gehen.