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Schreibwerkstatt Wendelstein
Gudrun Vollmuth (Hrsg.)

Nachts in der Bücherei

Wendelsteiner Geschichten

art&words

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage November 2018

© 2018
art&words – verlag für kunst und literatur

Zerzabelshofstraße 41, D-90480 Nürnberg
Homepage: http://art-and-words.de
Twitter: http://twitter.com/#!/art_and_words
Facebook: http://www.facebook.com/artandwords

Gesamtgestaltung: art&words
Umschlaggestaltung: Peter R. Hellinger, Foto Jörg Ruthrof
Zeichnungen von Erwin Schwarz
Lektorat: Thomas Nikolajsen

ISBN 978-3-943140-63-7
Auch als Print erhältlich.

Vorwort

Wendelstein ist ein Ort voller Geschichten. Sie wurden von Bürgerinnen und Bürgern erlebt oder erdacht und aufgeschrieben.

Liebe Leserin, lieber Leser,

Nachts wird es in der Gemeindebücherei lebendig.

Nicht nur, dass die Bücher wispern und reden, auch merkwürdige Wesen und denkwürdige Gestalten treffen sich hier. Sie kriechen aus dem alten Gemäuer oder schlüpfen von draußen herein und erzählen.

Belauschen wir sie, die Gäste der Zwischenwelten. Vielleicht erfahren wir ja Neues

vom Bücherwurm,

vom Wendenmännla (oder seinem Doppelgänger),

vom Kanalschlamper,

vom Nachtgieger,

von Hugo, dem Gespenst auf Schloss Kugelhammer

und vom Wendelstein.

Wendelstein, im November 2018

Gudrun Vollmuth

Schreibwerkstatt Wendelstein

Nachts in der Bücherei
Wendelsteiner Geschichten

Wendelstein ist eine kulturell lebendige Gemeinde. Die Stärke liegt nicht zuletzt in der Vielfalt. Bemerkenswert sind die zahlreichen Initiativen aus der Bürgerschaft. Die Ideen und Fähigkeiten der Menschen vor Ort prägen die Kulturarbeit entscheidend mit.

Der Marktgemeinderat hat deshalb 2017 einen Kulturpreis ins Leben gerufen und auch erstmals ausgelobt. Erste Preisträgerin ist Gudrun Vollmuth. Die langjährige Leiterin unserer Wendelsteiner Schreibwerkstatt genießt weit über die Gemeindegrenzen einen hervorragenden Ruf. Bereits in der Vergangenheit hat sie mit verschiedenen Publikationen, bei denen sie stets zahlreiche „Bürger-Autoren“ mit eingebunden hatte, für einen interessanten Lesestoff gesorgt.

Lesen ist ein Thema, dem sich die Marktgemeinde seit vielen Jahren mit ihrer sehr gut aufgestellten Gemeindebücherei intensiv widmet. Gudrun Vollmuth weiß aus ihrer Zeit als Leiterin der Bücherei, dass die Lese- und Schreibkompetenz bereits in jungen Jahren gefördert werden muss.

Mit dem jüngsten Werk „Nachts in der Bücherei – Wendelsteiner Geschichten“, bei dem erneut viele Autoren aus unserer Gemeinde Lesenswertes beigesteuert haben, wird auch die Bedeutung dieser kommunalen Einrichtung auf bemerkenswerte Art und Weise zum Ausdruck gebracht.

Mein besonderer Dank gilt den zahlreichen Autoren und besonders Gudrun Vollmuth als unermüdlichen Motor für dieses Buch.

Glückwunsch zu dem erneut gelungenen literarischen Werk!

Viel Spaß und Freude beim Lesen wünscht

Werner Langhans
Erster Bürgermeister

Bücherwurm

Nachts ist es meistens still in der Bücherei. Nur manchmal hört man ein leises „Knisper – Knisper – Mampf – Mampf“. Es kommt von dort drüben bei den Gedichtbänden.

Da murmelt es leise:

„… Das Bücherfressen macht gescheit.
So denken sich’s die Schlauen.
Doch wer zuviel frisst, hat nicht Zeit,
Es richtig zu verdauen.

Drum lest mit Maß, doch lest genug,
Dann wird’s euch wohl ergehen.
Dass Bücher fressen macht nicht klug!
Man muss sie auch verstehen.1

Was ich so alles lese und fresse.

Gestern durchforstete ich noch Waldbücher. Das war mir fast zu viel Holz, darum bin ich froh, dass mich ein unaufmerksamer Besucher hier abgelegt hat.“

Einen Bücherwurm könnte es in jeder Bibliothek geben.

Asta Hitzler

Der alte Bücherwurm

Elisabeth Hannweber

Eintracht

Grit Kelsch

Der Bücherwurm

Katharina Polster & Simone Stillger

Mein Leben: Das Buch

Christiane Kron-Oettner

Eine leuchtende Schönheit

Hannah Kelsch

Die Grüffello-Maus

Margit Begiebing

Wendelstein im Wandel

Irmi Kistenfeger-Haupt

Die alte Schule

Frieda Hermann

Wer

der tanz der worte

Nevfel Cumart

über den dichter X

in den nächten

Helga Löhlein

Von Menschen, Büchern und Mäusen

Gudrun Vollmuth

Lesenacht


1 Auschnitt aus Gedicht: „Ansprache eines Bücherwurms“ von Mascha Kaléko,
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des dtv Verlags.

Asta Hitzler
Der alte Bücherwurm

Es lebte einst in Wendelstein
im hohen Kirchenturm
traurig, verbittert und allein
ein alter Bücherwurm.

Lesen war seine Leidenschaft,
sein Wissensdurst war groß.
Er las bei Tag, er las bei Nacht
und kam davon nicht los.

Doch eines Tages ward ihm klar,
es musste was gescheh’n.
Nur immer lesen, Jahr für Jahr,
so konnt’s nicht weitergeh’n.

Er wollte unter Menschen sein
und rief bei Helga an.
Die sagte: „Schau bei uns mal rein!“
und nahm sich seiner an.

Als Aushilfsbibliothekar
im neuen Domizil
ist er in Wendelstein ein Star.
Vielleicht war das sein Ziel.

Stolz sitzt er in der Bücherei,
ist voller Energie.
Sein tristes Dasein ist vorbei,
er schwelgt in Harmonie.

Vorbei die blöde Kraxelei
im hohen Kirchenturm.
Alles vergangen, endlich frei.
Glücklicher Bücherwurm!

Ein Wort noch an die Leserschar
im schönen Wendelstein:
Alles erdichtet, nichts ist wahr
und soll es auch nicht sein.

Elisabeth Hannweber
Eintracht

Der Bücherwurm
der aus den Büchern spitzt
der Geistesblitz
der aus dem Geiste blitzt
der Bummelant
der ignorant
schaut rüber
zu der Bücherwand
der Philosoph
auch manchmal doof
heut nur die Weisheit liebt
die kleine Maus
die in dem Haus
ganz leise piept
Sie pfeifen heut
auf alle Leut
sie sind gescheit
und leben
die Gemütlichkeit

Grit Kelsch
Der Bücherwurm

Im ersten Moment hat der Gedanke, ein „Bücherwurm“ zu sein, etwas Negatives. Wer mag denn schon einen Wurm?

Doch bei genauerer Betrachtung ist ein „Bücherwurm“, gleich, ob männlich oder weiblich, äußerst intelligent, besonders gescheit und sehr belesen. Es ist ein Mensch, der den Inhalt und die Weisheit der Bücher in sich aufgenommen, ja „aufgesogen“ hat.

Aber wie wird man zum „Bücherwurm“? Da gibt es Eltern, die ihre kleinen Kinder in die Bücherei mitnehmen. Die Kleinen entdecken zuerst viele bunte Bilderbücher und danach Bücher, in welchen wunderschöne Geschichten erzählt werden. Sie wollen sie immer, immer wieder hören, bis sie diese auswendig mitsprechen können.

Später, wenn sie selbst lesen können, möchten sie möglichst viele Bücher lesen. Sie „fressen die Bücher in sich hinein“ und können gar nicht mehr aufhören mit dem Lesen.

Seltsam ist, dass das Gelesene „in unseren Köpfen bleibt“, während die Abhandlung von Fernsehfilmen „einfach verschwindet“. Die Texte und Inhalte der Bücher beschäftigen uns lebenslänglich, sie bleiben in unseren Köpfen, Herzen und Gedanken.

Fazit: Es ist erstrebenswert, ein „Bücherwurm“ zu werden, zu sein und zu bleiben.

Katharina Polster & Simone Stillger
Mein Leben: Das Buch

Zweimal im Sommer kommen etliche Kinder und übernachten in der Gemeindebücherei Wendelstein. Neben Bücherlesen gehört natürlich auch eine Nachtwanderung dazu. „Wir wollen eine Geschichte hören!“, forderten die Kinder vor dem Einschlafen die Büchereiangestellte auf. – „Soll ich euch eine Geschichte von einem Büchereibuch erzählen?“ fragte die Dame sogleich. – „Ach, das klingt nicht so spannend“, erwiderten die Kinder. – „Doch, ich erzähle euch die Geschichte genau so, wie das Buch sie mir erzählt hat!“ – „Das Buch hat dir was erzählt?“, wunderte sich ein Mädchen. – „Ja, es hat mir Folgendes erzählt. Hört genau zu!“, sagte die Bibliothekarin. „Als das Buch diesmal erwachte …“

Als ich diesmal erwachte, war alles wie immer und doch fremd. Eine Frauenstimme sagte: „Endlich ist es da!“, und sogleich wurde der Karton, in dem ich ruhig lag, abgesetzt. Nach einigem Geschaukel, das ich von früheren Bewegungen inzwischen als Autofahren erkannte, wurde ich erneut hochgenommen. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Verpackung geöffnet wurde. Ich sah – Licht. Grelles, unbarmherziges Neonlicht schien auf mich hinunter. Eine blonde Frau zog mich aus dem Karton, drehte mich hin und her. Schließlich murmelte sie etwas und legte mich in ein Regal zu anderen Büchern.

Da lag ich nun, unwissend, was als nächstes geschehen würde, also fragte ich die anderen Bücher neben mir leise: „Wo sind wir? Was passiert jetzt?“ Doch keines der Bücher wusste Bescheid. Sie waren auch gerade erst in anderen Kartons angekommen. Sehen konnten wir auch nur die weiße Wand gegenüber. Einige Stunden lang passierte nichts mit mir. Gelegentlich liefen ein paar Beine an uns vorbei, aber niemand beachtete uns. Langsam wurde es dämmrig, und die Lichter gingen aus. Als es ganz dunkel geworden war, hörten wir andere Bücher miteinander tuscheln. Sie mussten außerhalb unseres Blickfeldes sein, denn gesehen hatten wir keine anderen Bücher. Vielleicht rätselten sie ja, wer wir Neuen waren, doch schließlich schliefen die meisten nach und nach ein, was wir an den leisen Schnarchlauten erkannten. Vor lauter Aufregung bekam ich kein Auge zu. Was wohl an diesem seltsamen Ort mit mir geschehen mochte?

Ich war wohl trotzdem eingeschlafen, denn am nächsten Morgen zog mich eine grauhaarige Dame mit meinen Kameraden aus dem Regal und legte uns auf den Tisch. Dort konnte ich einen grauen Kasten erkennen, der ein Computer war, so was hatte ich vorher schon einmal gesehen, doch an diesem war ein seltsames schwarzes Ding angesteckt. Immer, wenn die Frau das schwarze Gerät in die Hand nahm, zuckte ein rotes Licht auf. Ich bekam schreckliche Angst. Wenn nun dieses rote Licht mir meine Buchstaben wegnehmen konnte? Vor lauter Aufregung musste ich regelrecht gezittert haben, denn plötzlich war ich an der Reihe. Auch diese Frau drehte mich zunächst hin und her, las den Text auf meiner Rückseite. Dann nahm sie das schwarze Ding und leuchtete mir damit auf meinen Strichcode. Das Gerät piepste laut, das rote Licht flackerte über meinen Rücken, ich erwartete das Schlimmste, doch dann erschien auf dem Bildschirm: Ich! Natürlich nicht ich selbst, aber wie ich hieß, wo ich herkam, wer mich geschrieben hatte, wovon ich handelte und so weiter. Die Frau nahm mich wieder in die Hand und murmelte: „Hmm, wo stell ich dich denn hin? Haben wir da nicht schon eines? Wo steht das denn?“ Suchend schaute sie sich um, doch fand nicht, wonach sie suchte, so befragte sie erneut den Computer. Nach einer kurzen Recherche wusste sie scheinbar, wo sie mich hinstellen sollte und klebte mir einen weiteren Barcode hintendrauf. Auf meinen Rücken kamen zusätzlich noch ein rotes und ein durchsichtiges Etikett, und dann lag ich schon wieder in einer Kiste, diesmal in einer anderen. Von den Büchern aus dem ersten Regal war nichts mehr zu sehen.

Es dauerte ein paar Tage, und eine neue Frau, diesmal rothaarig, nahm mich wieder mit nach vorne. Auch sie las, was auf meiner Rückseite geschrieben stand. Diesmal zuckte kein rotes Licht über mich, sondern sie fing an, mich zu bearbeiten. Das war furchtbar. Als erstes zog sie mir meinen Umschlag aus, so dass ich völlig schutzlos und nackig vor ihr lag. Danach klebte sie mein schönes Kleid wieder auf mir fest. Brr, so kalt und glitschig. Als nächstes holte sie eine Folie, und ehe ich mich versah, klebte ich rundum in der Folie fest. Wie eine Fliege im Spinnennetz kam ich mir vor. Mein schönes Kleid war völlig verunstaltet. Dann öffnete sie meinen Deckel, bis er knackte, drehte mich nach rechts und links, von der einen Seite auf die andere, mir wurde ganz schlecht. Schließlich stellte sie mich aufrecht hin und ich hoffte schon, die Tortur sei endlich vorbei. Doch weit gefehlt – nun ging es erst richtig los. Sie bog meinen Rücken kräftig auf, bis alles an mir krachte und schmerzte. Dann stopfte sie mir den Rest der Folie oben hinein, bis ich fast würgen musste. Nach der „Behandlung“ hatte ich zumindest endlich wieder Ruhe. Als letztes stellte sie mich in ein Regal, wo ich mich von den Strapazen erholen konnte. Zum ersten Mal bewunderte ich mich in meiner neuen Folienpracht.

Von meiner Position konnte ich den Eingangsbereich dieses Gebäudes gut beobachten, und langsam begriff ich, dass ich in einer Bücherei gelandet war. Das war ganz anders als in der Buchhandlung, da waren viele meiner Geschwister gewesen. Hier waren völlig andere Bücher, ich fühlte mich ganz allein. Als kein Mensch mehr da war, hörte ich ein leises Flüstern: „Hey du!“ – „Wer? Ich?“ – „Klar, wer sonst, Neuling. Und wie oft warst du schon?“ – „Was meinst du damit?“ – „Na, wie oft hat dich schon jemand ausgeliehen?“ Ich war völlig verwirrt. Was wollte das andere Buch denn? Das fremde Buch erklärte: „Hier nimmt dich jemand mit, liest dich; wenn du Glück hast, bringt er dich sogar wieder zurück ohne Kaffeeflecken. Ich habe schon 47 Ausleihen.“ Ja, so siehst du auch aus, dachte ich. Laut sagte ich nur: „Ich bin noch ganz neu.“ – „Dann wirst doch noch so einiges mitmachen.“ Über diese Worte musste ich die restliche Nacht über nachdenken, in meinen Träumen malte ich mir die wildesten Gefahren aus.

Gespannt wartete ich auf den nächsten Tag. Viele Leute kamen und gingen, sahen mich an und begriffelten mich. Ein Kind stürmte auf mich zu und rief: „Mama, das will ich haben!“ Stürmisch nahm sie mich hoch, wedelte mich in ihrer kleinen Hand so arg hin und her, dass ich befürchten musste, quer durch den Raum zu fliegen. Die Mutter kam und nahm mich mit nach vorne zum Computer. Die Frau dort drehte mich auf den Bauch, das rote Licht zischte über den neuen Strichcode, und schließlich steckte mich die Mama in ihre Tasche, in der ich zu ihr nach Hause geschaukelt wurde. Aufgeregt wartete ich darauf, dass das Kind mich endlich aufschlug. Doch nichts geschah. Ich lag im Kinderzimmer rum und langweilte mich. Es gab nur wenige andere Bücher, mit denen ich mich hätte unterhalten können, doch die wussten sowieso nichts zu erzählen, da sie größtenteils ignoriert wurden. Nach etlichen Tagen nahm mich das Kind endlich hoch und schlug mich auf. Ich war so spannend, dass das Kind die ganze Nacht las. Die Mutter kam ein paar Mal ins Zimmer und ermahnte das Kind: „Du musst morgen in die Schule. Mach jetzt das Licht aus und schlaf!“ Aber das Kind hörte nicht auf die Mutter. Es war völlig in mich vertieft. Am nächsten Morgen kam es fast nicht aus dem Bett, so müde war es, aber es hatte mich komplett durchgelesen.

Eine Woche später brachte mich die Mutter wieder in die Bücherei zurück. Dort wurde erneut der Strichcode gescannt, doch etwas war anders. Statt zurück ins Regal zu kommen, wurde ein Zettel zwischen meine Seiten gelegt und ich blieb am Tresen liegen. Die anderen Bücher dort sagten mir, dass wir vorbestellt seien. Was das nun wohl wieder war? Dann kam ein anders Kind, zeigte auf mich und meinte: „Dieses Buch dort habe ich vorbestellt. Das will ich mitnehmen.“ Wieder wurde ich eingepackt und eifrig gelesen. So ging das eine lange Zeit. Meinen Regalplatz bezog ich danach nicht mehr, da ich entweder bei einem Kind zu Hause war oder auf das nächste wartete.

Einige Kinder waren lieb zu mir, sie blätterten vorsichtig meine Seiten um. Andere Kinder gingen ruppiger mit mir um. Einmal tropfte ein Kind seinen Kaba in mich hinein, brr, war das heiß und klebrig. Oft wurde ich hinunter geworfen, das tat richtig weh! Das Schlimmste war, als einmal jemand auf mich draufgestiegen ist. In dem Moment war ich mir sicher, gleich entzwei zu brechen. Langsam verstand ich, warum die Frau damals meinen schönen Umschlag in Folie gesteckt hatte. Der wäre inzwischen völlig kaputt gewesen.

Nach etlichen Ausleihen wurde ich geputzt. Eine ältere Dame strich mit einem feuchten Lappen über mich drüber. Es tat richtig gut, den ganzen Dreck los zu werden. Dankbar strahlte ich sie an. Doch sie steckte mich mit einem Zettel in eine Kiste. Da lag ich nun mit ganz verschiedenen Büchern zusammen, alles, was es in einer Bücherei eben gab. Neben mir lag ein altes Buch, da waren ganz viele Bilder von Wendelstein drin. „Na, gefalle ich dir?“, fragte mich das alte Buch. „Nun ja, du siehst nicht mehr so ganz, äh … jung aus“, antwortete ich vorsichtig. „Das mag schon sein“, erwiderte das alte Buch stolz, „aber ich bin ein seltenes Exemplar!“ „Selten?“, wunderte ich mich. „Ja, mich gibt es nicht mehr, und die Wendelsteiner lieben meine alten Ansichten. Hier, sieh mal: so sah die Gemeindebücherei früher aus“, sagte das Buch und öffnete eine Seite. „Früher war das hier mal eine Schule. Erst seit gut 25 Jahren ist hier die Bücherei drin.“ Ich hatte das große Sandsteinhaus natürlich schon ab und zu gesehen, wenn ich hinein- oder hinausgetragen wurde. „Sieh her“, lud mich das alte Buch ein, „so sah der Marktplatz früher aus, oder hier das Neue Rathaus, das war früher ein Kurhotel, und …“ „Sag mal“, unterbrach ich das alte Buch, „was passiert eigentlich mit Büchern, die keiner mehr haben will?“ Das andere Buch schwieg längere Zeit. „Weißt du, es gibt diesen Bücherhimmel. Aber wo das ist und wie man da hinkommt, das weiß auch ich nicht. Du wirst dich überraschen lassen müssen.“ Wir schwiegen beide, und ich dachte lange darüber nach, was wohl am Ende auf mich wartete. Mir würde ja nichts passieren, dafür war ich viel zu beliebt bei den Kindern!

Eine blauhaarige Frau holte mich einige Tage später aus der Kiste heraus. Sie schlug mich an der markierten Stelle auf und begann mit ein paar Klebestreifen meine Risse zu verbinden. Sie radierte ein paar Flecken heraus und bald fühlte ich mich fast wie neu. Nun konnte ich mich wieder sehen lassen. Kaum war ich zurückgebracht, befand ich mich schon auf dem Weg zum nächsten Kind, dem ich meine spannende Geschichte offenbaren würde.

Mit der Zeit wurden die Ausleihen weniger, weshalb ich doch häufiger an meinem Platz im Regal stand. Es war ein anderes als ganz zu Anfang, von hier konnte ich den Eingangsbereich kaum einsehen. Trotzdem hatte ich immer genug zum Schauen. Sehr häufig waren Kindergruppen zu Besuch, kleine Kinder, große Kinder, Kinder, die brav waren, Kinder, die laut waren. Es kamen auch Autoren, die aus ihren Büchern vorlasen oder Kinder, die in der Bücherei übernachteten. Es war immer viel los. Am besten gefiel es mir immer noch, wenn mich ein Kind mit nach Hause nahm. Es war immer ein Abenteuer, was wohl passieren mochte.

Die Jahre vergingen. Ich wurde immer älter und hässlicher. An vielen Stellen war ich schon geflickt, und mein schöner Einband war stumpf geworden. Eines Tages nahm mich die blauhaarige Frau, die nun langweilig braune Haare hatte, mit den Worten hoch: „Ich scheide das jetzt aus“. Mich überfiel ein eisiger Schreck. Kam ich nun in den Bücherhimmel? Das Buch mit den alten Ansichten von Wendelstein hatte mir davon erzählt. Ich wusste immer noch nicht, was nach der Bücherei auf mich wartete. Die Frau zog ein letztes Mal den Scanner über mich, das rote Licht leuchtete auf und ein letzter Piep ertönte. Dann strich sie meinen Barcode durch, legte mich behutsam in eine Kiste und lächelte ein letztes Mal auf mich hinab. Auf der Kiste stand: „Zu verschenken.“

„Diese Geschichte hat dir das Buch selbst erzählt?“, fragten die Kinder bei der Lesenacht. – „Ja, genauso hat es mir das Buch berichtet, als ich es in die ‚Zu verschenken’-Kiste gelegt hatte“, antwortete die – nun so langweilig – braunhaarige Frau. „Was ist aus dem Buch geworden? Ist es in den Bücherhimmel gekommen?“, fragte ein Junge. – „Ja, ist es. Eine Frau hat es mit nach Hause genommen. Sie hatte es früher schon oft gelesen und liebte dieses Buch. Es hat nun dort seine Heimat gefunden und fühlt sich dort wie im Himmel. Erinnert ihr euch noch, dass das eine Buch am Anfang geprahlt hat, dass es schon 47 Mal ausgeliehen worden war? Unser Buch hier hatte weit über 100 Ausleihen!“ Die Übernachtungsgäste waren beeindruckt, über 100 Ausleihen. „So, nun ist Schluss mit Erzählen. Schlaft gut, nachts in der Bücherei.“

Christiane Kron-Oettner
Eine leuchtende Schönheit

Eigentlich wollte sie ausschlafen, aber da war die neugierige Sonne, die den Spalt in den Vorhängen nutzte und ihr direkt in das Gesicht fiel.

„Na, dann eben nicht!“ Sie rekelte sich und sprang aus dem Bett. Es war noch früh am Morgen, sie spürte den Juli. Rasch zog sie sich an, füllte die Fahrradpacktasche mit Proviant, Decke, Lesestoff. Bücher waren ihr wichtig. Sie, eine Leseratte und Besucherin der Wendelsteiner Bücherei, hatte sich zwei Bücher ausgeliehen: „Gärten und Gärtla“ und „Komm in meine Laube“, in die sie sich vertiefen wollte. Ohne ein bestimmtes Ziel fuhr sie durch den Reichswald.

„Es ist wohl das Grün und die Ruhe, das Flüstern der Bäume, das Knacken, das meine Sommerlaune stärkt“, dachte sie. Die junge Sonne brannte schon und sie suchte sich einen schattigen Platz. Sie freute sich über den Fleck am Waldrand, breitete ihre Decke aus, wählte „Komm in meine Laube“ aus. „Das passt zu den Geräuschen, die der Wald mir zuflüstert, ebenso wie das Streichen der Gräser auf meiner Haut.“ Nach ein paar Seiten war sie eingeschlafen. Das Buch rutschte neben sie in das Gras. Sie schreckte hoch. Der spitze Schrei eines Eichelhähers erschreckte sie.

„Ein Prachtkerl, ausgefallen sein braun-blaues Gefieder“, bewunderte sie ihn.

Heftiges Kribbeln an den Beinen lenkte sie von dem Vogel ab:

„Ich muss hier weg, ein Ameisenhaufen!“ Sie sprang auf.

Die kleinen roten Beißer piesackten ihren Körper, besiedelten die Bücher. Aber da waren nicht nur diese Biester: ein schillernder, grüner Käfer besuchte „Komm in meine Laube“, das Buch, das ihr aus der Hand gerutscht war. Sie klappte es zu und verstaute es, mit den anderen Utensilien in der Packtasche. Der Grüne hatte es gerade noch geschafft, in den Buchrücken zu schlüpfen. Wäre er sonst noch am Leben? Und jetzt begann für ihn ein Abenteuer.

Als sogenannter Buchkäfer landete er eines Tages in der Bücherei Wendelstein. Dort wurde er in ein Regal für Naturinteressierte gestellt.

„Dunkel ist es hier und ich habe einen Riesen-Kohldampf. Ich, der leuchtende Grünrüssler“, grummelte er. Er bewegte sich langsam. Seine rötlichen Schenkel schoben sich über den Rand des Buches hinaus. Er tastete, fühlte, verzweifelte. Kein Gras, keine Rinde, kein Ast.

„Irgendwo muss etwas Essbares zu finden sein, so wie in den verwilderten Gärten, den Parks, auf meinen Nadel- oder Laubbäumen. Das Zeug hier ist hart und zäh, es knistert. Nein, zartes, saftiges Blattwerk ist es nicht.“

Dann sah er sie auf Seite einhundertsechsundzwanzig. Eine leuchtende Schönheit, dieses Wesen. Sie, das Eichenweichkäferweibchen. Sie war 1,2 Zentimeter größer als er. Das störte ihn nicht. Er wusste, er war flink, trotz seiner 0,6 Zentimeter.

„Sie ist so schön mit ihren sonnengelben Flecken auf dem Halsschild. Sicher ist sie ebenso, wie ich es bin, auf der Suche nach einem kräftig schmeckenden Eichenblatt!“ Sein unbändiger Hunger war vergessen. Er klopfte mit den Vorderbeinen zärtlich an. Sie rührte sich nicht. Wieder und wieder warb er um sie:

„Ach, wenn sie sich nur ein einziges Mal umdrehen würde, nur ein einziges Mal“, seufzte er.

„Kannst du mich hören? Sag doch etwas, nur ein kleines Krack! Ich liebe dich, du kleiner Rüssler.“

Sein Herz schlug heftig gegen seinen Panzer:

„Du, es wird Zeit, dass wir an Nachkommen denken, an kleine Larven, die im Frühjahr schlüpfen werden. Stellst du dich tot, weil du glaubst, ein Rüsselkäfer gehört nicht zu deiner Gattung? Ich weiß schon, du bist ein Weichkäfer. Aber was macht das schon? Ich sehe keinen Partner weit und breit, der sich mit dir vermählen möchte. Ich, ein hartnäckiger Rüssler, stolz und prächtig, werde es schaffen.“ Selbstsicher warf er sich in seinen Panzer.

Des Werbens müde legte er sich an die Seite seiner Angebeteten. Sein Schlaf wurde heftig unterbrochen. Gleißendes Licht, Erschütterung, Stimmen, eine Tasche. Die kannte er. Wieder wurde es dunkel. Er sah sich um:

„Gott sei Dank, meine Auserwählte ist bei mir“, krakelte er. Plötzlich hörte er die ihm vertrauten Laute: Knarren, Rauschen, Säuseln, Knistern, Vogelstimmen. Neugierig krabbelte er aus seinem Gefängnis, dem „Lexikon für Insekten“, heraus. Er spürte Wärme. Licht ließ seinen Panzer strahlen. Er konnte nicht glauben, was er sah: Blumen, Büsche, Bäume, Gras! Ein bisschen steif war er noch, aber dann …

Hannah Kelsch
Die Grüffelo-Maus

Hallo! Viele von euch kennen mich schon. Ich bin die kleine Maus aus dem Grüffelo-Buch. Als ich meine Nüsse aufgegessen hatte, machte ich mich im Dunkeln auf den Weg nach Hause. Doch was war das? Fast zurück in meinem Nest versperrte mir auf einmal eine riesige Türe den Durchgang. Aus Neugierde versuchte ich, diese mit meinen kleinen Pfötchen zu öffnen. Nach einiger Anstrengung schwang sie knarrend auf, und ich purzelte hindurch. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, schaute ich mich vorsichtig um. Rings um mich herum standen hohe Bücherregale, die bis oben hin mit Büchern vollgestopft waren. Langsam drehte ich mich in die andere Richtung. Dort war ein großer Eingang. Über dem stand auf einem Schild „Bücherei“. Den Namen hatte ich noch nie gehört. Ich beugte mich weiter nach vorne, um durch das große Fenster rechts von mir zu blicken. Auf einmal verlor ich das Gleichgewicht und plumpste vom dritten Regalbrett. Doch ich verletzte mich nicht, denn ich war auf eines der großen Sitzkissen gefallen, die vor den Regalen lagen. Auf dem Fußboden war ein Buch, das ein Kind liegen gelassen hatte, mit dem Titel „Der kleine Drache Kokosnuss und die Wetterhexe“. Neugierig hüpfte ich hinunter zu dem Buch und landete zu meiner Überraschung auf dem weißen Sandstrand einer Tropeninsel. Nach einem kurzen Spaziergang über die Insel, bei dem ich viele Palmen und Muscheln entdeckte, sah ich auch den kleinen Drachen Kokosnuss. Der versuchte gerade, der Unwetterwolke der Wetterhexe Gula zu entkommen. Als ich die ersten Hagelkörner auf meinem Fell spürte, flitzte ich zu der riesigen Tür, die wieder erschienen war. Ich stieß diese auf und stolperte zurück in die Bücherei. Langsam fand ich Gefallen an diesem Abenteuer und wollte noch mehr Bücher erkunden. Vom Regalbrett über mir hörte ich plötzlich eine verärgerte Stimme: „Iss nicht immer so viel, Willi!“ Diese Stimme kannte ich und beschloss, ihr einen Besuch abzustatten. Ich landete auf einer wunderschönen Blumenwiese. Meine Freundin Maja entdeckte mich sofort und nahm mich mit zum Essen bei ihrem Kumpel Willi. Pappsatt suchte ich erneut meine magische Tür und war mit einem Hops wieder in der Bücherei. Als ich mich auf den Heimweg machen wollte, hörte ich hinter dem Bücherregal ein lautes Rufen: „Alles meins! Stopp, das ist meins!“ Diese Stimme kannte ich nur allzu gut. Scheinbar war ich nicht die Einzige, die aus ihrem Buch gepurzelt war. Als ich hinter das Regal schaute, sah ich Rabe Socke und – ein Tier mit schrecklichen Klauen und schrecklichen Zähnen, um Tiere zu kauen. „O Schreck, o Schreck, ich fürcht mich so, da ist er wieder, der Grüffelo.“ Schnell sprang ich zurück in mein Grüffelo-Buch, bevor er mich entdecken konnte. Ich drehte den Schlüssel um und die Tür verschwand. Im Wald gab es keinen Grüffelo mehr, und ich knackte Nüsse und freute mich sehr. Ob er in der Bücherei geblieben war? Das ist nicht klar!

Margit Begiebing
Wendelstein im Wandel

Ein Städtchen in Stein gemeißelt
unveränderlich
verändert sich doch täglich.

Wenden haben den Ort gegründet.
Oder war es der Sandsteinabbau,
wenn Bruchstein sich zu Schönheit wandelt?

Oder war es doch der bärtige Wendel aus Altbayern?
Doch vielleicht waren die frühen Wendelsteiner schon so modern
dass sie den Wandel der Zeiten voraussahen?

Fassaden mit Fachwerk
rote Dächer vor Himmelsblau
der Sandsteinbrunnen als Anker.

Türme und Erker
verziert und verschnörkelt
Kopfsteinpflaster, granitener Spiegel der Zeit.

Der Kanal, ein ruhiges Band
das das Grün durchmißt.
Die Jegelscheune, schon lange keine solche mehr.

Menschen voller Liebe erklimmen sieben Stufen
Menschen voller Liebe zum geschriebenen Wort
Die Bücherei als Keimzelle.

Lese-Enthusiasmus, Schreib-Freude
Vorlese-Abende
Der Sandstein lebt.

Irmi Kistenfeger-Haupt
Die „Alte Schule“

Nach einer Wanderung am Ludwigskanal spaziere ich noch ein wenig durch Wendelstein. Das schöne alte Rathaus am Marktplatz mit seinen Giebeln bewundere ich jedes Mal von Neuem.

Gegenüber gehe ich in die Marktstraße und mache links nach einigen Häusern halt vor einem Sandsteingebäude, auf dem in großen Buchstaben „Bücherei“ steht. Auf einem Schild neben der Eingangstür lese ich, dass hier früher die „Alte Schule“ stand, die 1870/ 71 von der Marktgemeinde unter dem damaligen Bürgermeister Wilhelm Jegel erbaut worden war – auf dem Grundstück eines abgebrannten Jagdschlösschens des Marktgrafen, der nicht namentlich genannt wird.

Die Zeit der Reichsgründung hatte den Bürgermeister wohl beflügelt, denn neben der Schule ließ er auch die beiden Rathäuser – das alte und das neue, letzteres damals das Kurhotel – bauen, wie ich später an anderer Stelle nachlese.

Ich trete ein in das Gebäude, in dem einst viele Kinder das Einmaleins lernten. Im Parterre und im ersten Stock stehen heute Regale über Regale mit Büchern. Mich interessiert die Geschichte des Schulhauses, doch suche ich eine Weile vergeblich in verschiedenen Büchern, die Wendelstein betreffen. Endlich werde ich fündig: Von Franz Krämer, einem Wendelsteiner – zugezogen nach dem Zweiten Weltkrieg – stehen fünf kleinere Bände in einem Regal, alle mit dem Titel „Wendelstein in alten Ansichten“ – veröffentlicht zwischen 1979 und 2000. Ich blättere darin und finde Seite für Seite Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Leben der Wendelsteiner im 19. und 20. Jahrhundert. Eine wunderbare Sammlung, in der sicher mancher Einwohner der Marktgemeinde seine Ahnen wiedergefunden hat.

Mich interessieren vor allem Fotos, welche die „Alte Schule“ betreffen, schließlich sitze ich hier in der einstigen Lehranstalt. Doch nur zwei Fotos hat der Autor der Buchreihe anscheinend ergattern können. Ich erfahre, dass die Marktstraße früher Beckengasse hieß.

Das erste Foto in Band 1 stammt von 1892, wurde also etwa zwanzig Jahre nach der Erbauung der Schule angefertigt. Es ist die älteste greifbare Aufnahme einer Wendelsteiner Schulklasse, wie der Autor vermerkt. Darauf sind 36 Schüler – alles Jungen zwischen acht und zehn Jahren – abgebildet. In drei Reihen sind sie hintereinander angeordnet, in der vorderen Reihe sitzend, und über ihnen die älteren Schüler stehend. Offensichtlich waren die Kinder unterschiedlicher Jahrgänge in einer Klasse zusammengefasst. Alle tragen einen langen Kittel, aus dem der hochstehende Kragen eines weißen Hemds herausschaut. Ich rechne zurück: Viele der Schüler sind ungefähr im Alter meines Großvaters väterlicherseits, der 1892 etwa zehn Jahre alt war.

Der Lehrer, Herr Konrad Mayer, steht oben mitten in der letzten Reihe und blickt in die Ferne. War er streng, war er beliebt? Darüber erfahre ich nichts, denn der Autor des Buches macht nur stichpunktartige Angaben. Wegen einer Erkrankung wurde der Lehrer frühzeitig pensioniert und verstarb schon mit 59 Jahren.

Nur drei Schüler sind namentlich benannt, darunter Georg Mayer, auf dem Klassenfoto ein zarter, blonder Junge, der in Rothenburg Oberlehrer und Kantor wurde. Das berührt mich besonders, denn ich stamme aus der Tauberstadt und habe dort meine Kindheit und Schulzeit verbracht. Er starb 1957 mit 75 Jahren, als ich in die vierte Klasse der Volksschule ging und er sicher längst pensioniert war. Ich habe ihn nicht kennengelernt.

Schade, dass es kein Foto der damaligen Mädchenklasse gibt. Vermutlich wurden die Mädchen in einem anderen Raum – von einem anderen Lehrer oder am Nachmittag von Herrn Mayer? – unterrichtet.

Das zweite Foto in Band 5 ist mit Juni 1910 datiert und wird vom Buchautor ebenfalls der „Alten Schule“ in der damaligen Beckengasse zugeordnet. Doch es gab zu diesem Zeitpunkt bereits das „Neue Schulhaus“ in der Sperbersloher Straße, welches zwischen 1905 und 1907 errichtet worden war, wie ich unter anderem bei Horst D. Stanislaus in dessen Band „Etzertla. Wendelstein. Gestern und Heut’“ lese. Doch ich halte mich an Franz Krämer und dessen Beschreibung. Ich sehe auf dem Foto eine gemischte Klasse von 24 Buben und 22 Mädchen, alles Erstklässler. 46 Kinder in einer Klasse zu unterrichten – welch eine Leistung! Fräulein Klamm hat diese Leistung vollbracht. Sie steht in einem hellen Kleid mitten unter den in vier Reihen sitzenden Kindern und blickt freundlich in die Kamera. Erinnerungen an meine erste Lehrerin in Rothenburg werden in mir wach – an Fräulein Schwarz, die jung und ebenso dunkel gelockt war wie das Wendelsteiner Fräulein Klamm. Ich liebte sie sehr und wollte nur gute Noten für sie schreiben damals. Ist die erste Lehrerin (oder der erste Lehrer) nach Mutter und Vater nicht derjenige Mensch, den man – wenn er gütig war – nie vergisst? Ich lese: Fräulein Klamm war sehr beliebt. Sie stammte aus Neustadt an der Aisch, ihr Heimatort lag damals sicher eine halbe Weltreise von ihrem Arbeitsplatz entfernt.

Die wenigen Fotos haben mich in meine eigene Kindheit zurückgeführt. Ich freue mich darüber, dass in das „Alte Schulhaus“ heute Kinder und Erwachsene kommen können, um ihren Lesehunger zu stillen, und dass das alte Gebäude in einem so schönen Zustand erhalten ist.