Loy, Rosetta Schokolade bei Hanselmann

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Übersetzung aus dem Italienischen von Maja Pflug

1. Auflage Juli 1998
2. Auflage September 1998
© 1995 Rosetta Loy
Titel der italienischen Originalausgabe: »Cioccolata da Hanselmann«, Rizzoli (R.C.S. Libri & Grandi Opere S.p.A.), Mailand 1995
© Yale University Press, New Haven/London 1996
© der deutschsprachigen Ausgabe: 1996 Piper Verlag GmbH, München
Covergestaltung: Favoritbüro München
Covermotiv: FinePic®, München



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Erster Teil

I

Arturo war ein Freund von Papa. Auch Mama gefiel er sehr, aber letztendlich mochte sie sowieso immer die gleichen Dinge wie ihr Mann. Die beiden kleinen Mädchen fanden ihn komisch, und am Abend, wenn er zum Essen kam, beobachteten sie ihn heimlich, von dem Klavier verborgen, das quer in einer Ecke des Eßzimmers stand. Wenn die Mama, nachdem sie das Licht ausgemacht hatte, das Kinderzimmer verließ, schlüpften sie aus dem Bett, öffneten die Tür, die auf diesen toten Winkel hinausging, und hingen abwechselnd mit den Augen an dem schmalen Spalt, der zwischen dem Klavier und der Wand blieb: Da waren die drei, in der entgegengesetzten Ecke, neben dem Radio, und die Nußbaumtäfelung an den Wänden schien die Stimmen einzufangen, damit ja kein Hauch davon verlorenging. Papa saß immer in einer Art Liegestuhl aus geblümtem Reliefsamt und hielt mit einer Hand sein Fußgelenk, während von der anderen, die auf der Armlehne lag, die bläuliche Spirale des Zigarettenrauchs aufstieg. Arturo dagegen war immer in Bewegung, er stand auf, setzte sich wieder, vergrub die Hände in den Taschen; und ab und zu schnitt er die seltsamsten Grimassen, um die Wirkung dessen, was er sagte, zu unterstreichen. Dann lachte die Mama, die auf einem harten kleinen Sessel mit niedriger Rückenlehne saß, und schüttelte ungläubig ihren blonden Kopf.

Arturo war ein Kollege von Papa. Beide unterrichteten, der eine Biologie, der andere Mathematik, etwas Ähnliches, sagte die Mama, aber auch sehr Verschiedenes. Arturo hatte viel mehr mit Tieren, mit Ozeanen und mit dem Himmel zu tun. Jedesmal, wenn er zum Abendessen kam, brachte er ein verschnürtes Päckchen mit, das die unterschiedlichsten Dinge enthalten konnte: Wenn die Mädchen es voll Ungeduld auswickelten, fanden sie manchmal eine Tafel Schokolade, manchmal aber auch eine Wäscheklammer oder ein Plätzchen, nur eines. Was wäre es denn sonst für eine Überraschung? sagte er und fixierte sie mit seinen dunklen, tiefliegenden Augen, man verstand nicht recht, ob ironisch oder ernst, während ihm die zerrauften Haare vom Kopf abstanden.

Er war jünger als Papa und trug keine Krawatte, seine Pullover waren von extravaganter Farbe, rot, erbsengrün, gelb. Wer weiß, wo er sie kauft, sagte Mama, und Papa war ein wenig eifersüchtig, denn wenn Arturo da war, wurde sie fröhlicher. Manchmal gingen sie alle drei zusammen aus, und vom Fenster aus sahen die Mädchen sie in die Trambahn steigen oder Arm in Arm in Richtung Piazza del Popolo davonmarschieren, die Mama in der Mitte. »Schade, daß du Enrico geheiratet hast«, hatte er eines Tages zu ihr gesagt, »du wärest eine ganz außerordentliche allumeuse geworden.« Mama war rot geworden, und auf ihrem Gesicht war ein herausfordernder Ausdruck erschienen, doch als die Mädchen gefragt hatten, was »allumeuse« bedeute, hatte sie rasch geantwortet: »Eine, die die Herzen entzündet.« »Viel mehr als nur die Herzen«, hatte Arturo protestiert; er lachte, und die unregelmäßigen großen Zähne gaben ihm das burschikose Aussehen eines Jungen. Da war die Röte heftig bis zu Mamas Schläfen gestiegen.

 

An der Universität verlieben sich alle Studentinnen in ihn, sagte Papa, deshalb gelingt es ihm nicht, Karriere zu machen. Sie kosten ihn einen Haufen Zeit. Oft saßen sie sonntags zusammen auf dem langen Hocker vor dem Klavier, und während Arturo spielte, blätterte Papa ihm die Seiten um. Andere Male gingen sie beide allein in ein Konzert oder auch in die Oper, wie an dem Sonntag, als die junge Simionato in Thomas' Mignon gesungen hatte. Die Mama schloß sich ihnen nicht an, sie hielt es nicht aus, lange stillzusitzen, ohne auch nur das Knie bewegen oder sich die Nase putzen zu können. Die seltenen Male, die sie mitgegangen war, hatte sie sofort husten müssen.

Und außerdem fielen ihr in der Oper die Augen zu, sie wurde todmüde.

Die Musik ist das einzige, was uns trennt, sagte Papa, aber du wirst schon sehen, früher oder später bringe ich dich noch dazu, sie auch zu lieben. Manchmal ging die Mama sonntags, nachdem Papa mit Arturo fortgegangen war, mit den Kindern zum Marionettentheater auf den Pincio. Arlecchino und Pulcinella, die sich nach Strich und Faden verprügelten und die Holzköpfe einrannten, oder die hochmütige Prinzessin mit den gelben Wollzöpfen, die den König, ihren Vater, anflehte, sie nicht dem Bettler zur Frau zu geben. Die Mädchen lachten und klatschten, die Mama setzte sich unterdessen auf eine Bank und wartete auf sie, den Blick verloren auf das Dächermeer jenseits der Balustrade des Pincio gerichtet. Anders als die anderen Mütter, schwermütig, Ausländerin. Und wenn der Vorhang fiel und Pulcinella herauskam, eine Blechbüchse schwenkend, die an eine Schnur gebunden war, liefen die Mädchen zu ihr, um sich etwas Kleingeld geben zu lassen, ungeduldig, weil es schien, als öffnete sie die Handtasche nicht rasch genug.

Manchmal setzte Arturo sich allein ans Klavier und spielte für sie die Schweizer Nationalhymne. Die Hände mit den kräftigen Fingern schlugen gravitätisch die Tasten an, während das schmale olivfarbene Gesicht einen feierlichen Ausdruck annahm; doch plötzlich begann er dann, die Tastatur auf und ab zu klimpern, als spielte er eine Polka, und sein breiter, jungenhafter Mund verzog sich zu einer entweihenden Grimasse, mit einem Blick, der in ihrem lustigen Lachen zu versinken schien. Als bestünde das Glück darin, soweit zu kommen, ihr diesen Ton zu entreißen, der wie ein kleiner Fanfarenstoß aus ihrem Hals kam. Aber es konnte auch geschehen, daß er ihr ein altes französisches Chanson vorspielte, dessen Text lautete: »Isabelle, si le Roi savait ça, à la robe dedentelle, tu n'aurais jamais plus droit, Isabelle, si le Roi savait ça...«, und dann wurde die Ironie auf seinem Gesicht zu einem immer feineren Schleier, während der Blick ihren Mund streifte, ihren Hals, den weichen Körper im Kleid hinabglitt, um dann wieder ihre Augen zu suchen, als wolle er sie befragen.

Bei ihm war es immer schwierig zu wissen, ob er es ernst meinte oder nicht, er hatte ein langes, eckiges Gesicht, das mit großer Leichtigkeit seinen Ausdruck veränderte und den zu großen Mund vergessen ließ. Wenn er gutgelaunt war, ahmte er für die Mädchen die Stimmen von Dick und Doof nach, und es wirkte, als kämen die Wörter aus seinem Bauch. Aber dann hatte er es gleich wieder satt, Kinder, jetzt reicht es, sagte er, ich bin doch nicht der Hofnarr. Und plötzlich schüchterte er sie ein, als hätte sich ein unvorhergesehener Abstand zwischen sie geschoben und die Mädchen wären mit einem mal winzig klein geworden, fast unsichtbar in seinen Augen.

Am Sonntag blieb er schließlich immer zum Abendessen, auch wenn er wußte, daß er keine Überraschungen erleben würde. Es war Aldinas freier Nachmittag, und um vier Uhr, wenn sie in den am Kragen mit einem unbestimmbaren Pelztierchen verzierten schwarzen Mantel geschlüpft war und die Haustür hinter sich zuzog, stand das Abendessen schon fertig in der Küche, mit dem Hühnerrücken, der blutleer zwischen den Fettaugen aus der Brühe ragte.

Die Mama beschränkte sich darauf, Ölbrötchen zu kaufen. Aber jeden Sonntag war es, als sähe Arturo zum erstenmal die Suppenschüssel mit den Cappellini vor sich oder nähme den Hühnerschenkel mit den großporigen Hautfetzen von der Platte; und er verschlang alles mit demselben gleichgültigen Heißhunger, die Smaragdfeigen ebenso wie die Rubinkirschen der Cremoneser Sauce, die zusammen mit den Topasbirnen in seinem großen Mund verschwanden. Wenn er gut aufgelegt war, lachten die Mädchen von der Suppe bis zur Nachspeise, und die Mama vergaß, ihm beizubringen, wie man sich bei Tisch benimmt, sie kasperten die ganze Zeit mit ihm herum. Doch am Grund seiner Augen war etwas Ungreifbares, eine Abwesenheit, ein dunkler Punkt, an dem es kein Zurück gab, der jeden Schwung zu Eis erstarren lassen konnte. Dann saß er stumm vor dem Suppenteller und drehte sorgfältig die Cappellini im Löffel um die Gabel, als führte er eine rituelle Handlung aus, die größte Aufmerksamkeit erforderte. Mama und Papa überließen ihn seinen Gedanken, und die Sätze gingen zwischen ihnen hin und her, gehaltlos, stumpf.

Andere Male, aber selten, wirkte ein falsches Wort oder eine scheinbar völlig banale Bemerkung wie ein plötzlicher Tritt auf die Bremse. Von einem Augenblick zum anderen schlug Arturos Laune um. Aber es gab keinerlei vorbeugende Strategie. Es geschah und Schluß. Die Mädchen blieben mit dem Bissen im Mund sitzen und konnten nicht mehr schlucken; dann blickten Arturos pechschwarze, tiefliegende Augen zur anderen Seite, und in der plötzlichen Stille schien es, als hörte man das Geräusch seiner Zähne.

 

Im Winter hatten Lorenza und Marta die Windpocken bekommen: Von einer Woche zur nächsten war Arturo ausgeblieben. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst zwischen den Trambahnen und Lieferautos, den Dreiradwagen, die einen guten Teil des Tages die Via Flaminia verstopften. Als die Mädchen ihn zum letztenmal gesehen hatten, saß Arturo mit Papa am Radio. Sie diskutierten, und plötzlich hatte Arturo die Stimme erhoben. Papa hatte versucht, einen gemäßigten, ruhigen Ton beizubehalten. Durch den Spalt zwischen Klavier und Wand sahen die Mädchen, wie er in der gewohnten Haltung seinen Knöchel umschloß, aber sein Körper sah aus wie erstarrt, und die Weste bildete viele kleine Falten, dort, wo eigentlich der Bauch hätte sein müssen. Papa hat keinen Bauch, hat nie einen gehabt, mager wie er ist. Arturo war aufgesprungen, dann hatte er sich wieder hingesetzt und eine Zigarette aus dem ledernen Etui genommen, aber seine Hände zitterten, es gelang ihm nicht, sie anzuzünden. Und plötzlich hatten die wie Marmor glänzenden Augen zum Klavier hingeblickt. Vielleicht hatten sie oberhalb des Instruments die Tür angelehnt gesehen. Vielleicht sogar die Mädchen, die ihre Nase durch den Spalt steckten. Mama brachte frischen Kaffee, stellte das Tablett auf den Tisch und begann gleich darauf, die überquellenden Aschenbecher auszuleeren. Gib einen Augenblick Ruhe, sagte Papa zu ihr, komm, setz dich. Die Stimme war verändert, aber Mama wirkte, als könne sie nicht innehalten, und verschwand, Spuren von Schuppen auf den Schultern ihres dunklen Wollkleides; die Mädchen sahen sie nicht mehr. Arturo rief sie, dieser Name, Isabella, brach ihm fast die Stimme. Doch plötzlich ging er auf das Klavier zu, die Augen durchbohren Marta und Lorenza in ihrem kärglichen Unterschlupf wie Feuerzungen. Sie laufen davon, ins Bett, und ziehen sich die Decke bis über den Mund. Mama kommt herein, ihre Gestalt hebt sich dunkel vom Licht des Flurs ab, ihre blonden Locken sehen aus wie ein leicht schwefelfarbener Heiligenschein: »Also wollt ihr jetzt schlafen, ja oder nein?« Die Mädchen kneifen die Augen zu, sie geht geradewegs zu der angelehnt gebliebenen Tür hinter dem Klavier und dreht mehrmals den Schlüssel um, dann geht sie, den Schlüssel in der geballten Faust, davon.

Nach diesem Abend hatten die Mädchen noch gelegentlich am Balkongitter gehangen in der Hoffnung, ihn mit seinem schlaksigen Gang und der über dem erbsengrünen Pullover geöffneten Jacke daherkommen zu sehen; dann hatte Papa gesagt, es sei zwecklos: Arturo ist weg. Mama hatte wieder den Tastenschoner aus Filz über die Klaviatur gelegt, und ab und zu kamen andere Kollegen von Papa, und Mama blieb ein paar Minuten ruhig bei ihnen sitzen, dann fand sie immer eine Ausrede, um aufzustehen und etwas anderes zu tun. Enricos Kollegen folgten ihr mit dem Blick, eng umschloß das Wollkleid ihre runden Hüften, diese langen Beine, füllig an den Waden und schmal und nervös an den Fesseln.

 

Ungefähr zu jener Zeit hatte Isabella begonnen, sich für Musik zu begeistern. Vielleicht aus Liebe zu Enrico. Oder um ein Versprechen zu halten. Oder auch aus anderen Gründen; Enrico wunderte sich, wenn er sie neben sich sitzen sah, während sie regungslos einer Symphonie von Beethoven lauschte, das Profil gehalten von dem schmalen Hals und das etwas lange Kinn zum Orchester emporgereckt. Sie verfolgt die heftigen Bewegungen der Geigen, als sei sie verloren, rund kommen die Knie unter der Seide des Kleides hervor, die großen weißen Hände mit den leicht splitternden Fingernägeln umklammern das Programm. Wo ist sie, wohin geht sie mit ihrem Kopf, während sie den Tönen die geheimsten Gedanken, die Emotion uneingestehbarer Wünsche anvertraut?

Aber Enrico hat gewonnen, es ist ihm gelungen zu erreichen, daß sie auch die Musik liebt. Er fragt sich «nicht, um welchen Preis. Und bevor sie ausgehen, um sich Gieseking oder Backhaus anzuhören, erklärt er ihr den Aufbau eines Konzerts und die Bedeutung der Sätze, aus denen es besteht. Er summt ein Motiv, die Finger zeichnen einen imaginären Takt in die Luft, während sie mit kurzsichtigen Augen, die sich vor Aufmerksamkeit zwischen den Wimpern verengen, zuhört wie jemand, der nichts verpassen will von dem, was ihm erklärt wird. Einzelheiten, die sie bis zu diesem Moment gleichgültig und kalt ließen; die gleiche Kälte und Gleichgültigkeit hat sie auch immer der Mathematik gegenüber gezeigt. Mathematik und Musik, das weiß Isabella, sind durch Rhythmen und Formeln miteinander verbunden, durch geometrische Kompositionen und abstrakte Schönheit, ein geistiges Sichvereinen und Sichlösen, ohne den Umweg über das Herz zu nehmen. Das Herz ist niederträchtig, es zieht einen hinab zwischen Triebe und Träume.

Später, bei der Rückkehr von jenen Sonaten und Symphonien, während Enrico sich noch darüber unterhalten will und lebhaft und leidenschaftlich wird bei der Erinnerung, scheint sie dagegen plötzlich jedes Interesse verloren zu haben. Die Kinder, sagt sie, die Hausaufgaben. Und die Programme jener Konzerte schichtet sie in schöner Ordnung, wie in Erwartung, auf dem Klavier auf.

 

In die Oper geht Enrico nicht mehr. Zwei Plätze im Parkett sind zu teuer, hat er erklärt, und ihm ist nicht danach, Isabella auf die Ränge mitzunehmen, wo man zusammengepfercht sitzt im schlechten Geruch der anderen, auf Plätzen ganz oben, von denen aus man schließlich doch fast nichts sieht. Isabella, sagt er immer, ist wie die Prinzessin aus dem Märchen, die einstweilen Gänse hüten muß, während sie darauf wartet, als Frau des Königs erkannt zu werden. Nur daß er keine Krone mehr hat, andere haben sie an seiner Stelle genommen. Kein König für Isabella, die im Garten Seiner Majestät mit einer goldenen Kugel spielte. Die Mama lacht, während sie mit den Händen das Programm zerknüllt, in dem die Aufführungen der Opernsaison im Teatro Reale stehen; und wenn das Programm schließlich ganz zerknittert ist, fällt ihr ein, daß sie es sehr gut als Zettel für Notizen hätte verwenden können. Isabella, die Schöne, die ihre goldene Kugel verloren hat und jeden Tag gezwungen ist, Einnahmen und Ausgaben gegeneinander aufzurechnen, die Lire, die im Portemonnaie kommen und gehen.

Und wenn Enrico den Elisir d'amore oder den Ballo in maschera hören will, legt er geduldig eine Platte nach der anderen auf, setzt sich in den geblümten Samtliegestuhl und lauscht versunken, während sie in der Wohnung hin und her geht. Manchmal, wenn aus dem Eßzimmer laut schmerzerfüllte Stimmen voller Liebesleid dringen, schneidet sie gerade mit der Nagelschere ein Photo aus einer Illustrierten aus. Das zwanzigste, das dreißigste, sie weiß es schon gar nicht mehr; und sofort reißen die fieberheißen Hände der älteren Tochter es ihr aus den Fingern, um es in das Album zu kleben, das geöffnet zwischen den zerwühlten Laken liegt. Auf den vom Leim klebrigen Blättern springen hier und da berühmte Tennisspieler herum, zwischen Tieren im Zoo und Damen mit üppigem Busen; andere, schmale, wie die Herzogin von Windsor, steigen leichtfüßig den Kokoslaüfer eines Überseedampfers herab, während die nebeneinander sitzenden Dionne-Schwestern, Fünflinge, aussehen wie aufgereihte Puppen. Die Hand preßt das Photo aufs Blatt, damit es gut festklebt, und unterdessen rutscht das in die Leiste gelegte Thermometer zwischen den mageren Schenkeln heraus und verschwindet unter den Decken. Zerbricht. Da verliert die Mama die Geduld, sie hat es satt, Bilder aus Zeitschriften auszuschneiden, die kleinen giftigen Quecksilberkügelchen im Bett zu verfolgen. Während diese Stimme, dieser flehende Gesang, diese drohenden Einsätze des Orchesters durch die Wohnung toben.

Doktor Vannutelli kommt und klopft mit zwei Fingern den knochigen Rücken der Kleinen ab, legt sein kaltes, haariges Ohr auf ihre glühende Haut. Das Kind muß in die Berge, sagt er jedesmal, wenigstens zwei Monate in die Berge... Er ist ein alter Gebirgsjäger, hat auf dem Piz Buin und in den Dolomiten gekämpft, glaubt an die heilenden Kräfte der Höhenluft und an die jungfräulichen Winde, die von den Gletschern herunterwehen. Nicht so die Mama, die aus dem Land der Uhren und des Käses kommt, wie die Portiersfrau sagt, wo die Reinheit der unberührten Gipfel zusammen mit dem Rucksack den Alptraum ihrer Kindheit darstellten. »Die Kleine hat eine lymphatische Konstitution«, widerspricht sie, »vielleicht würde das Meer ihr guttun...« – »Ach was, lymphatische Konstitution, schauen Sie her.« Der dicke Finger von Doktor Vannutelli zieht Lorenzas Unterlid, ihre vom Fieber trockene Lippe herunter. »Das nennt man Eisenmangel, zu wenig rote Blutkörperchen. Kurzgebratenes Fleisch, innen noch blutig, und viel gute Luft… Wie auch immer, nächste Woche darf sie aufstehen.«

Aber in der darauffolgenden Woche hat Lorenza Ohrenschmerzen und blickt, im großen Ehebett zusammengerollt, auf den geschliffenen Schrankspiegel, in dem sich ein Sonnenstrahl in den Farben des Regenbogens bricht. Ein frisches, helles Frühlingslicht dringt durch das angelehnte Fenster herein (oh, diese schweizerische Manie der frischen Luft! schimpft Papa jedesmal, wenn er an einem offenen Fenster vorbeikommt), und wenn ein Windhauch den Vorhang hebt, blitzt es im Spiegel auf wie Diamanten. Die Mama kommt und geht, mit Schuhen, die auf dem Parkett knarren. Sie wechselt ihr die Packung auf dem Ohr. Hält einen Brief in der Hand. »Von wem ist er?« fragt das Kind. »Von Arturo.« – »Also bleibt er lange fort?« – »Weiß man nicht.« – »Und die Universität, die vielen Studentinnen, die in ihn verliebt sind?« (Was die Liebe angeht, ist sie sehr empfindsam, und im Kino weint sie, wenn die Bilder einer unglücklichen Liebe vorbeiflimmern.) »Er unterrichtet nicht mehr an der Universität«, antwortet die Mama beiläufig, »und die Mädchen werden sich trösten.« Sie läuft mit dem Brief in der Hand herum, als handelte es sich um ein Taschentuch, dann läßt sie ihn auf der Kommode liegen, um etwas anderes zu tun. Lorenza betrachtet das weiße Blatt, über das die sonnig-blaue Luft streicht, und denkt an die Zeit, als die drei zusammen ausgingen und sie ihnen mit Marta vom Balkon ausnachwinkte, eifersüchtig auf die Mama mit ihrem lavendelfarbenen Schal zwischen Papa und Arturo. Der Brief gleicht jetzt einem Schmetterling, der bei jedem Windhauch flattert, die Mama kommt zu ihr, um die Packung mit einer heißeren auszuwechseln, die Kleine wendet den Kopf ab. »Es brennt«, sagt sie mürrisch, und die Mama pustet darauf, mit herzförmig gespitzten Lippen. Einmal hat Lorenza gehört, wie sie und Arturo französisch sprachen und die Mama ständig den Kopf schüttelte, als werfe sie ihm irgend etwas vor, und plötzlich war sie rot geworden, und die Augenlider waren von jenem Flattern erfaßt worden, das die Kleine so gut an ihr kennt.

II

War sie schön? Was für eine schöne Mama du hast! rief eine Verkäuferin ab und zu, während sie etwas einwickelte, was die Mama eben gekauft hatte, und lächelte das Kind dabei an, als müßte es ihrer Bewunderung selbstverständlich beipflichten. Aber Lorenza fand die Mama zu dick; und außerdem gefielen ihr die spitzen Lippen nicht, die sie vor dem Spiegel leuchtend rot anmalte, wobei sich die kurzsichtigen Augen zusammenzogen in der Bemühung, die Farbe nicht zu verschmieren. Früher, ja, da hatte sie sie wunderschön und in allen Teilen ihres Körpers vollkommen gefunden; aber jetzt nicht mehr. Und während das Auto schwankend, daß es einem schlecht wurde, die Kurven zum Maloja hinauffuhr, hatte sich der Blick kritisch auf der leicht schnabelartig gebogenen Nase niedergelassen: kein bißchen schön.

Es regnete, und die Reifen rutschten, der Motor keuchte und heulte auf. Es war schon dunkel, und das Wasser floß in Strömen aus der engen Klamm, Lorenza stieß in Abständen lange und angstvolle Seufzer aus, aber die Mama, die neben ihr saß, tat, als merkte sie es nicht, die behandschuhte Hand an dem Griff, den sie bei jeder Kurve fester umklammerte. Den Mund zu einer Art Grimasse zusammengepreßt, die Lorenza haßt, dem Schlitz einer Spardose ähnlich in dem weiß gepuderten Gesicht. Daraufhin hatte sie begonnen, die Falten ihres Kleides zu streicheln, und bei jedem Rütteln des Autos, wenn ihre Körper, auch ohne es zu wollen, aneinanderrutschten, tauchten die Finger tief in die Kälte der Seide ein. Eine Hand, die um ein wenig Trost bat; aber die Mama schien sie gar nicht zu bemerken, achtete nur auf die Straße, und die kleinen blonden Wellen glänzten, leicht bewegt von der unebenen Fahrt. Und als Lorenza sich einen Seufzer hatte entschlüpfen lassen, der lauter war als die anderen, hatte sie, grausam, weiter hinausgeblickt, das helle Vogelprofil dem Dunkel zugewandt.

Chesa Silvascina war plötzlich aufgetaucht, während das Auto auf dem kiesbestreuten Vorplatz zum Stehen kam: zwei Stockwerke aus Holz auf einem Fundament aus großen hellen Steinen; und in der weiten Lichtung, deren Grenzen sich in der Ferne zwischen den Bäumen verloren, stand es im letzten Widerschein des Tageslichts, mit beleuchteten Fenstern, die sich wie goldene Vierecke von dem regendunklen Holz abhoben. Unter dem lauten Trommeln des Regens auf den Schirm bezahlte die Mama den Fahrer; dann tropfte derselbe Schirm im Hausflur auf den Teppich, bis sich rund um seine Spitze eine kleine Pfütze gebildet hatte. Es war warm, endlich!

Die Mama ließ den Blick schweifen, als wolle sie überprüfen, wieviel noch übrigblieb von einem zugleich geliebten und verhaßten Ort, doch sogleich hatten sich Stimmen, die aus jedem Winkel des Hauses zu kommen schienen, schrill im Treppenhaus geballt, die Lichter waren angegangen, verschiedene Schritte waren heruntergepoltert. Aufrecht in ihrem vom Regen fleckigen Mantel nahm die Mama langsam den Hut ab, während Lorenza vom kräftigen Händedruck zweier Mädchen und eines Jungen beinahe umgerissen wurde, indes die Namen zwischen ihnen hin und her flogen.

Frau Arnitz war als letzte dazugekommen, aus dem Raum, den auch die Kleine später als den »Living« zu bezeichnen lernte, und die Mama war rot geworden, den Hut in der Hand, von dem sie nicht wußte, wo sie ihn ablegen sollte. Der Kuß, den sie tauschten, war rasch und flüchtig gewesen, und Frau Arnitz hatte die Hände des Kindes ergriffen und betastet, als müsse sie ihre Beschaffenheit prüfen: Aber unmöglich, wie dünn sie ist! Einer der wenigen deutschen Sätze, die Lorenza sie in jenen Monaten sagen hören sollte. Klein, dick, mit krausen, halb blonden und halb grauen Haaren, butterweicher, auf den Wangen noch fester Haut, war sie also die Großmutter, die Papa »die Semiramis« nannte. Sie roch nach Wald, nach Erdbeeren.

»Red keine Dummheiten«, hatte die Mama einmal im Schlafzimmer gesagt, »das ist ›Arpège‹, von Lanvin.« Sie hatte sich auf einer gelben Chaiselongue ausgestreckt und blickte untröstlich aus dem Fenster auf den unbewegten, dunklen Himmel. »Sie hat noch nie ein anderes Parfüm benutzt.« Sie war völlig erschöpft. Lorenza dagegen hatte ihre Fröhlichkeit wiedergefunden und lief durch das Zimmer, mit den Fingern die Wände streifend, die mit hellem Stoff mit Rankenmuster bespannt waren; und bei dem leichten Druck der Hand war eine in der Bespannung kaum erkennbare Tür aufgesprungen, zum Bad, das fast genauso groß war wie das Zimmer. Lorenza hatte am Griff über der Wanne gedreht, und aus dem Hahn in Form eines Löwenmauls war das Wasser spritzend in die lange, tiefe Wanne gerauscht. »Und die zwei Mädchen, hast du die gesehen?« hatte sie gerufen, um das Geräusch des Wassers zu übertönen, »glaubst du, daß sie manchmal mit mir spielen werden, obwohl sie älter sind als ich?« – »Schrei nicht von einem Zimmer ins andere, komm her.« Die Mama kniff die Augen zusammen, als wolle sie sie schärfer sehen. »Komm her«, hatte sie wiederholt, die Beine, die im Halbdunkel in den Seidenstrümpfen glänzten wie Honig, auf der Chaiselongue ausgestreckt. Lorenza hatte sich neben sie gesetzt, und die Mama hatte sie umarmt. Zum erstenmal an jenem Tag hatte sie die einhüllende Wärme ihres Körpers gespürt. Zu spät, zu spät; plump und träge war sie in ihren Armen geblieben.

Vivia, Marisetta. Bei Tisch, stolz wie Wildkatzen, gleichgültig gegenüber gewöhnlichen Sterblichen, sprachen sie mit dem Jungen eine rasche, fast unverständliche Sprache, die aus Anspielungen und erfunden wirkenden Wörtern bestand, ohne sich darum zu kümmern, wenn sie die Großmutter unterbrachen; und wenn es nötig war, faßten sie mit dem Finger in den Teller oder lachten, wobei sie zur Schau stellten, was sie gerade kauten, während das Dienstmädchen mit der Platte in der Hand wartend stehenblieb.

Eddy war der Gegenstand ihres Interesses und ihrer Heiterkeit. Die Brille zeichnete zwei lächerliche kleine Kreise in sein breites Gesicht, und er stellte sich absichtlich dumm. Doch ab und zu war es, als blitzten die leicht schielenden Augen hinter den Brillengläsern auf, und die Finger warfen voll Kraft eines der Brotkügelchen, die er vor sich aufgereiht hatte. Das Kügelchen landete auf dem Teller oder im Glas eines der beiden Mädchen, und dann lachte er lautlos, die Lippen weich über den dichten, kleinen weißen Zähnen. Ein himmlisch schöner Mund.

Anstatt sich aufzuregen oder ihnen Vorwürfe zu machen, amüsierte sich Frau Arnitz darüber und klopfte nur leicht mit dem Löffel an ihr Glas, wenn der Lärm zu laut wurde. Sie hatte sich zum Abendessenumgezogen, und das breite Revers aus schwarzem Samt betonte das Weißrosa ihres Gesichts, in dem die mit Lidschatten geschminkten kleinen, fast wimpernlosen Augen, blau wie ein »Muttergottesmantel«, leuchteten wie Stecknadelköpfe. Aber die Haare, die schien sie vergessen zu haben, dicht und stumpf standen sie in alle Richtungen, kaum zusammengehalten von ein paar Haarnadeln. Und anstatt sie Großmutter oder Frau Arnitz zu nennen, redeten die Mädchen sie mit einem unverständlichen Mamigna an.

Abseits vor ihren Tellern, im Licht der aus zwei riesigen Hirschgeweihen bestehenden Lampe, stürzten Lorenza und die Mama ins Nichts; und auf die blassen Versuche der Großmutter, ein Gespräch in Gang zu bringen, antwortete die Mama einsilbig, während sie langsam und vorsichtig weiteraß, als könnten die Speisen vergiftet sein.

Margot war an jenem Abend nicht da, und bei Tisch wurde lange von einem mehrtägigen Ausflug zum Roseggletscher gesprochen, den sie unternommen hatte. »Wenn sie gewußt hätte, daß du nur einen Abend bleibst«, sagte Frau Arnitz, »hätte sie bestimmt darauf verzichtet. Sie wartete schon seit Wochen auf dich.« – »Mir tut es auch leid«, hatte die Mama erwidert, aber es war, als sagte sie es nur aus Höflichkeit und als ließe die verfehlte Begegnung sie gleichgültig.

Als Margots Name fiel, hatte Eddy aufgehört, sich für Vivia und Marisetta zu interessieren. »Ein phantastischer Ausflug, ins Val Roseg«, hatte er gesagt, »wenn ich nicht wieder diesen verdammten Husten hätte, wäre ich auch mitgegangen«, und sein Silberblick hatte sich auf das Kind und die Mama am Ende des Tisches geheftet, ohne daß man recht wußte, wen der beiden er denn ansah.

 

Margot, die einzige Tochter aus Großmutters zweiter Ehe, sollte Lorenza erst zwei Tage später kennenlernen, als die Mama schon abgefahren war, mit dem Filzhut auf den blonden Locken und einem letzten Kuß, dem Lorenza nachlief, während das Auto sich auf dem Kies in Bewegung setzte, die Hand ans Fenster geklammert, da sie die große, weiße der Mutter nicht loslassen wollte.

Von dem Mäuerchen neben dem Schwimmbecken aus hatte Lorenza sie aus dem Wasser kommen und den nassen Kopf schütteln sehen, wie es ein Hund machen würde, balancierend auf dem mit breiten grauen Steinen gepflasterten Beckenrand. Kraftvoll rieb sie das Handtuch auf dem Rücken hin und her, während die Kleine, in einen dicken Pullover eingemummt, ihr zusah und dabei in das letzte, vom Frühstück noch übrige Stück Butterbrot biß. »Du bist Tante Margot, stimmt's?« hatte sie gefragt und die Brotkrümel auf die Balustrade fallen lassen. »Ja, aber nenn mich ruhig einfach Margot.« – »Margot, Margerita...«, hatte Lorenza geträllert: denn sie schien den Glanz einer Margerite zu haben in der diffusen Helligkeit des Morgens, da die Sonne noch hinter den Bergen versteckt war. Als hätte sie in ihren Gedanken gelesen, hatte Margot das Handtuch auf den Boden gleiten lassen, der wollene blaue Badeanzug umschloß einen Körper mit schmaler Taille und kräftigen Hüften. Nichts war dick an jenem Körper, sondern nur voll, stark wie beidem eines Jungen. »Margerita bedeutet auch Edelstein«, hatte sie gesagt, »ne proicias margaritas ante porcos...«, und ihr Mund hatte sich zu einem nervösen Lachen verzogen, die Lippen blau vor Kälte.

Eddy war in sie verliebt. Als er an jenem Morgen in seinen Bademantel gehüllt ankam und Margot schon fort war, hatte er einen untröstlichen Blick auf das eiskalte Wasser geworfen und sich neben Lorenza auf das Mäuerchen gesetzt. »Margot me prend pour un con tout le temps«, hatte er gesagt und in der Sonne mit den haarigen Beinen gebaumelt. »Was?« hatte Lorenza gefragt. »Nichts...«

Alle hielten seine Liebe für selbstverständlich; sogar Gregorio, der Gärtner, blieb morgens, wenn er den Kies harkte, mit dem Rechen in der Hand stehen und wartete darauf, daß Margot früher oder später eine liebevolle Geste machen würde, um so viel Ergebenheit zu belohnen.

Doch ebenso selbstverständlich war, daß Margot seine Liebe nicht besonders schätzte, sondern gelegentlich sogar Zeichen der Unduldsamkeit äußerte.

Ich hab's satt, satt! sagte sie plötzlich. Das Gebiet, in dem sie sich als Herrscherin aufspielen konnte, beschränkte sich nicht auf diesen dicken Jungen mit Brille, sondern umfaßte, außer den verschiedenen Verehrern, die jeden Tag nach Chesa Silvascina heraufstiegen, auch Vivia und Marisetta. Bereit, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, sich für jeden Vorschlag zu begeistern, der von ihr kam, als sähen sie die Welt durch ihre Augen und als würde diese nur dadurch »phantastisch, im Ernst«. Au ja, los... war eine ihrer Lieblingsantworten, wenn Margot einen Ausflug oder ein Tennismatch vorschlug. Oder auch nur einen Spaziergang zum See.

In Wirklichkeit gab es drei Seen, getrennt durch weite Wiesen, auf denen hier und dort alte Bauernhäuser mit großen hölzernen Scheunen standen. Doch für sie alle war »der See« nur einer, der eine, der sich bis zum Maloja hinzog, bald blau, bald eisenfarben, ein See, der sich ins Unendliche zu erstrecken und fast nach den Bergen zu greifen, sich im Licht der Dämmerung im Himmel zu verlieren schien. In der Mitte tauchte eine kleine lärchen- und tannenbestandene Insel auf, dorthin war Alberto früher mit dem Segelboot gefahren und hatte in der kleinen Sandbucht geankert. Aber jetzt war das Boot schon seit Jahren verkauft, und zur Insel fuhr niemand mehr, auch wenn immer noch von ihr gesprochen wurde wie von einem vertrauten Ort. Ein Ort, wohin man im Winter, wenn der See zufror und sich mit Schnee bedeckte, in Mondnächten gehen und ein Feuer anzünden konnte.

 

Jeden Morgen ging Frau Arnitz hinunter, um rund um das Haus die Beete zu inspizieren, wo Blumen der verschiedensten Farben durcheinanderwucherten, noch feucht von der Nacht. Frau Arnitz sprach mit sich selbst, kommentierte, ihre kurzen, dicken Arme kamen aus den Puffärmeln des Dirndls hervor, und die Hände griffen zwischen die Blumen, um sie von einem Insekt zu befreien, das sie als Bedrohung empfand. Das Dirndl ist das Kleid, das sie zu Ehren einer unbestimmten bayerischen Vorfahrin in Chesa Silvascina zu bevorzugen scheint, zusammen mit dem großen Strohhut, der das Weißrosa ihrer Haut vor der Sonne schützt. Die Akeleien, die Blüten des blauen Eisenhuts und die großen, zartblauen der Distel sind zusammen mit den Petunien frühmorgens ihr erster Gedanke, als könnte sie durch die Leichtigkeit ihrer Blütenblätter die Poesie des Kosmos verfolgen, die Leuchtspur berühren, die Auroras Wagen zurückgelassen hat, als er jenseits des Margna verschwunden ist. Auf die Kleine, die mühsam ihre Ovomaltine ausgetrunken hat, wirft sie nur einen raschen, kritischen Blick. Nicht bös gemeint, sondern im Sinn einer Einschätzung, denn sofort bringt die Enkelin sie mit ihren Beinen wie Stöckchen und den Schulterblättern, die sich unter dem Pullover abzeichnen, zurück auf die Erde und zu den praktischen Dingen des Lebens. Sie fragt sie immer, ob sie gut geschlafen hat, ob sie noch Hunger hat und ob sie genug gegessen hat. Sie ist freundlich, auch wenn ganz klar ist, daß die Kleine nicht mehr zählt als Nelly, die Tochter von Gregorio. Lorenza antwortet stets mit ja und schaut zu, wie der Schatten des Huts das Blau der Pupillen verdunkelt, Augen, klein und kalt wie Kiesel. In ihrer Jugend hat sie ganz schön über die Stränge geschlagen, sagt Marisetta; aber Lorenza kann sich nicht vorstellen, wie die Großmutter über die Stränge geschlagen haben kann mit diesem Aussehen einer braven Gärtnerin, und um ihr zu gefallen, fragt sie sie nach den Namen der Blumen. »Eisenhut«, sagt die Großmutter, »Alpenrosen«, und mit der Schere schneidet sie hier und da ohne ersichtlichen Grund etwas ab, auf etwas verrückte Weise, als wollte sie bestimmten Blumen den Vorrang geben auf Kosten anderer, die womöglich auch wunderschön waren.

 

Auf der Konsole im Wohnzimmer sind die Photos ihres einzigen Sohnes, Alberto, aufgereiht, der in Afrika an einer geheimnisvollen Infektion gestorben ist. Viele: Alberto als Kind, Alberto auf dem Bernina, Alberto im Internat in Montreux. Alberto auf dem Segelboot. Ein Junge mit glatten Haaren und durchdringend blickenden Augen, vielleicht von der Farbe des »Muttergottesmantels« wie die ihren. Aber das schönste Photo steht im Eingang, groß und scharf, mit dunklen Schatten, die sich auf dem majestätischen, schneebedeckten Corvatsch abzeichnen. Alberto steht aufrecht da, in Hemdsärmeln, nur eine Strickweste schützt ihn vor der Kälte eines Tages, an dem hier und da Wolkenfetzen den makellos weißen Hang beflecken. Die himmelwärts gewandten Spitzen der hinter ihm im Schnee aufgepflanzten Skier kreuzen sich, und Alberto runzelt ein klein wenig die Stirn, um der Sonne zu trotzen, die ihm voll ins Gesicht scheint, der Mund leicht geöffnet, das Haar aus der Stirn geweht vom Wind.

Marisetta ist alles, was von ihm bleibt, geboren, kurz bevor Alberto nach Afrika aufbrach. Und im Kongo, als er im Gefolge eines Schlangenjägers den Fluß entlangfuhr, hatte er sich dann die geheimnisvolle Infektion geholt, die nach und nach seine Leber zerfressen sollte. Er hatte später dorthin zurückkehren wollen und war dort gestorben, in einem Dorf aus Stroh und Schlamm. Aber Marisetta, sagt die Großmutter, hat so wenig von Alberto, sie ist faul, träge. Manchmal streichelt sie sie gedankenverloren, so als suchten die Finger auf ihrem Gesicht die Spuren jenes lebhaften, unruhigen Sohnes, der immer auf der Suche nach neuen aufregenden Erfahrungen war. Marisetta lächelt, sie hat ein rundes, ruhiges Gesicht, auf dem über Nacht Pickel zum Vorschein kommen und nichts an ihrer guten Laune ändern. Von ihrer Mama weiß sie, daß ihr Vater gewalttätig war und zuviel trank und daß eben wegen des Alkohols seine Leber nicht durchgehalten hatte. Aber bei der Schweizer Großmutter, sagt sie, bei Mamigna, verbessert sie sich sofort (alle müssen sie so nennen, Großmutter ist vielleicht zu vulgär), bei Mamigna ist sie gern, und jeden Sommer kommt sie, nachdem vorher ein kleiner Reisekoffer mit Messingbeschlägen eingetroffen ist, um in Chesa Silvascina die Ferien zu verbringen. Manchmal ist, wenn sie wieder nach Mailand abreist, wo ihre Mama mit dem neuen Mann wohnt, in Chesa Silvascina schon der erste Schnee gefallen.

 

Nichts,