Über William Boyd

Foto: © Trevor Leighton

 

WILLIAM BOYD, 1952 in Ghana als Sohn schottischer Eltern geboren, gilt als »Großbritanniens größter lebender Romancier« (The Daily Telegraph, London). Für seine Werke erhielt er zahlreiche Preise. Romane wie Eines Menschen Herz, Ruhelos und Die Fotografin wurden zu internationalen Bestsellern. Zuletzt erschienen im Kampa Verlag sein neuer großer Roman Blinde Liebe und in der Reihe Der kleine Gatsby die Erzählung All die Wege, die wir nicht gegangen sind. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und Südfrankreich.

für Susan

Sokrates

Ich wohne am Brazzaville Beach. Brazzaville Beach am Rande von Afrika. Da bin ich angeschwemmt worden, könnte man sagen, habe mich abgesetzt wie eine Treibholzspiere und stecke eine Zeit lang fest im warmen Sand, knapp über der Hochwassermarke.

Bis zum vergangenen April hatte der Strand überhaupt keinen Namen. Dann wurde er zu Ehren der berühmten Conferençia dos Quadros getauft, die vor ein paar Jahren, 1964, in Kongo Brazzaville stattfand. Niemand weiß warum, aber eines Tages stellten Arbeiter über der Lateritstraße, die zum Ufer hinunterführt, dieses Schild auf: »Brazzaville Beach«, und darunter stand Conferençia dos Quadros, Brazzaville, 1964.

Es ist ein Anzeichen dafür, sagen manche, dass die Regierung gemäßigter wird, dass sie die Wunden von unserem eigenen Bürgerkrieg heilen will, indem sie einen historischen Augenblick im Freiheitskampf eines anderen Landes würdigt. Wer weiß? Wer kann auf solche Fragen je eine Antwort geben? Aber der Name gefällt mir, und allen anderen, die hier in der Gegend wohnen, gefällt er auch. Binnen einer Woche haben wir ihn alle unbefangen benutzt. Wo wohnen Sie? Am Brazzaville Beach. Es kam einem ganz natürlich vor.

Ich wohne dort am Strand in einem ausgebauten Strandhäuschen. Ich habe ein großes kühles Wohnzimmer mit einer Frontseite aus ineinandergreifenden Schiebetüren, die direkt auf eine große Sonnenterrasse hinausgehen. Außerdem gibt es ein Schlafzimmer, ein großzügiges Bad mit Wanne und Dusche und, in einem Anbau an der Rückseite, eine win

Der Strand hat schon bessere Tage gesehen, das stimmt, aber mir scheint, die Jahre seines Niedergangs sind vorbei. Ich habe jetzt Nachbarn: den deutschen Manager der Bauxitminen – mein Chef, nehme ich an – und auf der anderen Seite einen ulkigen, stämmigen Syrer, der in der Stadt ein Import-Export-Unternehmen sowie ein paar China-Restaurants betreibt.

Sie sind nur am Wochenende da, deshalb habe ich hier unter der Woche alles mehr oder weniger für mich. Aber ich bin trotzdem nie allein. Da ist immer jemand am Strand: Fischer, Volleyballspieler, Herumtreiber, Strandgutsammler. Es kommen auch europäische Familien. Franzosen und Portugiesen, Deutsche und Italiener. Keine Männer, bloß Frauen, viele davon schwanger, und lärmende kleine Kinder. Die Kinder spielen, die Frauen sitzen da und schwatzen, rauchen und sonnen sich und schimpfen ihre Kinder aus. Wenn am Strand nicht viel los ist, nehmen sie manchmal verstohlen das Bikinioberteil ab und setzen ihre weichen, fahlen Brüste der afrikanischen Sonne aus.

Hinter meinem Haus, jenseits des Palmenhains, liegt das Dorf – eine langgestreckte Barackensiedlung aus Lehmhütten und Schuppen, die den gestrüppreichen Landstreifen zwischen der baumgesäumten Küste und der Hauptstraße zum Flugplatz einnimmt. Ich lebe allein – was mir sehr recht ist –, aber es ist so viel Leben um mich herum, dass ich nie einsam bin.

Ich habe sogar einen Freund, sozusagen. Man könnte ihn wohl so nennen, auch wenn sich zwischen uns nie etwas auch nur annähernd Fleischliches abgespielt hat. Wir gehen ein-, zweimal die Woche zusammen im Airport-Hotel essen. Gunther Neuffer heißt er; ein schüchterner, griesgrämi

Aber ich sollte nicht abschweifen: Gunther spielt in dieser Geschichte keine wesentliche Rolle. Ich stelle ihn nur vor, um meine gegenwärtigen Verhältnisse zu erläutern. Gunther gibt mir Arbeit. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt hauptsächlich damit, dass ich halbtags als kaufmännische Übersetzerin für ihn arbeite, wofür er mich viel zu gut bezahlt. Ja, wenn ich den Job bei Gunther nicht hätte, könnte ich nicht am Brazzaville Beach leben. Was ich mache, wenn er mal geht, ist mir schleierhaft. In der Zwischenzeit ist ein melancholisches Essen im Airport-Hotel keine Strafe.

Ich liebe den Strand, aber bisweilen frage ich mich, was ich eigentlich hier mache? Ich bin jung, ich bin alleinstehend, ich habe Angehörige in England, ich verfüge über alle möglichen eindrucksvollen wissenschaftlichen Qualifikationen. Warum also ist der Strand mein Zuhause geworden …?

Wie soll ich Ihnen das erklären? Ich bin hier, weil ich zweimal nacheinander in seltsame und außergewöhnliche Ereignisse verwickelt wurde und Zeit brauchte, um sie abzuwägen, sie zu bewerten. Ich muss begreifen, was sich da abgespielt hat, ehe ich gewissermaßen wieder in mein Alltagsleben einsteigen kann. Kennen Sie dieses Gefühl? Das Verlangen, erst einmal halt zu rufen, zu sagen: Es reicht, nicht so schnell, lasst mich mal Luft holen.

Aber so kann man nicht anfangen.

Noch ein Problem: Wie beginne ich? Wie soll ich Ihnen erzählen, was mir passiert ist?

Ich heiße Hope Clearwater … Oder: »Hope Clearwater ist diese große junge Frau, die am Brazzaville Beach wohnt.« Das ist gar nicht so einfach. Mit welcher Stimme soll ich sprechen? Ich war anders damals, und jetzt bin ich wieder anders.

Ich bin Hope Clearwater. Sie ist Hope Clearwater. Alles bin ich, im Grunde genommen. Versuchen Sie, das im Kopf zu behalten, auch wenn es zunächst vielleicht etwas verwirrend ist.

Wo soll ich anfangen? In Afrika, denke ich, ja, aber weit weg vom Brazzaville Beach.

Eine letzte Anmerkung: Das Wesentliche an der ganzen Sache ist Ehrlichkeit, sonst brauche ich gar nicht erst damit zu beginnen.

Also: Fangen wir mit dem Tag an, als ich mit Clovis zusammen war. Wir beide, ganz allein. Ja, das ist eine gute Stelle …

Soll ich Ihnen jetzt von Hauser erzählen, frage ich mich? Nein, wohl lieber nicht. Hauser und die anderen werden uns

Ich setzte mich anders hin, nahm die Beine auseinander und streckte sie vor mir aus. Anscheinend hatte sich eine kleine Ameise unter meinem BH-Träger verfangen, und ich verwandte ein paar unbehagliche Minuten auf den vergeblichen Versuch, sie aufzuspüren. Clovis sah ungerührt zu, wie ich mir erst die Bluse und dann den BH auszog. Ich fand zwar kein Insekt, entdeckte aber seine Spuren – ein säuberliches Nest von rosa Stichen unter meiner linken Achsel. Ich schmierte Spucke darauf und zog mich wieder an. Als ich den obersten Blusenknopf zumachte, verlor Clovis offenbar das Interesse an mir. Er schlug sich einmal brüsk auf die Schulter, kletterte in den Muskatnussbaum, unter dem er gesessen hatte, dann schwang er sich mit kraftvollen, leichten Bewegungen durch das Geäst, sprang weiter auf einen benachbarten Baum und war verschwunden, außer Sichtweite, Richtung Nordost zu den Hügeln des Steilabbruchs hin.

Ich sah wieder auf die Uhr und notierte den Zeitpunkt seines Abzugs. Vielleicht wollte er jetzt wieder zu den anderen aus seiner Gruppe zurück? Es war durchaus schon vorgekommen, dass Clovis einen Tag allein verbracht hatte, aber üblich war es nicht – er war ein geselliges Tier, selbst nach Schimpansenmaßstäben. Ich hatte ihn drei Stunden lang beobachtet, und während dieser Zeit hatte er so gut wie gar nichts Bemerkenswertes oder Ungewöhnliches getan – aber das war natürlich auch wert, festgehalten zu werden. Ich stand auf, streckte mich und ging zu dem Muskatnussbaum, um mir Clovis’ Kot anzuschauen. Ich holte ein Probefläschchen aus meiner Tasche und sammelte mit einem Zweig etwas Kot ein. Das würde mein Geschenk für Hauser sein.

Ich wanderte den Pfad zurück, der mich ungefähr in die Richtung zum Camp führte. Die Wege in diesem Waldstück waren zum großen Teil vor Kurzem frei gemacht worden,

Ich ging in gleichmäßigem, stetigem Tempo – ich hatte es nicht sonderlich eilig zurückzukommen und war sowieso rechtschaffen müde. Die Nachmittagshitze hatte ihre eigentliche Kraft verloren. Ich konnte die Sonne auf den obersten Zweigen der Bäume sehen, aber hier unten am Waldboden war nichts als dunkler Schatten. Ich genoss diese Heimwege am Ende des Tages, und die beschränkte Sicht im Wald gefiel mir besser als eindrucksvollere Panoramen – ich war lieber eingeschlossen als exponiert. Ich hatte die Vegetation gern dicht um mich herum, Büsche und Zweige, die mich streiften, den muffigen Geruch von moderndem Laub und die gefilterte, verschleierte Neutralität des Lichts.

Im Gehen zog ich eine Zigarette heraus. Es war eine Tusker, eine einheimische Marke, stark und süß. Während ich sie anzündete und den Rauch einsog, dachte ich an meinen Ex-Mann, John Clearwater. Das war die augenfälligste Hinterlassenschaft unserer kurzen Ehe – eine schlechte Angewohnheit. Es gab noch andere, natürlich, andere Hinterlassenschaften, aber die waren mit bloßem Auge nicht zu erkennen.

João erwartete mich etwa eine Meile vor dem Camp. Er saß auf einem Baumstamm und pulte an altem Wundschorf an seinem Knie herum. Er sah müde und nicht recht gesund aus. João war sehr schwarz, mit fast schon dunkelvioletter Haut. Er hatte eine lange Oberlippe, die ihn ständig traurig und ernst aussehen ließ. Als ich näher kam, stand er auf. Wir begrüßten uns, und ich bot ihm eine Zigarette an, die er nahm und sorgfältig in seiner Segeltuchtasche verstaute.

»Glück gehabt?«, fragte ich.

»Ich glaube, ich glaube, ich sehen Lena«, sagte er. »Sie

Er gab mir die Notizen von seinen Feldbeobachtungen, und ich erzählte ihm von meinem ereignislosen Tag mit Clovis, während wir zum Camp zurückschlenderten. João war mein hauptamtlicher Assistent. Er war in den Vierzigern, ein dünner, drahtiger Mann, fleißig und treu. Sein zweiter Sohn, Alda, wurde bei uns als Beobachter ausgebildet, aber der war heute in der Stadt und versuchte, ein Problem im Zusammenhang mit seinem Militärdienst zu klären. Ich fragte, wie Alda vorankam.

»Ich glaube, er morgen wieder da«, sagte João. »Leute sagen, der Krieg ist bald aus, also nicht mehr Soldaten nötig.«

»Hoffen wir’s.«

Wir sprachen kurz über unsere Pläne für den nächsten Tag. Bald hatten wir den kleinen Fluss erreicht, den Mallabar – glaube ich – neckisch »die Donau« getauft hatte. Er speiste sich aus den feuchten Wiesen hoch oben auf dem Plateau im Osten, kam in einer Kette von Tümpeln und Wasserfällen ein langes, ziemlich tiefes Tal durch unseren Teil des Semirance Forest herunter und floss dann weiter, gemächlicher und immer breiter werdend, bis er hundertfünfzig Meilen weiter am Rande der Küstenebene in den großen Cabule River mündete.

Auf der anderen Seite der Donau, nach Norden hin, lichtete sich der Wald, und der Weg zum Camp ging durch »Gartenbuschland«, wie man in diesem Teil von Afrika sagt: Gras und Buschwerk mit vereinzelt hervortretenden Baumgruppen und kleinen Palmenhainen. Das Camp selbst befand sich schon mehr als zwei Jahrzehnte an dieser Stelle, und während es zu einer festen Einrichtung geworden war, hatten die meisten Gebäude dauerhaftere Gestalt angenommen. Zeltplanen waren Holz und Wellblech gewichen, die

Das eigentliche Camp begann an der Kreuzung des Waldpfades (der nach Süden zur Donau führte) mit der Main Street, die selbst nichts weiter war als eine Verlängerung der Straße von Sangui, dem nächstgelegenen Dorf, wo João und die meisten Beobachter und Assistenten des Projekts wohnten. Hier blieben wir stehen, verabredeten uns für den nächsten Morgen um sechs Uhr und verabschiedeten uns. João sagte, er würde Alda mitbringen, falls der rechtzeitig aus der Stadt zurück sei. Dann gingen wir unserer Wege.

Ich schlenderte durch das Camp auf meine Hütte zu. Links von mir lagen zwischen Palmen, Zedrachbäumen und großen Hibiskusgebüschen verstreut die wichtigsten Gebäude der Campanlage – Garage und Werkstätten, Mallabars Bungalow, Kantine, Küche und Vorratsschuppen und dahinter das nunmehr verlassene Quartier für das Erfassungspersonal. Jenseits davon und weiter rechts konnte ich durch einen Schleier von Bleiwurzsträuchern hindurch so eben noch die runden

Ich ging weiter an der riesigen Tamarinde vorbei, die das Zentrum des Camps beherrschte und ihm seinen Namen gegeben hatte: Grosso Arvore. Das Forschungszentrum Grosso Arvore.

Auf der anderen Seite des Weges, gegenüber der Kantine, lag Hausers Labor und dahinter die Blechhütte, die er mit Toshiro teilte. Knapp dreißig Meter nach dem Labor kam der Bungalow der Vails, nicht so groß wie chez Mallabar, aber hübscher und schier erdrückt von Jasmin und Bougainvillea. Und am nördlichsten Zipfel des Camps war schließlich meine Hütte. Eigentlich war »Hütte« nicht die richtige Bezeichnung: Ich wohnte in einer Kreuzung aus Zelt und Blechschuppen, einer merkwürdigen Behausung mit Segeltuchwänden und einem Wellblechdach. Es war wohl angemessen, dass sie mir zugeteilt wurde, nach dem Prinzip, wer zuletzt kommt, wohnt in dem am wenigsten dauerhaften Bau. Aber ich war nicht böse darüber, und es kümmerte mich nicht, was das über meinen Status aussagen mochte. Mallabar hatte mir sogar die Erfassungsstelle angeboten, aber ich hatte abgelehnt; mir war mein seltsames, hybrides Zelt mit seiner Lage draußen am Rande lieber.

Ich war angekommen und ging hinein. Liceu, der Boy, der mich betreute, hatte in meiner Abwesenheit aufgeräumt. Aus dem Ölfass mit Wasser in der Ecke füllte ich ein paar Kannen voll in ein Blechbecken, das auf einem Gestell stand, zog Bluse und BH aus und wusch mir mit einem Waschlappen den verschwitzten, schmutzigen Oberkörper. Ich trocknete mich ab und zog ein T-Shirt über. Ich erwog einen Besuch der Latrine draußen, die in einem Gebilde untergebracht war, das wie ein aus Palmwedeln geflochtenes Wachhäuschen aussah, entschied aber, das könne warten.

Ich legte mich auf mein Feldbett, machte die Augen zu

Mein Schreibtisch stand vor einem Fenster aus Gitterstoff in der Segeltuchwand, das ich aufrollte, um möglichst viel von dem Luftzug hereinzulassen. Durch das Fenster hatte ich einen Blick auf die Rückseite von Hausers und Toshiros Hütte, etwa achtzig Meter weit weg, das Flechtwerk seines Latrinen-Wachhäuschens und die hölzerne Duschkabine, die Hauser persönlich unter einem Frangipanebaum errichtet hatte. Die Dusche war ein Schlichtmodell: Die Brause wurde aus einem Ölfass gespeist, das weiter oben im Baum befestigt war, der Wasserdurchlauf von einem Hahn kontrolliert. Beschwerlich war nur das Auffüllen des Ölfasses, das Wasser musste eimerweise über eine Leiter hinaufgeschleppt werden, aber das war eine Arbeit, die Hauser gern seinem Houseboy Fidel überließ.

Während ich hinaussah, ging die Tür der Duschkabine auf, und Hauser selbst erschien, nackt und glänzend. Augenscheinlich hatte er vergessen, ein Handtuch mitzunehmen. Ich sah zu, wie er vorsichtig über das stachelige Gras auf seine Hintertür zuging. Die straffe Wölbung seines dicken

Beim Anblick von Hausers Pimmelchen und dem Geschmack von Scotch dazu wurde mir fröhlicher zumute, und so wanderte ich eine Stunde später mit wiederhergestelltem Selbstvertrauen die Main Street entlang zur Kantine, die nunmehr vom trüben Schein der Sturmlaternen erleuchtet war. Als ich an Hausers Hütte vorbeiging, kam er heraus.

»Ah, Mrs. Clearwater. Wie sich das trifft.«

Hauser war glatzköpfig und untersetzt – ein kräftiger Fettwanst mit trüben und ein wenig tief liegenden Augen. Ich war nun schon Monate in Grosso Avore, aber unsere Beziehung hatte sich nie über beiderseitige Zurückhaltung hinaus entwickelt. Ich hatte den Eindruck, dass er mich nicht mochte. Ich jedenfalls wurde mit ihm überhaupt nicht warm. Während wir zusammen zur Kantine gingen, gab ich ihm das mit Clovis’ Kot gefüllte Probenfläschchen.

»Könntest du rausfinden, was der da frisst?«, fragte ich ihn. »Ich glaube, er war vielleicht krank.«

»Ein amuse-gueule.« Er sah sich das Röhrchen an. »Schimpansenscheiße, das hab ich besonders gern.«

»Du musst nicht, wenn du nicht willst.«

»Aber dazu bin ich doch da, mein liebes junges Fräulein: ein gutbezahlter Haruspex.«

Das war genau die Art von pseudo-professoralem Geschäker, die ich nicht ausstehen konnte. Ich bedachte Hauser mit einem Blick voller – wie ich hoffte – aufrichtigem Mitleid und wandte mich angelegentlich von ihm ab, als wir die Kantine betraten. Ich holte mir ein Tablett und Besteck, und

Zu gegebener Zeit trudelten die anderen Projektmitarbeiter ein. Zuerst erschienen Ian Vail und seine Frau Roberta. Sie sagten guten Abend und trugen dann ihr Tablett in ihre Hütte. Dann kam Eugene Mallabar selbst herein, holte sich sein Essen und nahm mir gegenüber Platz.

Auch sein erbittertster Gegner hätte zugeben müssen, dass Mallabar ein gut aussehender Mann war. Er war Ende vierzig, groß und schlank, mit einem freundlichen, regelmäßig geschnittenen Gesicht, das anscheinend von Natur aus alle möglichen machtvollen Abstrakta heraufbeschwor: Aufrichtigkeit, Integrität, Zielstrebigkeit. Aus irgendeinem Grund tat sein allzu säuberlich gestutztes Magierbärtchen mitsamt dessen sanften Hinweisen auf eine gehörige Portion Eitelkeit dieser seiner beängstigend positiven Ausstrahlung keinen Abbruch. Heute Abend trug er ein verschossenes blaugetüpfeltes Halstuch, das einen bewundernswerten Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut bildete.

»Wo ist Ginga?«, fragte ich und versuchte, ihn nicht anzustarren. Ginga war seine Frau, die ich ganz gern hatte, trotz ihres blöden Namens.

»Wie war dein Tag?«, fragte ich und sah auf meinen Teller hinunter.

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet …« Ich hörte, wie er Wasser trank, und überlegte, wann ich wohl gefahrlos aufschauen könnte. »Mhmm«, fuhr er fort, »wir hatten fünf an der Futterstelle. Vier Männchen und ein Weibchen im Brunststadium. Eine faszinierende Serie von Kopulationen.«

»Wieder mal Pech gehabt.« Ich schnippte in gespielter Enttäuschung mit den Fingern.

»Wie meinst du das?«

»Ach.« Ich merkte, wie mich eine jähe und heftige Ermüdung befiel. »Na ja: Ich bin im Süden. Und hier läuft der ganze Spaß.«

Er runzelte die Stirn, verständnislos, immer noch nicht begreifend.

»Es ist nicht wichtig«, sagte ich. »Vergessen wir’s. Ginga hat also die Grippe?«

»Wir haben es auf Film.«

»Was?«

»Heute. Das an der Futterstelle.«

»Nein, Eugene. Bitte. Es ist völlig egal.«

Er lächelte verstohlen und nickte dabei. »Okay. Verstanden. Du hast mich aufgezogen.«

»Sieh mal, Eugene … Ach Gott.«

Er schnippte mit den Fingern. »Du hast mal wieder Pech gehabt. Verstanden.«

Er zwang sich ein lang gezogenes Kichern ab und aß weiter, mit Riesenbissen.

»Und wie war dein Tag?«, fragte er nach einem Weilchen.

»Ach … Clovis hat ein paar Stunden lang an seinem Finger gerochen.«

»Clovis?« Er drohte mir mit der Gabel.

»XNM1. Entschuldigung.«

Mallabar lächelte milde über meine Verfehlung, stand auf und ging sich den Teller nachfüllen. Mallabar gehörte zu den Menschen, die essen konnten, so viel sie wollten, und dabei schlank blieben. Auf dem Weg zum Büffet kam er an Ian Vail vorbei, der mit seinem Tablett zurückgekehrt war, um sich den aus Mangoscheiben mit Kondensmilch bestehenden Nachtisch zu holen. Vail lächelte mir zu. Es war ein nettes Lächeln. Das Adjektiv passte genau. Er hatte auch ein nettes Gesicht, nur ein wenig mollig, mit blassen Wimpern und feinem blonden Haar. Er stellte sein Tablett ab, kam herüber und hockte sich dicht neben mich.

»Kann ich dich besuchen kommen?«, sagte er leise, damit Toshiro es nicht hörte. »Später. Bitte? Bloß so zum Reden.«

»Nein. Geh weg.«

Er sah mich an: Sein Blick war voller Tadel wegen meiner Kälte. Ich starrte zurück. Er stand auf und ging. Mallabar kehrte mit einem vollgehäuften Teller zurück. Er sah zu, wie Vail ging, dann setzte er sich.

»Gehst du morgen mit Ian?«, fragte er.

»NEIN«, sagte ich etwas zu abrupt. »Nein, ich bin wieder im Süden.«

»Ich dachte, er wollte dich einladen.« Mallabar aß ungestüm weiter. Ich beobachtete ihn wahrhaft fasziniert. Warum hat ihm wohl nie jemand gesagt, dass er mit offenem Mund isst? Jetzt war das vermutlich nicht mehr zu ändern.

»Was hat er denn zu dir gesagt? Es war ja sehr kurz.«

»Wer?«, fragte ich treuherzig. Mallabar war notorisch neugierig in Bezug auf seine Kollegen.

»Ian. Gerade eben.«

»Ach so … Dass er mich leidenschaftlich liebt.«

Mallabars unstete Gesichtszüge kamen zum Stillstand.

Ich sah ihn an: den Kopf zur Seite gelegt, geradeheraus, mit hochgezogenen Augenbrauen.

Er lächelte erleichtert.

»Das war ein guter Witz«, sagte er. »Ausgezeichnet.«

Er lachte heftig, wobei er mir noch mehr von seinem Mundinhalt zeigte. Er trank Wasser, hustete, trank noch mehr. Hauser starrte vom anderen Tischende neugierig zu mir herüber.

»Ach, meine gute Hope«, sagte Mallabar und nahm meine Hand. »Du bist einfach unverbesserlich.« Er trank mir zu. »Auf unsere erfrischende Hope.«

WAS ICH GERN MACHE

Was ich gern mit ihm mache, ist Folgendes. Wir liegen im Bett, wann ist egal, nachts oder morgens, aber er ist warm und benommen, noch halb im Schlaf, und ich bin wach. Ich liege ganz eng an ihm, meine Brüste flach an seinem Rücken, seine Pobacken gegen meine Schenkel gepresst, meine Knie in seine Kniekehlen geschmiegt, seine Fersen an meinem Spann.

Ohne große Umschweife lasse ich meine Hand über seine Hüfte gleiten und greife nach seinem Glied, ganz sanft. Es ist weich und schlaff. So leicht in meiner Hand. Leicht wie eine Münze – ein fast nur ätherisches Gewicht, das ist alles. Eine Weile passiert nichts. Dann fängt es in der warmen Geborgenheit meiner Finger langsam an zu wachsen. Diese Ausdehnung von Fleisch, die Wärme, die zu mir zurückströmt, wenn der

Hope Dunbar hatte die Leute im College schon eine Zeit lang über John Clearwater reden hören, ehe sie ihm begegnete.

Clearwater.

Der Name ging ihr nicht aus dem Kopf. Clearwater … Ihr fiel auf, dass er mehrfach wieder in Gesprächen auftauchte, ohne dass sie den Zusammenhang begriff.

»Wer ist dieser Clearwater, von dem alle reden?«, fragte sie ihren Doktorvater, Professor Hobbes.

»John Clearwater?«

»Ich weiß nicht. Ich höre bloß ständig den Namen.«

»Das ist doch der Neue mit der Forschungsstelle, nicht? Ich glaube, der ist das.«

»Ich weiß nicht.«

»Unwahrscheinlich brillanter Mann, so in dem Stil. Sagen sie jedenfalls. Aber andererseits, das sagen sie immer. Wir waren seinerzeit bestimmt alle mal ›unwahrscheinlich brillant‹.« Er machte eine Pause. »Was ist denn mit ihm?«

»Nichts. Mich hat nur der Name interessiert.«

John Clearwater.

Ein paar Tage später sah sie auf ihrer Straße einen Mann mit einer gefalteten Zeitung in der Hand, der zu den Häusern hochschaute. Er trug einen Gabardine-Regenmantel und eine rote Baseballmütze. Er betrachtete neugierig die Fassaden der Reihenhäuser, als erwäge er, sie zu kaufen, dann ging er weiter.

Hope war von der Old Brompton Road her um die Ecke gebogen, und er bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung, deshalb bekam sie ihn gar nicht richtig zu Gesicht. Es war

Zwei Tage nach dieser Begegnung ging sie im College einen fremden Flur entlang (sie war in der Computerabteilung gewesen, um für Professor Hobbes einen Ausdruck abzuholen), als sie an einer Tür vorbeikam, die etwa zwanzig Zentimeter weit offenstand. Der Name daran war »DR.J.L.CLEARWATER«. Sie blieb stehen und spähte hinein. Von da, wo sie stand, konnte sie eine Ecke zinnoberroten Teppich aus Collegebeständen sehen und eine nackte Wand mit Tesafilmnarben.

Aus irgendeinem Grund machte sie mit einer Dreistigkeit, die sonst gar nicht ihre Art war, einen Schritt nach vorn und stieß die Tür auf.

Das Zimmer war leer. Am Himmel verschoben sich ein paar Wolken, und plötzlich zeichnete die Frühlingssonne ein gelbes Fenster auf die Wand. Kleine Staubkörnchen, vor Kurzem erst aufgewirbelt, bewegten sich noch.

Auf dem Fußboden stand ein Dutzend Pappkartons mit Büchern. Der Schreibtisch war abgeräumt. Sie ging darum herum und zog zwei Schubladen auf. Eine Kette aus Büroklammern. Ein olivgrüner Papierlocher. Drei Bonbons. Sie durchsuchte die anderen Schubladen. Leer. Allmählich stiegen eine Spannung und verblüffte Erregtheit in ihr hoch. Was machte sie hier im Zimmer dieses Mannes? Was sollte das?

Auf dem Sessel in der Ecke lag ein Mantel. Ein Wollmantel, anthrazitgraues Fischgrätmuster. Dann sah sie auf dem Kaminsims über dem Gasofen einen Becher mit Kaffee.

Dampfend.

Sie fasste ihn an. Heiß.

Jetzt hatte sie einen trockenen Mund, als sie den Mantel nahm und die Taschen durchsuchte. Ein Paar Lammfellhandschuhe. Ein kleines Plastikröhrchen mit Pillen, auf dem Tylenol stand. Etwas Kleingeld.

Sie drehte sich um. Nichts. Niemand. Die Tür schwang geheimnisvoll drei oder vier Zentimeter weit in den Angeln, von einer durchs Haus ziehenden Wanderbrise bewegt.

Sie legte den Mantel auf den Stuhl zurück. John Clearwater, hörte sie es in ihrem Kopf spotten, John Clearwater, wo biiiiist du? Ihre Augen flackerten durchs Zimmer auf der Suche nach etwas – sie wusste nicht recht was. Sie wusste nicht recht, aus welchen verrückten Motiven heraus sie sich so benahm.

Sie griff nach dem Becher mit Kaffee und nippte daran. Stark und süß. Drei Löffel Zucker, schätzte sie. Sie stellte ihn wieder hin. Am Rand war ein halbmondförmiger Abdruck von dem rosa Lippenstift ihrer Unterlippe.

Sie drehte den Becher so, dass ihre Spur nicht zu übersehen war, und ging.

 

Sie bekam ihn noch einmal zu Gesicht, wie sie meinte. Wieder konnte sie nicht sagen, woher sie das instinktiv so genau wusste, aber sie war sich sicher, dass das ihr Mann war. Sie stellte ihm absichtlich nicht nach, merkte jedoch, dass sie beim Umherwandern auf dem Collegegelände, während sie ihre Sachen erledigte, unbewusst jedes fremde männliche Gesicht taxierte, das ihr begegnete. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie ihn erkennen würde.

Dann war sie eines Abends in einem Spirituosengeschäft und kaufte eine Flasche Wein, en route zu einem Abendessen mit Freunden. Der Laden war voll, und vor beiden Kassen stand eine Schlange. Ihre Flasche wurde in Seidenpapier gewickelt, doch als sie ihren Zehn-Pfund-Schein hinlegte, stellte sich heraus, dass nicht genug Wechselgeld da war. Während der Kassierer an der Kasse nebenan nach Münznachschub kramte, erregte plötzlich ein Mann ihre Aufmerksamkeit, der eben den Laden verließ.

Als sie sich umdrehte, war er an der Tür und auf dem Weg

Der Verkäufer zählte ihr umständlich das Wechselgeld vor. Als Hope endlich draußen stand, war er spurlos verschwunden. Sie fühlte sich nicht frustriert; sie wusste, er war es. Und insgeheim war sie sich sicher, dass sie ihm schließlich doch noch begegnen würde. Es hatte keine Eile.

Und sie behielt recht. Es dauerte etwas länger, als sie sich vorgestellt hatte, doch auf einer Institutsfete schnitten sich endlich ihrer beider Lebensbahnen. Sie sah ihn am Getränketisch stehen und wusste sofort, dass er es war. Sie war fast betrunken, aber es war nicht der Alkohol, der ihr die Selbstsicherheit gab, sich durch den Raum zu drängen und sich vorzustellen. Es war so weit, ganz einfach.

DER SCHEINMENSCH

Pan troglodytes. Schimpanse. Der Name wurde erstmals 1738 im London Magazine benutzt. »… Man hat eine höchst erstaunliche Kreatur zu uns gebracht, welche in einem Wald in Guinea eingefangen wurde. Es ist das Weibchen der Kreatur, welche die Angolaner ›Schimpanse‹ nennen, oder den Scheinmenschen.«

Der Scheinmensch.

Schimpansen können, ohne dazu ermuntert zu werden, Geschmack an Alkohol finden. Als Washoe – eine Schimpansin, die in einer menschlichen Familie aufgezogen wurde

Genetisch sind die Schimpansen die nächsten lebenden Verwandten des Menschen. Ein Vergleich der DNS von Schimpanse und Mensch ergab, dass sie sich nur um einen Faktor von 1,5 bis 2 Prozent unterscheiden. In der zoologischen Systematik bedeutet das, dass Schimpanse und Mensch Artgenossen sind und die Klassifizierung, genau genommen, eigentlich geändert werden müsste. Wir gehören der gleichen Gattung an – Homo. Also nicht Pan troglodytes, sondern Homo troglodytes und Homo sapiens. Die Scheinmenschen.

Ich war beim Frühstück – ein Becher milchiger Tee und eine reizlose Scheibe Margarinebrot – als João kam, von Alda begleitet. Alda war schlank wie sein Vater, achtzehn Jahre alt und hatte seltsamerweise eine viel heller getönte Haut, fast karamellfarben. Er hatte ein großes, offenes Gesicht und ein aufmerksames Wesen, als sei er neugierig auf alles, was er sah. Er war nicht besonders schlau, aber sehr eifrig. Ich fragte ihn, was sich mit seinem Militärdienst ergeben hatte.

»Nein, nein«, sagte er mit einem erleichterten Grinsen. »Jetzt zu viele Soldaten. Krieg bald aus.«

»Ach ja?« Das war mir neu. »Was meinst du?«, fragte ich João.

Er war weniger optimistisch. »Ich weiß nicht.« Er zuckte die Achseln. »Leute sagen, mit UNAMO ist aus … Aber bleibt immer noch FIDE und EMLA

»Mit UNAMO ist aus«, sagte Alda mit einigem Nachdruck. »Sie erwischt bei Luso, nahe bei Eisenbahn. Töten viele-viele.«

»Die Bundestruppen … und FIDE.« Er machte Sturzfluggeräusche, seine karamellfarbenen Hände sausten durch die Luft. »Benzinbomben.«

Ich überlegte. »Ich dachte, die FIDE kämpfte gegen die Bundestruppen.«

»Ja, stimmt«, sagte Alda ungeduldig, »aber sie mögen beide nicht UNAMO

»Ich geb’s auf«, sagte ich. »Gehen wir.«

So früh am Morgen war es kühl; bisweilen meinte ich, einen Moment lang meinen Atem kondensieren zu sehen. Der Himmel war von Dunstwolken weiß und undurchsichtig, das Licht gleichmäßig und schattenfrei. Schwerer Tau auf dem Gras färbte meine graubraunen Lederstiefel in Sekundenschnelle schokoladenbraun. Wir wanderten durch das stille Camp nach Süden.

Als wir an Hausers Hütte vorbeikamen, hörte ich, wie mein Name gerufen wurde. Ich drehte mich um. Hauser stand in der Tür, mit einem unkleidsam kurzen Frotteebademantel an.

»Gut, dass ich dich erwische«, sagte er. Er gab mir mein Probenfläschchen zurück, sauber und leer. »Sehr amüsant. Hast du dir das allein ausgedacht, oder hat dieses Genie von Vail dir dabei geholfen?«

»Wovon redest du?«, fragte ich kalt. Ich kann frostig sein wie sonst was.

»Von deinem lahmen Scherz da.« Er zeigte auf das Probenfläschchen. »Zu deiner Information, als letzte Mahlzeit hat sich dein Schimpanse offenbar einen Schimpburger schmecken lassen.« Sein falsches dünnes Lächeln verschwand. »Vergeuden Sie nicht meine Zeit, Frau Dr. Clearwater.«

Er ging hochnäsig in seine Hütte zurück. João und Alda sahen mich mit begierigem Staunen an: Sie waren selten Zeuge unserer Streitereien im Camp. Ich hob die Schultern, breitete die Hände aus und schaute verblüfft drein. Darüber musste

 

Eugene Mallabar hatte das Forschungsprojekt Grosso Arvore 1953 ins Leben gerufen. Es fing bescheiden als Feldstudie zur Untermauerung einiger Kapitel seiner Doktorarbeit an. Doch die Arbeit faszinierte ihn, und er blieb weiter dort. Zwei Jahre später kam seine Frau Ginga dazu. Bald erlangten die beiden mit ihren Untersuchungen über das Zusammenleben wilder Schimpansen und ihren gründlichen und neuartigen Feldstudien wissenschaftliche Anerkennung und einen zunehmenden Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit. Der wurde zu wahrer Berühmtheit, in Mallabars Fall wenigstens, als er 1960 sein erstes Buch veröffentlichte, Der friedliche Primat. Dann folgten Fernsehberichte und Dokumentarfilme, Grosso Arvore wuchs und gedieh, und sein telegener Begründer ebenfalls. Die Forschungsmittel vervielfachten sich, eifrige Doktoranden boten ihre Dienste an, und der Einfluss der Regierung beseitigte die bis dato unüberwindlichen bürokratischen Hindernisse, die einer wirklichen Expansion im Wege standen. Bald war Grosso Arvore als Nationalpark und Wildreservat ein Pionierprojekt geworden, eines der ersten in Afrika. Dann kam der internationale Erfolg von Mallabars nächstem Buch, Der Primat in der Entwicklung. Es folgten Einladungen, Auszeichnungen und Ehrungen: Mallabar bekam ein gutes Dutzend Ehrendoktortitel verliehen, im Zweijahresturnus fanden lukrative Vortragsreisen durch Amerika und Europa statt, in Berlin, Florida und New Mexico wurden Mallabar-Lehrstühle für Primatologie eingerichtet. Eugene Mallabar hatte sich einen festen Platz in den Annalen der Wissenschaft und der Verhaltensforschung erobert.

Der Grundgedanke der Mallabar-Methode zur Erforschung der Schimpansengesellschaft war mühsam und zeitaufwän

Natürlich stand Mallabar nicht allein da: Es liefen noch andere berühmte Forschungsprojekte über Primaten in Afrika – Gombe Stream, Mahale National Park, Bossou in Guinea –, aber es stand außer Zweifel, dass Mallabar mit Grosso Arvore das meiste Aufsehen erregte und sich dank dem Charme und der Tüchtigkeit seines Gründers eine Reputation erworben hatte, die man nur als glanzvoll bezeichnen konnte.

In dieser langen Auflistung von Erfolg und Ruhm war Mallabar ein entscheidender Fehler unterlaufen – aber das hatte er vorher nicht wissen können, wie man gerechterweise sagen muss. Er hatte sich das falsche Land ausgesucht. Der Bürgerkrieg, der 1968 ausbrach, brachte massive Probleme, um nicht zu sagen, zeitweilig Gefahr mit sich. Glücklicherweise fanden die Kampfhandlungen immer in sicherer Entfernung statt, aber man musste doch stets mit einem jähen Umschwung oder einem Ausbruch aus einer Enklave rechnen. Die rohe

Doch hinter dem nächsten Hügel, wie er in seiner unnachahmlichen Art sagte, ging schon wieder die Sonne auf. Vor Kurzem war eine UN-Resolution ratifiziert worden und hatte breite Zustimmung gefunden. Der radikalsten Guerilla-Armee, der UNAMO, mangelte es offenbar hoffnungslos an Unterstützung, und die beiden anderen – FIDE und EMLA – sprachen bereits vage von Versöhnung. Daraufhin ließ auch die Bundesregierung Beschwichtigendes im Sinne eines allgemeinen Kriegsbeilbegrabens verlauten. Plötzlich standen

Mallabar stand kurz vor dem Abschluss eines neuen Buches, einer Bilanz seines Lebenswerkes. Es sollte sein chef d’œuvre werden, sein Fazit hinsichtlich der Schimpansengesellschaft und der Erkenntnisse, die die Menschheit aus der jahrelangen Arbeit des Grosso Arvore-Projekts über ihre nächsten biologischen Vettern gewonnen hatte. Außerdem war es dazu bestimmt, den krönenden Höhepunkt der Feierlichkeiten zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen von Grosso Arvore zu bilden: Wir waren aus dem wissenschaftlichen Leben nicht mehr wegzudenken, aber das neue Buch sollte den Namen Grosso Arvore in Stein meißeln.

Doch als das Buch vor der Fertigstellung stand, kam es in dem Schimpansenstamm, den Mallabar so gründlich dokumentiert hatte, zu einer rätselhaften Spaltung. Eine kleine Gruppe hatte sich aus unbekanntem Grund von der Haupthorde gelöst, war aus dem Park hinaus nach Süden gewandert und hatte sich in einem Waldgebiet niedergelassen, das bislang nicht in das Forschungsprojekt einbezogen gewesen war. Warum waren sie fortgegangen? War das von Bedeutung? Sagte es etwas Entscheidendes und Unerkanntes über die Evolution der Schimpansengesellschaft aus? Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, wurde ein neuer Arbeitsplatz finanziert. Es fiel mir zu, diese kleine Splittergruppe zu beobachten – die Südländer, wie sie gemeinhin genannt wurden – und die Dokumentation ihres täglichen Lebens fortzusetzen, bis das Buch fertig war, um zu sehen, ob sich da irgendeine Erklärung für ihre so ungelegen kommende Abspaltung abzeichnete. »Und außerdem«, hatte Mallabar mit einem – bei

 

João ließ Alda und mich allein und machte sich in ungefähr die Richtung auf, die Clovis am Tag zuvor eingeschlagen hatte. Alda und ich wollten zu einem großen Feigenbaum, wo die Südgruppe oft fraß. Wir folgten einem gewundenen Pfad durch das glitschige Unterholz. Die Regenzeit stand kurz bevor, und die Luft war schwer vor Feuchtigkeit, warm und unbeweglich. Wir gingen in gemächlichem Tempo, aber ich schwitzte schon bald und versuchte vergeblich, das Fliegengeschwader zu verscheuchen, das uns eskortierte. Alda ging vor mir her, das dunkle Schweißdreieck auf seinem rosa T-Shirt zeigte mir den Weg.

Der Feigenbaum erwies sich, abgesehen von einem Trüppchen Kolobusaffen, als leer. Doch in der Ferne, gar nicht weit weg, konnte ich die aufgeregten Huuh-Rufe und Kreischtöne von Schimpansen hören. In anstehendem Gestein etwa eine halbe Meile weiter wuchs noch ein Feigenbaum. Nach dem Lärm, der da erscholl, hörte es sich an, als wäre die gesamte Südgruppe dort.

Wir brauchten eine halbe Stunde, um hinzukommen. Alda und ich näherten uns mit der gewohnten Behutsamkeit; ich vorneweg. An die vierzig Meter vor dem Baum ging ich in die Hocke und holte mein Fernglas heraus. Ich sah: Clovis, Mr. Jeb, Rita-Mae mit ihrem Baby Lester, Muffin und Rita-Lu … Alda kreuzte die Namen auf dem Tagesauswertungsbogen an, wie ich sie ansagte. Keine Spur von Conrad. Keine Spur von der schwangeren Lena.

Die Affen saßen hoch oben im Geäst des Feigenbaums, eines teilweise kahlen Ficus mucosae, in den irgendwann einmal, so vermutete ich, der Blitz gefahren war. Der Baum war zur Hälfte abgestorben, in ewigem Winter befangen, wäh