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Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast

Abwägen und Anwenden

Zum ‚guten‘ Umgang mit ethischen Normen und Werten

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Inhalt

Fußnoten

Einleitung

Die Benennung dieses Vorgangs ist strittig. Als Synonyme finden sich in der Literatur Begriffe wie zum Beispiel „Erwägen“, „(praktisches) Überlegen“ oder „Beratschlagen“; in Kontexten der politischen Theorie und Philosophie wird zumeist von „Deliberation“ bzw. „Deliberieren“ (gr. boulesis; lat. deliberatio als Beratung) gesprochen. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Metaphorik des Wiegens und Maßnehmens (vgl. Valesco 2010: 360). Dies kommt auch bei der heute gebräuchlichen Rede von „Überlegungsgleichgewicht“ zum Tragen, das als paradigmatisches Modell des metaethischen Kohärentismus gilt und ebenfalls eine Form des Abwägens kategorial unterschiedlicher Anforderungen implizieren soll (vgl. Badura 2011: 199f.). Vgl. zur Frage der Begriffsverwendung auch den Text von Andreas Luckner in diesem Band.

Abwägen als Moment klugen Handelns

Vgl. hier und im folgenden Luckner (2005).

Vgl. hierzu ausführlich Luckner (2005).

Besonders gut kann man diese historisch gewandelte Funktion des Abwägens an den Essais Montaignes ablesen, vgl. hierzu Luckner (2005: 122ff.).

Es scheint, als wenn man bei der Analyse des Wortgebrauchs von „Wiegen“ das zugehörige Wortfeld nicht verlassen kann; „Wiegen“, „Wichtigkeit“, „Abwägen“ und so weiter scheinen daher absolute Metaphern zu sein, also solche, für die wir keine adäquatere Ausdrucksweise finden können. Zum Begriff der absoluten Metapher, vgl. Blumenberg (1979).

Vgl. Aristoteles (1985: NE III, 1112a15 – 1113a15).

Vgl. Aristoteles (1985: NE VI, 1141a25 – 1142b35).

Vgl. hierzu Luckner (2005: 75 ff.).

Es ist genau dieser, bestimmte Bereiche der zeitgenössischen, neoaristotelischen Virtue Ethics (Alasdair MacIntyre, Michael Slote usw.) durchziehende Intuitionismus, der es fast unmöglich macht, in der Frage nach der Rekonstruktion der phronêsis unter den Bedingungen der Moderne positiv an sie anzuschließen. Die anti-rationalistische Konzentration der Virtue Ethics auf die ethischen Tugenden beziehungsweise Charakterzüge für die moralische Bewertung von Personen führt dazu, dass das zentrale deliberative Moment der aristotelischen Klugheitsethik, also das Moment der Abwägung, nicht angemessen zum Zuge kommen kann.

Vgl. Thomas von Aquin (1933 ff.: S. th. II/II, q. 47, a8).

Vgl. hierzu Thomas von Aquin (1933 ff.: S. th. II-II, q. 47, a8); vgl. auch Rhonheimer (1994: 381).

Vgl. zu dieser Analyse Heidegger (1927/1979: 63–88); vgl. hierzu ausführlich auch Luckner, (2008: 43 ff.).

Die Unhintergehbarkeit der Reflexion in der anwendungsbezogenen Ethik – eine Positionsbestimmung in klugheitsethisch-topischer Perspektive

Ich verwende hier und im Folgenden die Begriffe „ethische“ und „philosophische“ Reflexion von Moral bzw. von „gelebten Normen und Werten“ synonym (zur Terminologie vgl. Düwell et al. 2011; Kettner 2011).

Vgl. den Problemaufriss bei Dietrich 2007a.

Das heißt jedoch nicht, dass sich methodische Kriterien und Standards im Sinne einer Liste von transsituativen Merkmalen angeben lassen oder dass die Differenzierungen immer vollständig disjunkt sein müssen, vgl. Luckner 2005.

1. Reflexivität und Ergebnisoffenheit – das Problem abschließender Antworten

Das schließt nicht aus, dass es in der argumentativen Auseinandersetzung „Spielzüge“ gibt, die sich immer wieder erneut bewähren und sich so als notwendig gültige Sätze darstellen, wie z.B. die Normen der 1. Stufe in der Diskursethik, die durch Nachweis performativer Widersprüche des Argumentierens identifiziert werden können (vgl. Gottschalk-Mazouz 2017: 76ff.; vgl. die Beispiele bei Kettner 2017: 341ff.).

2. Der Topos vom „ungelösten Theorienpluralismus in der normativen Ethik“ – das Problem einer Ethik vor der Ethik

Vgl. den Begriffsgebrauch „naturalistisch“ in der Klassifikation von Theorien der Gerechtigkeit bei Nadia Mazouz 2012: 67f.; 91f.

Vgl. Mazouz 2012: 85.

Wir könnten nicht sagen, dass wir wüssten, welche Theorieoption hier die richtige wäre, sondern vielmehr nur zur Kenntnis nehmen, dass bestimmte Personen aus eigenen oder gemeinschaftlichen Überzeugungen bestimmte Theorieoptionen für geeignet hielten; das lässt sich freilich nur noch im Nachhinein deskriptiv erfassen, nicht aber mit dem normativen Anspruch auf Richtigkeit – z.B. gegen die moralischen Intuitionen mancher Personen – vertreten.

So ähnlich formuliert Nadia Mazouz die aufgrund der Reflexivität des Überlegens gegebene methodische Anforderung an eine vollständige, deliberative Theorie der Gerechtigkeit (Mazouz 2012: 417ff.). „Gerechte Überlegungen sind in gerechten Überlegungen bestimmte Überlegungen“ (ebd.: 423).

Das gilt auch dann, wenn sie in einem kritischen Verhältnis zu moralischen Urteilen und zu den bisherigen Üblichkeiten einer philosophisch-ethischen „Methodenmoral“ auftritt.

Vgl. Mazouz 2012: 67f.; 91f. (s. oben: Fußnote 5).

3. „Bereichsspezifische Moral- und Ethikgeschichten“ – Probleme der Bereichsethik-Konzeption

Dieses Beispiel stammt von Julia Dietrich (2007b).

So ließen sich beispielsweise moralische Fragen des „Risikomanagements in der Finanzbranche“ bei Bedarf und je nach rhetorischer Absicht als Fragen der Bankenethik, der Führungs- und Personalwirtschaftsethik, der Verbraucherethik oder Rentenethik uminterpretieren oder es ließe sich ausweichen, indem die Sachlage in die grundlegendere Rechtsethik, Technikethik, in die ökologische oder politische Ethik verschoben wird. Dabei könnten jedoch alle Belange, die sich diesen Bereichen zuordnen lassen, relevant sein oder nur einige oder keine von diesen – nur das müsste unabhängig oder zumindest in Distanz zu den jeweiligen Bereichen mit guten Gründen entschieden werden. Strukturanalog zu diesem Problem der Beliebigkeit in der Zuordnung qua Reformulierung von Moralfragen verhalten sich das von Micha H. Werner mit Blick auf Kants Moralphilosophie diskutierte Problem der unbegrenzten Maximenspezifikation angesichts unliebsamer Konsequenzen (vgl. Werner 2004: 104ff.) sowie das Problem der Immunisierung von naturwissenschaftlichen Aussagen gegen Falsifikation durch Ad-hoc-Hypothesen bei Popper (vgl. Richter 2015b: 557f.).

Das stellt eine Variante des Problems einer „Ethik vor der Ethik“ dar, s. oben.

Eine strukturähnliche Argumentation findet sich mit Blick auf die Transzendentalpragmatik bei Audun Øfsti (1986: 144f., 155f.), der den Nachweis erbringt, dass die Betätigung der diskursiven Vernunft, also ein methodenreflexiv transparentes, begründungsinteressiertes und dialogisches Nachdenken, keine Sonderpraxis neben anderen Diskurskonstellationen, Moralen oder Weisen der Kommunikation darstellt, der man bei Bedarf beitreten oder sich entziehen könnte. Vielmehr stellt diese eine in jedem Praxisbereich oder Sprachspiel immer mögliche und zur an Wahrheit interessierten Beurteilung von Geltungsansprüchen unausweichlich notwendige Methode zur distanzierten Reflexion auf vorfindliche institutionelle, arbeitsteilige und rollenspezifische Asymmetrien dar, in der „der Einzelne“ dann zugleich „nicht mehr als dies oder jenes Besonderes gilt“, sondern gleichsam als ‚universelles‘ Wesen“ (ebd.: 155). Erst in dieser Distanzierung kann klar werden, was an den Üblichkeiten des Praxisbereichs und an bestimmten „moralischen Überzeugungen“ in inhaltlicher und methodischer Hinsicht einen ethischen Anspruch auf gut begründete, verstandene und zustimmungsfähige Legitimität erheben kann.

4. „Das Allgemeine und das Besondere“ – Probleme einer Modellierung des angewandten ethischen Urteils (nach Hegel)

Diesen Begriffsgebrauch von „naturalistisch“ übernehme ich aus Nadia Mazouzs Abhandlung über deliberative Theorien der Gerechtigkeit (vgl. oben Fußnote 5).

„Gleiche“ Sachlagen oder Fälle müssen, wenn Erkenntnisinteresse besteht, „gleich“ behandelt werden etc. Eine gegenteilige Behauptung, es gebe keine gleichen Fälle oder es gebe nichts Gleiches, kann als performativ widersprüchlich behandelt werden.

Mit der metaphorischen Rede von „tätigem Denken“ sollen argumentative Handlungen gemeint sein, z.B. in Gesprächssituationen Feststellungen treffen, Setzungen vornehmen, sich auf Voraussetzungen verpflichten, inferentielle Zusammenhänge herstellen, auf Einwände antworten etc.

Eines der vier Beispiele Hegels lautet: „Wenn aus dem Medius Terminus der Sinnlichkeit geschlossen wird, dass der Mensch weder gut noch böse sei, weil vom Sinnlichen weder das eine noch das andere prädiziert werden kann, so ist der Schluss richtig, der Schlusssatz aber falsch, weil von dem Menschen, als dem Konkreten, ebensosehr auch der Medius Terminus der Geistigkeit gilt.“ (Hegel 1816/2003: 360f.) Hegel muss bei Formulierung dieses Beispiels allerdings voraussetzen, dass nur Sinnlichkeit und nicht auch zugleich Geistigkeit vom Menschen prädiziert wird. Denn ein sinnlich-geistiges Wesen ist ebenso wie ein rein geistiges hinsichtlich seines Tätigseins nicht amoralisch (wie ein nur sinnliches), vielmehr sind seine Tätigkeiten verantwortbar und somit moralisch ambivalent bzw. je nach Maßstab bewertbar. Für diesen und weitere wertvolle Hinweise zum Thema danke ich sehr herzlich Dietmar Hübner.

1. Einleitung

Ihre Richtigkeit hängt nicht immer nur von den Konsequenzen der Entscheidungen ab, doch ihre Folgen sind ein nicht zu vernachlässigender moralisch bedeutungsvoller Gesichtspunkt.

Die Ausdrücke „Ethik“ und „Moral“ unterscheide ich in diesem Aufsatz folgendermaßen: Gegenstand der Ethik sind Reflexionstheorien der Moral, moralische Aussagen bringen (moralische) Normen oder moralisch relevante Werte zum Ausdruck; so z.B. Düwell et al. (2011: X).

In den genannten Beispielen kommen unterschiedliche Kategorien moralischer Prinzipien vor: Die ersten beiden Prinzipien regulieren bestimmte deskriptive Handlungstypen (töten, stehlen); die letzten beiden Prinzipien regulieren hingegen Typen moralischer Handlungen (moralische Rechte; das Gute), sie bedürfen einer (ethischen) Theorie dessen, was moralische Rechte bzw. das Gute ist.

2. Teleologische und deontologische Prinzipien

Slote (1989) verteidigt das Prinzip der Genügsamkeit ausführlicher, allerdings als ein Prinzip der Rationalität. Amartya Sen (1979: 471f.) bezeichnet die hier als „Genügsamkeit“ („satisficing“) bezeichnete Regel als „sufficiency“ („Suffizienz“).

Damit es wirklich eindeutig wird, muss noch ergänzt werden, was zu tun ist, wenn mehrere Handlungsoptionen gleich gut sind, z.B.: wenn mehrere Handlungsoptionen gleich gut sind, ist es geboten, eine beliebige von ihnen auszuführen.

Nach Schmidt (2012: 515f.) ist es eine Besonderheit moralischer Prinzipien, dass im Antezedenz nicht-moralische Eigenschaften stehen, sodass das moralische Prinzip eine Schlussfolgerung von nicht-moralischen Eigenschaften auf eine moralische Vorschrift erlaubt. Im Folgenden werde ich auch Konditionale als moralische Prinzipien auffassen, bei denen im Antezedenz moralische Eigenschaften vorkommen, beispielsweise gilt dies für die obigen Beispiele „Niemand darf moralisch berücksichtigungswürdigen Wesen ohne ihre Zustimmung Leid zufügen“ sowie „Niemand darf legitimes Eigentum Anderer ohne ihre Zustimmung an sich nehmen“. Ich bin mir unsicher, wie solche Prinzipien am besten interpretiert werden sollten. Eine Möglichkeit besteht darin, sie als zusammengesetzte Prinzipien aufzufassen. Den in ihnen vorkommenden moralischen Begriffe „moralisch berücksichtigungswürdige Wesen“, „Leid“ sowie „legitimes Eigentum“ liegen nicht-zusammengesetzte moralische Prinzipien zugrunde (welche wiederum die Form haben, dass eine Implikation von nicht-moralischen auf moralische Eigenschaften behauptet wird). Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich darauf festzulegen, dass es auch (sinnvolle) moralische Prinzipien gibt, bei denen im Antezedenz moralische Begriffe vorkommen, deren Bedeutung sich nicht in einen deskriptiven Bedeutungsbestandteil und eine moralische Beurteilungsregel zerlegen lässt. Ich will mich an dieser Stelle bezüglich dieser möglichen Interpretationen nicht festlegen.

Ein weiterer Ausweg liegt darin, moralische Prinzipien als sehr komplexe Konditionale zu verstehen, bei denen im Vordersatz die Umstände spezifiziert werden, unter denen die im Konsequenz spezifizierte Handlungsvorschrift gilt. Beispielsweise: unter den Umständen U1 bis Um ist es verboten, zu lügen (vgl. hierzu Schmidt 2012: 518f.). Die in diesem Aufsatz diskutierte Herausforderung der Veränderung von Prinzipien für Situationen unter epistemischer Unsicherheit trifft auf diesen Ausweg im gleichen Maße wie auf die Interpretation der Prinzipien als Prima-facie-Prinzipien, deshalb diskutiere ich nur die letztere Interpretation.

Bei der Begründung der ersten Prämisse des teleologischen und der fünften Prämisse des deontologischen Arguments handelt es sich um die in diesem Band diskutierte ‚Anwendungsproblematik‘ (vgl. Richter in diesem Band). Richter (2015, 2017) arbeitet diese Problematik für die Kantische deontologische Theorie am Beispiel der unvollkommenen Hilfspflicht heraus.

3. Situationen unter Unsicherheit

Manche AutorInnen unterscheiden epistemische Unsicherheit von sogenannter „moralischer Unsicherheit“ (für einen Überblick hierzu siehe Bykvist 2017). Letztere ist die Unsicherheit der Handelnden, ein moralisches Prinzip (bzw. eine moralische Theorie) auszuwählen, mit dem (bzw. der) die Handlungsentscheidung begründet werden soll (gemäß der obigen Argumentrekonstruktionen von Entscheidungsbegründungen handelt es sich bei moralischer Unsicherheit um Unsicherheit darüber, welches Prinzip in der ersten Prämisse stehen soll). In diesem Text geht es ausschließlich um epistemische Unsicherheit. Im Folgenden werde ich auf die Qualifizierung „epistemisch“ verzichten, es sei denn der Kontext wird ihre Erwähnung erfordern.

Situationen unter Unsicherheit lassen sich weiter im Hinblick auf das verfügbare Wissen über die möglichen Folgen differenzieren (Betz 2010, ein Überblick findet sich in Riesch 2012). Einige dieser Unsicherheitskategorien werde ich im weiteren Verlauf des Textes einführen.

4.1. Prinzipien für Entscheidungen unter Ungewissheit

Diesen Punkt haben zahlreiche AutorInnen gegen das Vorsorgeprinzip vorgebracht (u.a. Sunstein 2007, Manson 2002, Steele 2006). Allerdings interpretierten die KritikerInnen das Vorsorgeprinzip als ein handlungsanleitendes Prinzip und warfen diesem vor, widersprüchlich zu sein (d.h. vorzuschreiben, p und non-p zu tun). Interpretieren wir das Vorsorgeprinzip als ein Prinzip, das eine Prima-facie-Pflicht enthält, trifft der Einwand, es sei widersprüchlich, nicht mehr zu. Doch das Problem, dass das DP-Ungewissheit keine Handlungsorientierung bietet, bleibt.

Auch Jonas’ (1979) Vorschrift angesichts der Zukunftsverantwortung (1979: 70-83) dürfte sich als ein SPHL-PP auffassen lassen.

5.1. Prinzipien für Entscheidungen unter Risiko

Um den erwarteten Wert des Guten einer Handlungsoption zu bestimmen, wird für alle möglichen Konsequenzen einer Handlungsoption die Menge des Guten der möglichen Konsequenz mit ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert und diese Produkte aller möglichen Konsequenzen werden addiert (vgl. z.B. Jackson 1991: 463f.).

In den hier diskutierten Fällen heißt es, dass sie im Hinblick auf ihre moralische Richtigkeit gleichwertig sind.

AutorInnen wie z.B. Hans Jonas (1979) argumentieren dafür, dass Handlungen in Entscheidungssituationen, in denen Handlungsoptionen zur Auswahl stehen, die mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit sehr hohe – katastrophale – Schäden auslösen können (z.B. Großtechnologien wie Kernkraftwerke), mit risikoaversen Entscheidungsprinzipien begründet werden sollten.

Beispiele für risikofreudige Entscheidungen sind: Glücksspiele, riskante Sportarten. Hierbei handelt es sich meist um individuelle Entscheidungen. Ich glaube, dass es auch für politische Gemeinschaften (z.B. Staaten) legitim sein kann, risikofreudige Entscheidungen zu treffen (z.B. soziale Reformen zu unternehmen, bei denen das erwartete Gute der Reformergebnisse geringer ist als das erwartete Gute beim Behalten des Status quo). Eine Begründung, warum dies moralisch legitim sein kann, muss ich an einer anderen Stelle ergänzen.

5.2. Prinzipien für Entscheidungen unter Ungewissheit

Viele BefürworterInnen der teleologischen Entscheidungstheorien bezweifeln, dass die Unterscheidung zwischen Entscheidungen unter Risiko und Ungewissheit sinnvoll ist. Sie sind der Ansicht, dass auch in einer Situation, in der objektive Wahrscheinlichkeiten nicht bekannt sind, subjektive Wahrscheinlichkeiten, also Grade der Überzeugungen der EntscheidungsträgerInnen darüber, dass die einzelnen Handlungskonsequenzen eintreten werden, ermittelt werden können. Unter bestimmten Rationalitätsannahmen (siehe Savage 1954) lassen sich diese Überzeugungsgrade als Wahrscheinlichkeiten interpretieren und Entscheidungen unter Ungewissheit können nach denselben Prinzipien wie Entscheidungen unter Risiko gerechtfertigt werden.

Als ein aus der Entscheidungstheorie stammendes Prinzip ist die MaxiMin-Funktion eine Funktion, die angesichts von Nutzenwerten möglicher Handlungskonsequenzen eine Handlungsoption auswählt. Hier interpretiere ich die MaxiMin-Funktion im Sinne teleologischer Theorien, in denen die Menge des Guten (und nicht des Nutzens) determiniert, was moralisch richtig ist (im Gegensatz zur Entscheidungstheorie, die über moralische Richtigkeit von Handlungen keine Auskunft gibt).

Eine Systematisierung der Entscheidungsregeln für Situationen Knightscher Ungewissheit hat Ellsberg (1961: Kapitel 7) erstellt. Aus der ethischen Sicht stellt sich die Frage, welche dieser entscheidungstheoretischen Regeln unter welchen Umständen Handlungsorientierung leisten sollte.

6. Fazit und Forschungsperspektiven

Teleologische und deontologische Theorien unterscheiden sich darin, welche normativen Eigenschaften moralisches Gewicht haben (Menge des Guten bzw. Einhaltung von moralischen Rechten und Pflichten).

Fallbeispiel: Das Altern abschaffen?

Weitere Details der Forschungsergebnisse können hier außer Acht gelassen werden; vgl. zusammenfassend Ehni 2014.

Vgl. u.a. Gems 2009: 27ff., Ehni 2014: 51ff., Bahnsen 2017a, Bahnsen 2017b.

„Für immer jung?“ – ein Beispiel für die Thematisierung von Biogerontologie in den Medien

Hier soll nicht auf sachliche und/oder journalistische Mängel des Artikels eingegangen werden. Allerdings muss doch festgehalten werden, dass insbesondere heute wie auch schon in früheren Zeiten, ein hohes Alter zu erreichen, nicht einfach ein „Geschenk der Natur“ ist bzw. war, sondern ursächlich mit der Qualität der Ernährung, hygienischen Bedingungen und medizinischen Versorgung verknüpft ist. Auch haben Menschen schon immer Eingriffe und Behandlungen vorgenommen, die darauf zielten, Altern und Tod zu verzögern. Das Ziel, das heute mit Hilfe der Biogerontologie (weiter) verfolgt wird, ist also nicht neu. Zutreffend ist jedoch, dass die Biogerontologie in diesem Forschungsfeld – insbesondere auf molekularer und zellulärer Ebene – neue wissenschaftliche Kenntnisse gewonnen hat, und damit u.U. neue Therapien gegen Altern ermöglichen kann.

Angewandte Ethik als Mahnerin und Bremserin?

Vgl. Haker 2012.

In systematischer Hinsicht immer noch einschlägig Ott 2003, Comstock 2000.

Vgl. Domes 2017: „Autonom fahrende Autos sind die Zukunft. Sie sollen den Straßenverkehr sicherer machen, womöglich sogar vollständig unfallfrei. […] Wie weit dürfen autonome Autos gehen, um Personen- und Sachschäden zu vermeiden? Was passiert in einer sogenannten Dilemma-Situation, sprich wenn ein Unfall unvermeidbar wird und abgewogen werden muss, welche Person eher geschädigt werden kann, als eine andere?“ Eine differenzierte ethische Analyse des autonomen Fahrens findet man bei Birnbacher, der für dieses Konfliktfeld auch die Notwendigkeit sieht, dass die Regeln für Konfliktfälle, „[…] so weit wie möglich durch eine gesellschaftliche Konsensbildung nach ausführlicher öffentlicher Diskussion festgelegt werden [sollen]“ (Birnbacher 2017: 12).

Vorstellungen des Guten in der Ethik

Verwendet werden diese Begriffe etwa von Düwell et al. 2011: 2. Krämer versucht, Sollens- und Strebensethik in einer konstruktiven Weise zu verbinden: Krämer 1995, insbes. 75ff.

„Angewandte Ethik“ verstanden im Sinne einer Beantwortung der Frage, wie „man leben soll(te)“ (vgl. Williams und Moore 2011), also im Sinne einer Begründung und Kritik von Moral, umfasst beides, Sollens- und Strebensethik (ebd., Düwell et al. 2011).

Im Zuge dieser Renaissance wird die Bedeutung von Fragen des guten Lebens v.a. mit Bezug auf Begründungsfragen von Ethik diskutiert (vgl. MacIntyre 2007 [1981], Nussbaum 1999), Überlegungen hinsichtlich der Angewandten Ethik finden sich v.a. hinsichtlich tugendethischer Ansätze (Nida-Rümelin 2005: 31ff., vgl. beispielsweise Hursthouse 1997, Hursthouse 2006).

Im Rahmen dieses Exkurses können lediglich einige ausgewählte Epochen insofern angesprochen werden, als sie für das Verständnis der Argumente dieses Artikels einschlägig sind. Für eine detaillierte Darstellung vgl. die angegebene Literatur.

Erst durch diese „Entmoralisierung des Glücks“ (Thomä et al. 2011: 7) wurde überhaupt ein Auseinanderfallen von gutem Leben einerseits und moralisch Gesollten andererseits denkmöglich (Steinfath 1998; vgl. auch Seel 1994: 145). Während in der vormodernen Philosophie die Auffassung vorherrschte, Glück und Moral fielen zusammen (Koinzidenzthese) bzw. seien zumindest vereinbar (Harmoniethese), tendieren neuzeitliche PhilosophInnen zu der Auffassung, es gäbe keinen positiven Zusammenhang zwischen Glück und Moral (Dissonanzthese), bzw. die beiden seien sogar unvereinbar (Unvereinbarkeitsthese) (Horn 2011: 385f.). Dies erklärt auch, so Horn, warum „eine der zentralen Kontroversen in der Moralphilosophie der Gegenwart der Frage gewidmet ist, ob man dem Blickwinkel der Moralität oder der Perspektive der gelingenden Lebensführung den Vorrang zuerkennen soll, sowie dem Anschlussproblem, was dann mit dem nachgeordneten Teil zu geschehen hat“ (ebd.: 386).

Eine solche Unterscheidung würde im Übrigen unverzüglich zu der Frage führen, welcher der beiden, der alltagssprachliche oder der philosophiegeschichtliche, für eine aktuelle ethische Untersuchung überhaupt den Vorrang beanspruchen dürfte.

Altern als integraler Bestandteil eines ganzen menschlichen Lebens

Vgl. dazu Rentsch 2012: „Es ist falsch zu denken, dass die Alten und sehr Alten gleichsam wie ein exotischer Stamm fremd inmitten ansonsten nur junger, unbeschwerter, kerngesunder, in Liebe, Glück und Konsum schwelgender Menschen leben. Dieses durch manches oberflächliche Medium vermittelte Zerrbild verkennt, dass die Verletzlichkeit, die Leidbedrohtheit und Schutzlosigkeit, die existentielle Fragilität alle Phasen des menschlichen Lebens wesentlich prägen.“ (197f.)

Vgl. Seel 1994, der ausgehend von der aristotelischen Ethik eine „formale Theorie des Glücks“ entfaltet.

Dieser kann vielleicht ähnlich aussehen, wie der „Frieden “, den Familienmitglieder nach dem Tod eines geliebten Angehörigen und nach einer individuell unterschiedlich langen Trauerzeit finden können: man ist weiterhin traurig und wünscht sich, es wäre anders, ist aber in gewisser Hinsicht mit der Situation „im Reinen“.

Ob Altern als Krankheit verstanden werden kann oder soll, ist umstritten (vgl. Ehni 2014, Kapitel IV: Biologisches Altern und Krankheit, 75ff.). Manche Biogerontologen vertreten die Ansicht, dass Altern als Krankheit interpretiert werden soll, u.a. weil dann argumentiert werden kann, dass Krankheit Leiden verursacht und auch Altern deswegen medizinisch behandelt werden sollte (Gems 2011: 108). Gegen diese Position können allerdings historische, geriatrische und medizintheoretische Argumente stark gemacht werden, die zeigen, dass Altern nicht als Krankheit zu verstehen ist. Diese Diskussion würde hier allerdings zu weit führen.

Letztlich verweist die Frage, was eigentlich zu einem „ganzen“/vollständigen menschlichen Leben dazu gehört bzw. gehören sollte, auf die Notwendigkeit einer normativen bzw. evaluativen Anthropologie (vgl. hierzu beispielsweise Nussbaums (1999: 49ff.) „Grundstruktur der menschlichen Lebensform“, insbesondere ihre Auseinandersetzung mit Sterblichkeit und dem menschlichen Körper).

Aber nicht muss: Die Aussicht auf ein baldiges Ende des Lebens kann auch zu Angst und anderen negativen Emotionen führen, die die Lebenszufriedenheit, aber auch die Fähigkeit zur Einsicht behindern.

Vgl. dazu auch Kruse 2012: „In Beiträgen zur psychischen Entwicklung im hohen Alter wird betont, dass die zunehmende Erfahrung von Endlichkeit und Endgültigkeit zu einer qualitativ neuen Selbst- und Weltsicht beitragen kann, die mit Begriffen wie Generativität und Integrität umschrieben wird […]“ (240f.)

Vgl. Gesang 2007: „Es bedarf hinreichender Dauer, damit soziale Kontakte geknüpft, Projekte realisiert und Erfahrungen gemacht werden können. Deshalb halten wir auch den Tod eines jungen Menschen für besonders tragisch“ (144).

Individuelle und gesellschaftliche Vorstellungen des Guten

Auch Überlegungen zu Gerechtigkeit sollten in der gesellschaftlichen Debatte eine Rolle spielen. Wir können hier nicht auf Überlegungen eingehen, die Fragen der Gerechtigkeit betreffen, die durch die Möglichkeit von Eingriffen in Altersprozesse hervorgerufen werden könnten. Sicher könnten in manchen Gesellschaften nur bestimmte Personengruppen mit entsprechendem sozialen Status von solchen Therapien profitieren und noch gravierendere Probleme könnten sich ergeben, wenn man globale Gerechtigkeit mit in den Blick nehmen würde (vgl. Ehni 2014: 243ff.).

Laut einer Studie zu Altersbildern gibt es in verschiedenen Ländern unterschiedliche Sichtweisen auf das Altern und ältere oder alte Personen und damit auch unterschiedliche Altersbilder. So wird z.B. in der japanischen Gesellschaft das Alter immer noch verehrt, und viele Ältere leben in Dreigenerationenhaushalten, dabei ist „[d]ie soziale Repräsentation des Alters in Japan […] häufig noch von der Abhängigkeit als einem Merkmal des »guten Alterns« bestimmt.“ (Altersbilder in anderen Kulturen, Robert-Bosch-Stiftung, 2009: 34). Allerdings ändern sich mit den modernen Lebensbedingungen, insbesondere in den großen Städten, auch die Betreuungsbedingungen und damit die Sichtweise auf das Alter(n) nicht nur in Japan, sondern auch in vielen anderen Ländern.

Die Autorinnen wollen hier nicht für die eine (Biogerontologie) oder andere (Barrierefreiheit etc.) Möglichkeit argumentieren, sondern lediglich aufzeigen, dass verschiedene Möglichkeiten existieren, Gelder zu verwenden um Alter(n) gesellschaftlich zu beeinflussen.

Fazit

Darüber hinaus führt diese Frage hinsichtlich neuer Handlungsmöglichkeiten des Menschen (wie sie etwa die Biogerontologie bietet) zu eigenen Problemen: Überzeugende Kriterien für entsprechende Entscheidungen würden voraussetzen, dass es begründete und anerkannte normative Prinzipien gibt, die diese Entscheidungen zu bestimmen erlauben. Auf manche ethischen Fragen können sollensethische Begründungen, die sich auf Pflichten und Rechte beziehen, Antworten geben; so z.B. gilt das Prinzip, dass die bewusste Tötung einer unschuldigen Person immer moralisch verwerflich ist. Auch über manche Pflichten gibt es einen breiten Konsens, etwa, dass Eltern gegenüber ihren Kindern bestimmte Pflichten zu erfüllen haben. Mittels dieser existierenden ethischen Begründungen lassen sich aber bei weitem nicht alle Fragen danach, welche neuen Handlungsmöglichkeiten wir nutzen dürfen (und welche nicht), beantworten. Vgl. hierzu insbesondere die Diskussion um so genannten „new harms“, vgl. Lichtenberg 2010.

Weiterhin folgt aus der Bedeutung der Medizin für das Altern auch nicht, dass viele Ressourcen wie etwa öffentliche Forschungsgelder in die biologische Altersforschung investiert werden sollen. Vgl. die vorvorherige Fußnote.

2. Schwellenwerte des Existenzminimums: „absolut“, „relativ“ – oder beides?

Über die genauen Indikatoren zur Feststellung „absoluter“ Armut besteht allerdings bis heute kein Konsens, was u.a. daran liegen mag, das implizit oder explizit die Bezugsdimension der „Grundbedürfnisse“ unterschiedlich weit gefasst wird. So zählen die einen „Hilfen gegen leicht heilbare Krankheiten“ (Hauser 2012: 124) oder auch pauschal „health“ (Townsend Centre for International Poverty Research, o.J.) zu den Indikatoren absoluter Armut, andere hingegen nicht (Bäcker/Bispinck/Hofemann et al. 2008: 257; Stockmann/Menzel/Nuscheler 2016: 296).

„No claim is made that it [our classification of basic needs] is ultimate or universal for all cultures. The claim is made only that it is relatively more ultimate, more universal, more basic, than the superficial conscious desires from culture to culture, and makes a somewhat closer approach to common-human characteristics. Basic needs are more common-human than superficial desires or behaviors.“ (Maslow 1943: 390)

Vgl. etwa die Kritik am Maßstab der FAO für Unterernährung in Lappé et al. 2013.

So wählt beispielsweise die OECD die Hälfte des Medianeinkommens der Haushalte ihrer Mitgliedsländer als Armutsschwelle, die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben sich auf 60% unter dem Medianwert der Äquivalenzeinkommen als Armutsgefährdungsgrenze festgelegt.

Einen späten Nachhall fand die Segregation des alltagssprachlich noch konzilianten Gebrauchs von „Armut“ in eine absolute und eine relative Deutungslinie in der philosophischen Debatte um Egalitarismus und Non-Egalitarismus, um „Gleichheit oder Gerechtigkeit“ (Krebs 2000).

„What is entirely absolute in one space (capabilities) is partly relative in another (commodities), translating into minimum income requirements with some ‚relative‘ features.“ (Sen 1984: 28)

Immerhin ließe sich fragen, ob bei ihrer Identifikation nicht doch auf andere, ggf. außerökonomische Vergleichsindikatoren wie etwa der Kalorien- und Mikronährstoffbedarf einer geeigneten Vergleichsgruppe Bezug genommen werden müsse, so dass wir es mit einer anderen Art von Relativität zu tun hätten: Während der ökonomische Relativismus definitorisch für den entsprechenden Armutsbegriff ist, hat ein ernährungs­physiologischer Vergleich explanative und gegebenenfalls prognostische Funktion.

Zur Diskussion zwischen Sen und Townsend um „relative“ und „absolute“ Aspekte der Deprivation vgl. Sen 1983, ders. 1985; Townsend 1985.

Im Human Development Report der UN von 2005 wird dieses Problem angedeutet: „It is clear that when economic conditions change rapidly, relative poverty measures do not always present a complete picture of the ways that economic change affects people’s lives.“ (United Nations 2005: 334)

Der Capability Approach: „functionings“, „capabilities“ und „freedom“

Hier seien neben Sens frühen Studien (Sen 1977, 1981) und den zusammen mit Jean Drèze veröffentlichten Studien zu Indien (Drèze/Sen 1997, 2002) nur einige Beispiele genannt: Volkert (Hrsg. 2005) und Arndt et al. (2006) für Deutschland; Krishnakumar/Ballon (2008) für Bolivien; Panzironi/Gelber (2012) für den Asien-Pazifik-Raum und Vollmer (2013) für Mosambik; weitere Hinweise auf regional- und länderspezifische Applikationen des CA finden sich in Comim/Quilbach/Alkire (Hrsg. 2008), Part III; für einen Überblick über die aktuelle internationale Literatur zum CA vgl. die Website des HDCA: https://hd-ca.org/publication-and-resources/ca-bibliography.

„What are people actually able to do and to be? What real opportunities are available to them?“ (Nussbaum 2011a: x; vgl. Robeyns 2005: 94)

Es ist unter Capabilitarians keineswegs Konsens, dass der Ansatz auf einen Schwellenwert fokussieren, also eine Suffizienzregel als Verteilungsgrundsatz akzeptieren sollte. Diese Position vertreten etwa Anderson (1999, 2010) und Nussbaum (2006). Andere wie Arneson (2006) tendieren eher zu einer egalitaristischen Lösung, während Robeyns (2011/2016) auch eine prioritarianische Verteilungsregel im Sinne von Rawls’ Differenzprinzip nicht ausschließt.

Neben diesem Freiheitsbegriff kennt Sen allerdings noch einen zweiten, auf (politische) Entscheidungsprozesse bezogenen Aspekt der Freiheit (Sen 2002: 585).

Fähigkeiten und Schwellenwerte eines menschenwürdigen Lebens nach Martha C. Nussbaum

Diese Terminologie verwendet Nussbaum (spätestens) seit ihrem Aufsatz „Capabilities and Human Rights“ (Nussbaum 1997: 289f.).

Nussbaum spricht von „personality traits, intellectual and emotional capacities, states of bodily fitness and health, internalized learning, skills of perception and movement“ (Nussbaum 2011a: 21).

„The difficulty is that the notion of capability combines internal preparedness with external opportunity in a complicated way, so that measurement is likely to be no easy task.“ (Nussbaum 2011a: 61)

Als Motiv ist die Würde der Menschheit („dignity of humanity“) schon früher im Spiel gewesen, um aber in Nussbaums Interpretation sogleich hinter den Grundbegriff der „capability“ zurückzutreten: „There is a deep moral tradition that says that compassion is not required, for we can be sufficiently motivated to other-regarding action by respect for the dignity of humanity. This tradition, exemplified in the thought of the ancient Stoics, Spinoza, Kant, and in a different way, Nietzsche, still makes central use of a notion of common humanity, for respect is not groundless or arbitrary. It has a foundation: the recognition in the object of certain powers or capabilities.“ (Nussbaum 1992: 239) In Creating Capabilities hingegen betont sie den zentralen theoretischen Stellenwert, der dem Konzept der Menschenwürde in ihrem Ansatz zukomme, was auch einen der Unterschiede zu Sens Version des CA bezeichne (Nussbaum 2011a: 20).

„Many approaches to social justice hold that an ample threshold is not sufficient. Some demand strict equality; John Rawls insists that inequalities can be justified only where they raise the level of the worst-off. The Capabilities Approach does not claim to have answered these questions, although it might tackle them in the future.“ (Nussbaum 2011a: 40)

„The list represents the result of years of cross-cultural discussion, and comparisons between earlier and later versions will show that the input of other voices has shaped its content in many ways. Thus it already [sic!] represents what it proposes: a type of overlapping consensus on the part of people with otherwise very different views of human life.“ (Nussbaum 2000a: 76; dazu kritisch: Jaggar 2006)

I. Besonderheiten der Abwägung und im Internationalen Privatrecht

Zu der Verbindung zwischen Abwägung und Prinzipien vgl. Alexy 2003: 131, 133ff.; Sieckmann 1990: 18; kritisch Poscher 2006: 70ff.

Vgl. zu der Berücksichtigung tatsächlicher Umstände und die Umsetzung nach der Prinzipientheorie kritisch Poscher 2006: 73ff.

1. Die Prinzipienabwägung als Grundsatz des Internationalen Privatrechts

Für eine Zusammenfassung der Theorie vgl. Curries Darstellung 1963: 1242ff., sowie deren Übersetzung bzw. Darstellung von Joerges 1971: 39f. Vgl. für eine frühe Zusammenfassung seiner Methode Currie 1963: 183f.

Die „comparative impairment“-Methode übernahm der kalifornische Gerichtshof in Bernhard v. Harrah’s Club, 546 P. 2d 719, 722-24 (Cal. 1976).

Die „considerations“ Leflars mit zugehöriger Erklärung finden sich bereits nahezu identisch bei dems., 41 N.Y.U.L. Rev. (1966): 282ff. und bei dems., 54 Cal. L. Rev. (1966): 1586ff. Auf 315ff. (N.Y.U.L. Rev.) bzw. 1588ff. (Cal. L. Rev.) erläutert Leflar seine Rechtsfindung anhand von Beispielfällen.

2. Die hilfsweise Anknüpfung an die engste Verbindung

Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch BeckOGK/Schulze, Art. 3 EGBGB Rn. 51 ff., der von Abwägung bei der nach ihm bestehenden Kategorie der „Berücksichtigung“ im Rahmen des Internationalen Privatrechts ausgeht.

Sprachlich anders bei Martiny 2015: Art. 4 Rom I-VO Rn. 312, der die Abwägung als Interessenabwägung und damit wohl als Prinzipienabwägung im hier verstandenen Sinn bezeichnet, inhaltlich aber wohl gleich, wie die Rn. 320 ff. zeigen; ebenso Spickhoff 2017: Art. 4 Rom I-VO Rn. 82a.

III. Die Ausweichklausel als Ausnahme

In Bezug auf Kulturgüter für die Anwendung der lex originis des Kulturguts plädierend Kienle/Weller 2004: 290, 291.

IV. Nichtanwendung des fremden Rechts

Dasselbe Problem stellt sich bei der Anerkennung ausländischer Entscheidungen. Auch in diesen Fällen können der Anerkennung Wertungen der inländischen Rechtsordnung entgegenstehen, vgl. z.B. § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO bzw. Art. 45 Abs. 1 lit. A EuGVVO.

Vgl. Thomale 2015: 7f., Wagener 2014: 16, Dietrich 1989: 8f., Medicus 1986: 302 (der allerdings darüberhinausgehend die Einordnung als entgeltlichen Werkvertrag für dogmatisch treffender hält), Kaiser 2014: § 1 I Nr. 7 Rn. 8.

1. Leihmutterschaft

Gegen diese Entscheidung nun aber OLG Braunschweig, StAZ 2017, 237ff., allerdings für einen Fall nicht festgestellter genetischer Abstammung vom Wunschvater; kritisch zur Entscheidung des OLG Duden 2017: 225ff.

Grund für den engeren ordre public im Anerkennungsrecht ist nach dem BGH, dass im Recht der Entscheidungsanerkennung der internationale Entscheidungseinklang das „vornehmliche Ziel“ darstellt.

bb) Die besondere Bedeutung einer ethischen Grundentscheidung des Gesetzgebers

BT-Drs. 13/4899, 82: „Eine Klarstellung der Mutterschaft im Zivilrecht erscheint dennoch im Hinblick auf die Fälle geboten, in denen eine Eispende entweder im Ausland oder verbotenerweise im Inland vorgenommen wird“.

2. Kinderehen

Dieselbe Vermutung stellt auch Antomo (2016: 1159) auf.

Zu anderen verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Fragen vgl. Coester-Waltjen 2017: 434f.

Nach Coester-Waltjen, soll die Ehe zur „Volljährigkeit“ i.S.d. Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB führen, wenn es das Recht vorsieht, welches nach Art. 7 EGBGB anwendbar ist. Da Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB jedoch im Gesamtkontext der neuen Regelungen zur Minderjährigenehe zu sehen ist, wird man wohl annehmen müssen, dass „Volljährigkeit“ i.S.d. Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 2 EGBGB die Volljährigkeit nach deutschem materiellen Recht meint.

Diese Frage hat das BVerfG im Witwenrentenbeschluss ausdrücklich offengelassen (NJW 1983: 511f.).

Zur Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung des damals geltenden § 1264 RVO (heute § 46 SGB VI) BVerfG NJW 1983: 511, 512.

Ethisches Abwägen in der beruflichen Praxis

Wie das obige Beispiel signalisiert, möchten wir uns auf medizinethisches Entscheiden konzentrieren. Die Hypothesen, die wir entwickeln, sollten sich aber problemlos auf ethisches Entscheiden in anderen beruflichen Kontexten übertragen lassen. Ein ethisch gerechtfertigtes Ergebnis für den Beispielfall könnte auch mithilfe von klassischen moralphilosophischen Theorien wie z.B. deontologische oder konsequentialistische Ethiktheorien zustande kommen. Da wir auf die zweite Frage fokussieren, diskutieren wir die Divergenzen, die durch unterschiedliche Moraltheorien für das Ergebnis im Beispielfall entstehen, hier nicht.

Psychologische Befunde

Im „Marmeladenbeispiel“ erscheint uns die oben genannte Annahme ohne weitere Diskussion naheliegend. Das soll jedoch nicht zu der Ableitung führen, dass gelungene Rechtfertigung im Bereich der Ethik durch Konsens zustande kommt. Diese Frage diskutieren wir hier nicht.

Dies ist in dem Experiment per Annahme wahrscheinlich.

Eine Reihe von neueren Experimenten, in denen unbewusstes Entscheiden zu besseren Ergebnissen führte, beschreibt Dijksterhuis (2004), vgl. auch den neuen Überblicksartikel von Dijksterhuis und Strick (2016). Öllinger et al. (2015) zeigen, dass Versuchspersonen, die ihre Lernfortschritte beim Steuern eines komplexen Systems verbal oder visuell festhielten, später schlechter beurteilen konnten, wie man das System erfolgreich steuert, als Personen, die ihre Lernerfolge nicht explizit machten.

Motivationseffekte könnten ebenfalls eine Rolle spielen: Die motivationale Bindung der Personen an das abstrakte Recht könnte so gering sein, dass in den einzelnen praktischeren Entscheidungen eigeninteressierte Einstellungen (etwa eine persönliche Abneigung gegen das Auftreten der Nazis) die Oberhand gewinnen.

Im Rahmen seines sozial-intuitionistischen Gesamtmodells schreibt Haidt dem expliziten Überlegen und Argumentieren allerdings eine relevante Funktion zu. Es diene regelmäßig dazu, die moralischen Urteile anderer Personen zu beeinflussen – allerdings nicht durch logisch zwingende Argumente, sondern indem es assoziativ neue, affektgeladene Intuitionen im Zuhörer auslöse (Haidt 2001: 814, 818-819).

Forschungsfragen

In unserem Aufsatz sind wir aus methodologischen Gründen zunächst nur der Prinzipienethik gefolgt. Es wäre jedoch auch zu überprüfen, ob und wie sich die Effekte von Explikation mit unterschiedlichen moralphilosophischen Hintergrundannahmen divergieren. Dies wäre auch deshalb besonders interessant, weil sich große Teile der Ergebnisse der psychologischen Forschungen auf andere Hintergrundannahmen stützten, vgl. etwa McClosky und Brill (1983).

1. Einleitung

Vgl. hierzu den Beitrag von Bernhard Schmidt-Hertha in diesem Band.

2.1. Formulieren und Inbezugsetzen von Gegenstand, Kriterium und Ziel