Im Überchwang

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Inhaltsverzeichnis

in seinem dreißigsten Jahr

Der Anfang ist natürlich wahnsinnig schwer. Ich frage mich, warum ich das mache, für wen ich das mache: Für mich? Für die anderen? Für ein etwas längeres Leben?

Was ist eigentlich Erinnern? Welche Arten von Erinnerungen gibt es? Ist es etwas, was aus meinem Inneren herauskommt? Oder ist es ein Erinnern an die Erzählungen anderer, also zweite Hand eigentlich? Was geht da vor sich, wenn einem ein Bild, eine Erinnerung einfällt? Ist es etwas anderes, wenn man sich bewusst zu erinnern versucht? Und sind Erzählungen anderer, an die man sich erinnert, genauso wichtig wie die Bilder, die man selbst in sich bewahrt hat?

Beim Nachdenken über dieses Buch stellen sich mir diese Fragen, sie kommen mir in den Sinn. Und viele weitere schließen sich an: Wie kann ich sicher sein, dass diese Erinnerungsbilder, ihre Farben, ihre Melodie, dem entsprechen, was sich tatsächlich ereignet hat? Spielt es überhaupt eine Rolle, ob diese Bilder wahr sind oder nicht wahr?

Sollte ich nicht vor allem davon erzählen, wie ich geprägt wurde von den Landschaften, den Menschen, den Ereignissen und meinen Träumen?

Soll ich viele kleine Geschichten erzählen oder eine große, chronologisch geordnete Lebensgeschichte? Wie soll ich von den Menschen berichten, die in meinem Leben wichtig waren und sind? Wie kann ich ihnen gerecht werden? Und ist das überhaupt wichtig?

Beim Nachdenken über all diese Fragen hat mir ein Wort, das ich schon immer besonders mochte, sehr geholfen:

 

Manchmal habe ich den Eindruck, ich sehe einen Film, wenn ich auf mein Leben schaue. Einen Film, der aber nicht ein für alle Mal auf Rollen gebannt ist, sondern der sich immer wieder verändert. Ich kann diesen Film nicht nur unterschiedlich betrachten – zum Beispiel auf der großen Leinwand oder auf der kleinen Leinwand, in Schwarz-Weiß oder in Farbe –, ich kann ihn, während ich ihn sehe, auch verändern. Ich kann ihn schneiden, während ich ihn anschaue: Durch meine Gedankenschnitte kann ich ihn komplett verändern, wenn ich will. Aber das ist nicht nur eine Freiheit, die ich da habe, sondern fast ein Zwang. Ein Zwang, der sich daraus ergibt, dass ich diesen Film überhaupt erst erschaffe, während ich ihn anschaue.

Und das Ergebnis ist jedes Mal ein anderes, auch wenn das Erlebte – das Drehbuch – vorgegeben ist. Es kommt auf die Sicht an, die ich im Moment des Erinnerns auf bestimmte Zeiten und Räume, auf bestimmte Zeit-Räume habe.

Ich muss da an den berühmten Film »Rashomon« von Akira Kurosawa denken, dessen Handlung von vier Personen und ihren jeweiligen Standpunkten aus erzählt wird. Natürlich kommen dabei vier verschiedenartige Versionen derselben Geschichte heraus. Das, was ist, das, was war, ist ja so viel mehr als nur das eine. Immer ist es sehr viel mehr. Deshalb muss man sich auch andauernd streiten: weil jeder Mensch etwas anderes wahrnimmt und empfindet. Jeder Einzelne nimmt die gleichen Dinge und Erlebnisse ganz verschieden wahr.

Jetzt bin ich selbst mal die eine, mal die andere dieser verschiedenen Personen, die mein Leben erzählt. Ich bin viele. Und weil ich so viele bin, verändere ich den Film. Ich bin ja auch als erwachsene Frau mit in diesen Räumen, in denen ich als junge

Geboren bin ich mitten im Sommer in Burghausen an der Salzach, in Oberbayern, direkt an der Grenze zu Österreich, an einem heißen, schwülen Sonntagnachmittag, und – wie mir meine Mutter erzählte – ist der Himmel schwer gewesen und hatte sich verdunkelt, denn es wütete gerade ein heftiges Gewitter. Mein Köpfchen war bedeckt mit rabenschwarzem Haarflaum und ich soll ausgesehen haben wie Karl Valentin. Und weil ich so besonders lange Fingerchen hatte, sollen die bayerischen Krankenschwestern gesagt haben, mei, die wird bestimmt a Klavierspielerin oder irgendwie a Künstlerin.

Sonst war alles in Ordnung.

 

Wie ich als Baby war, weiß ich natürlich kaum. Nur, dass ich wohl ziemlich viel geschrien habe und ein totales Papakind gewesen sein soll. Meine Mutter erzählte gerne und oft die Geschichte meines Rauswurfs. Dass es ihr eines Tages zu viel wurde und sie vollkommen zermürbt und entnervt gewesen sei: »Und da hab ich dich gepackt, bin in das Zimmer deines Vaters gerannt, hab dich ihm in die Arme geschmissen und geschrien: ›Da hast du deine Tochter!‹«

Auf der Stelle sei ich still gewesen und hätte gelächelt.

Ihre andere Standardgeschichte über mich war, dass ich unheimlich süß gewesen sei mit meinen vielen, krausen Locken und ausgesehen hätte wie eine kleine Puppe: »wie ein kleines Negerpüppchen«, hat sie gesagt.

Später im Kindergarten wurden sie mir ratzeputz abgeschnitten, weil ich Läuse hatte.

 

Vieles weiß ich vielleicht nur aus Erzählungen meiner Mutter, ich war ja erst zwei Jahre alt. Zum Beispiel die Geschichte mit dem weißen Kleid.

Meine Mutter hatte mich an diesem Nachmittag besonders schön zurechtgemacht, wahrscheinlich wollte die Familie einen Sonntagsausflug machen. Ich trug ein hübsches blütenweißes Kleid und eine weiße Schleife im Haar. Weil unsere Eltern noch nicht fertig waren, schickten sie Manfred und mich nach unten, wir sollten vor dem Haus auf sie warten. Vielleicht wurde mir langweilig und ich wollte im Dreck spielen, Batzknödel machen. Aber Manfred hat mir das nicht etwa verboten, sondern mir einfach mein weißes Kleid ausgezogen, es fein säuberlich über die Hecke gehängt und mich im Dreck spielen lassen.

 

Irgendwann – ich muss ungefähr eineinhalb Jahre alt gewesen sein – sind wir beide für kurze Zeit in ein Kinderheim gekommen und wurden dort voneinander getrennt. Ob es mit dem Krieg zusammenhing oder familiäre Gründe hatte – ich habe immer vergessen, meine Mutter danach zu fragen. Zum Beispiel, wo mein Vater damals eigentlich war. Ich weiß nur, dass er nicht im Krieg war.

Ich konnte schon laufen und sprechen, als Manfred und ich ins Heim kamen. Aber als wir zurückkehrten, konnte ich gar

Das Bild meines Bruders ist tief in mir. In meinem Inneren weiß ich, was für ein großartiger kleiner Mensch Manfred war und wie sehr ich mit ihm verbunden war. Für mich war er alles, der ganz große Vertraute.

Bis heute habe ich diesen Traum in mir, dass Manfred und ich alleine auf einem Hügel in einem kleinen Birkenwäldchen stehen, er hält mich an der Hand und ich weiß, dass ich sterben muss, wenn er meine Hand loslässt. Ob ich das im Schlaf geträumt habe oder ob es einer meiner Tagträume war und immer noch ist oder ob ich diesen Traum wirklich erlebt habe, kann ich nicht sagen. Es scheint mir auch gar nicht mehr wichtig. Meine Seele erinnert sich.

 

Die Jahre mit meinem kleinen großen Bruder Manfred waren lang und hell und wunderschön. Aber viel zu kurz. Am letzten Tag des Monats März 1945 – er war noch nicht fünf, ich war noch nicht drei Jahre alt und der Krieg war fast vorbei – fuhr er wie so oft von Burghausen nach Neuötting, wo unsere Großmutter wohnte, meine Oma, die Mutter meiner Mutter. Begleitet wurde er von einer der Nachbarstöchter, die für ein bisschen Geld bei uns aushalfen. Meine Mutter nannte sie immer Dienstmädchen, aber eigentlich waren es junge Mädchen aus der Nachbarschaft, die sich ihr Taschengeld aufbesserten.

Mit einem dieser Mädchen fuhr mein Bruder mit dem Zug von Burghausen nach Neuötting. Während der Fahrt wurde der Zug von amerikanischen Tieffliegern bombardiert. Bei diesem Angriff ist Manfred getötet worden. Er wurde erschossen. Das Mädchen hatte sich aus Angst unter die Bänke verkrochen, aber der kleine Manfred war neugierig und schaute aus dem Fenster.

In seinem kleinen Körper fand man sechs Patronen, die meine Mutter später in einem Leinensäckchen aufbewahrte, zusammen mit zwei winzigen Holzpferchen, die Manfred immer bei sich hatte. Dieses Leinensäckchen mit den Patronen und den Pferdchen, einem schwarzen und einem hellen, besitze ich immer noch.

Und ein Foto: Mein toter Bruder im offenen Sarg, schön gekämmt, mit halb geschlossenen Lidern und gefalteten Händen. Er sieht so erwachsen aus.

 

Wie ich vom Tod meines Bruders erfahren habe, ob ich überhaupt schon verstanden habe, was passiert war, weiß ich nicht mehr. Es war ein unsagbarer Schmerz in der ganzen Familie. Meine Mutter war im Krankenhaus und hatte gerade meinen kleinen Bruder Berndi zur Welt gebracht. Er war zwei Tage auf der Welt, als Manfred starb. Es gibt ein Foto von der Taufe meines kleinen Bruders, das von dieser Gleichzeitigkeit von Geburt und Tod, von Freude und Trauer, Leben und Sterben erzählt.

Ob mein Vater das Foto gemacht hat?

Meine Mutter ist zu sehen, ganz in Schwarz, und schwarz verschleiert. Ihr Gesicht ist kaum zu erkennen. Neben ihr steht eine Krankenschwester, das weiße Taufkissen in den Armen, in dem das neue Baby liegt, ganz in das weiße Taufkleid gehüllt. Unter diesem Kissen stehe ich, klein und süß, mit einer weißen Schleife im Haar und lache.

Ich habe immer gelacht.

 

Bis zu dem Tag, an dem mein Bruder starb, hatten wir kaum etwas vom Krieg mitbekommen. Zumindest Manfred und ich nicht. Nein, ich habe keine Bedrohung gespürt, auch keinen Mangel gelitten. Irgendwie war immer genug da. Und mein Vater und meine Mutter waren sehr oft schick angezogen. Auf Fotos sehen sie aus wie ein Paar aus dem Kino, wie Filmstars. Mein Vater wunderschön, meine Mutter wunderschön – und

Eine Geschichte, an die ich mich vielleicht erinnere, die auch meine Mutter immer wieder erzählte, war, dass im Sommer, ein paar Monate nach Manfreds Tod, ein amerikanischer Offizier in unsere Wohnung kam und sie eigentlich beschlagnahmen wollte, aber dass er dann den kleinen Altar mit dem Bild meines Bruders sah, die Kerzen und Blumen und den Trauerflor – das schwarze Band neben Manfreds Gesicht, an der linken Bildecke –, und dass er dann die Wohnung nicht beschlagnahmte, sondern uns oft besuchte und uns jedes Mal kostbare Orangen mitbrachte.

Und ganz manchmal und ganz fein, vielleicht an einem Glückstag wie im Märchen, rieche ich den unwiderstehlichen Duft dieser kostbaren Orangen.

 

Im Kindergarten soll ich lange Zeit nur mit meinem toten Bruder Manfred gespielt und gesprochen haben, die anderen Kinder hätte ich völlig ignoriert, auch meinen neuen kleinen Bruder Berndi, erzählte mir meine Mutter. Ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass Manfred nicht mehr da war. Mein Anführer, mein Begleiter, mein vertrautester Mensch, mein Halt, der Mensch, der mehr war als ich, dem ich vertrauen konnte, der mich gehalten und geführt hat – der mich getragen und am Leben gehalten hat – er war auf einmal verschwunden.

Jetzt war ich die große Schwester. Die war ich dann immer – und die bin ich bis heute geblieben. Berndi ist der »kleine« Bruder. Bald war ich diejenige, die auf jemanden aufpassen musste, die eine Hand halten musste. Aber natürlich konnte ich Berndi nicht das sein, was Manfred mir war.

 

Mein Vater, mein wunderbarer, großartiger Vater.

Wir waren jetzt oft am Waginger See, meine Mutter, mein kleiner Bruder, mein Vater und ich. Hier habe ich schwimmen gelernt.

Das ist meine schönste Erinnerung an meinen Vater: Er schwimmt im See, ich liege bäuchlings auf seinem Rücken und übe Schwimmbewegungen, irgendwann taucht er unter und ich schwimme oben alleine weiter, kreischend vor Lust. Und wenn ich nicht mehr kann und beinahe untergehe, taucht er auf und ich liege wieder sicher auf seinem Rücken.

Dieses Schwimmen – bis heute ist es ein Lebenselixier für mich.

Das lachende Mädchen mit der Schleife im Haar lebt in einem selbst erfundenen Niemandsland, in dem es vielleicht wieder heil wird, irgendwie. Ich habe ein wehes Gefühl, wenn ich daran denke, aber ich habe überlebt. Diese Zeit, die ich hatte mit meinem Vater, hat mich wieder ein bisschen geheilt. Dieses Schwimmen, diese Kraft, dieses Beschützende, dieses Männliche, das ich gespürt habe, war lebenswichtig für mich: In der Luft rudern, er taucht unter, verschwindet und ich schwimme allein. Ich kann nicht mehr und er taucht auf und ich bin wieder sicher. Gerettet.

 

Und dann gehen wir von Neuötting zu Fuß nach Altötting, fast eine Stunde lang, in ein Spital. Ich sehe meinen Vater von Weitem in einem grünen Zimmer. Es ist ein grausames Grün. Mein Vater ist zart und blass, es geht ihm nicht gut. Ich darf ihn nicht umarmen. Eine ansteckende Krankheit.

Das kannte ich aus der Zeit, als wir alle Typhus hatten, als wir im Haus meiner Oma bleiben mussten und eine Grenzlinie auf der Straße markiert war, die wir nicht überschreiten durften.

Mein Vater hatte Tuberkulose.

Wir sind von Burghausen zu meiner Oma nach Neuötting gezogen, in dieses schöne kleine Bauernhaus, das Häusl. Es lag ganz am Ende einer kleinen Straße, an die sich eine riesige Wiesenlandschaft anschloss. Für mich war das Häusl direkt am Rande der Wildnis. Wiesen und Äcker und kleine Sümpfe, große und kleinere Bäche, unterirdisch, oberirdisch. Und an den verwilderten Bachauen entlang die hohen ausladenden Weidenbäume, die im Frühling die weichen Weidenkätzchen trugen und sich im dunklen Herbst in die unheimlichen Gesichter und Gestalten der Nebelfrauen verwandelten.

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind.

Und hinter jedem Löwenzahn lauert das Grauen.

Im Häusl war es zwar auch wild, es gab nur ein Plumpsklo aus Holz im Eingang, aber es war heimelig, gemütlich. Und es gab eine Ziege und ein paar Hühner und Enten, manchmal auch Hasen oder eine Gans. Hund und Katze sowieso, das war ganz

Alle meine ersten Geburtstage, an die ich mich erinnern kann, habe ich hier gefeiert, mitten im Sommer, im blühenden Garten mit bunten Lampions. Und noch früher, als Manfred noch bei mir war, durfte ich in der Sommerhitze in einer kleinen Blechwanne herumplantschen. Und er hat auf mich aufgepasst.

Wenn ich jetzt an die Zeit dort denke, kommt mir auch in den Sinn, dass mein Vater nicht da war. Er war verschwunden. Das ist schmerzhaft: sich zu erinnern, dass jemand fehlte.

Es war diese Zeit – ich war zwischen sechs und acht Jahre alt –, in der mein Vater immer weg war, in irgendeinem Sanatorium, auf jeden Fall nicht bei mir. Am Anfang seiner Krankheit war mein Vater in dem Spital in Altötting. Dort haben meine Mutter und ich ihn oft besucht. Er stand in diesem grünen Zimmer, ganz hinten, und ich in der Nähe der Tür. Ich konnte nicht zu ihm, ich durfte ihn nicht umarmen. Das böse, kalte Grün des Zimmers empfinde ich noch heute. Es war schrecklich, ihn nur aus der Entfernung zu sehen. Soweit ich mich erinnere, waren es die letzten Male, dass ich meinen Vater besuchen konnte.

 

Zwei Jahre später ist er gestorben, in einem Sanatorium in München. Ich war inzwischen acht und hatte gerade meine Erstkommunion absolviert. Als es hieß, dass mein Vater sterben würde, sind meine Mutter und ich – wahrscheinlich auch mein kleiner Bruder – nach München geholt worden und haben bei Bekannten meiner Mutter übernachtet. Diese Bekannten waren Tante Feli und Onkel Karl. Wir sollten sie auch so nennen, obwohl wir nicht mit ihnen verwandt waren. Sie wohnten in einem großen Mietshaus, an einer unglaublich großen, lauten Straße.

Gleich nach unserer Ankunft in München sind wir in das Sanatorium gegangen. Ich hatte mein Kommunionskleid angezogen. Ob das meine Fantasie ist oder ob es wirklich so war? Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe dieses Bild in mir: ich, in meinem wunderschönen, kostbaren Kommunionskleid aus glänzend weißem Satin, am Sterbebett meines Vaters.

Die Erstkommunion war ein besonderes, ein heiliges Fest. Alles war weiß: das weiße Kleid, das sehr viel Geld gekostet hatte, der weiße Blütenkranz aus kunstvollen Stoffblumen, weiße Strümpfe, weiße Schuhe, kleine weiße gehäkelte Handschuhe; und ich in all dem mit meinen dunkelbraunen Locken. Die weiße, geweihte Kerze, das kleine Gebetbuch und der geweihte Rosenkranz aus weißen Perlen – all das war so kostbar und so schön.

Und wenigstens das weiße Kleid wollte ich meinem Vater zeigen.

Den ganzen Tag und die ganze Nacht saßen wir an seinem Bett. Mein Vater war schon eingeschlafen, er ist nicht mehr aufgewacht. Am nächsten Morgen war er tot. Er ist nur vierzig Jahre alt geworden.

 

Die Beerdigung in Burghausen war ein großes Ereignis, mein Vater war als Ingenieur bei Wacker Chemie in der kleinen Stadt sehr angesehen. Meine damals beste Freundin Gudrun hatte mir ihren dunklen Mantel geliehen.

Alle haben mich bemerkt, mir kondoliert, ich war wichtig.

 

Den dunklen Beerdigungsmantel hatte ich schon einmal an, im Fasching, als Gudrun und ich als »Mann und Frau« gingen. Gudrun war der Mann, sie trug eine Art Anzug und hatte einen Zylinder auf. Ich ging als »Frau« in diesem dunklen Mantel, hatte mir mit dem Lippenstift meiner Mutter knallrote Lippen gemalt, und trug ein spitzes, goldenes Kegelhütchen aus Papier auf dem Kopf, gehalten von einem dünnen Gummi um das Kinn herum.

 

Für mich war mein Vater der schönste Mann der Welt. Er war so zart und so melancholisch. Er hatte tief liegende schwarze Augen und tiefe dunkle Augenringe. Später, als er krank war, sah er aus wie Franz Kafka. Kafka ist auch an Tuberkulose gestorben.

Ich glaube, dass mein Vater nicht sehr glücklich gewesen ist. Ich glaube, dass er etwas anderes leben wollte als das, was er gelebt hat, dass er von einem anderen Leben geträumt hat – ein Traum, den ich sehr gut kenne. Man sagt ja, dass Tuberkulose die Krankheit ist, mit der man sich aus der Welt begeben möchte. Mit der man flüchtet, wenn man so nicht mehr leben will. Ich bin das Gefühl nie losgeworden, dass mein Vater aus der Welt geflohen ist.

Vielleicht auch, weil in der Ehe meiner Eltern irgendetwas nicht stimmte. Daran, wie mein Vater und meine Mutter zusammen waren, habe ich keine richtige Erinnerung. Ich weiß

 

Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, zumindest für meinen Vater. Meine Mutter lebte als junges Mädchen in Ungarn, in der Nähe von Budapest. Dort ging sie auf eine Hauswirtschaftsschule. Die Ferien verbrachte sie zu Hause in Neuötting bei ihren Eltern, meinen Großeltern. Und so saß sie eines Tages in dem Zug, der von Budapest über Salzburg nach Bayern fuhr. Mein Vater, der Österreicher war, saß im gleichen Zug und war auf dem Weg nach Salzburg, wo er und seine Familie lebten. Doch er stieg nicht aus in Salzburg, sondern fuhr mit meiner Mutter weiter nach Neuötting. Während der Zugfahrt hatte er sich so sehr verliebt, dass er nicht mehr von ihr lassen konnte und bereit war, von einem Moment auf den anderen sein Leben auf den Kopf zu stellen. Von diesem Tag an waren meine Eltern zusammen.

Als sie heirateten, wurde meine Mutter Österreicherin. Wir Kinder bekamen auch die österreichische Staatsangehörigkeit. Nach dem Tod meines Vaters wurde uns ein Vormund zugewiesen. Das war österreichisches Gesetz. Ich fand es unverschämt, dass man einer Mutter nicht zutraute, ihre Kinder alleine großzuziehen. Der Vormund, Onkel Karl, war glücklicherweise ein Freund der Familie, er und seine Frau, Tante Feli, waren sehr nett und mischten sich kaum ein. Nur später, als die Sache mit der Schauspielerei losging und ich noch lange nicht volljährig war, wollte Onkel Karl das verhindern. Aber da nahm meine Mutter wieder die deutsche Staatsbürgerschaft an, wir Kinder damit auch – und ich konnte zur Schauspielschule gehen.

 

Ich glaube, ich hatte großes Glück, dass das nicht gestorben ist in mir, diese Liebesfähigkeit und dieses Liebesverlangen. Und ich meine jetzt die reine Liebe. Meine Gefühlserinnerungen sind auch körperlich, sind in meinem Körpergedächtnis. Wenn das gestorben wäre, hätte ich nicht mehr weiterleben können, hätte ich nicht mehr existieren können.

»Die Geschichte mit dem Schwimmen auf dem Rücken meines Vaters« – das ist das Geschenk.

 

Während mein Vater in verschiedenen Sanatorien war, begann meine Schulzeit. Meine Mutter zog von Neuötting wieder zurück nach Burghausen, sie musste sich jetzt um unser Auskommen kümmern und bereitete die Eröffnung eines kleinen Schreibwarengeschäfts vor. Ich bin in Neuötting geblieben bei meiner Oma und kam nach dem Tod meines Vaters in die dortige Klosterschule, in ein Internat der Englischen Fräulein.

Am Anfang habe ich mich dort sehr einsam gefühlt, aber meine Oma besuchte mich regelmäßig und brachte mir immer wieder Sanostol mit. Das ist ein wunderbarer süßer Sirup mit Lebertran. Ich war süchtig danach. Ich hatte das Gefühl, dass ich damit überlebe.

Meine Oma war jetzt mein Zuhause – bei ihr war es immer warm und leicht und schön. Meine Oma war überhaupt wunderbar: eine Bäuerin, klein und kräftig, mit kräftigen Händen, einem festen Gesicht, leuchtenden, dunkelgrauen Augen, einer Brille auf der feinen runden Nase, und langen Haaren bis zum Hintern; lange, graue Haare, die sie zu einem Zopf geflochten und mit Hornnadeln zu einem Knoten im Nacken festgesteckt

Ich habe sie innig und zärtlich lieb gehabt, aber ich kann das fast gar nicht aufschreiben, denn es wurde nie ausgesprochen. Das war überhaupt nicht notwendig und auch nicht üblich, so etwas zu sagen. Ich habe ihr das nie gesagt, und sie mir auch nicht. Die Liebe war einfach da. Das musste man nicht aussprechen.

Sie war eine Großbauerntochter aus Niederbayern. Ihr Vater hatte einen riesigen Hof in der Nähe von Rottach am Inn und fuhr mit seiner Lieblingstochter Karoline, meiner Oma, oft nach Ungarn, um Pferde zu kaufen. Doch als diese Lieblingstochter meinen Opa heiratete, hat er ihr das so übel genommen, dass er sie verstoßen hat. Mein Opa war ein »Häusler«, er besaß nur dieses kleine Häusl in Neuötting, hatte also keinen großen Hof und Landbesitz. Er war nicht die richtige Partie für die Tochter eines Großbauern.

Aber dieses Häusl war mein Zuhause. Meine Oma war mein Zuhause. Und sie war eine wunderbare Geschichtenerzählerin – ihr kleiner, schmächtiger Mann, mein Opa, saß meist auf der Bank vor dem Haus in der Sonne und schnitzte Pfeifen und Flöten.

Sie hat uns alle ernährt, in dem Haus mit der Ziege und den Hühnern. Ich habe zugeschaut, wie sie ein Huhn einfing und ihm auf einem Holzpflock den Kopf abschlug. Das war ein Getöse. Das Huhn lief ohne Kopf weiter. Das war gruselig, aber trotzdem aufregend für mich, ich war hin- und hergerissen. Oder wie sie jeden Abend die Ziege gemolken hat – das Geräusch des Milchstrahls im Blecheimer, der wunderbare Geruch der warmen Ziegenmilch – oder wie sie eine Gans geschlachtet hat.

Und wie selbstverständlich sie meinen Opa betreut hat, der als Kriegsversehrter des Ersten Weltkriegs immer krank war und im Laufe der Zeit ganz klein und mickrig wurde.

Einmal gab es wieder ihren berühmten wunderbaren Apfelstrudel, den Millirahmstrudel, an seinen Seiten hing knusprig der gebräunte Rahm, und alles roch so verführerisch. Mein Bruder Berndi und ich stürzten uns wie immer gierig auf ihn – und er schmeckte entsetzlich: Oma hatte statt Zucker Salz genommen! Das werde ich nie vergessen, es war so komisch, weil wir es nicht fassen konnten. Der Millirahmstrudel schmeckte wirklich scheußlich, aber wir haben ihn trotzdem aufgegessen, weil wir es einfach nicht glauben konnten, weil wir uns mit jedem Bissen neu vergewissern mussten, dass der Strudel, der ja so lecker aussah und roch, tatsächlich salzig war.

 

Wenn ich versuche, die Trauer, die so früh in mein Leben und das meiner Familie eingebrochen ist, beiseitezulassen, wenn ich versuche, mich einfach nur an die normalen Tage zu erinnern, so wie ich sie erlebt habe – dann hatte ich eine wunderschöne Kindheit. Ich war kein trauriges Kind. Ich war frei und wild, und ich konnte machen, was ich wollte. Eigentlich war ich immer unterwegs, habe mich auf den riesengroßen Wiesen hinter dem Haus meiner Großmutter, auf den Weiden und an

Ich erinnere mich an den Geruch der Frühäpfel. Im Haus meiner Oma schlief ich im ersten Stock in einem Zimmer mit Balkon, direkt davor stand ein Apfelbaum. Und wenn es, wie fast jeden Tag im Sommer, ein Gewitter gab, dann purzelten diese leuchtenden, hellgrünen Frühäpfel auf meinen Balkon. Klaräpfel, nannte sie meine Oma. Gewitter waren für mich immer so schauerlich schön, ich hatte so eine Art Lustangst bei Gewittern, rannte raus in den Platzregen und tanzte barfuß in den Pfützen, jubelnd, bis ich klatschnass war und dreckig von oben bis unten.

Und all meine Verstecke! Wir Kinder hatten überall Verstecke: im Heuschober oder im Schuppen, auf dem Baumhaus oder hinten auf der Wiese, einfach überall. Die dunklen Scheunen mochte ich besonders. Ich habe es geliebt, mich in dieser wohligen Dunkelheit einzunisten, mich geborgen zu fühlen, es roch warm nach Heu oder Stroh, manchmal auch ein bisschen feucht und muffelig, die Sonne schien durch die Ritzen der Holzbretter, die goldenen Strahlen waren magisch, wie aus Sonnenstaub – und meine Oma rief zum Essen.

 

Meine Kindheit kommt mir im Nachhinein unendlich lang vor, lang, schön und frei. Für mich war es das Paradies. Ich war in meinen Wiesen und Feldern unterwegs, ich war in meinen Sommerverstecken, ich war das wilde Mädchen, das sich unendlich wohlgefühlt hat, vor allem während dieser bayerischen Sommer, die so heiß und flirrend waren. In meiner Erinnerung ist es eigentlich immer Sommer, an die Winter kann ich mich gar nicht richtig erinnern. Außer an das Schlittschuhlaufen auf dem

Dieses bäuerliche Leben hat sich mir eingeprägt, das habe ich in mir. Ich fühle mich wohl in einer bäuerlichen Landschaft, in der alles wächst, was man braucht. Und ich liebe es, wenn ich sehe, wie das geerntet und zubereitet wird. Dieses autarke Leben ist schön für mich und kostbar: dass alles in der eigenen Umgebung wächst, dass man selbst Brot backt, Käse oder Joghurt macht. Überhaupt Lebensmittel, die man nicht kaufen muss, oder die man direkt vom Bauernhof bekommt. Ich werde ganz glücklich, wenn ich irgendwo richtig frische Milch kriege, oder ganz frische Eier.

 

Meine Oma – ich habe sie sehr geliebt. Ihre Kraft und ihren Lebensmut, ihre Freundlichkeit und ihre Gelassenheit. Wie selbstverständlich und heiter sie mit meinem Opa umging, als er krank geworden war. Und wie klaglos sie später das Haus verkaufte, ihr Häusl, weil meine Mutter das Geld brauchte für das Schreibwarengeschäft in Burghausen. Jetzt hatte sie nur noch ihre kleine Rente, zog rauf in die Stadt Neuötting und wohnte da zur Miete, in einem einzigen Zimmer. Direkt um die Ecke meines Klosters.

Sie nahm alles an, was das Leben ihr abverlangte, jammerte nie. Es ging ihr immer gut. Sie war immer ruhig und immer freundlich.

 

Mein Leben lang, bis jetzt, weiß ich nicht mehr, wie und wann mein Opa gestorben ist. Ich kann mich einfach nicht erinnern.

Doch jetzt fand ich eine Todesanzeige vom April 1951 und alte Kondolenzbriefe an meine Mutter, in denen Menschen ihr

In der Zeit, in der ich ohnmächtig durch die Welt gelaufen bin.