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Michaela Brohm-Badry

DAS GUTE GLÜCK

Wie wir es finden und
behalten können

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1. Auflage 2019
Copyright © 2019 by Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Regina Carstensen, München
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Minion, Futura
Umschlaggestaltung: Martina Eisele, München, unter Verwendung eines Fotos von Westend 61 / Getty Images

ISBN 978-3-7110-0170-2

eISBN 978-3-7110-5235-3

Inhalt

Vorwort – Warum wir nach Glück streben

Prolog

1Leben: Was wir wirklich brauchen

Lust auf Lebenskraft

Eigenwillige Gehirnwelten

Was Glück und Freiheit verbindet

2Leidenschaft für Leben und Leistung: Wie wir Energie erzeugen

Leidenschaftlich leben beflügelt

Angst macht Angst

Risiko! Ohne Scheitern keine Entwicklung

Open Mindset oder: Freiheit des Geistes

Emotionen: Hoffnung, Liebe und der Rest

Power Hour: Die Sache mit der Bedürfnisbefriedigung

So sieht Engagement aus: Vertiefung, Anstrengung, Interesse

3Sehnsucht – Genuss – Befriedigung: Wie wir kriegen, was wir wollen

Wunderdroge Dopamin

Glücksgefühle, nachdem wir aktiv waren

Wie wir sind: Unsere Charakterstärken

Stimmige Ziele

Völlig euphorisiert – im Flow

Flow-Trigger – Experiment mit mir selbst

Glück, Erfolg und Beziehungen

4Abgründe und Halt: Wann wir uns zerstören – und was hilft

Grizzlys in Kanada und Takkakaw

Wettlauf um die Motivation

Was wirklich wichtig ist – Werte

Das alles macht Sinn

Stress und immer wieder die Ratten

Die dunkle Seite des Glücks

5Leid! Von Wellentälern und Wellenbergen

Zusammenbruch nach dem Schuss im Kopf

Trauma – Konfrontation mit dem eigenen Tod

Neue Wachstumsschübe

6Glück und Stimmigkeit: Wie wir finden, was wir suchen

Das ruhige Selbst in wilden Zeiten

Mut zur Freiheit

Die Freiheit zur Leichtigkeit

Die Freiheit von falscher Leistung

Die Freiheit von belastenden Beziehungen

Die Freiheit von Sinnlosigkeit

Die Freiheit von Misserfolg

Strategien, um stimmig zu sein

Epilog – Die Freiheit und das Meer

Dank

Anmerkungen

Literatur

Zitatnachweise

Vorwort

Warum wir nach Glück streben

Die Fragen nach Wohlbefinden und Glück sind zentrale Fragen des menschlichen Lebens. Wir alle sind permanent auf der Suche nach einem gedeihenden Leben und einer sinnvollen Existenz. Dieses Buch soll die Leserinnen und Leser diesbezüglich stärken: für sich selbst, für ihre Arbeit in Organisationen und den positiven gesellschaftlichen Wandel.

Aktuelle Forschungsbefunde deuten darauf hin, dass das tatsächlich möglich ist. Früher nahmen wir an, Menschen hätten ein fixiertes Niveau an Glück in sich, einen stabilen Set Point, zu dem sie nach frohen Momenten oder Leid immer wieder zurückkehren: Einige sind eben unglücklich, einige wenige sehr glücklich und alle anderen irgendwo dazwischen. Und bleiben es ein Leben lang – dachten wir.

Heute wissen wir, dass das falsch ist. Die Positive Psychologie ist die Wissenschaft, die Bedingungen untersucht, unter denen Mensch, Organisation und Gesellschaft sich bestmöglich entwickeln und aufblühen. Diese neue Forschungsrichtung hat in internationalen Befunden nun klar erwiesen, dass zwar rund die Hälfte des Glücksempfindens genetisch durch den Serotoninspiegel angelegt zu sein scheint, 40 Prozent des Glücks aber in unserem Verhalten und zehn Prozent in unserer Umwelt liegen. Und auf beide haben wir Einfluss: Wir bestimmen über unser Verhalten und im privaten Bereich auch über unser Umfeld, wodurch wir unseren Set Point verändern können.1

Und mehr noch: Neurowissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre zeigen deutliche Hinweise darauf, dass wir Glück wie eine Fähigkeit erlernen können. Richard Davidson, US-amerikanischer Neurowissenschaftler an der University of Wisconsin-Madison, brachte es in einem Interview in der Huffington Post auf den Punkt: »Wir betrachten Glück nicht wirklich als eine Fertigkeit, aber alles, was wir über das Gehirn gelernt haben, legt nahe, dass es nicht anders ist, als zu lernen, wie man Geige spielt oder lernt, oder in einem komplizierten Sport aktiv zu sein. Wenn du es übst, wirst du besser darin werden.«

Doch warum sollten wir Glück üben, Glück anstreben, wenn wir auch ganz gut so leben können? Wozu das ganze Wohlbefinden-Gerede? Wegen der vielen Vorteile, Nutzen und Nebeneffekte, die das Glück bringt. Hier die zentralen Erkenntnisse der internationalen, interdisziplinären positiv-psychologischen Forschung:

Glückliche Menschen

leben länger

haben ein stärkeres Immunsystem

einen besseren Schutz vor psychischen Belastungen

ein geringeres Stressempfinden und weniger Stresshormone im Blut

weniger Burn-out und Depressionen

haben längere und bessere Partnerschaften und Ehen

sind zufriedener mit ihrer Arbeit, produktiver und dadurch erfolgreicher

haben ein höheres Einkommen

helfen anderen mehr

haben mehr Freunde

Glück ist kein Geschenk der Götter, sondern die Frucht innerer Einstellung, sagte der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm einst. Das stimmt, sagt die heutige neurowissenschaftliche, positivpsychologische und Lehr-Lern-Forschung.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie in diesem Buch für sich selbst sowie für die Arbeit in Ihren Organisationen Impulse finden, die Sie stärken.

Gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung: Dieses Buch hat drei Ebenen: Forschungsbefunde, Assoziationen aus Musik, Geschichte und Literatur sowie autobiografische Passagen. Vor allem durch Letztere wurde es mein bisher persönlichstes Buch. Beim Schreiben habe ich mir vorgestellt, ich würde für einen guten Freund schreiben, der mich nach dem Stand der Forschung und meinen Erfahrungen damit fragt. Daher sind der Stil und auch die Inhalte ziemlich persönlich geworden, und ich habe mich entschlossen, Sie zu duzen. Ein anderer Grund für diese persönliche Anrede ist auch, dass neuere Forschungsbefunde nahelegen, dass es motivierender ist, uns selbst in Selbstgesprächen nicht zu ichzen, sondern zu duzen. In diesem Sinne und in Anlehnung an den griechischen Philosophen Demokrit: Das Glück wohnt nicht in deinem Besitz und nicht im Gold, das Glück ist in deiner Seele zu Hause.

Michaela Brohm-Badry

Trier, im Frühjahr 2019

Prolog

Ein Brot, einen Kaffee, und dann war plötzlich alles anders. Ich stehe vor dem Toaster und schaue aus dem Mühlenfenster in den Wald. Was für ein sonniger Tag! Wenn der Artikel fertig ist, gehe ich mit den Hunden in die Wildnis. Eine ruhige Vorfreude, ich kraule den Schäferhundmix. Nike, ab morgen wird es besser, ab morgen wird es wieder gut! Ab morgen, Nike! In dem Moment schießt mir jemand ins Gehirn. Es knallt. Ich taumele rückwärts in den Sessel der Essecke und fasse mir an die Schläfe. Wochen vorher hatte ich gelesen, dass sich ein Blindgänger aus der Waffe eines Jägers in eine Wohnsiedlung verfangen hat. Und nun hat es mich getroffen. Mein rechtes Auge zuckt nur noch, ich fasse an die Stirn, doch da ist kein Blut. Ich sacke im Sessel zusammen und bin auf dem Weg in ein anderes Universum.

Dabei hatte es so spektakulär schön angefangen. Von der nahenden Gefahr wusste ich da noch nichts, nichts darüber, welche Abgründe Menschen imstande sind auszuhalten, und auch nichts darüber, wie man das Glück findet.

1

Leben: Was wir wirklich brauchen

Es war das Jahr des Milans, und ich wollte hoch fliegen. Doch wer die Götter herausfordert, sollte sich warm anziehen. Später fragten mich Freunde, ob ich es bereuen würde, aber das war eben später. Und so stand ich mitten in der Wildnis zwischen zwei Flüssen und starrte auf die Wassermühle. Mein Auto voller Bücherkisten, mein Kopf voller Ideen, mein Hund rannte über die große Wiese zum Wasser. Es war sonnig, der Himmel blau, das grüne Eisentor zur Zufahrt schloss ich.

Hier war der Ort, nach dem man sich sehnt, wenn man dem Druck entkommen will.

Ein hörbares Ausatmen, obwohl bei der Schlüsselübergabe der Satz fällt: »Die versichert keiner mehr – da wird zu oft eingebrochen!« Natürlich hat mich das verunsichert, aber ich hatte einen Ruf als Lernforscherin an die Universität erhalten, wollte nun in aller Ruhe forschen und schreiben und hatte ja schließlich Nike bei mir – die griechische Siegesgöttin aus dem Tierheim, die so hieß, weil sie Brandwunden und anscheinend auch Schläge überlebt hatte. Wenn ich ein Streichholz anzündete, um den kanadischen Holzfällerofen anzufeuern, zuckte sie zusammen. Wenn ich die Hand hob, auch. Nike war bissig. Zweimal war ich mit ihr beim Tierarzt gewesen, um sie einschläfern zu lassen. Konnte es dann aber nicht. Halti, Hundetrainer, Maulkorb – das volle Programm.

Aber hier in der Wildnis konnte sie niemanden beißen, wir würden zur Ruhe kommen, sie könnte sich auf der riesigen Wiese neben der Mühle austoben und ich über meinen Forschungsschwerpunkt »Motivation« schreiben – wirksam in meinem neuen Beruf werden und vielleicht auch privat endlich glücklich. Oh Fortuna! Ich dachte, es sei ein idealer Ort für die nächsten Jahre.

Als ich an diesem sonnigen Herbsttag einzog, Fensterläden öffnete, Möbel rückte und Kiste für Kiste auspackte, zog es mich zwischendurch immer wieder über die marode Terrasse den Weg hinunter zum Wasserfall hinter dem Haus. Hier wurde der Strom erzeugt. Eine unbändige Freude überkam mich, in die sich aber auch ab und an Gedanken über die knallharten Winter hier im Hunsrück und die einsamen Nächte an diesem entlegenen Ort mischten.

Als Frau alleine in der Pampa mit einem mittelgroßen Schäferhundmischling … Ich versuchte mich durch den Gedanken zu beruhigen, dass die Mühle Teil einer großen Burganlage war, die rund einen Kilometer oberhalb auf dem Berg lag. Ein großer, bärtiger Trappertyp, Ewald, der Gutsverwalter der Burg, würde gelegentlich herkommen, um nach der Schleuse hinter dem Haus zu sehen, und hatte mir im entscheidenden Vorgespräch gesagt, ich solle mir wegen der Nächte keine Sorgen machen, er sei Tag und Nacht telefonisch erreichbar. Und falls ich nachts Einbrecher vermute, solle ich anrufen – er sei dann zügig mit dem Jeep da. Ich ging einfach davon aus, dass er, als Jäger, dann auch seine Knarre dabeihaben würde.

An jedem Ort erleben wir ein verändertes Ich, und an diesem Ort war ich voller Energie, denn die Mühle war sozusagen ein Motivationszentrum. Der Maklerin wollte ich schon absagen, hatte mich aber im letzten Moment doch dafür entschieden, es auszuprobieren – vielleicht, weil ich die Befunde der Risikoforschung kannte: Risiken einzugehen erzeugt diese leichte Spannung, die uns freudig stimmt und so das Wohlbefinden erhöht. Es ist das empfundene Risiko selbst, das uns diesen Reiz verleiht, uns unser Selbst neu probieren lässt und uns glücklich macht.

Zudem erhöht Risikofreude die Wahrscheinlichkeit für neue Chancen im Leben, und je offener wir Chancen tatsächlich wahrnehmen, desto größer ist die Möglichkeit, dass etwas davon auch tatsächlich als freudestiftend erlebt wird. Ein Risiko einzugehen erhöht schlicht die Wahrscheinlichkeit von Glück, denn vielleicht gefällt uns ja, was wir ausprobieren. Explizit nicht gemeint ist hier freilich selbstgefährdende Waghalsigkeit, denn die korreliert nicht mit Glück, sondern mit einem Vakuum an Intelligenz.

Entscheidend für genau diesen leicht risikoreichen Wohnort war auch, dass Nike und ich gerade heftige Zeiten in Norddeutschland hinter uns hatten: Bei einem Essen mit einer studentischen Projektgruppe in einer Pizzeria kam der im vollbesetzten Restaurant stark geforderte Kellner im schicken italienischen Maßanzug mehrfach zügig an den Tisch gesaust. Nike war seit Jahren lieb gewesen, und ich hatte sie mitgebracht. Nun aber lag sie unter dem Tisch und knurrte den Kellner gelegentlich leicht an. Ich wollte gehen, vertraute Nike einem meiner Lieblingsstudenten an und verschwand noch kurz auf die Toilette. Als ich zurückkomme, sehe ich, wie Nike unter dem Tisch hervorschießt. Ich schreie laut auf, aber es ist zu spät: Sie beißt den Kellner ins Bein. Ich ersetzte seinen Designeranzug; er zeigte mich Gott sei Dank nicht an. Aber nach dieser Beißattacke, einigen Telefonaten mit meiner Familie und einem tränenreichen Aufenthalt bei meiner Tierärztin entschloss ich mich, längere Spaziergänge mit ihr nur noch nachts auf menschenleeren Straßen zu machen.

Eingesperrt im dritten Stock einer mit Büchern, Klavier und Pizzakartons vollgestopften Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung, mit freiem Blick auf eine Prostituiertenwohnung im gegenüberliegenden Plattenbau, kam meine Psyche – und wahrscheinlich auch die von Nike – jenem Zustand bedenklich nahe, den Häftlinge manchmal erleben, wenn ihnen bewusst wird, dass sie die Türen nicht mehr öffnen können: eine Mischung aus Zwangsstörungen, Depression und Wutanfall – vom vorübergehenden Haftknall bis hin zur manifesten Haftpsychose. Manchmal mischt sich die Hoffnung auf Begnadigung mit diesen Symptomen – zuweilen gewendet in einen hartnäckigen Begnadigungswahn.

Monatelang hatten wir so im Begnadigungswahn gelebt: Ich am Schreibtisch zusammengesunken, mit der rechten Hand an der Tastatur und der linken Nikes Kopf kraulend.

Lust auf Lebenskraft

Manchmal sehnt man sich nach ruhigem Glück wie nach einem Menschen. Und man geht die Wände hoch vor Sehnsucht. Nähert man sich dann, wird man schneller und freudiger. Ich war am Tag der ersten Besichtigung vom Münsterland aus losgefahren, hatte das Ruhrgebiet und die Eifel durchquert. War in eine kleine Landstraße eingebogen und bergab durch sonnige Wiesen und gepflügte Äcker gefahren. Der weite Himmel, die schwere Erde. Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst. Dann weiter abwärts ins Tal, an roten Felswänden vorbei. Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus. Als ich in einen Landweg einbog und die Bäume eine Art Tunnel bildeten, lag sie plötzlich da – als flöge sie nach Haus. Die Maklerin hatte in der Einfahrt am Eisentor gewartet.

»Die Energie erzeugen Sie hier selbst«, sagte sie aufgeräumt und angenehm.

Wie wahr, dachte ich, verwirrt und abgehetzt. Hätte ich da schon gewusst, in welch starkem Maße sich das bewahrheiten würde, wäre mir das Blut in den Adern gefroren, denn ich würde verschiedene Arten von Energie finden – auch beängstigende.

Doch das war später, gerade standen die Maklerin und ich hinter der Mühle am Wasserfall, ich sah die fallende Ruwer, hörte das kraftvolle Rauschen und spürte, dass das hier Nikes und meine Begnadigung war: 7000 Quadratmeter Wiese inklusive zweier Flüsse. Keine Nachbarn, rechts von mir der wasserführende Kanal, links hohe Bäume, Wiese und Brunnen, geradeaus der Wasserfall, dahinter dieses Mühlenhaus – ein zweistöckiges weißes Gebäude mit roten Sandsteinrahmungen und grünen Läden um die Fenster. Erbaut 1750. Bachs Todesjahr! Ein Zeichen! (Kleiner Scherz, ich bin Wissenschaftlerin und glaube nicht an Zeichen, sondern an Zahlen.) In der Mitte der Wiese lag ein kleines Beet, das meine Vormieter, ein altes Ehepaar, angelegt hatten: einige Rosen, Buchsbäume und eine Thuja – ein Lebensbaum. Ein liebevolles Kleinod inmitten des Urwalds.

Vielleicht stand die Mühle auf römischem Grund, denn schon zu Hause hatte ich herausgefunden, dass die Mühlen im Ruwer-Tal des Hunsrücks hier schon seit Jahrtausenden stehen – spannend beschrieben vom römischen Dichter Ausonius 371 in seiner Mosella – einer wasserreichen Huldigung an die Mosel:

Und auch der reißende Kelbis (die Kyll),

der marmorberühmte Erubis (Ruwer)

Eilen mit dienendem Wasser sich bald in dein Bett zu ergießen

(gemeint ist die Mosel)

Weithin bekannt ist der Kelbis durch treffliche Fische,

Doch Erubis dreht die zermahlenden Steine der Ceres (Göttin der Feldfrucht)

in wirbelndem Schwunge,

Und durch die Glätte des Marmors bewegt er ächzende Sägen,

Dass ein beständiges Lärmen an jedem der Ufer er wahrnimmt.

Würden wir dem Flussverlauf von der Mühle aus Richtung Mosel folgen, würden wir eine Stelle finden, wo der blaue Marmor der Ruwer heute noch gesägt wird. Und die »trefflichen Fische« – Forellen – schwimmen auch hier im Mühlengraben, der das Wasser der Ruwer etwas oberhalb abspaltet, in den Graben zwängt, dadurch die nötige Wasserkraft erzeugt, an der Mühle vorbei in den Wasserfall führt, da, wo früher das Schaufelrad drehte, und unterhalb des Hauses wieder mit der Ruwer vereint.

Diese Mühle steht fast zweitausend Jahre später an ähnlicher Ruwer-Stelle, ächzt nicht mit Marmorsägen, sondern quietscht gelegentlich laut durch die Schleuse am Wasserfall hinter dem Haus; dort, wo der Strom erzeugt wird. Ein Brunnen liefert das Koch- und Waschwasser, das eine Pumpe in die Küche und das Badezimmer bringt. Die Mühle ist das, was heute viele Bauträger als visionär propagieren und durch Solaranlagen, Dämmungen, Energiespeicher und Regenwasserrückgewinnung schaffen wollen: Diese Mühle ist ein autarkes Haus.

Ein Mensch kann so autark, aus sich selbst heraus, kaum leben, aber abgemildert autonom, also selbstbestimmt in sozialer Verbundenheit, schon. Als die Umzugskartons und das Auto ausgeräumt, die Regale aufgestellt und eingeräumt waren, saß ich im ersten Stock auf einem Podest in dem Raum, in welchem wohl einst die Mühlsteine mahlten.

Das Podest war notwendig, weil ein Fenster dieses Raums zu hoch, das andere hingegen am Boden angebracht war – vielleicht waren es die ehemaligen Kornzugänge und -abgänge gewesen. Na, auf jeden Fall sah ich nun von meinem Schreibtisch aus in die Einfahrt und den Wald und Nike durch das untere Fenster in die gleiche Richtung. Seit Stunden lag sie so dort, schaute hinaus oder schlief. Gleich würden wir in den Wald gehen. Sie sagte mir, wann es dazu Zeit wurde. Sie hatte diese erstaunliche innere Uhr. Diese klare innere Zeit. Der griechische Gott der Zeit, auch der Lebenszeit, Chronos, verschlang, bis auf Zeus, alle seine Kinder, weil eine Vorahnung ihm sagte, sie würden ihm gefährlich werden …

Eigenwillige Gehirnwelten

Bis zum Aufbruch arbeitete ich an den PowerPoint-Folien für meine Lerntheorie-Vorlesung am folgenden Tag über das Gehirn und seine neuronalen Strukturen. Morgen würde ich Fotos zeigen, auf denen meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und ich Schritt für Schritt ein Schweinehirn sezieren. Daran würde ich die Struktur des Gehirns erklären – und war gespannt, ob meine Studierenden durch diesen didaktischen Zugriff Zugang zum Thema finden. Schluss- und Höhepunkt: das zermatschte Kleinhirn in der Petrischale; hoffentlich würde niemandem übel; der Hörsaal war frisch renoviert.

Als Lernforscherin hat mich das Gehirn schon immer fasziniert, denn es ist das Zentrum, bei dem alle Sinneseindrücke unserer Augen, Ohren, Geschmacksnerven, Hautempfindungen, Gefühlswallungen zusammenfließen, verarbeitet werden und zu Handlungsimpulsen führen. Und sinnvoll koordinieren kann es zudem. Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass das durch hundert Milliarden oder nach aktuellen Schätzungen gar eine Billion (1 000 000 000 000) Nervenzellen geschieht. Was für ein Organ!

Und: Das Gehirn ist der bestgeschützte Teil unseres Körpers. Zunächst der dicke Schädelknochen, dann die darunterliegende harte Hirnhaut, die das Ganze zusammenhält. Darunter zwei weichere Schutzhäute. Doch all das reicht zum Schutz noch nicht: Das ganze Gehirn schwimmt in Liquor, Liquor cerebrospinalis, um genau zu sein, einer Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit, einer Art Gehirnwasser, um es bei Erschütterungen abfedern zu können – eine Schutzfunktion, die bei Boxern leider auch nicht viel hilft, denn deren Gehirne knallen bei jedem harten Schlag durch den Liquorschutz an den Schädelknochen, weshalb manche schwere Hirnschädigungen davontragen: die chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE), die Gehirne löchrig werden lässt und zu aggressivem Verhalten, Gedächtnisschwund, Demenz und Depression führt. Heute wissen wir, dass diese Gefahr nicht nur für Boxer besteht, sondern sich im Grunde auf alle Kontaktsportarten bezieht, die harten körperlichen Einsatz fordern: American Football, Fußball, Rugby, Kampfsport usw. Die Häufigkeit von Gehirnerschütterungen und Schlägen auf den Kopf ist hier entscheidend.2

Erst unter den Schutzschichten aus Schädelknochen, einer harten und zwei weichen Hirnhäuten und sanft schwimmend im Liquor liegt das Gehirn mit seinen vier großen Bereichen: dem Großhirn, dem Kleinhirn, dem Zwischenhirn und dem Stammhirn.

Das Großhirn ist tatsächlich der größte Teil des Gehirns, und es ist das, was wir vor unserem inneren Auge sehen, wenn wir an das Gehirn denken: die wie eine Walnuss stark gefurchten beiden Hemisphären, die durch einen Balken miteinander verbunden sind und jeweils tendenziell spezifische Funktionen haben (obwohl aktuelle Befunde von weniger starren Zuordnungen ausgehen, als früher angenommen wurde).

Doch auf jeden Fall tendenziell kontrolliert die linke Hemisphäre die rechte Körperhälfte. In dieser Gehirnhälfte suchen wir nach den verbalen Anteilen, hier verarbeiten wir die Sprache und logische Strukturen, hier findet sich das rationale, analytische, angstausgerichtete Denken, die Detailspeicherung, das Zeitempfinden, das Denken in Regeln und Systemen, die Feinmotorik und Planung. Menschen, die bevorzugt in dieser Gehirnhälfte denken, werden in der Personalentwicklung oft locker als »Linkshirner« bezeichnet – objektives, analysierendes, zielführendes, also das sogenannte konvergente Denken ist demnach ihr Schwerpunkt.

Die rechte Hemisphäre macht genau das Gegenteil: Rechts wird unsere Kreativität aktiviert, auch die körperliche Koordinierung erfolgt von hier aus. Every man has a place, in his heart there’s a space, and the world can’t erase his fantasies – wie im Earth, Wind & Fire-Hit der Siebzigerjahre. Bilder, Intuitionen, Klänge, der Blick für das große Ganze, Symbole, Zeitlosigkeitsempfinden, Grobmotorik, Abenteuerlust, Spontaneität und das frei assoziative, imaginative Denken sind hier angelegt. Take a ride in the sky, on our ship, fantasize, all your dreams will come true right away – subjektives, divergentes Denken also. Come to see victory, in the land called fantasy. Die rechte Gehirnhälfte kontrolliert die linke Körperhälfte. Loving life, a new decree, bring your mind to everlasting liberty.

Weshalb Linkshänder einen kreativen Vorteil haben könnten, denn, so eine Studie der University of Birmingham, bei Linkshändern kann die Zuordnung der Funktionen anders verteilt sein als bei Rechtshändern.3 So suchen Rechtshänder in der rechten Gehirnhälfte nach dem Gesamtbild einer Situation und schalten bei Nutzung der Sprache in die linke Hälfte um, während es bei Linkshändern zu veränderten Zugriffen kommen kann. Darüber hinaus ist die rechte, kreative Gehirnhälfte bei Linkshändern häufig stärker ausgeprägt, was vielleicht ein Grund für den überproportional hohen Anteil an Linkshändern in kreativen Berufen ist. Bei den Listen prominenter Linkshänder in Kunst und Wissenschaft wünschte man sich fast, Linkshänder zu sein: Albert Einstein, Marylin Monroe, Paul McCartney, Karl Lagerfeld, Sir Peter Ustinov, Albert Schweitzer, Isaac Newton, Marie Curie – alles Linkshänder!

Einzelne Felder des Gehirns – als Rindenfelder bezeichnet – lassen sich bestimmten Verarbeitungsimpulsen zuordnen: Einige arbeiten eher mit dem, was wir hören, auditive Rindenfelder, andere leuchten auf, wenn wir tasten – sensorische Felder –, wiederum andere beim Sehen, Schmecken, Fühlen – sensorische, visuelle oder emotionale Felder. Allerdings ist unser Großhirn nicht besonders emotional eingestellt: Insgesamt wird es eher der Reflexion als dem emotionalen Impuls zugeordnet.

In der Tiefe des Großhirns eingebettet liegt das Kleinhirn, das bei Tieren oft stärker entwickelt ist als bei Menschen, denn es ist primär für Bewegung und das Gleichgewicht zuständig – was ja beim Fliegen, Fangen, Springen zentral ist.

Das Zwischenhirn gilt als Pforte zum Bewusstsein und besteht insbesondere aus Thalamus, Hypothalamus und Hypophyse – der wichtigen Hormondrüse des Körpers, sie vermittelt sensible und motorische Signale zum und vom Großhirn. Durch die Verbindung von Hormon- und Nervensystem ist das Zwischenhirn entscheidend beteiligt an zahlreichen körperlichen und psychischen Lebensvorgängen. Empfinden wir Schmerz, ist uns zu kalt oder zu warm, können wir vor Sorge oder Vorfreude nicht einschlafen: Das Zwischenhirn ist schuld.

Und schon sind wir beim stammesgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns: dem Stammhirn oder Reptiliengehirn. Es ist der am tiefsten verborgene, untere Gehirnabschnitt, der dann aktiv wird, wenn die Sinneseindrücke ihm sagen, dass es um schnelle, reflexartige Reaktionen oder automatische Körperfunktionen geht: Unsere Atmung wird hier gesteuert, der Stoffwechsel, Lidschluss, das Schlucken, Husten und schließlich: der Herzschlag. Also alles, was zum Leben notwendig ist. Mit Beginn des Lebens von Wirbeltieren (Reptilien und Säugetieren) auf der Erde entstand wohl diese Hirnregion vor rund fünfhundert Millionen Jahren. Dieser Teil funktioniert bis zum letzten Atemzug.

So ist es eben möglich, dass die reflektierenden, logischen Areale des Großhirns beispielsweise bei Alzheimerpatienten immer weniger funktionieren, während das tief sitzende Stammhirn mit Atmung und Herzschlag noch voll funktionsfähig ist – und ich weiß, wovon ich spreche; mein Vater litt mehr als zehn Jahre unter Alzheimer.

Nach Schätzungen von Alzheimer’s Disease International sind zurzeit weltweit 46,8 Millionen Menschen von Demenz betroffen, und jedes Jahr werden rund 7,7 Millionen Neuerkrankungen diagnostiziert. In Deutschland gibt es derzeit rund 1,55 Millionen Demenzerkrankte, wobei der überwiegende Anteil Alzheimer hat. Die Vorstellung, Demenz oder Alzheimer zu bekommen, macht Angst. Besonders beängstigend ist, laut dem Online-Portal Statista, dass es »jeden treffen kann« (79 Prozent). Und dass »die Krankheit bisher unheilbar ist« (69 Prozent) und man dann »auf die Pflege von anderen Menschen angewiesen ist« (68 Prozent).4 2010 gab es 350 Millionen Pflegebedürftige weltweit, 2050 werden es voraussichtlich rund 614 Millionen sein. Jeden kann es treffen. So viel zum Pflegenotstand.

Das müsste als Stoff für die Vorlesung am folgenden Tag reichen. Ob ich morgen von meinem Vater erzählen würde, wusste ich noch nicht, meine persönlichen Erlebnisse erzähle ich den Studierenden immer dann, wenn ich in der Lehrsituation empfinde, dass es in Ordnung, ja vielleicht sogar angebracht ist, die Verbindung zum Leben da draußen herzustellen. Wie die Interaktion der Neuronen beim Lernen genau funktioniert, werde ich meinen Lehramtsstudierenden in der nächsten Vorlesung zeigen.

Was Glück und Freiheit verbindet

Später am Nachmittag arbeitete ich an einem Artikel über Motivation, ohne zu wissen, wie stark ich bald in meinem eigenen Leben den Zusammenhang von Gehirnfunktionen und Motivation erleben würde. Irgendwann würde ich dieses phänomenale Motivationsbuch schreiben – ganz sicher. Aber zunächst waren da noch einige kleinere Artikel für Konferenzbände oder Zeitschriften.

Ich recherchierte zu einem Beitrag über »Autonomie«, blickte ab und an aus dem Fenster in den Wald und hatte die ganze Zeit Marius Müller-Westernhagens »Freiheit« im Kopf, »Freiheit, Freiheit, ist das Einzige, was zählt«, seine Hymne, die er zum Mauerfall am Brandenburger Tor gesungen hatte, in etwa zeitgleich mit dem wundervollen Humanisten und Cellisten Mstislaw Rostropowitsch, der neben der fallenden Mauer im November 1989 Bachs erste Cello-Suite spielte. »Freiheit, Freiheit, ist das Einzige, was zählt.« Politisch sowieso, aber auch motivationstheoretisch liegt Westernhagen ziemlich richtig, denn Autonomie, also Freiheit, gilt als zentrales Bedürfnis, das befriedigt sein muss, um voller Lebenskraft sein zu können.

Autonomie meint den Zustand freier Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit. Seit dem Urvater der Motivationsforschung, dem US-amerikanischen Psychologen Henry Murray5, wissen wir, dass Autonomie ein need – ein starkes, nach Befriedigung drängendes Grundbedürfnis – ist. Denn Freiheit stimuliert die Motivation, ja Motivation ist geradezu ein Kind der Freiheit, weil Freiheit uns ermutigt zu wachsen, weil sie uns ermöglicht, uns den Herausforderungen offen für neue Erfahrungen zu stellen, weil wir uns selbst nur in selbst gewählter Handlung als kompetent wahrnehmen. Weil sie Freude und Prosperität für Mensch, Organisation und Gesellschaft bringt.

Niemand kann zu einem erfüllten Leben gezwungen werden. Niemand kann zu Hoffnung und Wohlbefinden gezwungen werden, niemand dazu, ein engagiertes Leben zu führen, Beziehungen einzugehen und zu halten, sinnerfüllt, erfolgreich oder froh zu sein. All dies fußt auf der Freiheit. Der Freiheit beispielsweise, sich auf die Hoffnung zu fokussieren statt auf die Angst. Der Freiheit, motiviert das Leben anzugehen, der Freiheit, sich einzulassen auf Menschen, nach dem Sinn des eigenen Tuns zu suchen, und schließlich der Freiheit, zu wollen, dass das erfolgt, was man sich vorgenommen hat – also der Freiheit, erfolgreich zu sein. Und damit meist auch glücklich.

Glück kreist demnach, wie die Motivation auch, um die freie Entscheidung, zu wollen, zu denken, fühlen und zu tun, was das Leben lebenswert werden lässt. Vielleicht hast du recht, wenn du jetzt einwendest, die Welt sei aber gar nicht so positiv, das Leben sei ein immerwährender Kampf oder der Mensch des Menschen Pfahl im Fleische – wie Jean-Paul Sartre schrieb. Mag sein, aber das spielt keine Rolle. Menschen mit hohem Wohlbefinden sehen die Welt einfach nur in einer Art und Weise, die das Leben für sie selbst und ihre Familie, Freunde und Kollegen lebenswerter macht.

Letztendlich ist die Welt nicht so oder so, unsere Perspektive auf die Welt macht sie so oder so. Negative Menschen fokussieren sich auf das, was sie in ihrem Leben ablehnen. Frohe Menschen auf das, was sie an ihrem Leben lieben. Und die Freiheit, diese Perspektive selbst wählen zu können, ist eine innere Freiheit, die unabhängig vom Lebenskontext existiert. Die philosophische Perspektive des »Konstruktivismus« treibt diese Erkenntnis auf den Höhepunkt: Es gibt, so der Begründer der Theorie, der irisch-US-amerikanische Philosoph Ernst von Glasersfeld, gar keine Realität außer dem Einzelfaktum. Alles, was wir sehen und wahrnehmen, entsteht durch unsere innere Konstruktion: Wir konstruieren unsere Realität. Derselbe Wald ist für Jäger, Wanderer, Biologen, Waldarbeiter oder Liebende völlig verschiedenartig hinsichtlich der Wahrnehmung – von der Schlachtplatte bis zum lauschigen Unterholz … Jeder sieht andere Möglichkeiten in dem Wald. Für jeden ist der Wald anders. Jeder hat eine andere Wirklichkeit.

Menschen machen sich demnach nur ein Bild von der Wirklichkeit. Unsere Wahrnehmungen bilden demnach nicht die Wirklichkeit ab, sondern unser Gehirn verarbeitet stattdessen die äußere Realität, indem sie abgeleitet aus den wahrgenommenen Sinnesreizen eine Realität konstruiert, die zu bereits zuvor gemachten Wahrnehmungen passen.

Passung (der fit) ist demnach das wichtige Element bei der Deutung unserer Wahrnehmungen, indem sie Passungen zu bereits vorhandenen Erfahrungen und Wahrnehmungen abgleicht. Aus konstruktivistischer Perspektive leben wir daher nicht in Erkenntnis einer »objektiven« Wirklichkeit, sondern ordnen und organisieren unsere Erfahrungen zu unserer eigenen Erlebniswelt.

Pädagogik und Psychologie haben diese Gedanken aufgenommen und sind in zahlreichen Forschungsbefunden zu dem Schluss gekommen, dass eine Menge Wahrheit in den Anschauungen der Konstruktivisten liegt. »Man braucht in der Tat gar nicht sehr tief in das konstruktivistische Denken einzudringen«, so Glasersfeld, »um sich darüber klar zu werden, dass diese Anschauung unweigerlich dazu führt, den denkenden Menschen und ihn allein für sein Denken, Wissen, und somit auch für sein Tun, verantwortlich zu machen.« Heute, so folgerte er 1981, da alle Verantwortung auf die Umwelt (Behaviorismus) oder die Gene (Sozialbiologie) abgewälzt werde, sei »eine Lehre ungemütlich, die andeutet, dass wir die Welt, in der wir zu leben meinen, uns selbst zu verdanken haben«.

Die Welt, in der wir zu leben meinen, uns selbst zu verdanken haben … Der Mensch wird hier quasi als sich selbst erschaffendes – autopoetisches – System verstanden. Welche radikalen Impulse birgt diese Einsicht für die eigene Gestaltung der Gedanken- und Erlebenswelt? Was bedeutet das für unser Leben, für unser Lernen, unsere Schulen, Hochschulen, unsere Arbeit?

Der österreichisch-US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut Paul Watzlawick erläutert das am Beispiel der Psychotherapie: Auch konstruktivistische Psychotherapeuten geben sich nicht der Illusion hin, sie könnten dem Patienten eine reale Weltsicht vermitteln. Der Konstruktivismus sei sich vielmehr bewusst, »dass die neue Weltsicht nur eine andere Konstruktion, eine andere Fiktion ist und sein kann – allerdings eine nützliche, weniger schmerzliche«.

Die Freiheit, uns eine nützliche, weniger schmerzliche Weltsicht zu verabreichen, steht uns zu. Und ganz sicher ist die autonome Selbstgestaltung der Innenwelt keine Frage des »Dürfens«. Denn dieses Dürfen muss gesichert sein, wenn wir wirklich frei entscheiden wollen. Dieses Dürfen ist die Grenze zwischen dem Selbst und dem Selbst der Einheiten, denen wir angehören: der Partnerschaft, der Familie, der Arbeitsgruppe, der Organisation, der staatlichen oder überstaatlichen Einheit. Die Grenzziehung des Dürfens entscheidet über das Maß der Freiheit, wobei Willensfreiheit auch das gelegentliche Überschreiten dieses Dürfens einschließt.

So schrieb ich und schrieb. Nike kam irgendwann zu mir, setzte sich auf dem engen Podest neben meinen Schreibtisch und starrte mich an. Mehr nicht. Wenn sie was wollte, starrte sie nur. Würde sie wissen, was uns am folgenden Tag erwartete, würde sie vielleicht anders schauen. Nike, morgen passiert was Schönes. Ja? Aber heute noch nicht, komm jetzt. Sie starrte nur. Es war eine Fixierung, die mir bei unserer ersten Begegnung im Tierheim einen kalten Schauer über den Rücken trieb, mich aber, ermuntert durch einen Tierpfleger, nicht abschreckte. Später nagelte sie mit diesem Blick meinen muskulösen Schwager zwei Stunden auf seinem Küchenstuhl fest, als ich mit meiner Schwester in der Stadt shoppen war. Er saß versteinert da und wagte keine Regung. Nike fixierend vor ihm. Später wusste ich, was sie meinte, wenn sie so starrte: Sie meinte gerade, dass es nun Zeit ist, in die Wälder zu gehen. Frei. Ja, wir gehen jetzt, Nike. Auf einen Zettel kritzelte ich noch kurz das gefundene Perikles-Zitat (um 450 v. Chr.): Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.

Den würde ich in den nächsten Monaten brauchen, denn die Telefongesellschaft hatte mitgeteilt, dass das Telefon mittelfristig nicht angeschlossen werden könnte, da die Leitung irgendwo im Wald gerissen war. Und der Handyempfang? Na ja. Auf jeden Fall konnte ich Ewald, den Trapper von der Burg oberhalb der Mühle, gar nicht nachts anrufen. Ich wusste nicht wirklich, was auf mich zukam.

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Leidenschaft für Leben und Leistung: Wie wir Energie erzeugen

Leidenschaftlich leben beflügelt

Freiheit ist somit eine starke Basis des Glücks. So besang ich, trotz allem, innerlich meine 7000-Quadratmeter-Freiheit und spielte am offenen Mühlenfenster Klavier. Schläft ein Lied in allen Dingen. Las auf der sonnigen Terrasse, die da träumen fort und fort, joggte mit Nike durch finstere Wälder, prasselnden Regen oder über sonnige Höhen, schrieb oder saß spätabends mit ihr und einem Rotwein neben dem Lagerfeuer am Fluss, und die Welt hebt an zu singen. Es war ein lebendiges, leidenschaftliches, ein volles Leben – triffst du nur das Zauberwort.

Lesen, schreiben, reisen, musizieren, lieben, leben, lernen: Leidenschaft! Schon Dichter und Denker beschworen die Schöpfungskraft der Leidenschaft, erfolgreiche Menschen sind leidenschaftlich, sagt die Motivationsforschung. Ohne Leidenschaft ist alles nichts, sagen manche. Ohne Leidenschaft geschieht nichts Großes in der Welt, sagte Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Ohne Leidenschaft ist das Leben weniger lebenswert, sagt die positivpsychologische Forschung, denn Leidenschaft hat eine ungeheure Kraft: Sie lässt uns die Schwingen ausbreiten und abheben. Sie beflügelt. Nothing is as important as passion. No matter what you do with your life, be passionate. Jon Bon Jovi. Oder schlicht: Nothing compares to you.

Leidenschaft ist neben der Freiheit die zweite Säule des Glücks, und die meisten Menschen sind in Bezug auf irgendetwas leidenschaftlich: In internationalen Befragungen konnten zwischen 75 und 85 Prozent der Befragten eine Leidenschaft nennen – oft gar mehrere, denn eine Leidenschaft zu haben befreit offenbar die Energie auch für andere Aktivitäten. In unserer 2018 durchgeführten Online-Studie mit 175 Teilnehmern wurden 518 Leidenschaften genannt, im Schnitt hatte also jeder rund drei Leidenschaften, in sinkender Reihenfolge: Lesen, Serien und Filme schauen, Freunde treffen, Sport, Musizieren, Videospiele, Joggen, Kochen, Fitness, Musik hören, Handarbeiten, Yoga, Schwimmen, Spazierengehen, Singen, Wandern, Reiten, Schreiben, Radfahren, Aktivitäten mit dem Hund, Bouldern, Fremdsprache lernen …

Ein großer zugewandter Mann mit wachen Augen, Brille und sorgsam rasiertem Bart beschäftigt sich seit Jahrzehnten leidenschaftlich mit der Leidenschaft: der kanadische Psychologe Robert Vallerand. Er gilt inzwischen als weltweit führend auf diesem Gebiet und bereicherte die Forschung durch Befunde, die uns einen völlig neuen Blick auf dieses spannende Phänomen werfen lassen.

Leidenschaft ist, so Vallerand, eine

1.starke Neigung in Richtung einer

2.selbst gewählten Aktivität, die sich auf

3.ein Objekt, eine Person oder Haltung bezieht, die wir

lieben,

wertschätzen,

in die wir Zeit und Energie investieren

und die Teil unserer Identität ist.

Ich habe beispielsweise eine starke Neigung zum Schreiben (1), habe mir das selbst ausgesucht (2), liebe, wertschätze meine Schreibzeiten, stecke viel Zeit und Energie in die Arbeit an Artikeln, Blogs und Büchern und fühle mich gut damit, dass auf meiner Website steht, dass ich Autorin bin (3). Passt also. Gut! Obwohl immer eine Gefahr mitschwingt, von der ich damals noch viel zu wenig wusste: Vallerand und seine Kollegen und Kolleginnen fanden, »dass es zwei Arten von Leidenschaft gibt, obsessive und harmonische, die unterschieden werden können in Bezug darauf, wie die leidenschaftliche Aktivität in das eigene Selbst oder die eigene Identität verinnerlicht wird … Es gibt einen wichtigen Unterschied darin, wie genau die Aktivität in der eigenen Identität verinnerlicht wird.«

Wir können also mit Vallerand von einem dualistischen Modell der Leidenschaft ausgehen, und die entscheidende Frage scheint diesbezüglich zu sein: Wie haben wir uns die Leidenschaft zu eigen gemacht? Auf welche Art und Weise haben wir sie in unsere Persönlichkeit verinnerlicht, also internalisiert? Und ob dieser Internalisationsprozess oder auch Introjektionsprozess autonom oder kontrollierend stattgefunden hat. Hat man selbst diese Leidenschaft im Lauf der Zeit frei gefunden und entwickelt, ist sie autonom gewachsen. Kontrollierte Internalisierung ist das glatte Gegenteil.

Vielleicht erinnerst du dich an die Berichte über die chinesische »Tiger Mum« Amy Chua, die vor einigen Jahren durch die Presse ging, weil sie in einem Buch ihre Methoden beschrieben hatte, mit denen sie ihre Töchter zu »Siegern« erziehen wollte. Als eine ihrer Töchter beispielsweise nicht vier Stunden am Tag Klavier üben wollte, drohte die »Tiger Mum« ihr damit, ihre Plüschtiere zu verbrennen …

Mutter, Vater, Freunde, soziales Prestige, sozialer oder innerer Druck, Karriereoptionen (»Ich muss das jetzt machen, sonst werde ich es beruflich nicht weit bringen!«), Selbstwertprobleme oder die Leidenschaft selbst haben sich bei kontrollierter Internalisation so sehr aufgezwungen, dass man diesen Persönlichkeitsanteil sozusagen unter Zwang verinnerlicht hat. Verinnerlichter inter- und/oder intrapersonaler Druck also. Dasselbe geschieht auch, wenn das Verlangen nach einer Aktivität so stark wird, dass es unkontrollierbar erscheint: Die Leidenschaft entwickelt sich als obsessive Leidenschaft, und der Mensch fühlt sich verpflichtet oder gezwungen, der Aktivität nachzugehen. Im schlimmsten Fall endet das im Suchtverhalten.

Frau Chua versuchte wohl eine deutlich zwanghafte Internalisierung des Klavierspiels bei ihrer Tochter. Und je nachdem, auf welche Weise man den Internalisationsprozess durchläuft, entstehen eben diese zwei unterschiedlichen Formen von Leidenschaft:

Obsessive Leidenschaft wächst, wenn die Aktivität kontrollierend, zwanghaft in die Persönlichkeit integriert wird.

Harmonische Leidenschaft wird hingegen in autonomer, freier, selbst gewählter Art in die Persönlichkeit integriert.

Und diese Arten der Leidenschaft fühlen sich völlig verschieden an: Obsessive Leidenschaft ist ein starkes Verlangen, sich der Aktivität zu widmen, die schließlich außer Kontrolle geraten kann. Die Person hat den Eindruck, sich nicht selbst helfen zu können – die Leidenschaft muss ihren Lauf nehmen (»Schatz, kommst du jetzt schlafen?« – »Ja, gleich, gleich …«). Obsessive Leidenschaft ist nur mangelhaft internalisiert und hat wenig Zugang zu adaptiven, also integrierenden erlernten Selbstwachstumsprozessen. Darüber hinaus schürt obsessive Leidenschaft Konflikte innerhalb des Menschen (»Ich sollte mal wieder mit den Kindern spielen«) und hinsichtlich anderer Lebensaktivitäten (»Wir sollten mal wieder Freunde einladen«). Auch führt sie in negative emotionale Konsequenzen und starre Beharrlichkeit.

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Wohltuende und zerstörerische Form der Leidenschaft

Der weltbekannte chinesische Pianist Lang Lang schildert in einem Interview in der Zeit, wie solche Prozesse verlaufen:

»Für die Aufnahme in das Konservatorium nahm ich Unterricht bei einer Lehrerin, die ich Professor Zornig nannte. Sie war furchtbar kalt, kritisierte mich, schrie mich an. Meine Angst war so groß, dass sie mein Spiel lähmte. Lehrer dürfen streng sein, sehr streng sogar. Aber sie dürfen ihren Schülern die Freude an der Musik nicht nehmen …«

ZEIT: Was haben Sie von der schwarzen Pädagogik, von Lehrern wie Professor Zornig gelernt?

»Nur eines: Ein schlechter Lehrer nimmt dir jede Freiheit. Für Professor Zornig gab es nur Schwarz oder Weiß – und wenn du dich für Weiß entscheidest, machst du alles falsch. Das ist Gehirnwäsche.«

ZEIT: Sie wollten damals mit dem Klavierspielen aufhören.

»Ja. Weil ich in meiner Musik keine Liebe mehr finden konnte. Es gab nur noch Hass.«6

Es gab nur noch Hass … Harmonische Leidenschaft fühlt sich hingegen vollkommen anders an: Harmonische Leidenschaft nach Vallerand »führt Menschen dazu, sich für die Aktivität, die sie lieben, zu entscheiden. Es wird davon ausgegangen, dass sie hauptsächlich zu adaptiven (integrierenden, erlernbaren) Outcomes führt.«

Der Mensch im Zustand harmonischer Leidenschaft

hat ein starkes Verlangen nach der Aktivität, die kontrollierbar ist,

kann wählen, wann diese Aktivität ausgeübt wird und wann nicht: empfindet einen inneren locus of control (»Schatz, kommst du jetzt schlafen?« – »Ja, ich schreibe nur noch diese Folie fertig.«),

hat die Aktivität autonom internalisiert und hat damit Zugang zu adaptiven Selbst-Prozessen,

erfährt die Aktivität in Harmonie mit der Identität der Person, mit anderen und mit anderen Lebensaktivitäten,

übt die Leidenschaft um ihrer selbst willen aus und nicht wegen etwaiger Bedingungen (soziales Prestige, Karriere etc.)

wird in positive emotionale Erfahrungen, flexible Beharrlichkeit und Selbstwachstum geführt.

Das Selbstwachstum wird durch die permanente Vertiefung in die Tätigkeit erreicht, was wiederum Flow-Erfahrungen begünstigt. Leidenschaftliche Menschen wollen im Flow bleiben – und wachsen dadurch fortwährend weiter, so wie Albert Einstein, der über sich sagte: »Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.« So entsteht Expertise, so wächst über das Selbstwachstum Meisterschaft.

Die Schweizerin Esther Staubli, die erste Frau, die im Oktober 2017 als Schiedsrichterin ein U17-Spiel der Männer bei einer Weltmeisterschaft leitete, schildert in einem Interview genau dieses Selbstwachstum: Sie habe »eine große Leidenschaft gefunden … Es ist immer wichtig, Ziele zu haben. Dann weißt du, warum du jeden Tag so hart arbeitest. Aber wir sollten nie die Leidenschaft für das Schiedsrichterwesen verlieren. Wenn der Tag kommt, an dem ich Leidenschaft nicht mehr spüre, oder wenn der Tag kommt, an dem ich das perfekte Spiel mache und mich nicht mehr verbessern kann, werde ich sofort meine Karriere beenden. Aber im Moment brennt das Feuer noch genauso wie am Anfang … Erfolg kommt von harter Arbeit. Also arbeite ich hart und hoffe, gesund zu bleiben.«7