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Titelei
Inhaltsverzeichnis
TEIL 1: Die Puzzleteile
Die Bibel als Puzzle
Wie sehen die Puzzleteile aus? Ein Manuskript
Deutung der Puzzleteile: Einen Text lesen
Die Büchermenschen
TEIL 2: Die großen Manuskripte des Neuen Testaments
Das Manuskript mit dem falschen Namen: Codex Alexandrinus
Das Manuskript mit unsichtbarer Schrift: Codex Ephraemi Rescriptus
Das freie Manuskript: Codex Bezae Cantabrigensis
Welche Bücher lasen die ersten Christen?
Das Manuskript im Kloster: Codex Sinaiticus
»Die Menschen zogen ihre Hüte …«
Der Manuskriptschatz in der Mauer
Das Mysterium des handgeschriebenen Briefes
Das Manuskript in der Vatikanischen Bibliothek: Codex Vaticanus
»Lass das Alte stehen!«
Ein tiefer Einschnitt: die diokletianische Verfolgung
Wurden die vier Evangelien ausgetauscht?
TEIL 3: Eine neue Ära alter Manuskriptfunde
Das Papyruszimmer in Oxford
Die Manuskripte im Müllhaufen
Das Miniaturbuch aus Ägypten: Papyrus 62
Die ersten großen Papyrusmanuskripte: die Chester Beatty-Funde
Das erste große Evangelienbuch: Papyrus 45
Die erste Briefsammlung: Papyrus 46
Die Klöster in der Wüste Ägyptens
Die Manuskripte mit apokryphen Evangelien: der Nag Hammadi-Fund
Die Manuskripte unbekannter Herkunft: die Bodmer-Funde
Ein unbekannter Manuskriptfund
Langsam fügen sich die Puzzleteile zusammen
Woher stammen die Manuskripte?
Das älteste Evangelienbuch: Papyrus 66
Das Manuskript, das einem Mythos ein Ende setzte: Papyrus 75
Das Manuskript in der Restekiste: Papyrus 52
Die Schokoladenpuddingmethode
Wie bestimmt man das Alter eines biblischen Manuskripts?
Die am besten belegte Schriftsammlung der Antike
TEIL 4: Die Manuskripte des Alten Testaments
Lebendige Bücher
Die Krone von Aleppo
Ein noch dunkleres Geheimnis
Heilige Schriften in einer atheistischen Stadt: Der Leningrad-Codex
Was hat es mit den Schriftrollen vom Toten Meer auf sich?
TEIL 5: Das Puzzle legen
Textausgaben und ihre Unterschiede
Erasmus und der erste griechische Text
Wie viele Unterschiede weisen die Manuskripte auf?
Wie groß sind die Unterschiede zwischen den Manuskripten?
The number of the beast und andere Varianten
Die 25 größten Unterschiede
Was ist mit dem Ende des Markusevangeliums passiert?
Was wurde aus der des Ehebruchs überführten Frau?
Wenn ein Buchstabe viel zu sagen hat: Majuskel 0220
Das nie gefundene Manuskript: Q
Das Puzzle: eine Geduldsprobe
Wie soll das Puzzle zusammengesetzt werden?
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Impressum

TEIL 1:
Die Puzzleteile

Die Bibel als Puzzle

Ein Puzzle mit wenigen Teilen zu legen, ist leicht, wird jedoch ziemlich schnell langweilig. Viel spannender ist es, wenn es Tausende von Teilen sind. So wie bei dem Puzzle namens »Bibel«. Mit dem Fund der Schriftrollen vom Toten Meer stehen den Forschern des Alten Testaments für ihre Studien zweihundert neue Manuskripte zur Verfügung. Und was das Neue Testament betrifft, so wurden allein in den vergangenen einhundert Jahren fast zweitausend neue Manuskripte gefunden. Noch immer versuchen die Forscher festzustellen, wie alt sie sind, und herauszufinden, welchen Text sie enthalten und wie er zu bewerten ist. Welche Texte sind den vor zweitausend Jahren niedergeschriebenen am ähnlichsten?

Leider stehen uns nicht alle Teile zur Verfügung. Die allerersten Manuskripte, die die Apostel und Evangelisten einst mit der Feder festhielten, existieren nicht mehr. Sie wurden durch langen Gebrauch oder im Zuge von Bränden, Kriegen und Verfolgung zerstört. Das gleiche Schicksal ereilte im Lauf der Geschichte Tausende anderer Manuskripte. Die heute vorliegenden Exemplare sind lediglich ein kleiner Bruchteil aller, die einst existierten. Was ist mit den anderen geschehen?

Von den erhaltenen Puzzleteilen passen einige scheinbar nicht zusammen. Kein Manuskript gleicht komplett dem anderen. Manche unterscheiden sich sogar stark voneinander. Wie kann plötzlich in Psalm 145 des Alten Testaments ein neuer Vers auftauchen? Warum ist das letzte Kapitel des Markusevangeliums in vielen Manuskripten um zwölf Verse länger? Woher kommt im Johannesevangelium die Erzählung von der des Ehebruchs überführten Frau? Und wie kam es zu den vielen kleinen Unterschieden in der Schreibweise von Wörtern und Sätzen? Das sind einige der Fragen, auf die Forscher seit Hunderten von Jahren Antworten suchen.

Die Unterschiede zwischen den Manuskripten sind eine Goldgrube für alle Liebhaber von Verschwörungstheorien. Viele fragen sich, ob die Texte über die vielen Jahrhunderte des Kopierens hinweg willentlich verändert wurden. Kann es sich gar um Fälschungen handeln? Hat ein römischer Kaiser große Teile der Bibel ganz einfach ausgetauscht? Ist es überhaupt möglich zu wissen, was in den ursprünglichen Texten gestanden hat? Die Textgeschichte der Bibel ist von vielen derartigen Gerüchten umgeben. Welche davon sind wahr und bei welchen handelt es sich um moderne Fiktion?

Manuskriptfunde haben von jeher die Fantasie der Menschen angestachelt. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn moderne Krimiautoren die Entdeckung alter Manuskripte als Grundlage für ihre Bücher verwenden. Wo Kriminalromane jedoch erfundene Geschichten erzählen, berichtet dieses Buch von realen Ereignissen – die ab und an die Fantasie übersteigen. In der Textgeschichte begegnen wir Käufen und Verkäufen, die kein Tageslicht vertragen, Funden, die an den unwahrscheinlichsten Orten gemacht wurden, und Manuskripten, die im letzten Moment vor der Zerstörung gerettet wurden. In diesem Buch erfahren Sie, wie alt die ältesten Manuskripte der Bibel sind, welche Vorgeschichte sie haben und wie sie in den letzten Jahrhunderten wiederentdeckt wurden.

Heutzutage haben wir Zugang zu einer Unmenge an alten Manuskripten. Sie liefern den Beweis für die frühe Existenz und Nutzung der biblischen Bücher. Aber wie weit zurück in die Zeit führen uns die Manuskripte? In diesem Buch werden wir uns Stück für Stück in die Geschichte zurückarbeiten. Los geht es am Übergang von der Antike zum Mittelalter.

Wir beginnen mit dem Neuen Testament. Wie nah kommen wir der Zeit der Apostel? Sind möglicherweise Manuskripte zu finden, die bis ins 4.Jahrhundert zurückreichen oder noch weiter? Kurzum, wie weit zurück in der Zeit gelangt man? Dieses Buch präsentiert die wichtigsten und ältesten Manuskripte dieser Textgeschichte.

Im weiteren Verlauf werden wir die Manuskripte des Alten Testaments näher betrachten. Davon gibt es weniger, jedoch sollen die wichtigsten hier vorgestellt werden. Bei ihnen ist der zeitliche Abstand in der Geschichte noch größer als bei jenen des Neuen Testaments. Wie weit zurück können wir ihnen folgen? Wie wichtig sind die berühmten Schriftrollen vom Toten Meer? Und was wurde aus den verschwundenen Bögen eines alten Manuskripts aus Aleppo?

Dieses Buch ist weder eine vollständige noch eine wissenschaftliche Einführung in die Textgeschichte der Bibel. Vielmehr handelt es sich um eine einfache und populärtheologische Darstellung, die einige Kostproben eines vielfältigen und spannenden Fachgebietes offeriert. Wer sich detaillierter in das Fachgebiet einlesen möchte, kann die Literaturliste im Anhang als Ausgangspunkt nutzen.

Aber lassen Sie uns zuerst das Wort »Manuskript« ein wenig genauer unter die Lupe nehmen, da es uns in diesem Buch immer wieder begegnen wird. Was bedeutet dieses Wort?

Wie sehen die Puzzleteile aus? Ein Manuskript

Josef ist müde. Der Schilfstift kratzt über den groben Papyrus. Mehr und mehr neigen sich die kantigen Buchstaben nach rechts, ebenso sein Kopf. Es ist nur noch ganz wenig übrig, dann ist er fertig. Sein Nacken ist steif, seine Augen schmerzen. Das Öl in der Lampe ist fast aufgebraucht. Jetzt gilt es, die letzten Zeilen fertigzukriegen. Erneut taucht er den Schilfstift in das Tintenfass und schreibt die letzten Worte des Buches: »… Ihnen allen verkündete er, wie Gott jetzt seine Herrschaft aufrichtet, und lehrte sie alles über Jesus Christus, den Herrn – frei und offen und völlig ungehindert.« (Apg 28,31)

Endlich kann er den Stift beiseitelegen. Er dehnt den Nacken, beugt den Rücken nach hinten. Es ist das umfangreichste Buch, das er bisher geschrieben hat. Er lässt die Finger über den Stoß Papyrusbögen gleiten. Einhundertzwölf große Bögen sind es geworden. Wie viele Abende hat er an dem Buch gearbeitet? Er hatte aufgehört zu zählen. Alles, woran er denken konnte, war, dass es rechtzeitig fertig werden musste – für den großen Tag, der in einigen Stunden beginnen würde. Genauso wie die anderen Gemeinden im Tal brauchte selbstverständlich auch seine ein großes Buch mit allen vier Evangelien. Am nächsten Tag sollte es geweiht werden.

Dieses Mal hatte er nicht nur eines der heiligen Bücher schreiben sollen, sondern alle vier. Sie sollten in einem großen Papyrusbuch Platz finden. Und nicht nur das: Auch das große Buch über das Tun der Apostel sollte ein Teil davon sein. »Das macht den Menschen so viel Mut«, hatte Vater Anatolios gesagt. »Und wenn wir in unserer jungen Gemeinde etwas brauchen, dann ist es der Mut und die Stärke der Apostel, die hinausgingen und vom Herrn Jesus verkündeten.« Der Alte hatte gelächelt und Josef auf die Schulter geklopft.

»Du darfst nicht vergessen, dass wir nicht viele wie dich haben«, hatte er gesagt. »Jetzt, wo der alte Sabbateus weg ist, bist du der Einzige hier, der lesen und schreiben kann.« Josef wusste, dass die meisten in seiner Kirche kaum mehr als ein paar Zeichen kritzeln konnten, die ihre Namen darstellen sollten. Er selbst hatte jedoch von dem alten Juden eine gründliche Ausbildung in der Kunst des Schreibens erhalten.

Zudem war er mehrere Jahre auf dem Schiff eines phönizischen Kaufmanns die Küste hinauf und hinab gesegelt. Als Schreiber des Kaufmanns hatte er gelernt, sowohl schnell als auch genau zu schreiben. »Acht Fässer Roggen« und »zwölf Säcke Weizen« gehörten zu seinen häufigsten Notizen – das war nicht gerade eine spannende Arbeit gewesen, aber zumindest hatte er von dem alten Phönizier Genauigkeit gelernt.

Ein letztes Mal lässt er den Blick über den Stapel Papyrusbögen gleiten, bevor er die Flamme der Öllampe löscht. In der Tat ist es spannend, diese Bücher beständig neu zu schreiben. Obwohl er mittlerweile weiß, was auf den nächsten Seiten steht, erzeugen die Worte in seinem Mund einen ganz eigenen, süßen Geschmack. Wenn sie unter seinem Schilfstift Form annehmen, weiß er, dass er an etwas Wichtigem teilhat. Noch immer erinnert er sich an das gute Gefühl, das ihn übermannte, als er die Texte im Gottesdienst zum ersten Mal vorlas. Der alte Sabbateus hatte ihn zu sich gebeten, ihm einen Arm um die Schulter gelegt und gesagt: »Meine Augen sind nicht mehr in der Lage, die Zeichen voneinander zu unterscheiden. Fortan musst du die heiligen Schriften lesen.«

Das Letzte, woran Josef vor dem Einschlafen denkt, sind erfreute Gesichter. Endlich soll die Gemeinde ein eigenes Buch mit den heiligen Schriften bekommen. Die anderen Kirchen hatten sich freundlich gezeigt und ihre Bücher ausgeliehen, sodass er von den besten Büchern des Tals hatte abschreiben können. Jetzt ist das große Evangelienbuch fertig, und Josef freut sich darauf, es am nächsten Tag in der Kirche vorzulegen.

Ungefähr so können wir uns die Vorgeschichte eines der ältesten existierenden Manuskripte des Neuen Testaments vorstellen. Das Manuskript wurde in den 1930er-Jahren in Ägypten gefunden. Es bekam den Namen Papyrus 45 und wurde irgendwo im Niltal verfasst. Das große Buch enthält sowohl die vier Evangelien als auch die Apostelgeschichte. Alle 224 Seiten sind mit der gleichen, leicht nach rechts geneigten Handschrift geschrieben. Wie so viele andere frühe Manuskripte wurde das Buch von einem gewöhnlichen Christen niedergeschrieben und nicht von einem Mönch im Kloster. Er oder sie verfügte wahrscheinlich über eine Ausbildung als Schreiber und gebrauchte die Schreibkunst in der täglichen Arbeit; neue Exemplare der heiligen Bücher für die Gemeinde wurden jedoch in der arbeitsfreien Zeit gefertigt.

Der Schreiber ist der anonyme Held der Textgeschichte. In einigen alten Manuskripten finden sich kleine »Seufzer« von ihm oder ihr, eingefügt nach getaner Arbeit. In einem Manuskript aus Armenien beklagt sich der Schreiber über die Kälte: Draußen tobt ein Schneesturm, sodass die Tinte gefriert, die Hände werden taub, und ständig fällt der Stift aus der Hand. In einem anderen Manuskript ist ganz unten auf dem letzten Bogen dieser poetische Vergleich zu lesen: »Wie sich ein Reisender darüber freut, die Heimat zu sehen, so ist das Ende des Buches für jenen, der sich damit abgemüht hat.« Andere Manuskripte enden mit einer Lobpreisung Gottes: »Das Ende des Buches – Gott sei gelobt!«1

Wir bezeichnen die alten Bücher also als Manuskripte. Wofür steht dieses Wort? Es hört sich wie eine Art erster Entwurf eines literarischen Werkes an, eine Kladde, die nach Fertigstellung des Buches beiseitegelegt wird. Man denkt leicht an etwas Unfertiges, etwas Vorläufiges.

Das war in der Antike (im Zeitraum von ca. 700 v.Chr. bis 500 n.Chr.) anders. Zu dieser Zeit gab es keine Druckereien. Alle Bücher mussten zwangsläufig von Hand geschrieben werden. Und sie wurden keineswegs nach dem ersten Lesen beiseitegelegt; sie waren so selten und ihre Herstellung so teuer, dass sie bis zur vollständigen Abnutzung verwendet wurden. Aus diesem Grund sind alle bisher gefundenen Manuskripte in mehr oder weniger starkem Umfang beschädigt.

Das Wort Manuskript stammt aus dem Lateinischen und bedeutet schlicht und einfach »von Hand Geschriebenes«. Manus steht für »Hand« und scriptum bezeichnet »etwas Geschriebenes«.

So verhielt es sich die gesamte Zeit über, bis Johannes Gutenberg (1398–1468) Mitte des 15.Jahrhunderts die Kunst des Buchdrucks erfand. Bis dahin galt: Wollte man ein Buch haben, dann musste es von Hand geschrieben werden. Jedes einzelne Exemplar des Buches musste von Hand geschrieben werden, Wort für Wort, Seite für Seite. Daher wird alles schriftliche Material aus dieser Zeit Manuskript genannt.

Auch die Texte des Neuen Testaments wurden von Beginn an durch Abschrift von Hand verbreitet. Innerhalb kürzester Zeit zirkulierten die Bücher im gesamten Mittelmeerraum. Um das Jahr 300 finden wir den Glauben an Jesus in Gebieten, die heute zu Israel und Palästina, dem Libanon und Syrien, der Türkei und Griechenland, Italien und Deutschland, Frankreich und Spanien, Algerien, Tunesien und Ägypten gehören. Sogar so weit nördlich wie im heutigen Belgien, den Niederlanden und England gab es christliche Glaubensgemeinschaften. Der Glaube an Jesus von Nazareth war dabei, eine Weltreligion zu werden.

Aber wie sah ein Bibeltext in den ersten Jahrhunderten nach Christus aus? Welches Format hatte er? Woraus waren die Bücher gefertigt? Viele dieser Manuskripte sind bis heute erhalten geblieben, einige von ihnen sind in diesem Buch auch mit Foto wiedergegeben. Dabei sind einige Gemeinsamkeiten erkennbar:

Zum einen wurden die ältesten Manuskripte auf Bögen aus Papyrus geschrieben. Papyrus wuchs in Ägypten und wurde von dort aus in den gesamten Mittelmeerraum exportiert. Zur Fertigung der Bögen wurden die Halme der Papyruspflanze, genannt biblos, in dünne Streifen geschnitten. Diese Streifen wurden in zwei Schichten quer übereinandergelegt; dieses Kreuzmuster ist bei allen Papyrusbögen leicht zu erkennen. Dann wurden die beiden Schichten aufeinandergepresst, wobei der Pflanzensaft wie Leim wirkte und die Schichten zusammenklebte. Anschließend wurden die Bögen getrocknet und später in der passenden Größe zugeschnitten. Mit dem Schreiben begann man stets auf der Seite mit den horizontalen Linien, weil diese am leichtesten zu beschreiben war.

Bis etwa 300 n.Chr. war Papyrus das gebräuchlichste Schreibmaterial. Im 4.Jahrhundert übernahm nach und nach Pergament diese Rolle. Dieses wurde aus feiner Tierhaut hergestellt. Dabei war es üblich, sowohl Ziegen- als auch Schafshaut zu verwenden. Das feinste Pergament hingegen wurde aus Kalbshaut gewonnen. Die Stadt Pergamon, die in der Offenbarung des Johannes (2,12) erwähnt ist, war für die Veredelung der Pergamentherstellung bekannt, weswegen das feine Leder nach dieser Stadt benannt wurde. Heute trägt sie den Namen Bergama und gehört zur Türkei.

Die Herstellung war arbeitsintensiv: Um sie geschmeidig zu machen, wurde die Tierhaut zuerst eingeweicht. Anschließend wurde sie in einen Rahmen gespannt, um die Haare auf der Außenseite und das Fett auf der Innenseite zu entfernen. Nachdem sie getrocknet war, wurde die Haut geglättet und in der gewünschten Größe zu Bögen zugeschnitten. Die fertigen Bögen wurden nach Qualität sortiert. Hatte die Haut Löcher oder anderweitige Beschädigungen, wurde sie für weniger wichtige Dokumente verwendet. Das feinste Pergament war äußerst kostbar und wurde nur für große literarische Werke genutzt. Zum Beispiel wurde das prachtvolle Manuskript Codex Sinaiticus auf dem dünnsten und teuersten Kalbslederpergament geschrieben, das es seinerzeit gab.

Im Vergleich zu Pergament ist Papyrus weniger haltbar. Es grenzt an ein Wunder, dass bis heute 135 alte Papyrusmanuskripte mit Texten des Neuen Testaments gefunden wurden, alle in Ägypten. Nur dort war das Klima so trocken, um den Papyrus in verfallenen Ruinen oder vergraben im trockenen Wüstensand zu erhalten. Alle Papyrusmanuskripte, die in anderen Ländern rund um das Mittelmeer existiert haben müssen, sind verloren gegangen. Die wenigen Exemplare, die sich nach den Verfolgungen im 4.Jahrhundert noch dort fanden, hatten gegen das Klima und den Niederschlag keine Chance. Unter dem Sand Ägyptens lagen die Papyrusmanuskripte hingegen wie ein versiegeltes Geschichtsbuch, bereit, um von späteren Generationen geöffnet zu werden. Im 20.Jahrhundert ist das verborgene Geschichtsbuch unter den Sanddünen geöffnet worden. Es bot den Forschern einen schier unglaublichen Einblick in biblische Manuskripte aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Dieses neu geöffnete Geschichtsbuch möchte ich in Pergamente und Papyri präsentieren.

Deutung der Puzzleteile: Einen Text lesen

Die Schriften, aus denen das Neue Testament entstanden ist, waren von Beginn an zum Vorlesen gedacht. In der Antike war es unüblich, still für sich allein zu lesen; gelesen wurde vorwiegend laut, damit andere es hören konnten. Mit anderen Worten: Ein Buch wurde erst dann lebendig, wenn es Stimme und Ton bekam. Das entsprach dem eigentlichen Sinn niedergeschriebener Bücher: Die schriftliche Fassung sollte dem Vorleser bei der Erinnerung an das mündlich Vorgetragene helfen.

Bei einer Bevölkerung, von der lediglich zehn bis fünfzehn Prozent lesen und schreiben konnten, war es wichtig, hören zu können, was gelesen wurde. Dem Vorleser kam deshalb nicht nur in der Kirche, sondern in der ganzen Gesellschaft eine wichtige Funktion zu. Die einzige Möglichkeit der Menschen, Informationen zu erhalten, bestand darin, dass jemand auf dem Markt oder in der Kirche laut aus einem Manuskript vorlas.

Aus diesem Grund findet sich das Wort »vorlesen« über dreißig Mal im Neuen Testament. Es wurde stillschweigend vorausgesetzt, dass es lauten Vorlesens bedurfte, wenn Jesus Dinge sagte wie: »Habt ihr nicht gelesen, […] dass Gott am Anfang den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat.« Vorlesen war ein selbstverständlicher und notwendiger Teil der antiken Gesellschaft.

»Bis ich komme, lies wie bisher aus den Heiligen Schriften vor …« (1.Tim 4,13)

So schreibt der alte Apostel Paulus an seinen jungen Mitarbeiter Timotheus. Es ist kein Zufall, dass er das Vorlesen so betont. Aus den Schriften zu lesen war noch wichtiger als zu predigen und zu unterrichten. Nur so konnte die Gemeinde erfahren, was in den Schriften stand. Der Vorleser musste seine Aufgabe daher ernst nehmen. In der Johannesoffenbarung werden sowohl der Vorleser als auch die Zuhörer gepriesen, weil sie das Gelesene in Obhut nehmen:

»Freuen darf sich, wer die prophetischen Worte in diesem Buch anderen vorliest, und freuen dürfen sich alle, die sie hören und beherzigen; denn die Zeit ist nahe, dass alles hier Angekündigte eintrifft.« (Off 1,3)

Dieser Bibelvers schildert die konkrete Situation, in der der Text verwendet wurde: Einer las laut vor, während andere zuhörten. Es gibt eine ergreifende Schilderung eines Gottesdienstes, wie er von Christen Mitte des 2.Jahrhunderts abgehalten wurde. Darin berichtet der christliche Autor Justin der Märtyrer, dass viel Zeit auf das laute Vorlesen verwendet wurde:

»An dem Tag, der der Tag der Sonne genannt wird, versammeln sich alle, ob sie in den Städten oder auf dem Land wohnen. Man liest aus den Erinnerungen der Apostel oder aus den Schriften der Propheten, solange es die Zeit erlaubt. Wenn der Lesende das Vortragen beendet hat, spricht der Vorsteher ein Wort der Ermahnung, worin er uns auffordert, die guten Dinge, die wir gehört haben, zu befolgen.«2

Wie man sieht, verwendeten die Christen sowohl Schriften des Alten als auch des Neuen Testaments, wie die beiden Sammlungen später genannt wurden. Mit »Erinnerungen der Apostel« wurden in der Urkirche für gewöhnlich die vier Evangelien bezeichnet und mit »Schriften der Propheten« die Bücher, die wir als das Alte Testament kennen. Diese Bücher wurden gelesen, »solange es die Zeit zuließ«, anschließend folgte eine kurze Predigt. Sie verwendeten also viel Zeit auf das Wichtigste, das Hören der Schriften. Denn niemand besaß diese Bücher persönlich, und die Wenigsten konnten lesen.

Versuchen wir uns vorzustellen, wie es war, diese Manuskripte zu verstehen. Es kann keine leichte Aufgabe gewesen sein, Vorleser zu sein, weder in der Gesellschaft noch in der Kirche. Die meisten Hilfsmittel, wie man sie in modernen Texten findet, waren in der Antike unbekannt:

Erstens gab es keine Leerzeichen zwischen den einzelnen Wörtern. In einigen Manuskripten ist die Andeutung eines Leerzeichens zu finden, zumindest zwischen den Sätzen. In der Regel bestanden jedoch alle Manuskripte aus kontinuierlicher Schrift, d.h. einem Text komplett ohne Leerzeichen. Wer vorlesen sollte, musste deshalb vorher üben, um zu wissen, wie DIELANGEREIHEVONBUCHSTABENEINGETEILTWERDENMUSSTE.

Nur wer geübt hatte, wusste, wo die einzelnen Wörter anfingen und endeten.

Zweitens bestanden die Texte ausschließlich aus GROSSBUCHSTABEN. Die Kleinschreibung entwickelte sich erst im Mittelalter. Bis dahin hatte der Vorleser nicht die Möglichkeit, anhand großer Anfangsbuchstaben zu wissen, wo ein Satz begann oder was Orts- und Personennamen waren, wie es im heutigen Schriftbild der Fall ist.

Drittens fanden sich in den Texten weder Kapitel- noch Versnummern. Kapitelnummern wurden erst im 13.Jahrhundert eingesetzt, und die heute übliche Einteilung in Verse wurde erst 1551 im griechischen Neuen Testament des französischen Herausgebers Stephanus eingeführt.

Viertens fanden sich in dem Text keine Überschriften. Daher war es nicht so einfach, seinen bevorzugten Text oder überhaupt irgendeinen bestimmten Text zu finden. Das Problem, den Bibeltext des Tages zu finden, wurde gelöst, indem man Lektionare anfertigte, das heißt Textbücher mit ausgewählten Bibeltexten. In diesen Büchern fand sich für jeden Tag oder für jeden Sonntag ein Abschnitt. Über vierzig Prozent aller neutestamentlichen Manuskripte sind solche Lektionare. 2433 wurden bisher gefunden.

Fünftens gab es keine Fußnoten, die dem Leser beim Verständnis der Inhalte halfen, und kaum Querverweise, die auf andere Texte mit gleichem oder ähnlichem Inhalt hinwiesen. In modernen Bibeln gibt es diese reichlich, in der Antike jedoch musste man ohne sie auskommen, abgesehen von den Stellen, wo jemand eine Notiz an den Rand des Manuskripts geschrieben hatte. Anmerkungen dieser Art finden sich in vielen Manuskripten.

Wir werden uns bald einem Manuskript zuwenden, das über viele Notizen am Rand verfügt. Aber zuerst müssen wir eine wichtige Frage hinsichtlich des verwendeten Buchformats stellen: Warum nutzten die Christen keine Buchrollen?

Die Büchermenschen

Die Manuskripte der ersten Christen weisen ein sehr überraschendes Merkmal auf: Ihre Schriften wurden nicht auf Buchrollen, sondern in Büchern verfasst. Die Christen entschieden sich nämlich sehr früh für das Buchformat. Ein solches Buch, in dem man blättern konnte, nennt sich Codex. Nahezu alle in diesem Buch behandelten Texte stammen aus alten Codizes. Von den fast 6000 vorliegenden Manuskripten des Neuen Testaments sind lediglich fünf auf Rollen geschrieben. Worin liegt das begründet?

Lag es vielleicht daran, dass die Herstellung von Büchern billiger war? Indem man beide Seiten eines Bogens beschrieb, sparte man bei den Ausgaben für das Schreibmaterial fast die Hälfte. Oder war es, weil Bücher auf Reisen einfacher transportiert werden konnten? Das angenehme Format kann zur schnellen Verbreitung der christlichen Bücher beigetragen haben. Oder war es, weil ein Buch auf der Suche nach einem bestimmten Zitat schneller aufgeschlagen werden konnte als eine Schriftrolle?

Wollten die Christen vielleicht verdeutlichen, dass ihr Glaube nicht mit dem der Juden identisch war? Viele Zeitgenossen unterschieden nämlich nicht zwischen Juden und Christen. Oder entschieden sie sich für das Buch, weil es leichter zu verstecken war? Ein Buch konnte unter etwas anderem verborgen, in eine Felsspalte geschoben oder zusammengefaltet werden. Vielleicht bezeugt die Wahl des Buchformats also die stete Bereitschaft der Christen, ihre Bücher zu verbergen, wenn sie von Verfolgung bedroht waren?

Oder hat die Wahl mit dem Buchformat an sich zu tun? Ein Codex war von Beginn an eine Art Notizbuch. Er wurde nicht für große literarische Werke verwendet, sondern war ein praktischer kleiner Begleiter, in dem man Notizen machen konnte. Einer Theorie des Forschers Colin H. Roberts zufolge wurde das Markusevangelium zuerst in so einem Notizbuch niedergeschrieben. Daher verbanden die Menschen den Codex mit dem Christentum, wodurch alle späteren christlichen Bücher auch die Buchform erhielten.

Die vielleicht beste Erklärung nimmt ihren Ausgangspunkt in dem Umstand, dass die christlichen Schriften in Gruppen gesammelt wurden. Ein Codex bot nämlich Platz für mehr Text als eine Schriftrolle. Solange man lediglich ein Evangelium pro Band schreiben wollte, war dies mittels einer Schriftrolle gut umsetzbar. Eine Rolle konnte jedoch nicht länger als zehn bis zwölf Meter sein. Und schon bald benötigten die Christen ein Format, das mehreren Schriften in einem Band Platz bot. Allem Anschein nach sind diese Sammlungen sehr früh entstanden. Vermutlich kursierte bereits um das Jahr 100 n.Chr. eine Sammlung der von Paulus verfassten Briefe. Diese Sammlung hätte eine Buchrolle von etwa 25 Metern erfordert, also doppelt so lang, wie eine Rolle sein konnte. Paulus’ Briefsammlung sprengte somit die Buchrolle, und den Christen blieb nur eine Alternative: Sie mussten die Briefe in Büchern sammeln, in denen man blättern konnte.

Somit kann die Frage gestellt werden: Welche Auswirkungen hatte die Wahl des Buchformats auf unser Verständnis der Texte? Eine Buchrolle ist dafür gemacht, einen Text zusammenhängend von Anfang bis Ende zu lesen, während ein Buch den Leser einlädt, vor- und zurückzublättern. Wie hat das Buch die Art und Weise beeinflusst, in der wir heute die Bibel lesen? Springen wir im Text mehr hin und her?

Viele Leser springen auf der Jagd nach den guten Zitaten im Text hin und her. Häufig wählen sie die schönen und tröstenden Sätze aus. Die Gefahr besteht selbstverständlich darin, dass die schwierigen und herausfordernden Texte unberührt bleiben. Vielleicht wäre es gewinnbringend, längere Textabschnitte im Zusammenhang zu lesen? Vielleicht sollten wir einfach mehr im Text »scrollen«?

Jetzt haben wir uns ganz kurz mit dem Erscheinungsbild der Manuskripte beschäftigt und mögliche Gründe für die Wahl des Buchformats zusammengestellt. Lassen Sie uns nun ins 5.Jahrhundert zurückgehen. Ist es möglich, Manuskripte des Neuen Testaments aus dieser Zeit zu finden?

In London befindet sich ein Dokument mit einigen geheimnisvollen Notizen neben dem Bibeltext. Es ist das erste Manuskript, das ein eigenes Symbol erhielt. Das Symbol ist der Buchstabe »A«, der erste Buchstabe des Alphabets. Aber woher kommt das Manuskript? Und wie alt ist es?

TEIL 2:
Die großen Manuskripte
des Neuen Testaments

Das Manuskript mit dem falschen Namen:
Codex Alexandrinus

Siehe Abbildung 1

»Das Manuskript soll sich in der Zelle des Patriarchen in der Festung in Alexandria befinden. Wer es von dort entfernt, soll verbannt und ausgestoßen sein. Gruß Athanasius der Demütige.«1

Die oben stehende Anmerkung ist historisch. Sie wurde auf das große Pergamentmanuskript Codex Alexandrinus gekritzelt, wobei sich hinter dem Unterzeichner »Athanasius der Demütige« der Patriarch Athanasius III. verbirgt. Die Hafenstadt Alexandria galt in der Antike als wichtiges Zentrum der Gelehrsamkeit und des Wissens – sowie der christlichen Kirche. Der Bischof von Alexandria war Patriarch über alle Christen Ägyptens, und Athanasius III. hatte diese Stellung von 1275 bis 1315 n.Chr. inne. Er ist der Mann hinter der kurzen Nachricht: Das Buch solle bei ihm verbleiben.

Der Codex Alexandrinus war das erste in Europa bekannte große Bibelmanuskript der Antike. 1627 wurde es König Karl I. von England als imposantes Neujahrsgeschenk überreicht. Im Zuge der feierlichen Übergabe wurde auch hervorgehoben, dass das Buch dem Patriarchen von Alexandria höchstpersönlich gehört habe. Aus diesem Grund erhielt es für alle Zeiten den ersten Platz unter den alten Manuskripten der Bibel und als Symbol den Buchstaben A.

Der Codex Alexandrinus ist ein großes und schönes Manuskript, auf feines Pergament geschrieben und auf jeder Seite mit Text in zwei Spalten. An mehreren Stellen finden sich prachtvolle, farbige Ausschmückungen. Das alte Buch ist ein fast komplettes Manuskript der Bibel. Von den einst mindestens 817 Bögen sind heute noch 773 erhalten. Das Buch ist eines der prächtigsten Bibelmanuskripte überhaupt. Der Name Codex Alexandrinus wurde 1657 erstmals im Vorwort einer englischen Bibelausgabe verwendet. Seither besteht die Verbindung zu der ägyptischen Hafenstadt.

Im Laufe dieses Buches werden wir immer wieder auf Manuskripte aus Ägypten stoßen. Das Land verfügt über eine uralte Tradition des Schreibens. Der entlang des Nils geerntete Papyrus lieferte eine schöne und strapazierfähige Schreibgrundlage, zudem war die Kunst des Schreibens in der Gegend früh bekannt. Daher schlug sich der Glauben auch in Büchern nieder, als sich die christliche Kirche in Ägypten etablierte. Das alte Buch aus Alexandria gilt als eines der prächtigsten Beispiele einer ägyptischen Bibel.

Aber stammt das Buch wirklich aus Alexandria? Neuere Forschungen lassen Zweifel daran aufkommen. Kommt das Buch möglicherweise gar nicht aus der Stadt, deren Namen es trägt? In diesem Fall würde das alte Manuskript seit mehr als 350 Jahren unter einem irreführenden Namen firmieren. Wie wir sehen werden, ist der Codex Alexandrinus ein Beispiel dafür, dass die Wahrheit eine andere sein kann als die von allen angenommene. Die Spuren des alten Manuskripts weisen nämlich in ganz andere Richtungen als nach Alexandria.

Aber wie kam es zu der anfänglichen Verbindung zwischen dem Manuskript und der alten ägyptischen Hafenstadt? Der Grund ist ganz sicher die Nachricht von Athanasius III. Sie wurde mit wogender arabischer Handschrift unten auf der ersten Seite des Buches notiert. Auf dieser Seite finden wir den ersten Text des 1.Buch Mose Kapitel 1: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …« (1 Mose 1,1). Darunter ist die Mitteilung zu lesen: »Das Manuskript soll sich in der Zelle des Patriarchen befinden.«

Auf dem Manuskript findet sich jedoch noch eine zweite geheimnisvolle Notiz. Auch diese ist in Arabisch geschrieben und steht auf der Innenseite des Umschlags. Sie gibt an, das Manuskript sei von Thekla geschrieben worden, einer Heiligen aus Ägypten, die im 4.Jahrhundert n.Chr. lebte. Um dies zu unterstreichen, hat jemand dem Manuskript einen Zettel beigelegt, der die gleiche Information enthält und erläutert:

»Dieses Buch mit den heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testaments wurde der Tradition zufolge von Theklas Hand geschrieben, einer edlen Ägypterin, vor ungefähr dreizehnhundert Jahren, in einer Zeit nach dem Konzil von Nicäa.«2

Wer kann der Verfasser dieses Zettels sein? Alles deutet auf einen späteren Patriarchen hin und auf einen Zusammenhang mit der geplanten Übergabe des Buches an König Karl 1627. Der Betreffende hieß Kyrillos Loukaris und war Patriarch von Konstantinopel. Da die alte griechische Pergamentbibel dem König von England vermacht werden sollte, hatte er den Wunsch zu erklären, woher das Manuskript stammte. Kyrillos Loukaris war nämlich selbst Patriarch von Alexandria gewesen, bevor er 1620 Patriarch von Konstantinopel wurde. Daher kannte er das Manuskript gut und hatte es bei seinem Weggang aus Ägypten wahrscheinlich mitgenommen.

Wir können an dieser Stelle festhalten, dass Kyrillos Loukaris genau das getan hat, was Athanasius III. 300 Jahre zuvor strengstens untersagt hatte: Er entfernte das Buch aus der Zelle des Patriarchen in Alexandria. Wäre der alte Athanasius III. noch am Leben gewesen, hätte der demütige Patriarch wohl dafür gesorgt, dass sein Nachfolger verbannt und ausgestoßen worden wäre, wie es der Eintrag besagt.

Auf dem beigelegten Zettel liefert Kyrillos Loukaris viele spannende Informationen: Er berichtet, dass Thekla eine Christin war, die während der Verfolgungen im 4.Jahrhundert wegen des Glaubens an Christus ihr Leben verloren habe. »Der Tradition zufolge« sei der Name sehr lange mit dem Manuskript verbunden, schreibt der Patriarch. Sie soll die große Lederbibel »in einer Zeit nach dem Konzil von Nicäa« geschrieben haben.

Wir werden an anderer Stelle mehr über das legendäre Konzil von Nicäa erfahren. Der Zeitpunkt des Konzils ist bekannt; es wurde 325 n.Chr. in der Stadt Nicäa, südöstlich von Konstantinopel gelegen, abgehalten. Bezüglich dieses Konzils existieren diverse Mythen. In diesem Zusammenhang merken wir uns nur, dass Kyrillos Loukaris das Manuskript in eine Zeit »nach dem Konzil von Nicäa« datiert. Also war er der Meinung, der Codex Alexandrinus stamme aus der Mitte des 4.Jahrhunderts n.Chr.

1627 gelangte das Manuskript nach England. Mit viel Pomp und Pracht wurde es König Karl präsentiert. Heute befindet es sich in der British Library in London. Wer das Museum besucht, findet in einem Raum zwei prachtvolle, alte Manuskripte vor. Sie liegen Seite an Seite in einer großen Vitrine. Das eine ist der Codex Sinaiticus, der im Katharinenkloster am Berg Sinai gefunden wurde. Das sehr große Manuskript hat auf jeder Seite vier Spalten Bibeltext. Das Manuskript daneben ist jedoch nicht weniger prächtig, mit ornamentierten Vignetten und zwei Textspalten pro Seite. Das ist der Codex Alexandrinus, von dem man angenommen hatte, er sei in Alexandria geschrieben worden.

Wie lange hatte sich das Manuskript in Alexandria wohl schon befunden, als Kyrillos Loukaris es 1620 mit nach Konstantinopel nahm? Das ist unbekannt. Wir wissen nur, dass die Anordnung von Athanasius dem Demütigen, das Manuskript solle sich in der Zelle des Patriarchen befinden, Anfang des 14.Jahrhunderts geschrieben wurde. Daher ist wahrscheinlich, dass das Manuskript in den folgenden dreihundert Jahren dort verblieb. Aber wie viel weiter zurück können wir den Spuren des Manuskripts folgen, und wohin führen uns die Spuren? Wie wir sehen werden, führen sie nicht notwendigerweise nach Ägypten und Alexandria.

Im 5.Jahrhundert galten mehrere Städte rund um das Mittelmeer als wichtige christliche Schriftzentren, in denen ein so aufwendiges Manuskript wie der Codex Alexandrinus hätte hergestellt werden können. Dazu gehören Caesarea, Ephesos und Konstantinopel. Das Manuskript kann somit ebenso gut im östlichen oder nördlichen wie auch im südlichen Gebiet rund um das Mittelmeer geschrieben worden sein.

Nun kann man selbstverständlich denken, das Manuskript hätte sich schon seit seiner Entstehung durchweg in Alexandria befunden. Warum aber sollte Athanasius III. anordnen, das Buch solle sich für alle Ewigkeit in der Zelle des Patriarchen befinden, wenn es bereits seit mehreren Hundert Jahren dort war? Wäre eine solche Anordnung nicht sinnvoller, wenn er das Manuskript soeben erst bekommen hätte?

Lassen Sie uns einen Blick auf die Spuren werfen, die auf andere Orte als Alexandria verweisen. Zum einen hielt sich Athanasius III. während seines Patriarchats kaum in Ägypten auf. Von 1275 bis 1305 befand er sich aufgrund der Verfolgung von Christen in Ägypten im Exil in Konstantinopel. Noch interessanter ist: Der Patriarch von Alexandria war überhaupt nicht in Alexandria ansässig. Seit Ende des 10.Jahrhunderts hatte er seinen Sitz in Kairo. Somit erscheint die ganze Verbindung zur Stadt Alexandria mehr und mehr fraglich.

Die drei wichtigsten Spuren jedoch, die in eine andere Richtung weisen, sind drei Manuskripte, die ebenso einen von Athanasius III. verfassten Zusatz enthalten. Dabei handelt es sich nicht um Bibelmanuskripte, sondern um Kommentare zu Bibeltexten alter Kirchenväter. In diesen Manuskripten finden sich Notizen von Athanasius III., die beinahe identisch mit denen sind, die er auf den Codex Alexandrinus geschrieben hat: »Das Manuskript soll dem Patriarchen von Alexandria gehören, und wer es entfernt, wird verbannt und ausgestoßen. Gruß Athanasius der Demütige.«

Alle drei Manuskripte waren Neuanschaffungen, die Athanasius III. während seiner Zeit in Konstantinopel erhielt und die er 1305 mit nach Ägypten nahm. Der Hinweis, die Manuskripte sollen dem Patriarchen von Alexandria gehören, scheint somit eine Art Aufschrift zu sein, mit der Athanasius III. alle neuen Manuskripte versah – nicht jedoch Bücher, die sich seit mehreren Hundert Jahren in der Bibliothek des Patriarchats befanden. Mit diesem Wissen leuchtet es ein, dass der Codex Alexandrinus eine Neuanschaffung gewesen sein muss, die er 1305 aus Konstantinopel mitgebracht hatte.

Noch interessanter ist, dass wir sichere Informationen darüber haben, woher die anderen drei Manuskripte stammen. Das eine kommt aus »der Königin aller Städte«, wie der Patriarch schrieb, also aus Konstantinopel. Auch das zweite ist von dort. Das dritte jedoch kommt aus dem Katharinenkloster am Berg Sinai. Ist es möglich, dass auch der Codex Alexandrinus vom gleichen Ort wie eines der anderen drei Manuskripte stammt?

Lassen Sie uns ein wenig bei dem Gedanken innehalten, das Manuskript könne aus dem Katharinenkloster am Berg Sinai stammen. Vielleicht hatte der Patriarch als junger Mönch dort gelebt? Vielleicht bekam er deshalb vom Kloster wertvolle Manuskripte geschenkt? Kann auch das große Manuskript, das später den Namen Codex Alexandrinus erhielt, ein Geschenk des Klosters gewesen sein?

Der Gedanke lässt einen regelrecht schwindelig werden: Die beiden uralten Bibelmanuskripte, die jetzt Seite an Seite in einer Vitrine in der British Library liegen – der Codex Sinaiticus und der Codex Alexandrinus – könnten bereits früher unter demselben Dach gelegen haben, im selben Kloster am Berg Sinai. Dieselben Mönche können in ihnen gelesen haben, und in denselben Sälen kann laut aus ihnen vorgelesen worden sein. Durch ein wundersames Zusammentreffen sind sie letztendlich im gleichen Museum und in der gleichen Vitrine gelandet.

Kommen wir noch einmal auf die Frage des Alters des Manuskripts zurück. Kyrillos Loukaris meinte, es sei Mitte des 4.Jahrhunderts von einer Frau namens Thekla geschrieben worden. Kann das Manuskript wirklich so alt sein? Vielleicht liefert der Inhalt des Buches einen Hinweis.

Der Codex Alexandrinus beinhaltet nämlich mehr als nur biblische Schriften. Neben den üblichen 27 Schriften, aus denen das Neue Testament besteht, standen in dem Manuskript auch der erste und der zweite Clemensbrief. Dabei handelt es sich um zwei frühe christliche Schriften aus der Zeit um das Jahr 100 n.Chr. Die Clemensbriefe haben niemals Eingang ins Neue Testament gefunden. Dennoch stehen sie in dem Manuskript. Das kann darauf hindeuten, dass das Manuskript verfasst wurde, bevor der Umfang des Neuen Testaments feststand. Dies geschah auf den Synoden von Hippo und Carthago in Nordafrika in den Jahren 393 beziehungsweise 397 n.Chr. Dort wurde endgültig festgelegt, dass nur die 27 Schriften, die sich zu dieser Zeit im allgemeinen Gebrauch der Kirchen befanden, das Neue Testament ausmachen. Sind die Clemensbriefe ein Zeichen dafür, dass der Codex Alexandrinus vor den beiden letzten Synoden in den 390er-Jahren n.Chr. verfasst wurde?

Auch ein anderes Detail des Manuskripts weist darauf hin, dass es sehr alt ist: Mitte des 5.Jahrhunderts führte Bischof Evthalius eine Art Kapiteleinteilung der Bibel ein. Diese Einteilung fehlt jedoch im Codex Alexandrinus. Auch das kann auf eine frühe Entstehung des Manuskripts hindeuten, zumindest vor Mitte des 5.Jahrhunderts.

Auf der anderen Seite kann das Manuskript nicht früher als auf das Jahr 373 n.Chr. datiert werden, da das Buch auch einen kleinen Brief von Bischof Athanasius (298–373 n.Chr.) über das Buch der Psalmen enthält. Dieser Brief stammt aus dem Jahr 373. Somit deuten die zur Verfügung stehenden Informationen darauf hin, dass der Codex Alexandrinus irgendwann nach 373, aber vor 393 (oder 450) n.Chr. geschrieben wurde. Das prachtvolle Manuskript ist damit nur zwei oder drei Generationen jünger als die beiden anderen großen Pergamentbibeln aus dem 4.Jahrhundert, der Codex Sinaiticus und der Codex Vaticanus, die wir uns bald näher ansehen werden.

Wenn das Manuskript aus dem 4...