Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Anmerkung der Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Emily R. King bei LYX

Impressum

EMILY R. KING

Die letzte Königin

Das Feuer erwacht

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Beate Bauer

Zu diesem Buch

Nach dem Tod des Tyrannen Tarek ist Kalinda auf der Flucht vor dem verräterischen Rebellenführer Hastin. Dieser möchte die uralte Schrift der Elementmagier an sich reißen, die in Kalindas Obhut ist. Als einzige überlebende Rani ist Kalinda zu einem Symbol der Hoffnung in ihrer Heimat aufgestiegen. Um ihr Volk retten zu können, ist sie jedoch auf die Unterstützung von Tareks Sohn Ashwin angewiesen, der im benachbarten Königreich im Exil lebt. Aber dafür muss sich Kalinda erneut im Kampf beweisen und gegen unzählige Intrigen und Ränkespiele bestehen – und all das ohne ihren Geliebten Deven, der bei der Flucht von ihr getrennt wurde. Bei einem Sieg wäre sie für immer an den Thron gefesselt und würde Deven verlieren. Denn die Siegerin des Turniers soll Prinz Ashwin ehelichen. Scheitert sie jedoch, ist das Schicksal ihres Volkes besiegelt. Hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl, ihrer Liebe zu Deven und ihrer wachsenden Bewunderung für den jungen Prinzen, steht Kalinda vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens …

Für Marlene Stringer,

eine wahre Schwesternkriegerin

ANMERKUNG DER AUTORIN

Die im Tarachandischen Reich ausgeübte Religion, der Parijana-Glaube, ist eine Fiktion, abgeleitet von der Religion der Sumerer und deren Götterglauben. Der Parijana-Glaube und das Tarachandische Reich stehen weder für eine bestimmte Epoche oder Gemeinschaft noch für einen bestimmten Glauben. Jede Ähnlichkeit mit anderen Religionen oder Herrschaftsstrukturen ist rein zufällig, ebenso die mit tatsächlichen Personen oder Ereignissen.

KAPITEL 1

KALINDA

Der Tod hat einen üblen Geruch, und ich meine nicht den von verwesendem Fleisch, sondern den bitteren Rauchgeruch, der sich auf meine Haut legt. Eine größer werdende Rußwolke verdunkelt die Nachmittagssonne, ein Schmutzfleck aus Aschepartikeln, der wie eine Opfergabe gen Himmel steigt. Ein trostloser Wind, heiß wie der Atem eines Drachen, hüllt unsere Karawane in schwarze Flocken.

Oh, ihr Götter. Nicht schon wieder.

Ich schnalze mit der Zunge und drücke die Fersen in die Flanken meines Kamels. Es reagiert darauf mit einem müden Grunzen. Ich stoße kräftiger, und das Tier setzt sich in Bewegung, seine Hufe knistern im vertrockneten Gras, das so gelb ist wie der Vollmond im September. Die tief stehende Sonne brennt auf uns herab und versengt das Land.

Wir erreichen die Anhöhe, und ich bringe das Tier zum Stehen, um das ganze Ausmaß der Zerstörung zu betrachten. Schwarzer Rauch steigt vom Dach des Tempels auf und verschleiert die goldenen Hügel in der Ferne, rote Flammen schlagen aus den eingestürzten Mauern und dem gepflasterten Vorhof.

Ein weiterer Tempel der Bruderschaft wurde in Schutt und Asche gelegt.

Deven beugt sich vor, bis seine Brust fast meinen Rücken berührt. »Großer Anu«, höre ich seine Stimme, »sie sind uns schon wieder zuvorgekommen.«

Mathura und Brac halten ihr Kamel neben uns an. Als wir Vanhi verließen, hatten wir ein weiteres Kamel, aber Mathuras Reittier hat schon vor Tagen vor Erschöpfung zu lahmen begonnen. Nachdem sie mehr als zwei Jahrzehnte ausschließlich im Palast gelebt hat, betrachtet die würdevolle Kurtisane die Welt außerhalb der Mauern mit kindlicher Verwunderung, doch ihr düsterer, ernster Blick lässt ihr schönes Gesicht älter erscheinen. Brac, ihr Sohn und ein Feuerwesen, wickelt sein Tuch ab und kratzt sich seinen rötlich braunen Haarschopf. Seine goldenen Augen sind vor Müdigkeit gerötet. Der Staub unserer beinahe zwei Monate dauernden Reise klebt an ihm, klebt an uns allen. Die Bluse, die ich unter meinem Sari trage, kratzt an meinem Rücken, wo Schweiß und Dreck sich gesammelt haben.

Yatin und Natesa schließen zu uns auf. Ihr Kamel hat mit Yatins Gewicht zu kämpfen. Natesa, die in den Rangkämpfen meine Herausforderin war, starrt auf die schwelenden Überreste des Tempels. Yatin schüttelt betroffen den Kopf. Selbst die vielen Jahre als Soldat haben ihn nicht auf solch eine rücksichtslose Zerstörung vorbereitet.

Ich schiebe mein Kinn vor und spüre einen Kloß im Hals. »Lasst uns hinunterreiten.«

»Haltet nach Überlebenden Ausschau«, befiehlt Deven.

Wir treiben unsere Kamele wieder an, hinein in die Rauchschwaden. Auf der nächsten Anhöhe halten wir und nehmen die Tempelanlage genauer in Augenschein.

»Hauptmann«, sagt Yatin mit seiner tiefen grollenden Stimme, »wollt Ihr, dass ich das Gelände erkunde?«

»Das dürfte nicht nötig sein«, antwortet Deven und presst die Lippen aufeinander.

Ich folge seinem Blick hin zu dem geschlossenen, verriegelten Tor. Genau der gleiche Anblick wie bei den beiden letzten Tempeln der Bruderschaft. Alle Angehörigen der Gemeinschaft, Brüder und Anwärter, hat man in den Gebäuden eingeschlossen und diese dann in Brand gesetzt. Die wütenden Flammen haben alles in einen brennenden Sarkophag verwandelt. Kein Einziger hat überlebt.

Die Tränen reinigen meine Augen von dem beißenden Rauch. Deven beugt sich nach vorn, presst seine Brust gegen meinen Rücken und schlingt die Arme um mich. Ich schmiege mich an ihn, zu bestürzt, um seine plötzliche Zärtlichkeit zu hinterfragen. Seit wir Vanhi verlassen haben, hat er sich mir gegenüber immer reservierter verhalten. Ich sehne mich nach unserer früheren Leichtigkeit, doch wir sind beide erschöpft von der Flucht.

Seit Rajah Tarek mich zu seiner letzten Braut erwählt hat, ist nichts mehr, wie es einmal war. Um meine Stellung als seine hundertste und letzte Rani zu sichern, musste ich in einem Turnier gegen seine Kurtisanen antreten, die mit mir um den Thron wetteiferten. Und anstatt Gefühle für Tarek zu entwickeln, habe ich mich in Deven, meinen Leibwächter, verliebt. Nachdem Tarek dann Jaya, meine beste Freundin, getötet und Deven zum Tode verurteilt hatte, war die Zeit für ihn gekommen, dafür zu büßen. Ich gewann das Turnier, war jedoch dazu gezwungen, entweder die Hauptfrau des Rajahs zu töten oder mein eigenes Leben zu opfern. Eine Entscheidung, die mich immer noch quält, weil ich während des Kampfes erfuhr, dass meine Gegnerin die Schwester meiner Mutter und somit meine Tante war. Und auch das einzige Mitglied meiner Familie, dem ich je begegnet bin, seit ich schon als Kleinkind zur Waise wurde.

Nach meinem Sieg in der Arena wurde ich mit Tarek vermählt, und noch in derselben Nacht, nachdem ich mich an Tarek gerächt und ihn getötet hatte, wurde der Palast der Türkise von rebellischen Bhutas angegriffen, um Vergeltung gegen die Tyrannei des Rajahs zu üben. Zusammen mit den Freunden, die mich jetzt begleiten, floh ich vor dem hinterhältigen Warlord der Bhutas, und ich danke den Göttern jeden Tag, dass sie bei mir sind. Besonders Deven. Unser Traum von einem gemeinsamen Leben in den Ebenen der Alpanas wurde durch die Vermählung mit Tarek in den Hintergrund gedrängt, aber dennoch halte ich daran fest.

Er streicht mit seinem schwieligen Daumen über mein Handgelenk, wobei er es vermeidet, meinen Handrücken zu berühren, auf den mit dunkler Tinte eine Eins geschrieben steht – um meinen Rang als Hauptfrau kundzutun. Die Hennazeichnungen, die meine Arme und meinen Rücken bedeckten, sind nach ein paar Wochen verblasst, aber die Tinte, mit der diese Ziffer aufgetragen wurde, will nicht verblassen, egal, wie oft ich meinen Handrücken auch schrubbe. Dieses Zeichen, das mich als die Favoritin des Rajahs ausweist, ist eine verfluchte Erinnerung an die Nacht, in der ich Tareks Frau wurde – und seine Witwe. Ich wünschte, dieser Schandfleck, der mich ständig daran erinnert, dass ich mit einem anderen Mann vermählt gewesen war, würde endlich verschwinden.

Glühende Funken landen auf dem Pflaster des Innenhofs und verwandeln sich zischend zu Asche. Ich befürchte, dass ein einzelner Funke genügen könnte, um ein Feuer zu entfachen und sich durch das trockene Gras zu fressen, aber der Innenhof wirkt wie ein Schutzwall gegenüber dem verdorrten Tal. Die ganze Anlage wurde liebevoll gehegt und gepflegt.

Meine Feuerkräfte sieden in mir und verlangen nach Vergeltung. Für diese Zerstörung ist Hastin, der Warlord der Bhutas, verantwortlich. Ich hatte gedacht, er und seine Rebellen würden uns verfolgen, um das Zhaleh, das geheiligte Buch, in ihren Besitz zu bringen, das ich bei unserer Flucht aus dem Palast der Türkise an mich genommen hatte, aber ich habe mich getäuscht. Ich hätte wissen müssen, dass Hastins Hass auf Tarek ihn dazu veranlassen würde, stattdessen Prinz Ashwin aufzuspüren, den Erben des Rajahs.

Der Prinz wurde in einem der vier Tempel der Bruderschaft aufgezogen. In welchem genau war schon immer ein gut gehütetes Geheimnis. Auf der Suche nach ihm sind wir kreuz und quer durch Tarachand gezogen, von Tempel zu Tempel, aber Hastin war uns stets einen Schritt voraus. Dies hier war bereits der dritte Tempel, den wir zu spät erreichten. Drei heilige Stätten der Parijanas, zerstört von den Bhutas, jenen Anführern, von denen die Bruderschaft glaubte, dass die Götter sie mit ihren Kräften ausgestattet hatten, um der Menschheit zu dienen.

»Was nun?«, fragt Natesa mit matter Stimme.

»Was meinst du?«, frage ich.

»Prinz Ashwin ist tot.«

»Das wissen wir nicht«, entgegne ich. »Der Prinz kann sich im vierten Tempel aufhalten.«

»Warum sollten wir weiter nach ihm suchen, wenn er bisher keinen Anspruch auf den Thron erhoben hat?«, fragt Brac. »Entweder ist er ein Feigling, oder es ist ihm egal, was aus dem Reich wird.«

Ich nage an meiner Lippe und kämpfe gegen meine Resignation an. Brac ist erschöpft und entmutigt. So wie wir alle. Unsere Hoffnung, den Krieg beenden zu können, setzt voraus, dass wir Prinz Ashwin finden, aber die Suche nach ihm dauert nun schon viel länger, als wir angenommen hatten. Wir jagen einen Geist, jemanden, den es tatsächlich geben soll, den wir aber nie zu Gesicht bekommen haben.

»Wenn der Prinz tot ist, wird Hastin umgehend seinen Sieg verkünden«, sagt Mathura. »Also werden wir in den nächsten Tagen erfahren, ob der Prinz den Angriff überlebt hat.«

»Solange wir nichts Gegenteiliges hören, müssen wir davon ausgehen, dass er am Leben ist«, sage ich und sehe, wie Brac seinen Blick abwendet.

Mache ich einen Fehler? Sollten wir die Suche nach dem Prinzen abbrechen? Ich blicke zu Deven hinüber, möchte wissen, was er darüber denkt, als Soldat, als mein Leibwächter und der Mann, den ich liebe, doch er starrt mit schmerzerfülltem Blick auf den brennenden Tempel. Seit er seine Uniform gegen eine schlichte Tunika und Hosen getauscht hat, wirkt er häufig geistesabwesend, und seine Gedanken scheinen in die Ferne zu schweifen. Bevor der Rajah starb, hat er Deven sein Kommando entzogen. Er hat ihn des Verrats beschuldigt, weil er mir geholfen hatte, die Rebellen bei ihrem Angriff auf Vanhi zu unterstützen. Dabei war sein einziger Fehler gewesen, mir zur Seite zu stehen.

»Was sollen wir tun, Hauptmann?«, wendet sich Brac an ihn.

Deven fährt herum und zuckt zusammen, so wie jedes Mal, wenn ihn jemand mit seinem Titel anspricht. Er streicht sich über den dunklen Bart. Als er noch die scharlachrote Uniform trug, war sein Bart gepflegt, und auch seine Haare sind inzwischen so lang, dass sie aus seinem Turban herausschauen. Sein Schweigen dauert länger als üblich. Wir sind einen so weiten Weg gegangen, um unseren neuen Anführer zu finden, dass mich sein Zögern wundert.

»Sohn?«, hakt Mathura nach.

Deven blickt erst zu Brac, seinem Halbbruder, und dann zu seiner Mutter. »Wir setzen die Suche fort.« Er deutet auf die in weiter Ferne sichtbaren Gipfel der Alpanas. »Wir werden die Nacht oberhalb des Pfades im Vorgebirge verbringen. Morgen machen wir uns dann auf den Weg zum nördlichen Tempel.«

»Danke«, sage ich leise.

Er antwortet mit einem leichten Nicken, wobei seine weichen Barthaare über meine Wange streichen. »Sei wachsam. Die Rebellen können immer noch in der Nähe sein.«

Wir treiben die Kamele an und lassen die brennenden Ruinen und den Geruch des Todes hinter uns.

Unsere Karawane nimmt den gen Osten führenden Weg, der nach Iresh führt, dem Hauptsitz des Sultanats von Janardan. Der Tod des Rajahs und die Besetzung von Vanhi durch den Warlord hat zu einer Massenflucht der Bevölkerung geführt, und während der vergangenen zwei Monate haben Tausende von Füßen einen Pfad in den Erdboden getreten, der jetzt durch das ausgetrocknete Tal zum Sultanat führt.

Vor uns folgt eine Gruppe von Flüchtlingen diesem Pfad. Eine Frau, die in einem Schultertuch ein Baby vor der Brust trägt, schleppt sich dahin, während sich zwei halbwüchsige Jungen mit dem Handkarren abmühen, der ihre spärlichen Besitztümer und die Verpflegung für die Reise enthält. Ein kleines Mädchen läuft nebenher und schlägt mit einem knotigen Stock gegen die Radspeichen.

Die Frau bemerkt, dass wir näher kommen, und macht ihren Söhnen Zeichen, anzuhalten. Während sie den Karren anhalten und sich den Schweiß vom Gesicht wischen, lässt uns die Frau nicht aus den Augen. Der Wind weht geflochtene Haarsträhnen über ihr sonnenverbranntes Gesicht.

»Seid gegrüßt«, sagt Deven.

Sie presst das Kind fester an ihre Brust, und mit der anderen Hand, die teilweise unter ihrem Sari verborgen ist, umklammert sie ein Messer. Nicht nur zahlreiche Flüchtlinge folgen diesem Weg, sondern auch Diebe, die es auf die Reisenden abgesehen haben.

Brac lenkt sein Kamel über den Pfad, gefolgt von Yatin und Natesa. Ich halte unser Kamel auf der Mitte der Straße an.

»Entschuldigt bitte«, rufe ich, »habt Ihr irgendwelche Neuigkeiten aus Vanhi?«

Die Frau blickt mich mit unverhohlenem Misstrauen an. »Keine, seit der Warlord die Stadt eingenommen hat. Mein Mann diente bei den Truppen im Palast, und es heißt, dass der Warlord ihn und alle Wachen hingerichtet habe.«

Das Herz klopft mir in der Brust. Bei den Versorgungsbrunnen außerhalb der Stadt hatten wir gehört, dass Hastin die Tore zum Palast verriegelt und jedermann darin eingeschlossen habe. Das Volk von Vanhi hält Hastin für den Mörder Tareks, kaum jemand kennt die Wahrheit.

Ich greife in meine Satteltasche, und sofort hebt die Frau ihr Messer.

»Ich will keinen Ärger«, warnt sie mich.

»Wir ebenfalls nicht«, versuche ich sie zu beruhigen.

Meine Fingerspitzen ertasten den Griff des Dolchs, dessen Gegenstück an meinem Schenkel befestigt ist. Die Dolche gehörten meiner Mutter, der ersten Frau des Rajahs. Mathura hat sie bei der Flucht aus dem Palast an sich genommen, und Deven hat mir beigebracht, sie zu benutzen. Inzwischen beherrsche ich sie so sicher wie einst meine Schleuder. Ich taste weiter, finde, wonach ich gesucht habe, und ziehe langsam meine Hand hervor. Die Frau starrt das Kopftuch an.

»Für Euch.« Ich reiche es ihr.

»Ich brauche Eure Hilfe nicht.«

»Na schön, aber was wird aus Euren Kindern, wenn Ihr einen Sonnenstich bekommt?«

Ihr Blick ist nicht mehr ganz so finster, dennoch weigert sie sich, das Tuch anzunehmen.

Weiter hinten auf der Straße schleppt sich ein Zug aus Menschen und Wagen in unsere Richtung. Soldaten. Sie tragen die dunkelroten Uniformen des tarachandischen Reichs mit dem Wappen des schwarzen Skorpions auf der Brust. Die gleiche Uniform, die Deven einst getragen hat. Sie führen keine Banner mit sich, und so weit entfernt vom nächsten Stützpunkt handelt es sich zweifellos um Deserteure. Nicht nur Zivilisten flüchten vor dem Warlord.

Ich spüre Devens Anspannung, die mir wortlos mitteilt, dass wir weiterreiten sollten, bevor die Soldaten uns erreichen.

Die Kinder beobachten gespannt, wie ich mit dem Kopftuch wedele. »Bitte nehmt es.«

Die Frau kommt vorsichtig auf mich zu und packt mit spitzen Fingern einen Zipfel des Tuchs. Als sie meinen Handrücken erblickt, werden ihre Augen groß.

»Hoheit«, flüstert sie und kniet nieder. Ihre Söhne knien ebenfalls nieder, und sie macht ihrer Tochter Zeichen, ihrem Beispiel zu folgen. »Vergebt uns, wir haben Euch nicht erkannt.«

Beim Geräusch der näher kommenden Soldaten krampft mein Magen. Ich hätte beinahe vergessen, wie sehr ich es hasse, wenn man vor mir niederkniet. Bei der Vorstellung, wie viele Menschen gleich zu meinen Füßen knien könnten, bin ich kurz angebunden. »Ich habe Euch nichts zu vergeben. Aber verratet niemandem, dass Ihr mich gesehen habt.«

»Natürlich nicht, Hoheit. Mögen die Götter mit Euch sein.«

»Und mit Euch.« Ich greife nach den Zügeln, um das Kamel anzutreiben.

Wir überqueren die Straße und reiten die steinigen Hügel hinauf. Hinter uns umarmt die Mutter ihre Kinder und weint. Sie weint nicht, weil sie sich ängstlich oder elend fühlt, sondern vor Glück, was mich erschauern lässt. Ich werde ihre Familie in meine täglichen Gebete einschließen.

Deven beobachtet immer noch die Soldaten, die inzwischen die letzte Biegung erreicht haben. Er entspannt sich erst, als wir außer Sichtweite sind. »Das war wirklich nett von dir.« Seine Stimme ist wie ein sanftes Streicheln in meinem Nacken.

»Es war nur ein Kopftuch«, antworte ich.

»Es war mehr als das. Du bist die Hauptfrau. Dass sie dir hier begegnet ist, hat ihr neue Hoffnung gegeben.«

Ich rutsche unbehaglich im Sattel hin und her. Ich mag eine Hoheit sein, aber deswegen muss ich mich noch lange nicht hoheitlich benehmen. Diese Frau und ihre Familie wären nie gezwungen gewesen, aus ihrem Heim zu fliehen, wäre ich nicht so dumm gewesen, Hastin zu vertrauen. Ich habe mit ihm meine Freiheit ausgehandelt, aber was ich verloren habe, war mehr als das. Ich bin davon ausgegangen, dass mit Rajah Tareks Tod seine Ranis und Kurtisanen freikommen, aber stattdessen sind sie jetzt Hastins Gefangene im Palast der Türkise. Als Hauptfrau war ich zugleich die oberste Rani, die, zu der sie aufblickten, ihre Freundin. Und ich habe es weder geschafft, sie zu beschützen, noch meine liebste Freundin Jaya zu retten.

»Sie sollten mich nicht mehr als Hoheit ansehen«, sage ich mit ausdrucksloser Stimme.

»Deine Pflichten gegenüber dem Thron bestehen, solange Prinz Ashwin dich nicht von ihnen entbindet«, bringt mir Deven in Erinnerung. »Die Kunde von deinem Triumph im Turnier hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Das Volk liebt dich, so wie du das Volk liebst. Mit deinem Sieg hast du dir ihre Anerkennung erworben, das darfst du nicht kleinreden.«

Ich frage ihn lieber nicht, was mein Sieg ihm bedeutet. Ich habe um den Titel gekämpft, aber der wahre Kampf besteht darin, das viele Blutvergießen während des Turniers zu vergessen.

Meistens gelingt es mir, manchmal nicht. Aber es ist nicht mein Sieg in der Arena oder der Verlust von Devens Dienstgrad, der zwischen uns steht. Was uns wirklich trennt, ist meine Vermählung mit dem Rajah. Der gleiche Grund, aus dem ich ein Symbol der Hoffnung für diese um ihr Überleben kämpfende Familie bin, hält Deven davon ab, sich mir zu nähern. Für das Volk sind mein Schicksal und meine Zukunft untrennbar mit dem Thron verbunden. Von dieser Überzeugung kann ich sie – oder Deven – genauso wenig abbringen, wie ich meine Vermählung mit Tarek ungeschehen machen oder Jaya wieder zum Leben erwecken kann.

Mein Blick fällt auf die Fußspuren, die durch das Tal führen, und der Gedanke an die mühevollen Schritte der vielen Flüchtenden lastet auf meinem Herzen. Das Reich hat sich verändert, seit ich die einhundertste Königin des Rajahs wurde. Das Volk von Tarachand lebt in Düsternis, Verzweiflung und der ständigen Furcht, dass noch mehr Unschuldige sterben müssen. Ich kann nichts Würdevolles darin erkennen, all dieses Leid verursacht zu haben.