Peter Handke

Meine Ortstafeln — Meine Zeittafeln

Suhrkamp Verlag

Die Reise nach Kolonos

Das Übersetzen des Ödipus in Kolonos hatte mich vom Mai bis zum September 2002 beschäftigt. Mittendrin nahm ich mir vor, zu dem Kolonos von heute zu reisen. Lange hatte mir der Ort als eine Art Insel vorgeschwebt, wohl auch durch den eingebürgerten deutschen Titel des Dramas, »… auf Kolonos«. Selbst als sich herausstellte, Kolonos sei inzwischen ein Bezirk des jetzigen Groß-Athen, glaubte ich diesen Bezirk weit draußen in der Landschaft von Attika, irgendwo an den Rändern. Auf den mir in der Ferne verfügbaren Athen-Plänen war jedenfalls kein »Kolonos« eingezeichnet. Ein Kenner der griechischen Hauptstadt erzählte mir dann freilich, das Viertel oder der »Demos« Kolonos befinde sich in einer Art Zwischenzone, fast nah dem Zentrum mit der Akropolis, dem Parlamentsplatz und dem Likavitos-Hügel. Er kannte nicht nur das Quartier, sondern auch mehr oder weniger mich und sagte, in Kolonos sei weder etwas zu besichtigen, noch sei dort etwas los (er sprach französisch und meinte »C'est null«), und also werde es mir dort gefallen.

Zu Anfang dieses Jahres 2003 jetzt bin ich endlich nach Kolonos aufgebrochen. Ich habe in seinen Straßen, auf seinen Plätzen und in seinen gar spärlichen »Parks« einen ganzen Tag verbracht, und es wurde mit der Zeit mehr oder anderes als »Gefallen«, was mich in Kolonos bleiben oder verweilen ließ. Am Morgen in Piräus, von wo ich mich auf den Weg machte, rüstete ich mich mit einem riesigen, gar nicht so umstandslos auf- und zuzufaltenden Athen-Plan, in welchem »Kolonos« endlich verzeichnet stand, wenn auch nicht, wie die Touristenstätten alle, mit den allgemein lesbaren lateinischen Lettern unter den originalgriechischen Schriftzeichen: da fand sich allein Κολωνός in blaßblauer, schwer aufzuspürender Kleinhandschrift, während die Straßennamen ganz Athens schwarze, deutliche Druckbuchstaben hatten. Aber jedenfalls: da war es, unmittelbar angrenzend an die innere Stadt, zur Linken des Peloponnesbahnhofs und seines breiten Gleisfelds, den Beginn des Nordwestens der Kapitale markierend, wozu auch die geradewegs nordwestwärts führende, dabei gar schmale Hauptstraße paßte, samt ihrem Namen Ioanninastraße — die Stadt Ioannina, mit der archaischen Orakelstätte Dodona in der Nähe, liegt ja ziemlich genau in dieser Richtung, vielleicht drei-, vierhundert Kilometer weiter — und ebenso gibt es eine Dodonastraße in Kolonos, mehr stadtauswärts, welche die Ioanninastraße kreuzt.

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Es wurde an diesem 3. Januar 2003 bald warm, und ich ging mit dem Mantel über dem Arm. Am Vorabend hatte mich in einem Café ein älterer Mann angesprochen und mir dann Andeutungen zum heutigen Kolonos gemacht: »Nachtleben«; »Albaner« (es war ja auch, von Piräus aus, die Richtung nach Albanien), »Morde«. Zugleich war im Fernseher der Gaststätte der Vorabend-Quiz im Gang, und eine der Fragen, im Mythenteil, lautete, wie der von seinem Sohn Ödipus unwissend am Kreuzweg erschlagene König von Theben und Mann der Iokaste (die, Mutter des Ödipus, später unwissend ihres Sohns Frau und Geliebte werden sollte), geheißen habe. »Laios!« rief einer der Gefragten im TV.

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Jetzt am Tage hatte Kolonos vordringlich den Anschein eines, nicht bloß in Athen, erstaunlich stillen, dabei bescheidenen und schön belebten Wohnviertels. Gab es denn keine Läden? Doch, fast jedes Gebäude hatte einen — der aber so unscheinbar war, daß man ihn auf den ersten Blick kaum als das Gemüse- und Früchtegeschäft, die Schusterwerkstatt, die Garage, die Bäckerei, die Fischhandlung sah; erst im Betreten des in der Regel eher licht- und schaufensterlosen Parterreraumes zeigte sich in diesem allmählich das, was zu einem Handel gehörte. Und wie fast eine Regel an neuen Orten: Schon nach den ersten Schritten wurde ich Fremder dort nach dem Weg gefragt, und gleich dann wieder.

Ich hatte erwartet, es werde in Athen-Kolonos bergauf gehen. Aber sämtliche Straßen, in die ich dann vom Hodos Ioanninon abbog, waren fast ohne Steigung und verliefen auch mehr oder weniger geradeaus. Immer wieder schaute ich mich da wie dort um, ob sich nicht einmal im Südosten, wie vom Ödipus in Kolonos vor fast zweieinhalbtausend Jahren beschworen, die Akropolis, die Hohe Stadt, der kalkig-mamorne Felsen mit dem Parthenontempel zeigte. Dieser erschien später, kaum wahrnehmbar weit hinter der breiten Gleisschneise vom Peloponnesbahnhof, im Fluchtpunkt der Häuserzeilen, die, viel höher als die meisten in Kolonos, schon zum anderen Stadtteil namens »Attiki« gehörten. Hier machte ich kehrt: allein das Durchstreifen von Kolonos zählte an diesem Tag. Vorher versuchte ich noch ein Photo der Akropolis von der Stadtteilgrenze aus, mit einer »Einweg«-Kamera, zuvor gekauft in einem kleinen Laden am Platz der Kirche des Heiligen Meletios, wo Kolonos sein Zentrum zu haben schien, mit Cafés (kafeneia), Restaurants (estiatoria), fußballspielenden Kindern, karten- und würfelspielenden Alten — in ganz Kolonos aber nirgends ein Hotel oder auch nur eine Etagenpension? Auch kein Kino? (Auf dem entwickelten Photo dann gab sich der Athener Burgberg nicht zu erkennen.) Auf dem besagten Platz (plateia) fanden sich auch zwei Zeitungskioske, die Journale wie in Griechenland üblich mit Wäscheklammern befestigt; »internationale Presse«? ja, aber nur rumänisch, bulgarisch und albanisch; zwischen den Kiosken ein Gedenkstein für die örtlichen Opfer der deutschen Besetzung von 1941 bis 1944, eins der Opfer mit dem Vornamen Sokrates. »Ruhm und Ehre, time kai doxa

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Wurde in dem Drama des heimstattsuchenden »Irrsterns« Ödipus nicht einmal erwähnt, daß Kolonos schluchtenreich ist, mit zwei aufragenden Felsköpfen? War im Lauf der Jahrtausende denn auch hier das Land planiert worden? Im Vertrauen, zumindest noch Spuren der einstigen Erhebungen zu finden, kurvte ich in den folgenden Stunden durch die Straßen, kreuz und quer, in sämtliche Himmels- und Windrichtungen; eine der Straßen hieß »Hodos Himarras«; etwa Sturzbachstraße, eine diese kreuzende, sehr lange, »Straße des Nördlichen Epirus« (und in meiner Vorstellung war Ödipus, geführt von seiner Tochter Antigone, da auf seinem Umherstreifen durch Hellas dahergekommen — kein blinder Greis freilich zu erspähen an diesem Januartag — dafür noch und noch alte Männer mit dunklen Brillen und — nicht weißen — Stöcken, jeder alleingehend). Es fand sich auch, an der Westgrenze von Kolonos, eine »Ödipusstraße«, dahinter, parallel zu ihr, eine »Antigonestraße«, und sogar der Bösewicht Kreon, gleich wie die »Blutschänderin« Iokaste, war in Kolonos als Straßenpatron gewürdigt. Doch diese Wege verliefen samt und sonders weiter im Flachen, und ebenso gab es in der Straße, die nach einem Sturzbach hieß, von einem solchen, selbst jetzt im Winter, da es in Attika doch zeitweise regnete, weder Spur noch Nachbild. Dabei rief doch der »Ödipus von Kolonos« deutlich die Quellen, das Wasserrauschen usw. an, ebenso wie die Felsgupfe.

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Es zeigte sich endlich eine Art Erhebung, und die Landkarte half mir dabei. Irgendwo stand da »Hügel (lofos) des Verschwundenen Kolonos« (wenn ich das richtig entziffert habe …), und auf dem Weg dahin, welcher sich unversehens San-Franciscohaft wellte, fand sich zu meiner Rechten eine Erhebung, die, jedenfalls so aus der Nähe, mehr schien als ein bloßer Hügel eben der im Drama besprochene Felskopf. Wieder eine Kirche an dessen Fuß, namens Hagios (Hl.) Aimilianos, und obenauf ein Kinderspielplatz und eine Gaststätte, in der Hauptsache aber Dickicht und Unterholz, und der Sockel endlich wie unversehrt, mit Bahnen und Schichten des nackten fast weißen Kalksteins (s. »schimmerndes Kolonos«, Vers 670), und der Name der Klippe, Skuse, kam der von skuseïn = plärren, schreien oder vom altgriechischen Skotia, Finsternis? Von hier oben mußte doch das Athener Zentrum, samt Akropolis, zu sehen sein? Ich, einziger Gast, ging lange auf der Terrasse des Gipfelcafés hin und her, und suchte. Aber der Südosthang da war wohl die bevorzugte Wohnlage von Kolonos, und die Häuser hatten, sehr ungewöhnlich für den Ort, mehrere Stockwerke; schließlich fragte ich das Kind des Wirts, und es zeigte durch die Gebäudebarrieren durch auf Athen-Mitte.

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Auch von der zweiten Erhebung aus, dem Hügel des Entschwundenen ‌(?) Kolonos, durch die da dicht auf dicht wachsenden Hainkiefern usw., kein bißchen Zentrumsblick. Aber wozu auch? Im großen Bogen und kreuz und quer durch die Ismene-Straße, über die Xanthippe-Straße und so weiter zurück zum — jedenfalls mir so erscheinenden — Zentrum von Kolonos selbst, dem Platz des Hagios M. Dort Rast auf einer Lokalterrasse, in einer Seitenstraße. Der Wirt wunderte sich, daß sein Gast »bei der Kälte« (ungefähr 15) im Freien sitzen wollte.

Noch nie war bei ihm ein Nicht-Einheimischer gewesen, vielleicht nicht einmal einer aus Zentral-Athen. Er setzte sich zu mir: Was ich hier suchte? Ödipus? In Kolonos? Noch nie gehört. Er rief seine Frau zu Hilfe, dann auch seine Tochter. Allgemeines Kopfschütteln. (Später erzählte mir eine alte Lehrerin für das alte Griechisch, Ödipus, der Vatermörder und Mutterbeischläfer, sei »im Volk« immer noch eine Art Tabu-Gestalt.) Erleichterung dann bei der ganzen Wirtsfamilie, als zwei liebliche Kinder erschienen: die Enkel, die der Großvater wie etwas Langerwartetes und Langvermißtes fast schmerzhaft fest in die Arme schloß, mit einem Blick auf mich, der sagte: »Das da ist wirklich. Das da ist jetzt. Das da zählt!«

Ich kreuzte weiter durch Kolonos, bis nach Sonnenuntergang, der nur dann viel zu früh kam. Den Text des Oidipous epi Kolonoi hatte ich zwar nicht dabei. Doch jener Lobgesang auf den Landstrich, angestimmt einmal, zwischen Litanei und Ballade, vom Chor der Einheimischen in dem Stück, geisterte mir im Hin- und Herwandern immer wieder durch den Sinn und durch die Sinne: Gutpferdeland — kindernährende (sic) unsterbliche Olivenbäume — Nachtigallen trällernd (oder schluchzend) unter wildem Efeu goldstrotzender Safran (im Paläogriechischen Krokos) — und das alles bewässert und befruchtet vom Flusse Kefissos — und das Meer so nahe, mit dem Stolz des Landes, der attischen Flotte. Unwillkürlich hielt ich in Kolonos Ausschau und horchte auf das vor zweitausendfünfhundert Jahren derart Gepriesene. Ja, es gab noch die Olivenbäume, sogar hier und da als Gehsteiggewächse, ab und zu die reifen Januaroliven im Rinnstein. (Weit häufiger freilich die Orangenalleen.) Auch der wilde Efeu wucherte — nur daß es für Nachtigallenschmettern wohl zu hell und doch zu winterlich war.

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Safran? Vielleicht; nur hätte ich zum Finden einen Führer gebraucht. Pferde: kein einziges. Vom Hafen (in Piräus) trotz der Stille in Kolonos nichts zu hören. Was fehlte, war vor allem der Fluß da, der Kefissos, der einst Tag für Tag daherkam in die Ebene »mit sauberem Schwall«. Erst am Abend, auf der Rückfahrt durch Piräus, bekam ich den Kefissos (neugriechisch Kifissos) zu Gesicht, als mein Mitfahrer, ein Einheimischer, plötzlich seinen Namen ausrief. Wegen des ersten »i« im Ausruf verstand ich zunächst nicht. Dann aber: das Glänzen des gar nicht so schmalen Gewässers unter dem Abendhimmel, kurz vor der Mündung ins Meer — erst da durfte der Fluß, zuvor mehr unter die Erde gedrängt, als vollständiger Wasserlauf an den Tag treten, für seine letzte attische Fließmeile; in Kolonos, an dessen Westrand, so sah ich es später auf der Karte, war er im Lauf der Zeit abgedrängt und eingeengt worden zwischen mächtigen Schnellstraßen. Wie stolz jedoch hatte der Einheimische seinen Fluß aus- und angerufen — »Kifissos!« war überhaupt das einzige Wort gewesen, das auf der langen Fahrt aus seinem Mund kam: »Kifissos! Potamos.« Und später ging mir, im Nachlesen der Verse 668-719, auch auf, daß mit dem Lobpreis Kolonos' durch den Einheimischen-Chor (Kolonos als »pars pro toto«) ganz Athen, die ganze heimatliche Polis besungen wurde — daß jenes Evozieren des eher kleinen Orts sich allmählich in eines des großen, ihn mitumfassenden verwandelte. Im Licht des Abendhimmels, so meernah, hatte der Fluß, schön-trügerisch, wie in den archaischen Versen Reinheit ausgestrahlt.

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Am Morgen darauf war ich mit der pensionierten Lehrerin für Altgriechisch verabredet, in Piräus. Sie war in der Hafenstadt geboren und ging während des Zweiten Weltkriegs da auch ins Gymnasium. Doch als gegen Kriegsende die Alliierten den Hafen bombardierten, wurde sie mit ihren Eltern nach Athen evakuiert, das als Offene Stadt bombengeschützt war, und fand Zuflucht im Athener Stadtteil Kolonos. Dort blieb die Familie in einem ebenerdigen Zimmer ein Jahr lang. Von einem »Ödipus in Kolonos«, einem blinden Greis, der dort Asyl sucht und findet, wußte das Kind zu der Zeit nichts. Erst später: was für ein Staunen. Und noch später: daß sie als Lehrerin wieder anderen Kindern (in Piräus) das alte Drama nahebrachte. Doch seit dem Ende des Kriegs, seit ihrer eigenen Kinderzeit war sie nicht ein Mal nach Kolonos zurückgekehrt. Einen der lofoi, der Hügel dort, hatte sie immerhin noch im Gedächtnis: den, wo der nackte Fels hervorkam, den mit dem Unterholz: da war sie ein paarmal, mit der Mutter freilich in der Nähe, spielen gegangen. Und auch sie stimmte dann, zusammen mit ihren beiden Töchtern, eine Art Litanei an, über Kolonos hinaus auf ganz Athen, auf dessen kaum mehr sichtbare Flüsse: »Kifissos! Ilissos! Eridanos!« Die beiden letzteren habe ich bis jetzt auf meiner Karte nicht gefunden.

P. ‌S., tags darauf: Inzwischen weiß ich doch, wo Eridanos und Ilissos ungefähr durch Athen fließen (fern von Kolonos).