Peter Handke

Begrüßung des Aufsichtsrats

Suhrkamp Verlag

Begrüßung des Aufsichtsrats

Meine Herren, es ist sehr kalt hier. Ich weiß nicht, wie ich diesen Umstand erklären soll. Vor einer Stunde habe ich aus der Stadt angerufen, um zu fragen, ob alles für die Sitzung bereit sei; jedoch es meldete sich niemand. Ich fuhr schnell her und suchte den Portier; ich traf ihn weder in seiner Loge noch unten im Keller beim Ofen noch in der Halle. In diesem Raum fand ich endlich seine Frau; sie saß in der Finsternis auf einem Schemel neben der Tür; den Kopf hatte sie zwischen die Knie gepreßt, mit den Händen hielt sie hinten den Nacken umklammert. Ich fragte sie, was geschehen sei. Ohne sich zu bewegen, sagte sie, ihr Mann sei weggegangen; ein Auto habe beim Rodeln eins ihrer Kinder überfahren. Das ist der Grund, daß die Räume nicht geheizt worden sind; ich bitte Sie dafür um Nachsicht; was ich zu sagen habe, wird nicht lange dauern. Vielleicht ist es besser, wenn Sie mit den Stühlen ein wenig heranrücken, damit ich nicht zu schreien brauche; ich möchte keine politische Ansprache halten, sondern Ihnen einen Bericht geben über die finanzielle Lage der Gesellschaft. Es tut mir leid, daß die Scheiben der Fenster durch den Sturm zerbrochen sind; obwohl ich in der Zeit, bevor Sie kamen, mit der Frau des Portiers diese Plastiksäcke vor die Öffnungen gespannt habe, damit der Schnee nicht hereinwehte, ist es mir dennoch, wie Sie sehen, nicht gänzlich gelungen, es zu verhindern. Lassen Sie sich jedoch durch das Knistern nicht davon abhalten, mir zuzuhören, wenn ich Ihnen das Ergebnis der Prüfung der Bilanz vortrage; es ist nämlich kein Grund zur Besorgnis; ich kann Ihnen versichern, daß die Geschäftsführung des Vorstands rechtlich nicht anfechtbar ist. (Kommen Sie bitte noch etwas näher, wenn Sie mich nicht verstehen.) Ich bedaure, daß ich Sie unter solchen Verhältnissen hier begrüßen muß; das wäre wohl nicht so gekommen, wäre nicht das Kind mit dem Schlitten gerade vor das Auto gefahren; die Frau, während sie einen Plastiksack mit einem Faden vor das Fenster band, erzählte mir, ihr Mann habe auf einmal unten im Keller, in den er gerade die Kohlen verräumte, aufgeschrien; sie selber war hier im Raum und stellte die Stühle für die Sitzung auf; plötzlich hörte sie ihren Mann unten brüllen; sie stand, wie sie erzählte, lange Zeit auf dem Ort, an dem der Schrei sie getroffen hatte; sie lauschte. Dann erschien ihr Mann in der Tür, der Kübel mit der Kohle hing ihm noch in der Hand; er sagte leise, während er zur Seite blickte, was sich ereignet hatte; das zweite Kind habe die Nachricht gebracht. Da also der abwesende Portier die Liste mit Ihren Namen hat, möchte ich Sie alle begrüßen, so wie ich Sie sehe, und wie Sie gekommen sind. Ich habe gesagt: wie ich Sie sehe, und wie Sie gekommen sind. (Das ist der Wind.) Ich danke Ihnen, daß Sie sich in dieser Kälte durch diesen Schnee zur Sitzung auf den Weg gemacht haben; es war ja ein weiter Weg herauf. Vielleicht haben Sie geglaubt, Sie würden in einen Raum treten, in dem das Eis schon von den Fenstern geschmolzen wäre, und Sie könnten sich um den Ofen scharen und wärmen; jetzt aber sitzen Sie noch in den Mänteln am Tisch, und es ist noch nicht einmal der Schnee geschmolzen, der sich von Ihren Sohlen gelöst hat, als Sie vom Eingang her zu den Stühlen gingen; es steht auch kein Ofen im Raum; wir sehen nur ein schwarzes Loch in der Wand, wo früher das Blechrohr war, als dieser Raum und dieses öde Haus noch bewohnt wurden. Ich danke Ihnen, daß Sie gleichwohl gekommen sind; ich danke Ihnen und begrüße Sie. Ich begrüße Sie. Ich begrüße Sie! Zuerst begrüße ich herzlich den Herrn, der dort beim Eingang sitzt, wo früher in der Finsternis die Frau des Bauern gesessen ist; ich begrüße den Herrn und danke ihm. Als er vor einigen Tagen den eingeschriebenen Brief erhielt, der diese Sitzung bekanntgab, auf der die Rechnungslegung des Vorstands geprüft werden sollte, hielt er das vielleicht für unnötig, zumal es kalt war und seit langem der Schnee fiel; jedoch dann verfiel er auf den Gedanken, es sei etwas nicht in Ordnung mit der Gesellschaft: es knistere verdächtig in ihrem Gebälk. Ich sagte, er glaubte vielleicht, es knistere im Gebälk. Nein, es knistert nicht im Gebälk der Gesellschaft. (Entschuldigen Sie, was für ein Sturm.) Er begab sich also auf die Reise und fuhr durch diesen Schnee in dieser Kälte aus der Stadt hierher zu der Sitzung; unten im Dorf mußte er seinen Wagen abstellen; es führt nur ein schmaler Pfad zu dem Hause herauf. Er saß dann im Wirtshaus und las in der Zeitung die Wirtschaftsberichte, bis die Zeit kam, zu der Sitzung aufzubrechen. Unterwegs im Wald traf er einen zweiten Herrn, der ebenfalls schon zur Sitzung marschierte: dieser stand an ein Wegkreuz gelehnt und hielt mit der einen Hand seinen Hut fest, mit der andern umklammerte er einen gefrorenen Apfel; auf Stirn und Haaren lag der Schnee. Ich sagte: der Schnee häufte sich auf den Haaren, er aß von einem gefrorenen Apfel. Als der erste Herr ihn erreicht hatte, begrüßten die beiden einander, und der zweite griff in die Tasche des Mantels und reichte auch dem ersten einen gefrorenen Apfel; dabei stieg ihm infolge des Sturms der Hut vom Kopf, und die beiden lachten. Die beiden lachten. (Rücken Sie bitte noch etwas näher, sonst können Sie gar nichts verstehen. Es knistert zudem im Gebälk. Es knistert nicht im Gebälk der Gesellschaft; Sie alle werden die Anteile bekommen, die Ihnen für das Geschäftsjahr zustehen; das wollte ich Ihnen heute in dieser außerordentlichen Sitzung mitteilen.) Während die zwei nun gemeinsam durch den Schnee gegen den Sturm vorwärts gingen, war unten im Dorf bereits die Limousine mit den anderen Herren angekommen. In den schwarzen, sich schwerfällig buchtenden Mänteln standen sie im Windschutz des Autos und berieten, ob sie zu dem verfallenen Bauernhaus steigen sollten. Ich habe gesagt: Bauernhaus. Obwohl sie gewiß gegen den Weg ihre Bedenken hatten, überredete schließlich einer die Furcht der andern mit der Sorge um die Lage der Gesellschaft; und nachdem sie im Wirtshaus die Wirtschaftsberichte gelesen hatten, brachen sie auf und gingen, indem sie die Knie anzogen, hierher zu der Sitzung; es leitete sie die ehrliche Sorge um die Gesellschaft. Zuerst traten ihre Füße kräftig Löcher in den Schnee; dann begannen sie müder dahinzuschleifen, so daß allmählich ein Weg entstand. Einmal hielten sie an und schauten, wie Sie sich erinnern, zurück in das Tal: aus dem schwarzen Himmel flogen die Flocken über sie hin; sie sahen Spuren vor sich, von denen die eine hinunter führte und kaum noch zu deuten war: da war der Bauer gelaufen, als er von dem Unfall seines Kindes gehört hatte; oft war er wohl gefallen, mit dem Gesicht voran, ohne sich mit den Händen zu schützen; oft war er tief verbohrt in dem Schnee gelegen, in der Kälte; oft hatte er sich mit den zitternden Fingern eingegraben; oft hatte er mit der Zunge die bitteren Flocken geleckt, wenn er gefallen war; oft hatte er gebrüllt unter dem stürmischen Himmel. Ich wiederhole: Oft hatte der Bauer gebrüllt unter dem stürmischen Himmel! Sie erblickten auch Spuren, die heraufführten zu dem verfallenen Bauernhaus, die Spuren der zwei Herren, die, während sie sich über die Lage der Gesellschaft unterhielten und über die Erhöhung des Kapitals durch die Ausgabe neuer Aktien, die grünen glasigen Bissen schluckten und durch den Sturm hinanwanderten. Schließlich kamen Sie alle, da war es schon Nacht, hierher zu dem Haus und traten durch den offenen Eingang herein; die beiden ersten saßen schon da und hielten wie jetzt die Notizblöcke auf den Knien und den Bleistift zwischen den Fingern; Sie warteten, daß ich mit meiner Begrüßung begänne, damit Sie mitschreiben könnten. Ich begrüße Sie also allesamt und danke Ihnen, daß Sie gekommen sind: ich begrüße die Herren, die die gefrorenen Äpfel essen, während Sie meine Worte aufschreiben, ich begrüße die andern vier Herren, die mit ihrer Limousine den Sohn des Bauern überfahren haben, als sie auf der verschneiten Straße zum Dorf her rasten: den Sohn des Bauern, den Sohn des Portiers. (Jetzt knistert es im Gebälk; es knistert im Gebälk des Daches, das ist der schwere Schnee; es knistert nicht im Gebälk der Gesellschaft. Die Bilanz ist aktiv; es sind bei der Geschäftsführung keine Umtriebe vorgekommen. Es biegen sich nur die Balken durch den Plafond, es knistert im Gebälk.) Danken möchte ich noch dem Bauern für alles, was er für diese Sitzung getan hat: an den vorangegangenen Tagen stieg er unten von seinem Gehöft mit einer Leiter hier zu dem Haus herauf, um den Raum zu streichen; die Leiter trug er auf der Schulter, mit dem gewinkelten Arm hielt er sie fest, in der Linken trug er den Kübel mit Kalk, in dem das gebrochene Ende eines Besens steckte. Mit diesem weißte er sodann die Wand, nachdem seine Kinder das Holz, das bis zu den Fenstern gestapelt lag, auf ihren Schlitten zum Hof geführt hatten. Den Kübel in der einen, die Leiter in der andern Hand, stapfte der Bauer herauf und bereitete emsig den Raum für die Sitzung; schreiend liefen vor ihm die Kinder mit den Schlitten und bahnten ihm einen Weg; ihre Schals flatterten im Wind. Jetzt noch sehen wir die weißen Ringe auf dem Boden, die einander überschneiden: dort stellte der Bauer den Kübel ab, sooft er von der Leiter stieg, um die nächste Stelle zu streichen; die schwarzen Ringe beim Eingang, wo jetzt der staubige Schnee in den Raum fährt, sind durch die Töpfe mit der feuergekochten Suppe entstanden, die die Bäurin den andern zur Essenszeit brachte: es saßen dann die drei auf dem Boden, oder sie hockten auch auf den Fersen und tauchten schlemmend die Löffel ein; indessen stand die Bäurin am Eingang, die Arme locker über der Weste, und sang das Volkslied vom Schnee; dazu schlürften die Kinder im Takt und wiegten eifrig die Köpfe. (Ich bitte Sie jedoch, nicht unruhig zu werden: es ist kein Anlaß zur Besorgnis um die Gesellschaft; was Sie so knistern hören, ist das Gebälk des Daches, ist der schwere Schnee auf dem Dach, der das Gebälk so knistern macht.) Ich danke also dem Bauern für alles, was er getan hat; ich würde ihn begrüßen, wenn er nicht unten im Dorf bei dem überfahrenen Kinde wäre, ich würde auch die Bäurin begrüßen und ich würde ihr danken, und ich würde auch die Kinder begrüßen und ihnen herzlich für all das danken, was sie für diese Sitzung getan haben. Ich danke überhaupt Ihnen allen und begrüße Sie. Ich bitte Sie jedoch, auf den Plätzen zu bleiben, damit durch die Schritte das Dach nicht erschüttert wird. Was für ein Sturm! Ich habe gesagt: Was für ein Sturm. Bleiben Sie ruhig auf den Plätzen. Ich danke Ihnen allen für Ihr Kommen und begrüße Sie. Es kracht nur im Gebälk. Ich habe gesagt, es kracht im Gebälk; ich habe gesagt, Sie sollten ruhig auf den Plätzen bleiben, damit das Gebäude nicht einstürzt. Ich habe gesagt, daß ich gesagt habe, Sie sollten ruhig auf den Plätzen bleiben. Ich habe gesagt, daß ich gesagt habe, daß ich gesagt habe, Sie sollten auf den Plätzen bleiben! Ich begrüße Sie! Ich habe gesagt, daß ich gesagt habe, ich begrüße Sie. Ich begrüße Sie alle, die Sie um Ihre Dividenden kommen! Ich begrüße Sie alle! Ich begrüße Sie. Ich

(1964)

Der Hausierer

Die Kleider eines Hausierers sind gewöhnlich braun; manchmal sind sie auch grau; die Hose ist zu weit und flattert ihm um die Beine, wenn er geht. An den Knien ist sie meist zerrissen; hinten seltener, weil die Zuschauer abgelenkt würden, sooft er ihnen den Rücken kehrt. Ein Hausierer bewegt sich, indem er den oberen Teil seines Körpers schief nach hinten geneigt hält; nur den Kopf läßt er zur Seite auf den Hals hängen und schaut auf diese Weise einen Augenblick an sich herunter, bevor sein Gesicht unruhig wird und er zu sprechen beginnt, während dabei seine Hand den Rucksack langsam von den Schultern streift. Es kann sein, daß er mit einem Kind spricht; denn der Ausdruck seiner Augen, der eben noch unbestimmbar war, wird als ein Lächeln gedeutet. Während er nun den Rucksack entschnürt, spricht er weiter, den Kopf mit den borstig abstehenden Haaren, die ihm auch aus den Ohren wachsen, nicht hinab auf die Hände gerichtet, sondern geradeaus; da er aber jetzt hockt, das eine Knie schon auf der Erde, spricht er wohl zu einem Kind, das ihm beim Sprechen zuschaut. Er holt eine Schokolade hervor und gibt sie also dem Kind, das die Hülle abstreift und mit dem Fingernagel das Silberpapier zerschneidet. Dann bricht es einen Teil von der Schokolade und reicht ihn dem Hausierer; weil dieser sich soeben erhebt, folgt ihm die Hand des Kindes nach; der Hausierer neigt sich zu dem Kind und nimmt die Schokolade entgegen; oder er nimmt die Schokolade nicht, sondern ergreift, während er seinen Teil ausschlägt, den Arm des Kindes und dreht ihn rasch um, so daß das Kind aufschreit und in das Gras fällt. Die Zuschauer erschrecken zwar in ihrem dunklen Raum und umklammern die Lehnen der vorderen Reihen; jedoch ihr Schrecken bezieht sich auf etwas, das fern von ihnen und zu einer andern Zeit schon geschehen ist; das Bild von dem Geschehen ist jetzt erst zu ihnen gekommen wie das Licht von einem fremden Stern. Sie sind zum Zuschaun verurteilt. Sie können nichts mehr dagegen tun.