Peter Handke
Phantasien der Wiederholung
Suhrkamp Verlag
»Die Menschen haben kein Geheimnis mehr«, lese ich, und sehe zugleich vor mir die hellen Augen der schwarzgekleideten Frau an der Busstation. Sie hatte eigentlich keine hellen Augen, und sie war eigentlich gar nicht alt
Die Greisin sagte zu dem Mädchen, das den Marktkarren schob: »Wie geht's?« — Das Mädchen: »Ich laß' es mir schon nicht schlecht gehen.« — Die Greisin: »Recht so.«
Endlich war ich im Traum wieder der Pilger: d. h., alles war bezeichnet mit schmerzhaft-ernüchternder Vergeblichkeit. Und am Morgen beim Aufwachen wollte ich, daß dieser Winter ewig dauere
Kein Jesus soll mehr auftreten, aber immer wieder ein Homer; und es soll auch kein Auftreten sein, sondern ein Ertönen. (Ich stellte mir Homer gerade als kindlich-pummeligen Kellner vor, aus dem es unversehens hervorsummte, -schallte, -tönte, -klang)
»Meine Schreib-Zukunft wird es vielleicht sein, alles — jeden Gegenstand — nur noch anzutupfen«
Wenn ich statt: »Ich gehe arbeiten«, immer sagen könnte: »Gehen wir wirken!«
Kinder, wie sie oft allein in der Hitze dahinschlendern, mit hängenden Schultern, haben etwas von der »unendlichen arabischen Musik«
»Ich will es machen wie Raffael und kein Marterbild mehr malen« (allmählich kann ich sagen, daß ich Nietzsches Leser bin)
Eine Herausforderung sind jene, die von sich selber begeistert sind: sie sind nicht eitel, sondern beispielhaft: eben eine Herausforderung
Mit Hilfe der Messe lernen die Priester, schön mit den Dingen umzugehen: das sanfte Halten von Kelch und Oblate, das gemächliche Auswischen der Behältnisse, das Umblättern des Buchs; und das Ergebnis des schönen Umgangs mit den Dingen: herzbeflügelnde Fröhlichkeit
Es schneit, und ich habe Lust, weiterzuarbeiten
Als ich im Zug um mich schaute, war allen Menschen, vom daliegenden Säugling bis zum Greis, die Oberlippe geschwollen von Traurigkeit, und ein schwarzer Pudel hockte draußen am Bahndamm wie ein verkohlter Zwergpalmenstumpf
Im Schneesturm wurde der Kopf als ganzer kalt, und ich dachte bewundernd: »Was für ein Winter!«
Eine Ergänzung für Flauberts Gemeinplatzwörterbuch: »Juroren: Leute, die es sich nicht leicht machen«
Wenn ich mich ängstige, bin ich nicht gut (in jedem Sinn)
»Er richtete sein großes Auge auf die Welt«: so müßte es sein, das Schreiben (oder das Schweigen)
Wein, gute Nachricht; Illusionen, Lebenszunder
Das Ewige ist im täglichen Ablauf immer das Unscheinbarste; oder: das Unscheinbarste im täglichen Ablauf, das ist das Ewige (die Gehenden oben auf dem Berg, die Gehenden unten im Tal); — das Metaphysische für sich ist nicht zu fassen, wohl aber das beiläufig Metaphysische, in der Alltäglichkeit
Was ist die Freude? Es ist die Empfindung der Vollständigkeit (und das Paradox: Zugleich werde ich durch die Freude ersetzt)
Ich kann sagen, daß ich immer lieber lebe — seltsam, daß zugleich die Angst nicht wächst; es ereignet sich höchstens ein jähes Grauen
Goethe, der ordentliche Zivilist: Ideal
Der Mann nahm sein Kind in den Abführgriff, und dann küßte er es voll Zärtlichkeit
Zur Kunst gehen, ist keine Flucht, sondern ein Sich-Begeben
Einen Willen Gottes glaube ich doch zu kennen: daß die Körper der Menschen möglichst unsichtbar blieben
Die Geschichte — Werden, Vergehen — ist immer das Drama, das erst das Sein hervorbringt: ich kann also nicht »das Sein« vertreten gegen »die Geschichte«: — und die Künste? — übernehmen voneinander im Krieg der Geschichte die Staffel des Seins
»Das Lyrische ist die Entwicklung eines Ausrufs« (Paul Valéry): es wurde immer schon alles gewußt (wie Rilkes: »Heilige Langsamkeit«)
Wenn ich bei klarem Verstand bin, bin ich dankbar
Ich wollte nach den Psalmen greifen, und dachte dann: »Die reden wieder Gott an, statt die Menschen«
Das Auge des Tiers als das Auge des Gesetzes
Was das Denken betrifft, so glaube auch ich an eine »Endzeit«; aber nicht, was das Erzählen betrifft
Ich hob die Hand, dem Vogel im Strauch zum Gruß, und spürte die Gestalt des Begrüßten in meiner Handfläche (ein anderes Stigma)
Eine schriftstellerische Unternehmung müßte etwas von einem Handstreich haben; in jedem Sinn
Manche halten ein Buch in der Hand, so als erwiesen sie ihm eine Gunst
Ich dachte gerade, auf was es in einem Text ankäme: auf das Auge, und auf das Herz — und das, Auge und Herz, sei Geist
Künstlerische Intelligenz: Verstehen und Begriffsstutzigkeit
Diese Frau hat einen Stirnschild, gerichtet gegen alles Poetische, gegen alles Übersteigende, oder solches Versuchende. Auch Vergil wäre »nichts« vor diesem menschlichen Prallfelsen. Sie ist eine von den Ungerührten; nur bei Musik braust sie manchmal auf und echauffiert sich, das Gegenteil von Begeistertsein
Seltsam, daß das Wort »Gott« mich etwa im »Parzival«, dem Epos, gar nicht stört (eher rührt), beim Meister Eckhart, im Traktat, aber wohl: da beklemmt es mich sogar
Wenn du den Schmerz der Schwellen spürst, dann bist du kein Tourist; es kann den Übergang geben
»Ich muß mich an das Leben halten, denn ich bin ein Fürst« (Parzival)
Wachend fällt mir das Warten leichter als im Schlaf
Niemand denkt über mich nach, wenn nicht ich selber
Inbild und Andacht sind das gleiche
»Und wie könnte ich eines Volkes Herr sein, wenn ich es mit meinem Trübsinn betrübte?« (Wenn man Wolfram von Eschenbach liest, möchte man die Deutschen lieben)
Ich möchte den Urwald vor dem Fenster: daran würde ich, mit der Zeit, die meistmöglichen Einzelheiten sehen
Ich will nicht denken: »Frühling« oder »Frühjahr«, sondern »Sonne«, »andere Zeit«, »anderer Wind«
Heute war ich in den »Badlands«, und bin doch wieder da herausgekommen. Und wodurch? Durch Aushalten am Ort
Das »Heilige« … ist nicht zu erforschen, nur zu umschreiben, zu erzählen, umschreibend zu erzählen (lerne das Umschreiben)
Der Unterschied zwischen dem bloßen Mitleid und dem Erbarmen, der bei Wolfram von Eschenbach so klar wird; den aber Nietzsche nie gekannt hat: so vieles von seinem Geschriebenen wird hinfällig durch diesen blinden Fleck
Am wahrhaftigsten ist doch der Blick in eine panische Welt, in welcher, von einem Augenblick zum andern, alles seinen Ausdruck ändert, und so immer weiter, von Augenblick zu Augenblick, vom Freudigen zum Angstvollen, vom Lebensvollen zum Sterbensmüden, usw. usw.
Die Katzen wirken so humorerweckend, weil sie nicht wissen, was gespielt wird: als seien sie die Personen einer Possenhandlung, oder einer Farce, und wir Menschen die erheiterten Zuschauer: die Auftretenden wissen nie, was wir Zuschauer wissen (wie bei Feydeau)
Wieder feierlich bereit: die Haselkätzchen im Vorfrühling
Die Grundfrage jedes Erzählers (sollte sein): Wie rette ich meinen Helden?
Die Wallfahrtskirchenfassade steht in der Ferne: es gibt weder Zuflucht noch Schwung zu ihr — aber immerhin, da steht sie
»Parzival«: die »Bösen« werden im Lauf der Geschichte so gut, wie sie sind!
Was ich nicht denken kann: daß die Menschen schlecht sind
So vieles im »Parzival« grenzt, auf einmal!, ans Meer: dieses ist überall, als Schutz und Weite (ähnlich auch den täglich in meinem Innern aufblitzenden Bildern von der weiten Welt)
Man muß doch immer noch davon ausgehen, daß einige (wenige) der Gläubigen etwas wissen, das wir nicht wissen (gegen Nietzsche)
Die schärfste Kritik an etwas von mir Geschriebenen war jener Leser-Satz: »… strahlt die Ruhe des Angekommen-Seins aus …« (und der Satz war außerdem falsch)
Die angemessenste Art, sich zu kleiden, ist eigentlich die eines Clowns: Breite, Weite, Schlackern; allerdings nicht: Buntheit
Vielleicht sind die Menschen im Tanz so erträglich, weil sie sich da, im großen und ganzen, an Ort und Stelle bewegen, wie Zweige an Bäumen; sie haben, tanzend, Füße, nicht nur »Beine« (was Nietzsche an den Deutschen schmähte: sie hätten nur Beine, keine Füße)
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