Peter Handke
Noch einmal für Thukydides
Suhrkamp Verlag
Für Thukydides
Am 23. März 1987 war unter dem immergrünen Efeu an einer Hausmauer auf dem Felsenberg
ein Blatt, das wie verwelkt wirkte. Als der Schatten eines Menschen darauffiel, hob
sich das Blatt in die Lüfte und öffnete Flügel, die an der Innenseite noch um ein
vielfaches gelber waren und geradezu einen Schein von sich gaben, die stärkste Farbe
seit langer Zeit. Dann flog auch schon ein zweiter Zitronenfalter um die Hausecke
daher, zuckender Schatten an der Wand. Die Falter, wenn sie sich niederließen, zeigten
ein dunkles Punktpaar auf ihren fruchtgelben geäderten Flügeln, ein Punkt über dem
anderen; die Köpfe der Tiere hatten etwas von den einstigen Raupen. Den Winter über
waren sie unbemerkt in den Büschen gehangen, zusammengerollt wie Zigaretten. Neben
einem Falter saß auf einmal eine erste Biene, und wieder ging im Auffliegen von den
Innenflügeln des Schmetterlings der tiefe Schein in die Welt und machte den Nachblick
zum Rundblick. Das war nach den 10-Uhr-Nachrichten im Radio. Die Sonne wurde wärmer,
und die beiden Falter verschwanden. Dafür begann sich gegen Mittag weithin im Garten
vor dem Haus der körnige Firnschnee zu regen. Die Schneekörner kippten wie von sich
aus, fielen weg und rollten zur Seite, wurden durchscheinend und durchsichtiger von
Blick zu Blick. Über die ganze Schneedecke ging quer durch den Garten ein stetiges,
unaufhörliches Rucken, Rollen, Ins-Fließen-Kommen, Rinnen und ‒ wenn man das Ohr näherte ‒
Knistern. Das war das Schmelzen des Schnees. Manche Körner stellten sich dabei unter
der warmen Sonne in die Schräge wie winzige Weltall-Teleskope, mit einem Gleißen im
Brennpunkt des Spiegels. Zugleich sackte die Schneedecke zusehends zusammen und ließ
zuletzt zwischen den durchstechenden paar frischen Grashalmen die Rakete einer ersten
Krokusblüte aufleuchten, noch halb in ihrer Blatthülle, die Spitze tiefblau auf den
ebensolchen Weltraum gerichtet. Durch die Lupe gesehen, war der kristallige Firnschnee
voll Ruß. Das waren die Ereignisse des Vormittags am 23. März 1987.
Die Nacht vom 22. zum 23. August 1987 habe ich in Pazin verbracht, im Zentrum von
Istrien, in einem Motel am Rand eines Felsabgrunds, einer sogenannten »Einsturzdoline«,
an deren Fuß tief unten, so eine Legende, Dante das Inferno betreten haben soll. Während
nach Mitternacht noch jemand Ziehharmonika spielte, keuchte in der dunklen Kiefer
am Saum des Erdlochs gleich daneben unablässig ein Käuzchen, so zag wie zäh, und in
der schwärzesten Nacht dann krähte ein Hahn, wobei mir die schwarze Riesenhummel vom
Vortag in den Sinn kam, wie sie die blaßblaue Glockenblume aufwühlte, und die Zikade
in einem Apfelbaum, und der heilige Martin auf den Fresken der Einödkirche von Beram,
ein Heiliger, der mir mit seiner Gewandteilung immer zuwider gewesen ist und den ich
da erstmals auch ein wenig verstand: Er, ein Riese, trennte seinen Mantel, der dem
armen und blöde lächelnden, nackten Bettler vom Pferd des Heiligen aus bereits zipfelweise,
ganz mantelgerecht, um Schultern und Körper hing; dazu die Trauer in den Zügen des
riesigen Heiligen: »über die Verhältnisse«.
Der folgende Tag in Pazin war ein Sonntag, und über der Stadt wechselten die Gezeiten der Stille, wobei nichts als das Blasen der Tauben darüberhin herrschte, hoch oben in den Bäumen, vor allem den Zedern. Auf dem Grund einer anderen Einsturzdoline ‒ senkrechte Schächte unter freiem Himmel, von denen der Ort bestimmt ist ‒ traf ich auf einen See, überzogen mit gelbgrünem Grust, worin tote Bäume standen. Dann am Bahnhof erschienen nicht wenige der jugoslawischen, noch jungen Gesichter mir entstellt, und wenn auch nur durch die Zahnlücken, und ich dachte an meinen zeitweiligen Medusen- oder Steinschleuderblick, unwillkürlich und auch wider Willen, ein selber Nackter, der den anderen entblößt, und daß ich mir diesen Blick für immer abgewöhnen oder aberziehen muß, wegatmen, aus mir herausatmen ‒ oder aber ihn verschleiern, um besser zu sehen (dachte ich, in Pazin, unter den Bahnhofskastanien, als Bild noch die schöne Nacht im Motel und die erste Sonne dann am Fensterrahmen). Und jetzt ist das Lauten, ja, das Lauten der Tauben hoch in den Bäumen, auch im Reden der Menschen unten auf der Erde, so bestimmend geworden, auch so dringlich, als fühlten sie sich dort oben in den Wipfeln als die einzigen, und aus den Bäumen schneite es dann langsam von kleinen, weißen Federn, und eine der Tauben ließ sich, mit dem Schrei einer Krähe, hernieder und trippelte auf dem Bahnhofsvorplatz im Kreis, worauf sie hoheitsvoll, fast in der Senkrechten, zurück empor ins Laubreich flatterte, aus dem Gefieder etwas wie ein Flüstern oder wie ein Ausschütteln von Strohsäcken. Es waren das sehr helle Tauben mit einem dunklen Emblemstreifen auf dem Schwanzfächer, die Köpfe, zierlich, noch um einen Grad heller: Für sie gibt es tatsächlich nur sie. Wo bleiben die Spatzen von Pazin? Und ich schaute nach diesen im Kreis, und schon wirbelten sie zuhauf aus dem Staub ‒ Sonntagsschöpfung ‒, während nebenan eine Taube, kopfruckend, Stroh im Schnabel, ihren Bereich abging und dann nur noch ein schneller Schatten hin durchs sonnige Laub war, während auf dem Wachstuchtisch des Bahnhofsbuffets, getränkefleckig, das bisher unbeachtete Saugen der kleinen und großen Fliegen stattfand. Ob die Vogelschwärme in den Felsluken der Einsturzdolinen vorhin auch Taubenvölker waren, die Tiefe verdeutlichend mit ihren hellen Schwingen?, so wie jetzt der weiße Einzelschmetterling, auf der Suche nach seinem anderen gleichsam taumelnd, das grüne Dunkel unter den Kastanien vertieft, indes die Menschen überall (es sind, auf den Zug wartend, mittlerweile viele) unter dem Getöse der Tauben dastehen als die bloßen Nebensachen.
Da habe ich dann beschlossen, den Zug fahren zu lassen und in Pazin, bei den Tauben des Sonntags, zu bleiben. Und es erschien jetzt der erste der für Jugoslawien so typischen Verbundenen dieses Tages, wenn auch nicht »verbunden« im Wortsinn: ein Kind mit einer weißverhüllten Brillenscheibe ‒ der Zug nach Pula fährt ein ‒, so wie, simili modo,überdachten