Mai, Mirka Merry Mary Christmas

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ISBN 978-3-492-98295-5
© 2018 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Ulla Mothes
Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at
Covermotiv: wavebreakmedia und pink panda shutterstock.com

 

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Für meine Mama.

Danke, dass du immer hinter mir stehst und für mich da bist.

 

Für meinen Papa.

Ich würde für dich kämpfen … du weißt es!

 

Und für Mira.

Ohne dich gäbe es keinen Pillow! Du bist mein Puschelkater.

 

Gibt es schließlich eine bessere Form mit dem Leben fertig zu werden, als mit Liebe und Humor?

Charles Dickens

Kapitel 1

Wenn eine Frau ein Auge zudrückt, dann nur, um zu zielen.

Verfasser unbekannt

 

We wish you a merry Christmas, we wish you a merry Christmas, we wish you a merry Christmas and a happy new Year

Der bekannte Weihnachtsklassiker schallt durch das Brautmodengeschäft, und ich bilde mir ein, einen Hauch von Zimt wahrzunehmen, der mir in die Nase steigt. Von der weihnachtlichen Gehirnwäsche völlig unberührt, verdrehe ich die Augen.

»Ich hasse dieses Lied«, erkläre ich und sehe meine beste Freundin Nina Fletcher an. »Was haben sich meine Eltern nur dabei gedacht, als sie mich Mary Christmas nannten?«

Nina grinst frech. So klein wie sie ist, mit ihren braunen Locken sieht sie so keck und fröhlich aus, wie nur möglich. »Dein Dad ist eben ein Witzbold, und deine Mom hat Weihnachten schon immer geliebt. Und da du nun mal am Weihnachtsabend geboren bist …«

»Ist das ein Grund seinem Kind für immer und ewig einen Stempel der Peinlichkeit aufzudrücken?« Genervt schüttele ich den Kopf. »Außerdem ist der vierundzwanzigste Dezember nur in Deutschland der Weihnachtsabend, und was kann ich dafür, dass die Eltern meines Vaters aus Deutschland stammen?«

»Immerhin hast du trotzdem einen Mann gefunden.« Schmachtend dreht Nina die Augen zum Himmel. »Mary Christmas Parker tritt an Weihnachten – ihrem Geburtstag – mit ihrem Traummann vor den Altar. Du solltest die Geschichte ans Fernsehen verkaufen. Oder du schreibst selbst einen Artikel darüber. Ich sehe es schon vor mir Mary Christmas – Die Weihnachtsbraut

»Nina, Herzchen. Ich bin Literaturstudentin, freischaffende Journalistin Schrägstrich Autorin. Ich schreibe doch nicht für die Sun«, erkläre ich entrüstet.

Dennoch muss ich bei ihren Worten ein bisschen lächeln. Eigentlich hat sie recht. In vier Wochen ist Weihnachten, und ich werde endlich mit meinem Verlobten Peter Kalla vor den Altar treten und gleichzeitig die Auflagen meiner Tante Gertrud erfüllen, um von ihr hunderttausend Dollar zu erben. Ich kann es kaum noch erwarten. Seit Jahren fiebere ich meinem Hochzeitstag entgegen, und nun ist es bald so weit.

Deshalb stehe ich gerade auf einem Sockel und probiere mein Brautkleid an. Es ist ein cremefarbener Traum aus Satin. Raffinierte Ornamente sorgen in meinem Dekolleté für den angemessenen Blickfang. Der teure Stoff, der sich schmal um meine Taille schmiegt und dann von einem Unterrock im Prinzessinnen-Stil gebauscht wird, hat mich vom ersten Augenblick an verzaubert. Ich wusste einfach, dass ich dieses Kleid haben muss. Der cremefarbene Ton betont meine haselnussbraunen Augen, und die langen Haare, umspielen mein Gesicht wie honigfarbene Wellen.

Peter hat mich ausgelacht. Hat gesagt, ich würde langsam eine echte Brautzilla und dass er beinahe Angst vor unserer Hochzeit hätte, aber jetzt ist es ja bald geschafft. Für uns beide ist es etwas ganz Besonderes, dass wir uns die absolute Traumhochzeit leisten können. Peter ist heute zwar ein erfolgreicher Anwalt, aber er hat hart dafür gearbeitet. Mein Verlobter kommt aus einer Familie, in der jede Ausgabe mit Bedacht getätigt werden musste, und heute genießt er es, seinen schwer erkämpften Erfolg auszukosten. Seine Karriere könnte man quasi als vom Tellerwäscher zum erfolgreichen Anwalt beschreiben. Ich bin stolz auf ihn, aber manchmal wünsche ich mir doch, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen können.

Ich drehe mich einmal um mich selbst und bin fasziniert vom Rascheln des Kleides, das um meinen Körper schwingt. Dann werfe ich einen kurzen Blick in den Spiegel, und Nina seufzt bewundernd. »Du siehst wunderschön aus, Mary. Peter hat ein Riesenglück. Wann trefft ihr euch eigentlich zum Mittagessen?«

»Um zwölf«, antworte ich, werfe einen flüchtigen Blick auf die Uhr und erstarre augenblicklich.

»Ach du Schande, Nina. Das ist ja jetzt! Ich habe komplett die Zeit vergessen, und dabei hat er gesagt, es wäre dringend. Mist, Mist, doppelter Mist!«

So schnell es mir möglich ist, schlüpfe ich aus dem Kleid und drücke es Nina in die Hand. Dann schmeiße ich mich quasi mit Lichtgeschwindigkeit in meine Klamotten und merke erst an der Tür, dass ich einen meiner Schuhe noch in der Hand halte.

Oh Mann, Peter hat recht. Ich bin Brautzilla. Schnell schlüpfe ich in den Schuh, während ich gleichzeitig auf einem Bein hüpfend versuche, zur Tür hinauszukommen. Das Ganze endet, wie es nun einmal enden muss. Ich lande auf dem Boden und schlage mir schmerzhaft den Kopf an einem der Sofas vor den Umkleidekabinen an. Aua. Ich sehe Sterne – Millionen von ihnen tanzen vor meinem inneren Auge eine flotte Polka, während drei verrückte Männer mit dunklen Lockenperücken und Anzügen im Elvis-Presley-Style den deutschen Schlager Es gibt Millionen von Sternen … trällern.

Nina lacht Tränen, als sie mir schließlich zur Hilfe eilt. Ich ziehe mich umständlich an ihrem Arm hoch, lasse mich auf das Sofa sinken und verfluche den Tag, an dem Peter mich zum Kauf dieser fiesen High Heels überredet hat, weil er fand, sie würden meine Beine so gut zur Geltung bringen.

Was bringt ihm das bitte, wenn diese hinterhältigen Mordwerkzeuge der Grund dafür sind, dass ich die meiste Zeit auf meinem Hintern sitzend verbringe? Dann sieht er von meinen Beinen auch nichts. Meinen Hang zur Tollpatschigkeit vergisst mein lieber Verlobter wohl immer wieder. Oder aber er verdrängt ihn …

Während ich noch immer leicht benommen auf dem Sofa sitze, schüttle ich den Kopf. Eigentlich kann ich mich gar nicht beklagen. Peter arbeitet so viel und hart, dass ich für ihn vermutlich so etwas wie eine erfrischende Ablenkung bin, wenn er nach Hause kommt, und wenn ich ganz ehrlich bin, dann schätze ich es, dass ich die Einzige bin, die ihn nach einem langen Tag wieder auf die Beine bekommt. Wenn ich ihm also durch diese Mordwerkzeuge eine Freude machen kann, von mir aus.

Als ich wieder klarsehen und problemlos stehen kann, haste ich nach draußen und werde von der weihnachtlichen Kälte New Yorks begrüßt. Es riecht nach Schnee, gebrannten Mandeln, Lebkuchen und sonstigen verführerischen Dickmachern. Dagegen hat selbst der Gestank der Abgase keine Chance. Es ist so kalt, dass ich sogar meinen gefrorenen Atem in der Luft sehen kann. Bibbernd winke ich dem nächsten heranfahrenden Taxi zu und steige ein. Es ist eine Schande, dass ich mit meiner kleinen Schrottkiste von Auto hier in Manhattan kaum eine Chance habe. Also, es steht schon hier und wartet auf mich, aber die Rückfahrt wird die Hölle werden. Kein normaler Mensch – außer mir – hat in Manhattan oder in Brooklyn, wo sich meine kleine Wohnung befindet, ein Auto. Hier fahren die normalen Menschen mit dem Taxi oder legen kurze Strecken zu Fuß zurück. Aber ob ich wirklich normal bin, ist die andere Frage. Ich lasse den Taxifahrer kurz an einem großen Kaffeehaus anhalten und besorge einen Kaffee für Peter und einen für Trisha, seine Vorzimmerdame. Ich hoffe, Peter damit eine Freude machen zu können, und Trisha wird sich sicher auch nicht über einen Kaffee beklagen. Ich balanciere den Kaffee vor mir her ins Auto, und der Fahrer gibt ordentlich Gas. Es dauert nur etwa zehn Minuten, bis wir bei Peters Kanzlei im Financial District ankommen und der mürrische Taxifahrer mich mit einem viel zu hohen Preis verabschiedet.

Peter ist Anwalt für Familien, Straf- und Erbrecht und ziemlich erfolgreich. Seine Kanzlei liegt nicht umsonst nah an der Wall Street. Das große Gebäude wirkt imposant und ehrfurchtgebietend, und wie jedes Mal bekomme ich bei seinem Anblick eine Gänsehaut. Schnell stöckele ich die Treppe zur Eingangstür hinauf und vermeide mit schlingernden Bewegungen einen Frontalzusammenstoß mit einem jungen Mann, der mir gerade an der Tür entgegenkommt und mich freundlich anlächelt. Ich lächele zurück – erleichtert, dass der Kaffee nicht übergeschwappt ist – und stolpere beinahe über die Stufe an der Eingangstür. Mehr oder weniger sicheren Fußes erreiche ich das Vorzimmer von Kalla&Stone. Trisha, die Vorzimmerdame, sieht auf und nickt mir grüßend zu.

»Ah, Mary Parker, gehen Sie ruhig rein.«

»Danke Trisha.« Ich lächele ihr zu, nehme einen der beiden Kaffeebecher und stelle ihn vor ihr auf den Tisch. »Ich habe Ihnen eine koffeinfreie Soja-Latte mitgebracht.«

Ihr Lächeln vertieft sich, als sie nach dem Becher greift. »Danke, Miss Parker!«

»Gerne Trisha.« Ich lächle zurück und öffne dann die Tür zu Peters Büro. Der große, helle Raum ist modern und elegant eingerichtet. Jedes Detail vermittelt dem Besucher das Gefühl, in besten Händen zu sein. Peter ist nirgends zu sehen, aber im angeschlossenen Waschraum höre ich einen Wasserhahn rauschen.

»Hallo Schatz«, rufe ich halblaut und warte.

»Mary?« Das Rauschen verstummt, und einen Augenblick später taucht mein stattlicher Verlobter auf. Sein dunkelbraunes, welliges Haar hat er ordentlich zurückgegelt, seine braunen Augen, in die ich mich als Erstes verliebt habe, erinnern mich an blankpolierte Haselnüsse. Er sieht wie immer aus, als wäre er einem Modekatalog entsprungen, mit seinem teuren Anzug, dem schicken hellblauen Hemd und den ordentlich geputzten Schuhen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, und in meinem Bauch kribbelt es aufgeregt. Er ist ein wahr gewordener Traum, und genau das ist auch der Grund, warum ich ihn nach nur einem Jahr heiraten werde. Ich gehe auf ihn zu, drücke ihm einen schnellen, aber zärtlichen Kuss auf den Mund und wuschele ihm durch sein Haar. Das Gel ist noch ganz klebrig. Er muss sich eben feingemacht haben. Für mich, hmmm. Ich grinse ihn verschmitzt an. »Gibt es außer mir und Debby noch jemanden, der dich Schatz nennt?«

Debby ist seine Mutter, und trotz seiner anhaltenden Proteste lässt sie es sich nicht nehmen, ihn Schatz zu nennen. Wenn nötig sogar vor seinen Partnern bei einem wichtigen gemeinsamen Essen oder vor seinen Angestellten. Anstatt aber auf meinen Witz einzugehen, sieht Peter erschrocken aus.

»Also ich … Wie, wie kommst du denn darauf?«, stottert er, und jetzt bin ich verwirrt. Warum reagiert er so heftig auf meinen kleinen Scherz?

»Schatz«, gebe ich meiner Stimme einen möglichst beruhigenden Klang, »das war doch nur ein Witz. Hier, ich habe dir einen Kaffee mitgebracht.«

Ich stelle den zweiten Kaffeebecher auf seinem großen Schreibtisch ab und mustere ihn aufmerksam.

Peter sieht schwer erleichtert aus, was mich – um es gelinde auszudrücken – ernsthaft beunruhigt. Was ist denn nur los mit ihm? Gerade als ich näher nachhaken will und Peter gerade, »Ich wollte unbedingt mit dir über etwas Wichtiges reden«, sagt, fliegt die Tür zu dem kleinen Waschraum schwungvoll auf, und eine sehr große, sehr schlanke und sehr, sehr blonde junge Frau betritt das Zimmer. Sie sieht aus wie ein Model auf dem Laufsteg, ihre Beine wirken, als könnte man ein Fünf-Meilen-Rennen darauf starten, und ihr Lächeln hat etwa vierzigtausend Watt, als sie durch den Raum schwebt. Ja, ich schwöre es. Dieses zauberhafte Feenwesen läuft nicht einfach. Nein, es schwebt und trällert dabei ein fröhliches »Peeter! Bin fertig, mein Schatz.«

Mich scheint sie dabei gar nicht wahrzunehmen. Es ist, als wäre ich unsichtbar. Um mich herum scheint mit einem Mal die Zeit stillzustehen. Mein Herz setzt einen Moment lang aus, um dann mit einem ungelenken Hüpfer seine Arbeit fortzusetzen. Meine Augen fixieren die Blonde. Ihre Stimme hat einen schrillen Klang, der mir Kopfschmerzen bereitet und mich einen Augenblick lang ernsthaft glauben macht, ich hätte mich verhört. Neben ihrer gertenschlanken Figur fühle ich mich mit einem Mal fett, ungelenk und so fehl am Platz wie ein Nilpferd im Ballett. Ein Gefühl von Selbsthass überrollt mich mit ungeahnter Heftigkeit und raubt mir fast den Atem. Erst nach einigen Augenblicken, die sich wie Kaugummi ziehen, kann ich mich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Hat das Zauberwesen gerade wirklich »Schatz« gesagt? Meine Augen fliegen von ihr zu Peter, und als ich erkenne, dass er wie angewurzelt dasteht, einen eindeutigen Ausdruck von Schuld auf dem Gesicht, und zwischen dem Zauberwesen und mir hin und her sieht, wird mir einiges klar.

»Mary …«, stammelt er und kann mir offensichtlich nicht in die Augen sehen. »Ich …« Mir wird so schwindelig, dass ich mit einem Mal das Gefühl habe, dass die Welt sich um mich herum dreht. Ich höre das Blut in meinem Kopf rauschen, mein Herz fühlt sich an, als hätte man einen Dolch hineingerammt, und hinter meinen Augenlidern sammeln sich Tränen der Wut und der Trauer. Nein! Ich darf nicht weinen. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht vor ihnen. Beinahe gewaltsam schlucke ich den Kloß in meinem Hals herunter und schalte auf Autopilot. Bloß nicht ohnmächtig werden, Mary. Geh hier mit Würde raus, rede ich mir innerlich gut zu. Leider ist mein Kreislauf nicht unbedingt der stärkste, und meine Sorge nicht unbegründet. Hinter meinen Schläfen beginnt eine Ader heftig zu pochen, als ich mich einen Schritt auf Peter und das Zauberwesen zubewege.

»Jetzt verstehe ich das«, meine Stimme klingt gedämpft in meinen Ohren, und ich muss wirklich sehr furchterregend aussehen, denn sowohl Peter als auch die Zaubermaus weichen synchron einen Schritt vor mir zurück.

Ich weiß nicht, ob es dieser synchrone Schritt ist, der mir unerhört intim vorkommt und mein Fass zum Überlaufen bringt, oder ob es das perfekte Gesicht dieser feenhaften Frau ist, die meinen Verlobten gerade »Schatz« genannt hat.

Aber eigentlich ist es ja auch egal, was genau den Ausschlag gibt, denn bei mir brechen nun alle Dämme. Der Schmerz überwältigt mich, und Tränen der Wut stürzen aus meinen Augen. Sie lassen sich nicht zurückhalten. Meine Stimme klingt heiser vor Fassungslosigkeit, während ich eher semierfolgreich gegen den heftigen Druck in der Brust ankämpfe. Da kommt mir meine Wut gerade recht.

»Das darf ja wohl nicht wahr sein, oder? Peter?« Ich ringe um Atem, und meine Stimme klingt gepresst, als ich weiterspreche. »Ich komme direkt von der Kleideranprobe hierher, um dich zu sehen. Dann mache ich einen Witz über eventuelle andere Frauen, und schon kommt eine reinspaziert? Was bist du bloß für ein … ein …«

Mir fällt kein Wort ein, um den Mann, mit dem ich seit einem Jahr glücklich zu sein glaubte, zu beschreiben. Mein Kopf ist leer, und doch habe ich mich in Rage geschrien und schnaufe so erbost, dass ich mich wundere, dass kein Rauch aus meiner Nase quillt. Diese Wut weicht in der nächsten Sekunde einem Gefühl tiefster Trauer.

»Wie konntest du mir das nur antun?«, flüstere ich gebrochen, bevor mich erneut die Wut überwältigt. Meine Emotionen haben in den letzten Sekunden – oder waren es Minuten? – mehr Krisen durchgemacht, als die Klienten des Fernsehpsychologen Dr. Phil. Ich richte meine Augen auf Peter.

»Wann hattest du vor, es mir zu sagen? Am Hochzeitstag? Eine Woche davor? Hattest du überhaupt vor, es mir zu sagen, oder wolltest du mich einfach vor dem Altar stehenlassen?«

Es tut so unfassbar weh, es auszusprechen, aber ich mache weiter, und mit einem Mal finde ich auch die richtigen Worte.

»Du miese Ratte. Aber du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass ich dich los bin!«

Gut, das ist jetzt die fetteste Lüge des Jahrtausends, aber ich bin nicht mehr Herrin meiner Sinne. Vielmehr bäumt sich mein Stolz auf. Herz hin oder her. Später ist noch genug Zeit für Unmengen von Eiscreme und leidenschaftliche Tränen bei Casablanca. Ich kann mich nicht länger zurückhalten, rausche auf Peter zu, hole so weit aus, dass es mir beinahe den Arm auskugelt, und verpasse ihm eine schallende Ohrfeige. Es knallt ganz schön, und das tut gut. Ich schüttele meine schmerzende Hand und drehe mich auf dem Absatz um. Ehe ich aber die Tür erreiche, bleibe ich noch einmal stehen und ziehe mir die grässlichen High Heels von den Füßen. Mit Schwung werfe ich sie mir über die Schulter und brülle dabei meinen Frust heraus.

»Yeeeees!«

Ich weiß, dass ich getroffen habe, noch ehe ich sie höre. Ein zweifacher Schmerzenslaut erklingt. Tja. Das erzwungene Basketballtraining mit Dad damals war also doch nicht für die Katz. Auch wenn er bestimmt nicht geahnt hat, dass ich meine bei ihm erlernten Fähigkeiten so einsetzen würde. Wir haben eben alle unsere Ziele, Dad.

Meine Lippen verziehen sich ganz automatisch zu einem Grinsen, und ich lasse die Tür so laut hinter mir ins Schloss fallen, dass Trisha zusammenzuckt. Besorgt sieht sie mir ins Gesicht.

»Miss Parker, geht es Ihnen gut? War die junge Dame etwa …«, Trisha wird blass, »keine Klientin?« Ich lache sie unter Tränen an.

»Nein, war sie nicht. Und ja, mir geht es jetzt wieder gut. Alles ist besser, als mit so einem Mistkerl wie Mr. Kalla zusammen zu sein, merken Sie sich das. Hier!«, ich werfe einen Geldschein vor ihr auf den Tisch. »Kaufen Sie sich etwas Schönes und feiern Sie das blaue Auge ihres Chefs und dieser … Frau, wenn Sie die beiden zu sehen kriegen.«

Mit diesen Worten öffne ich schwungvoll die Tür und verlasse die Kanzlei und das schicke Gebäude. Barfuß, auf den eiskalten Straßen New Yorks ist das allerdings keine kluge Idee. Schon nach wenigen Sekunden glaube ich, mir heftige Erfrierungen zuzuziehen, und laufe auf den Fersen. Mein Auto steht ein paar Straßen weiter. Wie soll ich es dorthin schaffen? Außerdem, Autofahren ohne Schuhe gehört nicht unbedingt zu meinen Alltagsbeschäftigungen, aber immerhin bin ich draußen. Zwar mit wehem Herzen, einer Menge Probleme und ohne einen Freund, aber dafür dennoch sehr, sehr zufrieden mit meiner Leistung.

 

»Das hast du nicht gemacht? Du hast ihnen die High Heels an den Kopf geworfen? Über deine Schulter und ohne hinzusehen?«

Wahrscheinlich sollte ich mich als Antidepressivum patentieren lassen. Bei meiner Freundin scheine ich heute zumindest diese Wirkung zu haben. Nina kann gar nicht mehr aufhören zu lachen, während mir viel mehr nach Weinen zumute ist. Mein Hochgefühl hat sich gemeinsam mit meinem Selbstbewusstsein in die hinterste Ecke meines Verstandes verzogen.

Nachdem ich vor einer Viertelstunde barfuß und mit den Nerven völlig am Ende nach meinem Zusammentreffen mit dem New Yorker Straßenverkehr bei Nina angekommen bin, und sie mir erst Mal ein Paar Schuhe geliehen hat, habe ich ihr alles erzählt. Der Schock über Peters Betrug sitzt unglaublich tief, und auch wenn ich vorhin eine Welle der Erleichterung empfunden habe, fühle ich mich in diesem Augenblick doch unglaublich allein.

»Doch Nina, genau das habe ich gemacht, und in dem Moment kam es mir auch absolut richtig vor. Aber jetzt? Ich dachte wirklich, er liebt mich! Wir wollten doch heiraten und nun …«

»Aber Mary«, Nina streicht mir sanft über den Rücken, und ich bin tief in meinem Innern wieder einmal so froh, dass Nina und ich seit Jahren miteinander durch Dick und Dünn gehen. Wann immer etwas ist, sind wir füreinander da. »Bist du sicher, dass du ihm nicht noch einmal verzeihen kannst?«

»Ganz sicher!«, gebe ich mit fester Stimme zurück. »Das kann ich einfach nicht tolerieren.«

Ich seufze tief und fahre mir mit der Hand durch die Haare. »Überleg doch mal. Er hat schon eine Neue am Start, und ich steh allein vor den Trümmern meiner Hochzeit und meiner Beziehung.« Ich stocke, weil mir siedendheiß etwas einfällt. »Ach du Schande, was wird mit meinem Erbe, wenn die Frist an Heiligabend abläuft und ich nicht mal in einer Beziehung bin?«

Erschrocken schlage ich mir die Hand vor den Mund. »Jetzt habe ich wie eine geldgierige Tussi geklungen oder?« Meine Stimme ist ganz schrill. Seit wann bin ich die Frau, der die Trennung von ihrem Verlobten weniger ausmacht als der Verlust von hunderttausend Dollar?

»Mary«, Ninas Stimme klingt beruhigend, und sie streicht mir sanft über den Arm. »Jetzt komm mal wieder runter und atme tief durch.«

Ich befolge ihren Ratschlag und hänge meinen Kopf zwischen die Beine, bis mein Atem wieder einigermaßen ruhig und regelmäßig geht. Als es so weit ist, hat Nina mir schon einen Beruhigungstee gekocht, den ich gierig austrinke, bevor sie mich nach Hause schickt. Runterkommen, ausschlafen, nachdenken. Bis zu mir nach Hause dauert es eigentlich nur fünf Minuten, aber mir ist noch nicht danach, meine kleine Wohnung zu betreten. Wenige Minuten später sitze ich also im Auto – dieses Mal zum Glück mit vernünftigen Schuhen – und bin auf dem Weg zum nächsten Highway. Der Tag war einfach zu viel für mich, und dabei ist es gerade erst früher Nachmittag. In meinem Innern hat sich ein riesiger Druck aufgebaut, und deswegen habe ich beschlossen, einen Umweg über den Highway zu machen, um ein wenig Dampf abzulassen. Das ist doch mal was anderes als das nervenaufreibende Gewusel auf den Straßen der Stadt. Ich drehe das Radio auf und trete das Gaspedal durch. Die Geschwindigkeit tut mir gut, und ich vergesse alles um mich herum, bis ich auf einmal eine Sirene hinter mir höre.

Oh Mist, die Cops! Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel und sehe einen Polizeiwagen mit eingeschaltetem Lichtbalken. Ein Blick auf den Tacho zeigt mir, dass die definitiv mich meinen. Knappe hundertzwanzig Meilen pro Stunde verkündet mir die Tachonadel, und hier sind gerade mal achtzig erlaubt. Von wegen Beruhigungstee. Sofort nehme ich den Fuß vom Gas und haue stattdessen auf die Bremse. Dann fahre ich rechts ran und warte mit heftig klopfendem Herzen darauf, dass die Polizei mich einholt. Was bin ich froh, dass ich die Schuhe habe, denke ich noch, bevor es losgeht.

Mit quietschenden Reifen hält der Polizeiwagen hinter mir, und beide Türen gehen auf. Ein älterer und ein jüngerer Polizist steigen aus. Der jüngere trägt eine Sonnenbrille, vermutlich blendet ihn die Wintersonne, und er ist es auch, der mir jetzt das Zeichen gibt, mein Fenster herunterzukurbeln.

»Madam«, sagt er, und sein Blick ist hart.

»Guten Tag Officer«, stottere ich.

»Junge Lady«, mischt sich sein Kollege ein und sieht mich streng an. »Haben Sie schon mal etwas von Geschwindigkeitsbegrenzungen gehört?«

»Ich … also … doch, natürlich.«

Nach diesem Tag bin ich auf diese Situation einfach nicht vorbereitet, und als der jüngere Polizist jetzt seine Sonnenbrille abnimmt, steigt mir zu allem Überfluss auch noch die Hitze in die Wangen. Der ist aber wirklich süß. Dunkles – beinahe schwarzes – wuscheliges Haar, groß, breite Schultern, männliche Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen und grünblaue Augen, die beim Lächeln bestimmt strahlen wie Sterne. Dazu die Uniform und der Dreitagebart … Höchst attraktiv, auch wenn er jetzt gerade nicht lächelt, sondern mich noch immer äußerst grimmig ansieht.

»Ihren vollen Namen bitte, Madame«, verlangt er.

Das klingt aber gar nicht gut. Eher nach: Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Erschrocken sehe ich ihn an.

»Was? Oh, natürlich. Mary Christmas Parker.«

Die Stirn des attraktiven Polizisten legt sich in Falten.

»Erstens Lady, ist Weihnachten erst in vier Wochen, und zweitens wüsste ich zu gern, woher Sie meinen Namen kennen.«

Jetzt bin ich verwirrt, zögere, und als ich nach einigen Sekunden mit einem Mal begreife, was er da gerade gesagt hat, schlage ich mir verzweifelt die Hände vors Gesicht. Oh bitte nicht! So grausam kann das Schicksal nicht sein. Der einzige Polizist, der mich in den letzten zwei Jahren angehalten und nach meinem vollen Namen gefragt hat, darf einfach nicht Parker heißen.

So schnell wie es mir in meiner Verlegenheit möglich ist, nehme ich die Hände von meinen heißen Wangen. Schließlich muss ich das sofort aufklären. Die beiden Polizisten sehen mich nämlich mehr als irritiert an.

»Nein, nein, nein. Sie haben mich völlig missverstanden. Mein voller Name ist Mary Christmas Parker. Ohne Bindestrich zwischen Mary und Christmas. Meine Eltern haben gerne ihren Spaß.«

Die Reaktionen der Männer könnten unterschiedlicher nicht ausfallen. Der ältere lächelt mit einem Mal ein wenig verständnisvoll und definitiv amüsiert, während der jüngere mit einem Ausdruck spöttischen Unglaubens eine Augenbraue hebt.

»Rauchen Sie vielleicht Gras, Miss Parker

Fassungslos und zugegebenermaßen auch ein bisschen empört schnappe ich nach Luft.

»Natürlich nicht!« Was ist denn das für ein aufgeblasener Idiot. »Ich werde es beweisen«, blaffe ich.

Ich habe die Nase gestrichen voll von seiner arroganten Visage und krame kurz in meiner Tasche. Mit einer übertriebenen Geste ziehe ich meinen Ausweis heraus. Den drücke ich dem verblüfften Parker in die Hand. Als ich meine Hand in die Tasche gesteckt habe, sah er einen kurzen Augenblick lang so aus, als wollte er mich packen.

Klar, ich könnte ja auch eine Waffe hervorziehen. Wie das bei Verkehrsrowdys nun mal so üblich ist. Wahrscheinlich hat ihn nur die Tatsache, dass ich eine Frau bin, davon abgehalten, gleich auf mich zu schießen. Ich schnaufe wütend.

Jetzt runzelt er die Stirn, liest und schaut mir dann direkt ins Gesicht. In seinen Augen kann ich Überraschung erkennen. Ich kann es nicht verhindern. Mein Mundwerk geht wieder einmal mit mir durch.

»Tja, es kann halt nicht jeder Smith oder Miller heißen, nicht wahr, Officer Parker?« Ich betone den Namen genauso, wie er es eben noch getan hat. »Aber wissen Sie was? Ich hatte heute einen richtig schlechten Tag. Mein Verlobter hat vier Wochen vor der Hochzeit eine andere angeschleppt, die viel blonder und größer als ich ist, und ich wollte einfach nur ein bisschen ausspannen. Wenn Sie das stört, dann nehmen Sie mich eben fest.«

Habe ich das jetzt wirklich gesagt? Bin ich verrückt geworden? Hat mich der Schock bereits in den Wahnsinn getrieben? Ich sehe mich schon gemeinsam mit einigen Schwerkriminellen wegen Beamtenbeleidigung in einer kalten, dunklen Zelle sitzen und darauf warten, dass jemand meine Kaution bezahlt, als sich plötzlich der ältere Polizist einmischt. Bei meinem Ausbruch hat er tatsächlich angefangen zu schmunzeln. Er schaut seinen Kollegen einen Moment lang kopfschüttelnd an. Dann wendet er sich mir zu.

»Mein Name ist Bond, Miss Parker. Ich bekleide den Posten des Deputy Chiefs beim New Yorker Police Department.« Wieder folgt ein amüsiert-strenger Blick zu seinem Kollegen. »Wirklich James, lass gut sein. Die junge Lady hat dir nichts getan. Also Miss Parker«, er atmet tief ein, »Sie sollten in Zukunft die Geschwindigkeitsbegrenzungen beachten, und wir belassen es ausnahmsweise bei einer Verwarnung.«

In diesem Moment bin ich froh, dass ich mir mein Kichern (»Mein Name ist Bond. James Bond …« Hihi! Kommt schon, das ist witzig.) verkniffen habe, und schenke ihm ein dankbares Lächeln. In Amerika ist eine solche Entscheidung äußerst ungewöhnlich, und wahrscheinlich liegt es nur daran, dass er ein bisschen Mitleid mit mir hat.

»Das ist sehr, sehr lieb von Ihnen, danke!«, sage ich, schnappe dem verdutzten Parker meinen Ausweis aus der Hand und lächele ihn süffisant an.

»Und Ihnen, James Parker, wünsche ich einen schönen Feierabend und einige erfolgreiche Fortbildungen im Bereich Höflichkeit an der Akademie für Cops. So von Parker zu Parker.«

Ich beobachte, wie ihm das arrogante Grinsen noch ein bisschen mehr verrutscht, nicke seinem Kollegen zu, kurbele das Fenster wieder hoch, lasse den Motor an und gebe Gas. Sehr dezent selbstverständlich. Bei der nächstmöglichen Gelegenheit wende ich, und eine halbe Stunde später stehe ich vor meiner Wohnungstür und öffne.

Peter und ich haben bereits eine eigene Wohnung gemietet, die deutlich komfortabler ist als meine Souterrain-Bude, aber zu meinem Glück haben wir mit dem Umzug noch nicht begonnen. Das war der Plan für die kommende Woche, aber das hat sich jetzt ja wohl erledigt.

Ich schmeiße meine Tasche auf den Tisch und meine Jacke in eine Ecke. Dann lasse ich mich neben meinen Kater Pillow auf die Couch fallen. Pillow schläft tief und fest. Nicht mal ein Auge öffnet mein Kuscheltiger. Es ist doch der blanke Wahnsinn, was an einem halben Tag alles passieren kann. Müde schließe ich die Augen.

Kapitel 2

Wenn man die Frauen verstehen könnte, ginge viel von ihrem Zauber verloren.

Sascha Guitry

 

Das laute Klingeln an der Tür sorgt dafür, dass ich aus meinem Dämmerschlaf hochschrecke. Mein Blick fällt auf die Uhr an der Wand. Es ist später Nachmittag, und ich habe offensichtlich eine ganze Weile geschlafen. Wieder klingelt es. Dieses Mal länger. Pillow neben mir hebt, empört über die Störung, sein Köpfchen, und ich stehe langsam vom Sofa auf. Eigentlich erwarte ich heute niemanden mehr, aber vielleicht will Nina ja nachsehen, wie es mir geht?

Als ich die Tür öffne, stockt mir einen Augenblick lang der Atem. Vor mir steht Peter und sieht mich an wie ein Häufchen Elend.

»Was willst du denn hier?« Meine Stimme zittert.

Peter kann mir offensichtlich nicht in die Augen sehen. Er mustert seine Schuhe, als wären sie aus purem Gold. »Ich will mit dir reden. Darf ich reinkommen?«

Eigentlich schreit jede Faser meines Körpers danach NEIN zu brüllen, aber hier draußen ist es ziemlich kalt, und ich will nicht, dass irgendwelche neugierigen Nachbarn mitbekommen, was wir gleich besprechen werden. Ich nicke zögernd und öffne die Tür ein Stück weiter. »Okay.«

Peter folgt mir ins Wohnzimmer. Er war bisher nur äußerst selten bei mir. Meine Wohnung ist ihm viel zu klein, und mit meinem Kater konnte er sich bisher auch nicht wirklich anfreunden. Ich bedeute ihm, sich zu setzen. Er nimmt auf meinem Lesesessel Platz, und ich setze mich mit verschränkten Armen ihm gegenüber auf das Sofa.

»Also, Peter, was willst du hier?«, erkundige ich mich möglichst neutral, als ich die unangenehme Stille im Raum kaum noch aushalte. Er hat die Hände gefaltet, stützt sich mit den Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab, und seine Stirn ruht auf den gefalteten Händen. Nun hebt er langsam den Kopf und sieht mich an.

»Ich will mich bei dir entschuldigen«, antwortet er leise, und in seinen Augen liegt echte Trauer.

»Warum hast du es getan?«

Ich will es wissen, auch wenn es nichts ändern wird.

»Ich …« Peter fährt sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich liebe dich, Mary! Das weißt du doch.«

Ich kann mir ein kleines, trauriges Lachen nicht verkneifen. »So, weiß ich das?«

»Mary!«, Peters Stimme wird eine Nuance lauter, und nun sieht er mich direkt an. »Ich trage dich seit einem Jahr auf Händen. Ich würde alles für dich tun.«

Seine Worte treffen mich mitten ins Herz. Was mir vor einigen Stunden noch unglaublich süß vorgekommen wäre, klingt nun wie Hohn in meinen Ohren.

»Würdest du mir dann auch erklären, warum ein großes, blondes Busenwunder nach dir aus deinem Waschraum kommt und dich Schatz nennt?«

»Es ist nichts Ernstes!«, sagt er leise und sieht wieder zu Boden.

Nichts Ernstes? Das kann doch wohl nicht wahr sein.

»Peter!«

»Du weißt doch, wie das läuft, Mary«, sagt er leise, und seine Stimme klingt müde.

»Ich weiß, wie was läuft?«, frage ich scharf und sehe, wie sein Adamsapfel sich bewegt.

»In meinem Business braucht man manchmal einfach Abwechslung. Es ist doch nichts dabei. Ich liebe schließlich dich.«

»Es ist nichts dabei?« Ich bin erschüttert, und man hört es mir sicher auch an. »Es ist also nichts dabei, wenn du mich betrügst?«

»Ich wollte einfach gut dastehen vor meinen Kollegen, und dafür ist Clara einfach …«, beginnt er, aber ich unterbreche ihn sofort. Wie er ihren Namen ausspricht, kann ich nicht ertragen.

»Bitte lass das«, sage ich fest und sehe ihn an. »Danke für deine Entschuldigung, Peter, aber ich denke, du solltest jetzt gehen.«

»Also … du verzeihst mir?«, hakt er nach.

Ich schüttle traurig den Kopf. »Nein«, flüstere ich und sehe ihn dabei nicht an. »Nein.«

Peter steht auf. »Du sagst wirklich die Hochzeit ab?«

Als ich nicke und ihm dann in die Augen sehe, erkenne ich Schmerz, Verzweiflung und so etwas wie Angst in seinem Blick, und es bricht mir beinahe das Herz. Ich weiß aber, dass es die richtige Entscheidung ist. Erst als die Tür hinter Peter ins Schloss fällt, kommen mir die Tränen. Ich weine um die Liebe, an die ich geglaubt habe. Ich weine um das, was hätte sein können. Aber ich weine nicht um das, was ich soeben aufgegeben habe.

Pillow streicht mir schnurrend um die Beine, und ich kraule ihn am Kopf. »Ich bin froh, dass ich dich habe, mein Kleiner.« Dann gehe ich in die Küche, um mir etwas zu essen zu machen. Der Tag hat mich geschafft, und wie ich mich kenne, werden die nächsten Tage nicht viel besser werden. Ich sollte mir wohl etwas überlegen.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, dauert es einen Augenblick, bis ich mich wieder an die Ereignisse des vergangenen Tages erinnere. Als sich der Schleier dann lüftet und die Erinnerung mit einem Schlag zurückkommt, wird mir ein bisschen schlecht.

Ich habe gestern meinen Verlobten mit einer Anderen ertappt, bin nur knapp einer Verhaftung entgangen, habe einen attraktiven Polizisten angezickt und meine Verlobung gelöst. Ein ganz normaler Tag im Leben einer Frau mit einem einzigartig verrückten Namen. Ihr habt es vielleicht schon bemerkt: Ich liebe das Melodrama.

Mein Handy klingelt, und auf dem Display erkenne ich das Gesicht meiner Mutter. »Hey Mom«, begrüße ich sie betont fröhlich, denn ich weiß, dass sie mich sonst löchern würde wie einen Schweizer Käse.

»Hallo mein geliebtes, weil einziges Kind«, gellt mir ihre fröhliche Stimme ins Ohr. »Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen? Dein Dad und ich freuen uns schon so darauf, deinen Verlobten endlich kennenzulernen. Ich verzeihe dir nie, dass du uns nicht einmal ein Foto zeigen willst.«

Der Schreck fährt mir in die Glieder. Gleich nachdem ich einmal genervt die Augen verdreht habe. »Danke, Mom. Ich liebe dich auch. Ich kann ihr jetzt nicht sagen, was gestern passiert ist. Sie würde mir einen Vortrag à la ›Habe ich es nicht gleich gesagt?!‹ halten, und darauf kann ich gerade gut verzichten.«

Meine Eltern haben Peter bisher noch nicht kennengelernt. Ich bin schließlich erst seit einem Jahr mit ihm zusammen, und sie touren sorglos in der Weltgeschichte rum und schauen sich die sieben Weltwunder an. Oder so was. Ihre Postkarten sehen jedenfalls immer sehr nach … nun ja … Spaß aus. Mein Blick wandert in Richtung Kühlschrank und bleibt an einigen Fotos hängen.

Dad, wie er einer Miniaturausgabe der Sphinx Hasenohren macht, und Mom, wie sie im Madame Tussauds Johnny Depp küsst. Es ist einfach so unfassbar peinlich.

Meine Eltern sind also auch nicht wirklich normal. Wie könnten sie auch? Schließlich haben sie meinen Namen ausgesucht. Allerdings waren sie nicht sonderlich begeistert, als ich ihnen erzählt habe, dass mein Freund mir nach einem halben Jahr einen Antrag gemacht hat. DAS ist dann natürlich zu verrückt. Deshalb haben sie auch bis jetzt kein Foto. Wie ihr bemerkt habt, kann ich manchmal ganz schön zickig sein.

Inzwischen scheinen sie sich aber irgendwie damit abgefunden zu haben. Ich will ihnen ja nichts unterstellen, aber ich habe das vage Gefühl, das Erbe könnte etwas damit zutun haben.

»Alles super, Mom. Wir freuen uns schon auf euch«, lüge ich, als mir klar wird, dass sie immer noch auf eine Antwort von mir wartet.

Am liebsten würde ich mich wieder im Bett verkriechen und mich mit der Decke ersticken. Wie bescheuert bin ich eigentlich? Ich habe keinen Verlobten mehr, das Erbe kann ich vermutlich vergessen, und jetzt verkompliziere ich auch noch alles.

»Du Mom, ich muss auflegen. Wir reden später, okay?«, verabschiede ich mich und lege auf. Dann knalle ich das Handy auf den Tisch und atme scharf ein.

»Großartig Mary, du hast es geschafft, die ganze Situation noch viel schlimmer zu machen«, schimpfe ich leise vor mich hin.

Ich stapfe ins Badezimmer und schaue in den Spiegel. Ach du Schande! Da im Spiegel ist ein Monster und starrt mich an. Das Haar hängt ihm in wirren Zotteln ins Gesicht, und es sieht ein kleines bisschen wahnsinnig aus. Ich bilde mir sogar ein, einen rötlichen Schimmer in seinen Augen zu erkennen. In Anbetracht dieser Umstände beschließe ich spontan, dass das Monster im Spiegel sich eine Wellnessbehandlung mehr als verdient hat, damit wieder ein Mensch aus ihm wird.

Nachdem ich den Blick von meinem Spiegelbild losgerissen habe, gehe ich in der Küche auf die Suche nach einer Gurke. Als ich am Küchentisch vorbei zum Kühlschrank laufe, fällt mein Blick auf den Kalender. Es ist Sonntag, der erste Advent. Der heutige Tag ist zusätzlich mit einem roten Ausrufezeichen versehen. Den Pastor treffen.

»Ach du Sch…« Im Zeitraffer fliegen meine Augen zur Uhr an der Wand. Ich habe noch genau zehn Minuten Zeit, wenn ich pünktlich sein will. Das Pfarrhaus liegt in New Jersey, und ich brauche eine gute Stunde bis dorthin. Wobei … Ich könnte auch anrufen. Schnell greife ich nach dem Telefonhörer und wähle. Als nach kurzem Tuten der Anrufbeantworter anspringt, wird mir klar, dass das keinen Zweck hat. Ist wohl nix mit Wellness. Ich werde zwar nicht heiraten, aber ich kann den armen Pastor ja auch nicht ohne Erklärung sitzenlassen. Außerdem habe ich das Gefühl, mir würde etwas Seelsorge gerade gar nicht schaden. Schnell streife ich mir meinen Lieblingspulli über. Auf der Vorderseite steht TODAY HAS BEEN CANCELED, und auf der Rückseite steht das, was perfekt zu meiner momentanen Laune passt, GO BACK TO BED.

Dazu meine enge schwarze Jeans, ein Pferdeschwanz und ein kleines bisschen Rouge. Ich finde, das reicht für eine Frau, die nicht heiraten wird.

Auf der Straße sind heute eindeutig nur Irre und Idioten unterwegs. Ein schwarzes Cabrio fährt mir beinahe hintendrauf, und ein Auto, in dem definitiv eine Oma sitzt, treibt mich in den Wahnsinn. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass sie auf offener und meilenweit freier Strecke mit fünfundzwanzig Meilen pro Stunde entlangschleicht. Selbstverständlich ist die Gegenfahrbahn völlig überfüllt, und ich habe keine Chance zu Überholen. Ich hupe wie wahnsinnig, aber das macht mich nur noch aggressiver.

Als ich endlich am Pfarrhaus ankomme, bin ich schon knapp zehn Minuten zu spät, und dennoch bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ich war noch nie an diesem Pfarrhaus. Die Trauung sollte in einer romantischen Kirche stattfinden, und das heute wäre unser erstes Treffen mit dem Pfarrer gewesen. Natürlich kenne ich Haus und Kirche aus Bildern, aber kein Bild könnte das traumhaft schöne Haus, das dort oben neben der Kirche steht, erfassen. Die Gegend hier ist eher ländlich geprägt, und dieses Haus passt so perfekt hinein, als sähe man auf ein Gemälde.

Es ist ein Fachwerkhaus mit roten Holzbalken, und etwas an ihm zieht mich unwiderstehlich an. Die Dachziegel sind ebenfalls rot, und sogar die beiden Schornsteine tragen ein kleines Dach. Es sieht einfach entzückend aus.

Ein Kiesweg führt nach oben zur Kirche und zur Vordertür des Hauses. Ich drücke auf den Klingelknopf. M. Neilson – Ev. Pfarrei, steht auf dem Messingschild daneben. Wenige Augenblicke später tut sich etwas hinter der Tür, und als sie sich öffnet, bin ich, gelinde gesagt, überrascht. Da steht ein Dienstmädchen. Mit Schürze und Kleidchen. Ich komme mir vor, als wäre ich direkt auf Pemberley – ihr werdet doch wohl Stolz und Vorurteil kennen?! – gelandet.

»Guten Tag, wen darf ich dem Herrn melden?«, fragt sie mit einer klaren, hellen Stimme, und ich fühle mich mit einem Mal wie eine Bäuerin in meinem Schlabberpulli und den immer noch leicht verquollenen Augen, reiße mich aber zusammen.

»Mary Parker bitte.«

Sie führt mich durch einen langen und geräumigen Flur zur einer Art Warteraum und verschwindet dann hinter einer großen Tür. Liebe Güte. Das ist doch kein normales Pfarrhaus, oder sehen die alle innen so aus?

Schon geht die Tür wieder auf, und das Hausmädchen winkt mich ins Zimmer. Die Tür fällt mit einem hallenden Ton hinter mir ins Schloss, und ich schaue mich im Zimmer um. Meine Augen werden groß und bleiben schließlich an einem riesigen Sekretär hängen, hinter dem ein junger Mann sitzt, der mir irgendwie vage bekannt vorkommt. Ob wir uns schon einmal begegnet sind? Blondes Haar, blaue, leicht wässrige Augen und ein jungenhaftes, etwas unsicheres Lächeln auf den Lippen, als er jetzt aufsteht und mir die Hand entgegenstreckt.

»Guten Tag. Sie sind also Miss Parker. Ich bin Pfarrer Michael Neilson. Wo haben Sie Ihren Verlobten gelassen?«

Ich schlucke schwer.

»Guten Tag Mr. Neilson. Die Sache ist so, dass …« Ich kann nicht weitersprechen. Mir schießen die Tränen mit unglaublicher Macht in die Augen. Ich weine nicht in der Öffentlichkeit. Ich wiederhole es im Stillen immer wieder, aber es hilft nicht. Die Tränen laufen unaufhaltsam. Mit drei Schritten ist Michael Neilson neben mir. Sein Gesichtsausdruck ist besorgt.

»Was ist denn mit Ihnen, Miss Parker?« Er angelt nach einem Taschentuch und drückt es mir in die Hand. Dann steht er relativ hilflos neben mir und scheint nicht genau zu wissen, was er jetzt tun soll. Anscheinend ist er noch nicht lange Pfarrer, dafür ist er auch viel zu jung. Unbeholfen legt er seine Hand auf meine Schulter und schaut mir zu, wie ich schniefend und schluckend vor ihm stehe. Es tut mit einem Mal so unglaublich weh. Wie konnte Peter das nur tun? Ich meine, was für ein Mistkerl macht seiner Freundin nach einem halben Jahr einen Antrag und hat wahrscheinlich die ganze Zeit eine Andere? »Es ist doch nichts dabei …«, höre ich seine Stimme, und damit liegt die Antwort leider ziemlich eindeutig auf der Hand. So was macht nur ein exorbitanter Riesenidiot.

Ich habe mich mal wieder in einem Mann getäuscht. Wieso finde ich eigentlich nie den Richtigen? Ich bin jetzt vierundzwanzig Jahre alt, und jeder Kerl, der mir bisher begegnet ist, war ein menschlicher Totalausfall. Mal abgesehen von meinem besten Freund, der leider fünfhundert Kilometer weit entfernt wohnt und den ich deswegen nur zweimal im Jahr sehe. Aber selbst zu ihm habe ich kaum noch Kontakt. Ich hasse Veränderungen. Warum muss man sich geliebten Menschen entfremden?

»Miss Parker, bitte. Sagen Sie mir doch, was Sie bedrückt.« Neilson klingt jetzt wirklich verzweifelt.

Ich schniefe noch einmal, hebe dann den Blick und sehe ihn an. »Tut mir wirklich leid, Pfarrer Neilson. Das war alles nicht so geplant, aber ich bin seit gestern von meinem Verlobten getrennt.«

Okay. Das hat ganz offensichtlich eingeschlagen, denn mit einem Mal überwiegt der Seelsorger in Neilson. Er führt mich zu seinem Schreibtisch, und als ich sicher in einem Sessel davorsitze, setzt er sich in den Schreibtischstuhl hinter seinem Tisch.

»Also Miss Parker, jetzt erzählen Sie mir doch mal genau, was passiert ist.« Vorsorglich schiebt er mir eine Packung Taschentücher hin, aber ich habe nicht vor, weitere Tränen an diesen Obertrottel zu verschwenden.

Trotzdem muss ich immer wieder schluchzen. Dazwischen schildere ich dem Pfarrer, was passiert ist. Ich erzähle von meiner verrückten Tante Gertrud, die mir eine ganze Stange Geld vererbt, wenn ich bis zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag entweder in einer festen Beziehung oder aber verheiratet bin, und von meinem Erlebnis gestern in der Kanzlei. Während ich erzähle, schaue ich mir den jungen Pfarrer genauer an.

Er kommt mir immer noch irgendwie bekannt vor, und ich muss zugeben, dass mir das, was ich sehe, nicht unbedingt missfällt. Wie er so vor mir sitzt und aufmerksam zuhört, tut mir irgendwie gut. Ich fühle mich ernstgenommen. Als ich bei dem Teil mit den High Heels ankomme, fällt mir mit einem Mal auf, dass sich seine Haltung und sein Gesichtsausdruck verändern.

Er setzt sich gerader hin, und seine Geschichtszüge wirken plötzlich verkrampft. Seine Mundwinkel zucken und mir wird mit einem Mal die Komik der geschilderten Situation bewusst. Ich halte inne und schaue ihn an. Einige Sekunden lang sitzen wir uns schweigend gegenüber und versuchen beide, unsere Mimik unter Kontrolle zu halten.

Aber mit einem Mal möchte ich nur noch eins. Dem drohenden Lachanfall nachgeben, und ganz offensichtlich ist in diesem Fall der Gedanke der Vater der Tat. Ich breche in haltloses Kichern aus, und jetzt kann sich auch Pfarrer Neilson nicht länger zusammenreißen. Ganz unpfarrermäßig fängt er ebenfalls an zu lachen.

Wir lachen, bis mir die Tränen über die Wangen laufen und meine Bauchmuskeln schmerzen. Nur langsam kann ich mich wieder beruhigen.

»Ich kann es nicht glauben, dass Sie das wirklich getan haben!« Neilson klingt abgehackt und er erholt sich ebenfalls nur langsam von dem Lachanfall. Dann zögert er einen Moment.

»Übrigens glaube ich, dass ich Sie schon einmal gesehen habe.«

Überrascht sehe ich ihn an. Ihm geht es also genauso?

»Ja, dieses Gefühl hatte ich auch. Aber woher …?«

Er beißt sich auf die Unterlippe und zögert.

»Ich war gestern bei meinem Anwalt und bin dabei in eine hübsche, junge Frau hineingerannt«, erklärt er, und sein Blick sucht meinen.

Ich schnappe nach Luft. »Kalla & Stone?«

»Stone. Genau«, erklärt er und lächelt. Mir allerdings vergeht das Lächeln. Peters Partner ist der Anwalt des Pfarrers, der uns trauen sollte. Die Welt ist wirklich ein Dorf. Gerade überlege ich, wie ich mich am besten verabschieden könnte, als er etwas sagt, das mich zusammenzucken lässt.

»Wissen Sie, ich würde Sie gerne wiedersehen.«

Ich starre Michael Neilson mit offenem Mund an. Hat er mich gerade wirklich gefragt, ob wir uns wiedersehen können? Mich, die Frau mit dem gebrochenen Herzen? Ist das nicht ein bisschen seltsam? Ich meine, er weiß, dass ich gerade seit nicht einmal vierundzwanzig Stunden von meinem Verlobten getrennt bin. Wahrscheinlich ist es keine gute Idee, ihn wiederzusehen. Aber andererseits finde ich ihn doch recht niedlich. Trotzdem werfe ich ihm einen skeptischen Blick zu. »Eine seltsame Bitte für den Pfarrer, der mich eigentlich trauen sollte, oder?«

Ich sehe, dass es ihm peinlich ist, und spreche deswegen schnell weiter. »Aber ich denke, wenn Sie mir noch eine oder zwei Wochen Zeit geben, dann können Sie mich gerne anrufen.«

Eine oder zwei Wochen sind überaus positiv gedacht, aber egal. Ich schnappe mir einen Stift aus meiner Handtasche und greife nach einem Kleenex. Darauf kritzele ich schnell meine Handynummer und schiebe sie dann zu ihm hinüber. Kurz erhellt ein Lächeln sein Gesicht. Dann setzt er wieder einen professionelleren Ausdruck auf.

»Also, dann … hören wir uns?«

»Ja.«

Die Verabschiedung ist unsicher, und mir ist nicht klar, ob dieser Besuch nun gut war oder nicht. Aber immerhin bin ich nicht mehr so traurig.

Auf der Rückfahrt beschließe ich, diesen Erfolg zu feiern, indem ich mir bei Starbucks noch eine heiße Schokolade gönne. Kaum betrete ich mein Lieblingscafé, als mich auch schon der herrliche Geruch von Schokolade, Kaffee und Kuchen umfängt, untermalt von weihnachtlicher Musik. Aber statt We wish you a merry Christmas oder Last Christmas ist es dieses Mal ein Lied, das ich mag. All I want for Christmas is you. Ich atme tief ein. Ich bin hier Stammkundin. Wann immer ich an einer meiner Ideen für einen Artikel oder einen Roman arbeite oder mir Karteikärtchen fürs Studium schreiben muss, lege ich hier Nachtschichten ein. Gerade für meine Romanideen ist das hier der perfekte Ort. Bisher ist zwar noch nichts von dem, was ich geschrieben habe, also abgesehen von einigen Artikeln, veröffentlicht worden, aber ich liebe einfach das Gefühl, etwas zu erschaffen. Meine eigene kleine Welt, in der ich das Sagen habe.

Ich bestelle meine Schokolade mit viel Sahne und einen Schokomuffin. Dann lasse ich mich in einen der weichen Sessel fallen und beobachte die Vorübergehenden. So viele Menschen, und jeder hat seine eigene Geschichte. Es ist der erste Advent, und jetzt geht es ganz offiziell los mit dem Weihnachtsrummel. Wie viele dieser Menschen sich wohl auf Weihnachten freuen, und wie viele wohl ungefähr so viel Angst davor haben wie ich?

In meinem Kopf fliegen die Gedanken hin und her. Wie soll ich meinen Eltern bloß erklären, dass ich meinem Verlobten High Heels an den Kopf geworfen und damit nicht nur die ziemlich teure Hochzeit, sondern auch das ziemlich hohe Erbe in den Wind geschossen habe? Wenn ich jetzt genauer darüber nachdenke, dann habe ich eigentlich eine Lose-lose-Situation geschaffen. Teure Hochzeit zu zahlen und kein Erbe. Yay! Weihnachten allein ist das Sahnehäubchen obendrauf.