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Erstes Kapitel,

in dem Vlad Dracula wieder Single ist und Oma Stoica sich an ihrer Schwiegertochter festbeißt

Dorian Dracula hasste Geburtsnächte, ausgenommen seine eigenen. Noch schlimmer waren Gedenkfeiern. Aber diesmal konnte er sich nicht davor drücken. Schließlich war es die Gedenkfeier zu Ehren seiner Mutter. Aida Dracula war vor drei Jahren spurlos verschwunden.

»Sie wird niemals wiederkommen«, sagte Vlad Dracula, Dorians Vater, und kippte den letzten Rest Blutburger Teufelstropfen in sein Glas. »Aida ist nicht mehr. Was würde ich dafür geben, dass meine Liebste bei meiner fünfhundertsten Geburtsnacht dabei sein könnte.«

Seine Zunge war schon etwas schwer und sein Blick noch glasiger als sonst. Die Kerzen warfen zuckende Schatten auf sein Gesicht. Dorian fand, dass Papa ziemlich schlecht aussah.

»Du solltest nicht so viel trinken, mein Freund«, meinte Victor Frankenstein und legte Vlad beruhigend die Hand auf die Schulter. »Es ist nicht das richtige Mittel, deinen Schmerz zu betäuben.«

Professor Frankenstein war als einziger Mensch bei der Feier zugelassen. Weil er ein Mittel für Langlebigkeit erfunden hatte und immerhin schon mehr als zweihundert Jahre alt war, durfte er sich in Vampirkreisen bewegen. Er war ein guter Freund von Vlad Dracula, und die beiden Männer standen sich in Krisenzeiten bei.

Seit Aidas Verschwinden benötigte Vlad den Zuspruch seines Freundes mehr denn je.

Dorian erinnerte sich noch genau an die Nacht vor drei Jahren. Eigentlich hatte Aida nur schnell neue Zigarren für ihre Schwiegermutter holen wollen. Oma Stoica hatte schon die ganze letzte Zeit deswegen gequengelt.

»Ich dachte, du hast mir die Zigarren längst bestellt! Wahrscheinlich hast du es wieder vergessen. Auf dich ist nie Verlass! Vlad hätte dich niemals heiraten dürfen. Es war ein großer Fehler …«

»Beruhige dich, Schwiegermama«, hatte Aida gesagt. »Der Händler hat doch diesen neuen Lieferanten, seit der alte meinte, er müsste einen Döner mit extra starker Knoblauchsoße versuchen. Er ist noch immer in der Reha. Deine Zigarren kommen aus dem fernen Kuba, und das dauert eben einige Wochen. Ich kann auch nichts dafür, dass die vorige Sendung irgendwo in den Karpaten verloren gegangen ist.«

Doch Oma Stoica war nicht überzeugt gewesen. »Lügen, nichts als Lügen!«, hatte sie gekeift. »Wahrscheinlich hast du die Zigarren selbst geraucht!«

Aida war sehr geduldig und ließ sich nicht so schnell von ihrer Schwiegermutter provozieren. Um des lieben Friedens willen war Aida schließlich losgegangen, um in dem kleinen Tabaklädchen am Ende der Straße nach den Zigarren zu fragen. Nachdem sie nach vier Stunden noch nicht zurückgekehrt war, hatte Vlad begonnen, sich Sorgen zu machen. Und nicht nur er. Auch Dorian war sehr beunruhigt. Opa Andreji, der Aida sehr mochte, war ebenfalls total durch den Wind. Er verließ sogar sein Turmzimmer, was er seit Jahren nicht mehr getan hatte. Mit seinen damals siebenhundertdreizehn Jahren war Opa Andreji noch immer zu stolz, um eine Brille aufzusetzen. So stolperte er auf der schmalen Wendeltreppe und brach sich das Genick. Hinterher behauptete er, Oma Stoica hätte ihn geschubst – was natürlich nicht stimmte. Oma Stoica war zum Zeitpunkt des Unfalls längst unten im Salon gewesen. Zum Glück war Opa ein Vampir, und ein Vampir stirbt nicht an einem Genickbruch. Opa Andreji musste nur einige Wochen lang einen unbequemen Halskragen tragen.

Alle waren wegen Opas Unfall und Aidas Verschwinden voller Sorge. Aida blieb leider verschwunden, während Andrejis Genickbruch wieder heilte. Trotzdem nutzte Opa jede Gelegenheit, um zu jammern.

»Dieser verdammte Kragen bringt mich noch um! Kein Wunder, dass das verfluchte Ding Vatermörder heißt. Ich werde den Kragen in meine Sammlung aufnehmen!«

Opa Andreji besaß eine stattliche Sammlung mittelalterlicher Folterinstrumente. Er war sehr stolz darauf und staubte die Teile jede Woche liebevoll ab. Ab und zu kam ein neues Stück dazu, das Dorian in Opas Namen im Internet ersteigern musste.

Auch in der heutigen Nacht waren die Großeltern aus ihrem Turm herabgestiegen, allerdings ohne Bruchlandung. Opa Andreji war aufgrund seins hohen Alters so zusammengeschrumpft, dass ihm sein Anzug zwei Nummern zu groß geworden war und um seine dürren Glieder schlotterte. Nichtsdestotrotz hielt sich Andreji kerzengerade. Er benutzte einen Gehstock mit Elfenbeinknauf. Jedes Mal, wenn die Stockspitze auf dem Parkett aufsetzte, erklang ein autoritäres »Klack«, und so machte man dem uralten Vampir bereitwillig Platz.

Oma Stoica trug ein langes schwarzes Kleid aus mottenzerfressener Seide und ein kleines Hütchen mit einem Trauerschleier. Ihr Mund war blutrot geschminkt und färbte die Spitze ihrer kubanischen Zigarre rot. (Sie kaufte die Zigarren inzwischen auch im Internet.) Wo sie ging und stand, umhüllte Oma Stoica eine dichte Rauchwolke.

Opa Andreji hustete. »Du wolltest dir doch das verflixte Rauchen abgewöhnen, Stoica! Du bringst mich damit noch ins Grab!«

»Da bist du doch schon längst, Andreji«, lachte Oma Stoica. Ihre Stimme war noch tiefer als die von Vlad. Die Jahrhunderte des Rauchens und Trinkens hatten Spuren hinterlassen.

Dorian verdrehte genervt die Augen. Die meisten der Gäste benahmen sich etwas daneben, und es fiel Dorian unter diesen Umständen schwer, feierlich an seine Mutter zu denken. Was auch daran lag, dass er nicht wirklich daran glaubte, dass sie umgekommen war. Tief im Innern war er überzeugt, dass es einen wichtigen Grund für ihr plötzliches Verschwinden gab und dass er diesen irgendwann herausfinden würde.

Immerhin hatte Vlad Dracula heute zum ersten Mal seine Trauerkleidung abgelegt. Stattdessen trug er – Schwarz. Schwarzer Anzug, schwarze Weste, ein schwarzes Seidenhemd und schwarze handgenähte Hirschlederschuhe. Nur seine Socken waren weiß – ein Zeichen dafür, dass Vlad Dracula wieder Single und allmählich bereit für eine neue Beziehung war. Oma Stoica machte ihm diesbezüglich ständig Vorschläge. Auch jetzt stand sie wieder dicht hinter Vlad und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf Dorians Vater nur traurig den Kopf schüttelte.

Immer wieder klopfte es an dem großen Eichenportal des Schlosses, und neue Gäste trafen ein. Allmählich füllte sich der Salon, allerbeste Vampirgesellschaft von edler Abstammung.

Dorian begann sich zu langweilen. Es war niemand da in seinem Alter. Nur die nervige Sarina mit ihrem schrillen Gelächter und ihrer unmöglichen modischen Aufmachung stand einige Meter entfernt von ihm. Sie war schon neunzehn und um zig Ecken mit Dorian verwandt. Sarina hatte straßenköterbraunes Haar, eine lange Nase und so schiefe Zähne, dass jede Zahnspange Reißaus nahm. O Schreck, jetzt kam sie auf Dorian zu. Zu spät, um sich zu verdrücken!

»Hallo, Dorian«, begrüßte sie ihn. »Auch da?«

Was für eine blöde Frage! Eine Antwort erübrigte sich. Schließlich war es die Gedenkfeier für Dorians Mutter. Wie hätte er da nicht dabei sein können!

»Was machst du denn so?«, fragte Sarina weiter, während sie an einem Glas Blutorangensaft nippte.

Dorian war ganz schlecht im Small Talk. »Nichts Besonderes.«

»Gehst du noch zur Schule?«

»Klar.«

»Du Ärmster.« Sie schüttelte ihr Haar nach hinten. Vermutlich sollte die Geste sexy wirken, aber es sah nur affig aus. Außerdem merkte sie nicht, dass ihre Haarspitzen dabei in ihr Glas tauchten. »Ich bin ja so froh, dass ich die Schule hinter mir habe.«

Ja, mit einem Abschluss von 4,4, dachte Dorian. Er erinnerte sich noch genau, wie Sarinas Eltern vor einigen Jahren stolz verkündet hatten, dass ihre Tochter hochbegabt sei. Daraufhin besuchte sie das Mitternachtsinternat, eine exquisite Privatschule für Mädchen. Dort kostete das Schulgeld pro Monat mehr, als Onkel Nicodim, der alte Zocker, in einer Woche mit seinen Aktienspielereien verdiente. Wahrscheinlich beteiligte er sich an den Kosten, denn Sarina war sein Patenkind.

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Dorian, obwohl es ihn nicht wirklich interessierte.

»Ich nehme mir erst mal ein Sabbatical«, antwortete Sarina. »Ein bisschen reisen und etwas von der Welt sehen. Über den Tellerrand zu gucken, tut jedem gut.« Sie lachte wieder ihr schrilles Lachen. Dann fixierte sie ihn. »Du siehst ziemlich unentspannt aus, weißt du das?«

Dorian lächelte mühsam. »Na, da bist du die Erste, die das sagt.«

»Glaub mir, ich hab einen Blick dafür.« Sie schüttelte wieder ihr Haar. »Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen, sonst kommt dein Burn-out, bevor du deinen Abschluss hast.« Sie begann, in ihrer Handtasche zu kramen, und zog einen Stapel Prospekte hervor. »Guck mal, ich hab da was für dich. Wellness-Reisen für Vampire. Es gibt da eine Hotelkette, die sich darauf spezialisiert hat: Steigenbeißer. Diese Hotels bieten dir jeden Komfort, beispielsweise Lunarien, weil Mondlicht total gut für den Teint ist. Ansonsten das Übliche: Sauna, Schwimmbad, Hot-Bone-Massagen, Schlammbäder mit Heimaterde und so weiter. Alle Hotels haben Einzel- und Doppelsargzimmer, Blutwurstfrühstück inbegriffen.«

»Danke, kein Bedarf«, wollte Dorian sagen, aber da hatte sie ihm schon die Faltblätter in die Hand gedrückt.

»Hier, nimm! Und gib die Prospekte, die du nicht brauchst, ruhig weiter. Vielleicht wär das auch was für deinen Vater. Auf so einer Reise trifft er bestimmt einige Singlefrauen.«

»Eh, bekommst du vielleicht Prozente?«, fragte Dorian und grinste.

»Ein bisschen extra Taschengeld kann ja jeder brauchen, oder?«, erklärte Sarina schulterzuckend. »Du würdest doch auch nicht Nein sagen, wenn dein Onkel eine Hotelkette hätte!«

»Hat er ja auch«, wollte Dorian sagen, aber dann war er sich nicht sicher, ob Onkel Nicodim seine Hotels nicht schon wieder abgestoßen hatte. Nicodim kaufte und verkaufte auf Teufel komm raus. Hauptsache, er machte Kohle.

Dorian überlegte, wie er Sarina loswerden konnte, doch da kam unerwartet Hilfe. Professor Frankenstein schlug mehrmals leicht mit einem Messer gegen sein Glas.

»Ich bitte alle Anwesenden um Aufmerksamkeit. Jetzt kommt der Höhepunkt unserer Feier.«

Hinter ihm wurde langsam ein schwarzer Vorhang zur Seite gezogen, während Onkel Nicodim ein trauriges Trompetensolo blies.

Im ersten Augenblick glaubte Dorian, dass seine Mutter zurückgekommen war. Aida stand da, ein strahlendes Lächeln auf ihren blutroten Lippen. Sie trug das dunkelblaue Kleid, das sie bei ihrer Hochzeit mit Vlad angehabt hatte. Aida sah keine Nacht älter aus, als Dorian sie in Erinnerung hatte.

Erst nach fünf Sekunden merkte er, dass es sich nur um ein lebensechtes Gemälde handelte. Plötzlich spürte er wieder den Druck in der Brust, den er viele Monate lang gehabt hatte und der erst im letzten Jahr schwächer geworden war.

Transsilvanischer Karpatenschafsmist!

Auch Vlad Dracula blickte das Bild an wie eine Erscheinung. Sein Gesicht drückte erst Überraschung, dann Trauer und zuletzt Sehnsucht aus.

»Aida, ich werde dich nie vergessen«, sagte er und seufzte. »Es gibt keine Nacht, in der ich dich nicht vermisse! Ich kann mir nicht vorstellen, dass je eine andere Frau den Sarg mit mir teilt.«

»Aber ich kann es mir durchaus vorstellen«, zeterte Oma Stoica. »Aida hat dir nicht gutgetan, Vlad. Wenn du erst einmal …« Ein Hustenanfall unterbrach den peinlichen Auftritt. Opa Andreji schlug ihr mit seinem Gehstock auf den Rücken, dann packte er sie am Ärmel, um sie ein Stück zurückzuziehen. Sie wehrte sich, Opa verlor das Gleichgewicht, stolperte und fiel rücklings auf die gedeckte Tafel. Gläser klirrten, und eine Schüssel mit Blutpudding ging zu Bruch. Einige Umstehende kreischten erschrocken.

Aida Dracula verzog keine Miene und sah trotz des Tumults wunderschön aus. Es war jammerschade, dass man Vampire immer noch nicht fotografieren konnte, trotz digitaler Revolution.

Bei Aidas Bild war zweifellos ein Meister am Werk gewesen, und er hatte nach alter Tradition Pinsel und Leinwand verwendet.

Dorian starrte auf das Bild. Seine Augen begannen zu brennen. Es war, als würde seine Mutter ihn direkt ansehen.

Glaub nicht, was alle denken, schien ihr Blick zu sagen. Ich lebe noch, und eines Nachts werden wir einander wiedersehen!

Dorian drückte Sarina sein Glas Granatapfelsaft in die Hand, murmelte etwas von »Das Essen nicht vertragen« und stürzte aus dem Saal.

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Dracula junior

Agent mit Biss

eISBN 978-3-96129-087-1

Edel: Kids Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

1. Auflage 2018

Projektkoordination: Christiane Rittershausen

Text: Jonathan Cole

Cover- und Innenillustrationen: Zapf

Covergestaltung: Geviert Grafik & Typographie unter Verwendung einer Illustration von Zapf

Layout und Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Erstes Kapitel

in dem Vlad Dracula wieder Single ist und Oma Stoica sich an ihrer Schwiegertochter festbeißt

Zweites Kapitel

in dem Merlin mit der Großen Weisen Ratte spricht und Dorian keinen Reißzahn darauf gibt

Drittes Kapitel

in dem Dorian einer Zerreißprobe ausgesetzt ist und Lilith seinen Umhang kunststopfen will

Viertes Kapitel

in dem Dorian zusammen mit seinem Erzfeind Costin auf eine bissige Mission geschickt wird

Fünftes Kapitel

in dem von Nachzehrern, Wiedergängern und Zombies die Rede ist

Sechstes Kapitel

in dem ein mathematisch begabter Geist erscheint

Siebtes Kapitel

in dem Dorian gegen die oberste Geheimhaltungsregel verstößt und die dunkle Seite von Merlin kennenlernt

Achtes Kapitel

in dem Dorian nicht an Tarotkarten glaubt und ein Ort des Grauens einen Hinweis gibt

Neuntes Kapitel

in dem Costin ein falsches Spiel spielt und fast jemand gepfählt wird

Zehntes Kapitel

in dem Costin ein schmutziges Geschäft anleiert und sich Opa Andreji auf Spanische Stiefel freut

Elftes Kapitel

in dem Vlad Dracula über seinen Schatten springt und Costin schwört, nie wieder per Orient-Express zu reisen

Zwölftes Kapitel

in dem Dorian fast erstickt und grässliche Gemälde keine gute Verdienstmöglichkeit darstellen

Dreizehntes Kapitel

in dem Augusta zu viel redet und Costin leider zugeben muss, dass sie ziemlich clever ist

Vierzehntes Kapitel

in dem ein Plan gründlich schiefläuft und tödliche Gefahr durch Sonnenlicht droht

Fünfzehntes Kapitel

in dem Costin die Krise kriegt und Liliths Vater zu halluzinieren glaubt

Sechzehntes Kapitel

in dem die Jagd nach Rom führt und Costin beginnt, Hüte zu hassen

Siebzehntes Kapitel

in dem Lilith sich fast zu Tode erschreckt und Dorian in einem Geigenkasten eine aufregende Beobachtung macht

Achtzehntes Kapitel

in dem die Akademie entscheidet, wer der Sieger ist

Viertes Kapitel,

in dem Dorian zusammen mit seinem Erzfeind Costin auf eine bissige Mission geschickt wird

Die Schule der Nacht war ein ehrwürdiges Gebäude mit hohen Türmen, spitzen Giebeln und unzähligen Wendeltreppen. Anfangs hatte sich Dorian ständig verlaufen. Jetzt nahm er immer zwei Stufen auf einmal, und Lilith versuchte, ihm zu folgen. Obwohl sie sich beeilten, kamen sie zu spät. Professor Silvian Lazar stand bereits hinter seinem Pult. Mit gerunzelter Stirn sah er zu, wie Dorian und Lilith ins Klassenzimmer kamen.

»Dracula junior, das ist Ihr viertes Zuspätkommen in diesem Monat«, sagte er mit strenger Stimme. »Und Lilith Popescu, bei Ihnen zähle ich schon gar nicht mehr. Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen? Und was ist mit Ihrem Umhang passiert?«

Costin, der schon auf seinem Platz saß, blickte Dorian mit stechendem Blick an. Seine Unterlippe zuckte spöttisch. Er wusste genau, dass Dorian ihn nicht verpetzen würde.

»Bitte entschuldigen Sie, Professor Lazar«, murmelte Dorian. »Ich habe beim Fliegen nicht aufgepasst und bin an einem Blitzableiter hängen geblieben. Lilith war so freundlich, mir herabzuhelfen. Deshalb haben wir uns leider verspätet.«

Professor Lazars buschige Brauen schnellten in die Höhe, und seine durchdringenden Augen huschten misstrauisch hin und her. »Nun gut. Setzen Sie sich bitte.«

Er wartete kurz, bis Dorian und Lilith ihre Plätze eingenommen hatten, dann fuhr er mit dem Unterricht fort. Er war Lehrer für Verhaltenskunde.

»Sie alle wissen, dass Tageslicht für einen Vampir tödlich ist. Sobald er ungeschützt dem Sonnenlicht ausgesetzt ist, beginnt er, sich zu zersetzen. Das kann rasend schnell gehen, sodass er förmlich zu Staub zerfällt. Manchmal geschieht es langsamer, und der Vampir zerbröselt nach und nach wie ein feuchter Zuckerhut. In den allergünstigsten Fällen kommt es nur zu Verbrennungen.« Der Professor machte eine kurze Pause. »Wie auch immer – der Vorgang lässt sich nicht rückgängig machen.«

Lilith, die vor Dorian saß, hing schon wieder fast schlafend über ihrem Tisch. Als Halbvampirin konnte sie sich auch tagsüber bewegen, ohne gleich von der Sonne verbrannt zu werden. Das nutzte Lilith ausgiebig aus. Die Folge war, dass ihr während des nächtlichen Unterrichts oft die Augen zufielen, obwohl sie sich alle Mühe gab, wach zu bleiben. Manchmal rutschte sie sogar mitten in der Stunde schlafend vom Stuhl, was immer für allgemeine Heiterkeit sorgte. Vor allem Costin verspottete sie und gab seiner Cousine den Spitznamen »Miss Schlaftablette«. Wenn er gewusst hätte, dass Liliths Vater ein Mensch war, würde er sie noch übler beschimpfen.

Professor Lazar schrieb nun einige chemische Formeln an die Tafeln, um darzustellen, dass die Zellen eines Vampirs umso schneller zerfielen, je mehr Vitamin D in seinem Körper gebildet wurde. Wenn die Begegnung mit dem Tageslicht nicht gleich tödlich verlief, so konnte dennoch eine gefährliche Krankheit entstehen: der sogenannte Lichtfraß.

Dorian seufzte leise. Opa Andreji hatte ihm oft genug die Narbe an seinem Handgelenk gezeigt, die durch Lichtfraß entstanden war. Lichtfraß war die gefährlichste Krankheit, die einen Vampir befallen konnte, und bisher gab es noch kein Gegenmittel.

»Deswegen ist unsere Spezies sehr gefährdet«, verkündete Professor Lazar. »Es wäre ein gigantischer Fortschritt, wenn man diese Krankheit bekämpfen oder sogar verhindern könnte. Schon viele Jahre wird deswegen geforscht, aber der entscheidende Durchbruch ist leider noch nicht gelungen.«

Einige Mitschüler stellten Fragen.

»Ist Lichtfraß wirklich so schlimm?«

»Stimmt es, dass vierblättrige Kleeblätter davor schützen?«

»Würde es helfen, sich in Alufolie zu wickeln?«

Lilith war in einen komaartigen Zustand gefallen. Dorian zog gelangweilt sein Smartphone hervor und lud sich die neue Sudoku-App herunter, von der man im MitterNachtsKniffel-Forum schwärmte. Er war süchtig nach Sudokus. Der Ladevorgang dauerte nur wenige Sekunden.

»Und was können Sie zum Unterricht beitragen, Dracula?«, erklang Professor Lazars Stimme unvermittelt neben seinem Ohr.

Dorian ließ das Smartphone blitzschnell verschwinden.

»Der Lichtfraß ist eine Krankheit, die sich nur schwer aufhalten lässt«, antwortete er geistesgegenwärtig. »Die Pest des einundzwanzigsten Jahrhunderts.« Er konnte sich immer an die letzten Sätze des Lehrers erinnern, selbst wenn er abgelenkt war. Die Aufnahmefunktion seines Gehirns schien stets aktiviert zu sein, egal, womit sich Dorian beschäftigte. »Die zerstörten Stellen breiten sich nach allen Seiten aus«, spulte er wie am Schnürchen ab. »Schon Lichtgrad 2 kann ein tiefes Loch entstehen lassen.«

»Genau«, bestätigte Professor Lazar. »Sehen Sie, meine Damen und Herren!« Er schob den rechten Ärmel seines Sakkos ein Stück hoch. Ein Aufstöhnen ging durch die Reihen. Dorian hatte jedoch bereits gewusst, was sie sehen würden. Als der Professor den Arm hob, erblickte man das Loch oberhalb des Handgelenks. Es war so groß wie ein Wachtelei und sah aus, als hätte jemand den Knochen an dieser Stelle mit einer Gewehrkugel durchschossen. Zum Glück war der Lichtfraß bei Professor Lazar zum Stillstand gekommen. Er hatte sich in das Loch eine Linse einsetzen lassen und hatte auf diese Weise immer eine Lupe bei sich, mit der er auch das Kleingedruckte lesen konnte.

»Tut … tut so etwas weh?«, fragte Lilith, die inzwischen wach geworden war. Obwohl ihr die Augenlider schon fast wieder zufielen, konnte sie ihren Blick nicht lösen.

»Lilith Popescu, ich versichere Ihnen, dass der Lichtfraß die allerschlimmsten Schmerzen verursacht«, sagte Professor Lazar mit ernster Miene. »Manchmal erlöst einen eine Ohnmacht von dieser fürchterlichen Qual. Aber es ist dann meist eine Ohnmacht für immer, denn während der Bewusstlosigkeit kann sich der Lichtfraß ungehindert fortsetzen. Außerdem ist man oft weiterhin der Sonne ausgesetzt, und Sie wissen ja, was dann passiert.«

»Aus die Maus!«, murmelte Serban, ein kleiner, quirliger Schüler mit einem Spitzmausgesicht, und grinste.

»Nicht witzig«, erwiderte Professor Lazar. »Legen Sie es auf einen Verweis an, Serban Toma?«

Serban schüttelte erschrocken den Kopf. Er hatte zwar eine große Klappe, war im Grunde aber äußerst ängstlich.

»Wissen Sie, welche Sofortmaßnahmen zu ergreifen sind, wenn der Lichtfraß droht?«, fragte Professor Serban und richtete seinen strengen Blick auf ihn.

In diesem Augenblick klopfte es laut und vernehmlich an der Tür.

»Herein!«, rief Professor Lazar.

Der Schulleiter trat ein. Direktor Moldovan war ein hochgewachsener, spindeldürrer Mann mit grünlich schimmerndem Teint. Er trug einen grauen Anzug, darüber einen schwarzen Umhang. Dorian hatte ihn noch nie ohne Handschuhe gesehen. Die Farbe wechselte je nach Wochennacht. Sie waren entweder dunkelgrün, dunkelrot, violett, dunkelblau oder schwarz. Dorian vermutete, dass seine Hände durch Lichtfraß verunstaltet waren.

Professor Lazar verbeugte sich. »Sehr erfreut, Sie zu sehen, Eminenz. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«

Der Direktor wandte sich der Klasse zu. Sein stechender Blick glitt über die Schüler und Schülerinnen und blieb an Dorian hängen.

»Dracula junior, bitte begleiten Sie mich ins Direktorat.«

Dorian stand auf. Er spürte, wie das Smartphone in seiner Hosentasche leise schnurrte. Wahrscheinlich wartete die neue App ungeduldig darauf, dass er die Lizenzbedingungen akzeptierte. Zum Glück hatte Dorian den Ton abgestellt, sonst hätte die App vielleicht noch fröhlich losgedudelt.

»Costin Lupo, bitte begleiten Sie mich ebenfalls!«

Ausgerechnet sein Erzfeind Costin!

Costin erhob sich provozierend träge. Ein ironisches Lächeln spielte um seine glänzenden Lippen. Dorian überlegte, ob Costin mit Lipgloss nachhalf oder unnatürlich viel Speichel produzierte.

Die beiden jungen Vampire gingen gleichzeitig nach vorne. Der Direktor nickte kurz in Richtung Professor Lazar und verließ das Klassenzimmer mit großen Schritten. Die Schüler folgten ihm.

Costin konnte es nicht lassen, er musste Dorian unterwegs mit dem Ellbogen anrempeln. Dorian rempelte zurück. Obwohl sich alles völlig lautlos abspielte, blieb der Direktor plötzlich stehen, drehte sich um und sagte scharf:

»Meine Herren, wollen Sie, dass ich Sie vom Unterricht suspendiere?«

»Entschuldigung, Eminenz«, sagte Dorian, und auch Costin murmelte etwas.

Moldovan hob die Augenbrauen und musterte beide mit seinen stechenden Augen.

»Was ist mit Ihrem Umhang geschehen, Dracula junior?«

»Ein … äh … Unfall, Eminenz«, antwortete Dorian. Er hörte Costin neben sich leise lachen.

»Nächstens ziehen Sie sich ordentlich an, Dracula. So schlampig herumzulaufen, schickt sich nicht für ein Mitglied Ihrer Familie!«

»Sehr wohl, Eminenz.«

Der Direktor wandte sich um und ging weiter.

»Moldovan hat im Hinterkopf ein drittes Auge«, flüsterte Costin.

»Das dritte Auge sitzt normalerweise auf der Stirn«, erwiderte Dorian. So viel wusste er noch aus dem Grundkurs Der sechste Sinn bei Vampiren.

»Klugscheißer, dann ist es eben das vierte«, gab Costin zurück.

»KLUGSCHEISSER, KLUGSCHEISSER«, wisperte es von den Wänden, denn inzwischen befanden sie sich in einem langen Gang, der jedes Geräusch vervielfachte. Nicht umsonst nannte man diesen Gebäudeteil Schnatterflur. Wenn die Schüler bei Stundenwechsel hindurchgeeilt waren, flüsterte und kicherte es im Gang noch minutenlang.

Durch die hohen Spitzbogenfenster fiel das Mondlicht. Zwei große Raben saßen auf einem Fenstersims, ihr blauschwarzes Gefieder schimmerte wie Tinte. Dorian hatte den Eindruck, dass die großen Vögel sie beobachteten, denn ihre Köpfe bewegten sich synchron und zum Tempo ihrer Schritte.

Der Schnatterflur endete, und sie wandten sich nach links.

In diesem Gang herrschte tiefe Dunkelheit. Die Fackeln waren erloschen, eine Maßnahme des Elternbeirats. Echte Pechfackeln waren teuer, außerdem verpesteten sie die Luft. Es war noch nicht klar, ob man sie durch LED-Fackeln ersetzen würde oder das Geld lieber in neue Servietten für den Unterricht in Menschen und andere Leckereien investierte. Dorian und Costin hatten jedoch Augen wie eine Katze und fanden sich trotz Finsternis zurecht.

Moldovan hatte das Direktorat erreicht und trat ein. Die Schüler folgten ihm. Der große Raum besaß eine dunkle Eichenholzvertäfelung mit aufwendigen Schnitzereien. Auf dem Marmortisch stand ein neunarmiger Leuchter aus purem Gold. Die elfenbeinfarbenen Kerzen warfen einen Lichtschein auf die beiden Männer, die auf dem breiten Ledersofa saßen.

Dorian hatte die Fremden noch nie zuvor gesehen. Sie trugen schwarze Anzüge aus feinstem Zwirn, ihre Haare waren mit viel Gel nach hinten gekämmt. Sonnenbrillen bedeckten die Augen. Auf den ersten Blick konnte man meinen, Zwillinge vor sich zu haben.

Moldovan blieb vor ihnen stehen.

»Ehrenwerte Herren, hier bringe ich Ihnen die gewünschten Schüler«, sagte er feierlich. Er wandte sich an Dorian und Costin. »Das sind die Herren Dragos und Miros von der Akademie. Bitte stellen Sie sich ihnen vor.«

»Dorian Dracula«, sagte Dorian. Seine Gedanken wirbelten. Die Akademie der Vampire war bisher nur ein Gerücht gewesen. Niemand wusste Genaues. Es musste eine mächtige Vereinigung sein, die ihre Fäden im Verborgenen spann – wie eine große unsichtbare Spinne, die durchaus imstande war, ihre Opfer mit einem einzigen Biss zu töten.

»Costin Lupo«, sagte Costin und deutete eine leichte Verbeugung an.

Der Fremde, der links auf dem Sofa saß, nahm mit nervtötender Langsamkeit die dunkle Brille ab. Seine Augen hatten die Farbe von blaufunkelndem Polareis.

»Wir haben einen Auftrag für Sie«, sagte er.

»Sie haben sicher schon von uns gehört«, sagte der andere Fremde und nahm ebenfalls die Brille ab. Seine Augen waren so rot wie das Innere einer Blutorange.

»Leider noch nicht sehr viel, Eminenz«, antwortete Dorian. »Ehrlich gesagt wusste ich bis heute nicht, ob es die Akademie wirklich gibt.«

Costin sagte gar nichts. Wahrscheinlich wusste er genauso wenig wie Dorian, wollte es aber nicht zugeben.

»Nun – wir lassen uns nicht in die Karten schauen«, sagte der Mann mit den Eisaugen. »Unsere Mitglieder verpflichten sich zu absoluter Verschwiegenheit.«

»Wir sind immer auf der Suche nach neuen Talenten«, ergänzte der andere. »Und wir haben einiges über Sie gehört.«

»Sicher nur Gutes.« Costin hatte jetzt sein Schweigen aufgegeben. »Wir sind die Jahrgangsbesten.«

Schule der Nacht