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Kurt J. Jaeger

Abenteuer
am Himmel

Wahre Fliegergeschichten
aus der Zeit
der Kolbenmotoren

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Douglas DC-3, Bild: Sammlung WM

Inhalt

Vorwort

Schicksal in deiner Hand

Tropische Gewitter

Ein Unglück kommt selten allein

Die Angst im Nacken

Ein gefährlicher Auftrag

Eine rätselhafte Entscheidung

Ferryflug in den Tod

Glossar

Impressum

VORWORT

Die Faszination des Fliegens ist seit den Gleitflugversuchen von Lilienthal oder den Katapultstarts der Gebrüder Wright auch heute noch ungebrochen. Aber die rasante Entwicklung in der Antriebseffizienz, Erkenntnisse in der Aerodynamik und in der Computertechnik haben die Fliegerei in Sachen Sicherheit seit damals einen großen Schritt vorangebracht. Die Ära der Kolbentriebwerke in der Verkehrsfliegerei ging in den 1960er-Jahren langsam dem Ende entgegen und so spielen diese heute nur noch in der Privat- und Sportfliegerei eine wesentliche Rolle.

Vor dem Jet-Zeitalter war dies alles noch ganz anders. Das Donnern gewaltiger Sternmotoren ließ die Luft erzittern; die Lungenflügel eines nahestehenden Zuschauers vibrierten, wenn die großen viermotorigen Verkehrsflugzeuge den Start zu einem Langstreckenflug einleiteten. Weiße Kompressionsnebel waberten durch die von den Propellern beschleunigte Luft, schossen als wirbelnde Fahnen beim Start über die damals noch ungepfeilten Tragflügel.

Dabei roch die Luft nach verbranntem, hochoktanigem Benzin und auf den fleckigen Abstellplätzen schillerten die Wasserlachen bläulich vom tropfenden Öl der dort abgestellten Verkehrsflugzeuge. Mechaniker kletterten um unverschalte Doppelsternmotoren, wechselten ausgefallene Geräte, kamen ölverschmiert hinter den Zylinderreihen und gebündelten Auspuffrohren hervor. Es war eine Zeit, in der erfahrene Piloten und Bordmechaniker noch wahre Teams bildeten.

Bekannte Flugzeugmuster wie die elegante Lockheed „Constellation“ mit den markanten drei Seitenflossen sowie bullige, zweistöckige Boeing „Stratoliners“, die effizienten Douglas DC-4 und DC-6/7 wechselten einander auf den internationalen Flughäfen ab. Aber auch auf den sogenannten Kurz- und Mittelstrecken spielten Maschinen wie die legendäre Douglas DC-3, die Convair 440 oder die russische Iljuschin 14 mit mächtigen Sternmotoren eine wichtige Rolle. Kolbenmotoren waren das A und O der Fliegerei. Die Ära der Jets war zu dieser Zeit hauptsächlich auf den militärischen Bereich beschränkt. Die ersten Versuche mit zivilen Jet-Airlinern auf europäischen Strecken durch die De Havilland „Comet“ endeten in einem Desaster, und auch die Tupolev TU-104 war nicht gerade ein Vorzeigemuster an Zuverlässigkeit. Erst die Boeing 707 und danach die Douglas DC-8 bewiesen in den 1960er-Jahren die nötige Leistungsfähigkeit auf Langstreckenflügen und gewannen dadurch auch das Vertrauen der Passagiere.

Für viele Luftfahrtbegeisterte ist die Zeit der hochentwickelten Kolbenmotoren eine Zeit romantischer Vorstellungen, so etwa wie die Ära der letzten modernen Dampflokomotiven. Doch im Gegensatz zu den gusseisernen Kolossen waren die in den damaligen Verkehrsflugzeugen eingebauten Kolbenmotoren hochempfindliche Kraftprotze mit bis zu 3.800 PS und einem Leistungsgewicht von teilweise weniger als 500 Gramm pro PS.

Kolbenmotoren, angetrieben von hochoktanigem Flugbenzin, verlangten im Gegensatz zu den heutigen Düsentriebwerken eine konstante und gekonnte Überwachung. Plötzliche Ventilbrüche oder der Verlust von Öldruck machten sie im Flug in Sekundenschnelle zu äußerst gefährlichen Schrotthaufen. Aber auch Leitungsbrüche durch stetes Vibrieren, Probleme mit den komplizierten Zündsystemen, überhöhte Zylinderkopf- und Öltemperaturen oder nicht mehr unter Kontrolle zu bringende Propeller konnten den Besatzungen das Leben äußerst schwer machen. Die Flugzeugbesatzungen von damals mussten sich ihren Lohn noch entsprechend hart verdienen.

In den Entwicklungsländern von Afrika und Südamerika bewiesen kleine Passagierflugzeuge mit Kolbenmotoren ihre unglaublichen Fähigkeiten auf holprigen, engen und zum Teil äußerst gefährlichen Landeplätzen. In den Händen von erfahrenen Buschpiloten hielten sie bei fast jedem Wetter und ohne irgendwelche elektronischen Navigationshilfen die Verbindungen ins Hinterland aufrecht.

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Douglas DC-3, Bild: Sammlung WM

Fliegen über den Wolken in ruhiger Luft war selten möglich und Gewitterherde zu überfliegen eine Unmöglichkeit. Wetterradar an Bord der Flugzeuge steckte in den Kinderschuhen und moderne Navigationshilfen am Boden waren außer in den USA und Europa noch weitgehend unbekannt. Es wurde bei Bedarf von den Besatzungen gekonnt improvisiert, um Menschen und Material zeitlich an das vorgegebene Ziel zu bringen. Ein Vorhaben, das im Vergleich zu heutigem Fluggerät ein Vielfaches an technischen und navigatorischen Problemlösungen forderte. Mensch und Maschine wurden zu einer verschweißten Einheit, einer verschworenen Gemeinschaft mit genauen Kenntnissen der „Innereien“ ihrer betreuten Flugzeuge und Motoren. Die Pilotenanwärter wurden von den Luftfahrtgesellschaften fast ausnahmslos erst nach Abschluss eines technischen Berufs mit praktischer Begabung eingestellt. Das Flugtraining wurde nicht in Simulatoren geschult, sondern nach einem harten Auswahlverfahren mit kunstflugtauglichen Flugzeugen absolviert, bei dem der fliegerische Instinkt intensiv gefördert wurde, um Notsituationen zu beherrschen.

Der Autor hat in den folgenden Geschichten Ereignisse aufgezeichnet, die er selbst als Pilot oder aus einer engen Beziehung zu den eigentlichen Personen erlebt hat. Die Namen der Protagonisten wurden allerdings geändert. Dabei wird versucht, das Abenteuerliche in der Fliegerei, das damals noch vielfach vorhanden war, aufzuzeigen. Es sind Erlebnisse, die in fliegerisch äußerst interessanten Gegenden der Erde geschehen sind. Die damalige technische Entwicklungsphase ist längst vorbei, aber hoffentlich wird sie nie vergessen.

SCHICKSAL IN DEINER HAND

12. März 1963, auf dem Flugplatz von Spriggs Payne in Monrovia

Schmerzen plagten Brandners Rücken und zogen sich wie brennende Schnüre in sein rechtes Bein. Leicht stöhnend verschob er sein Gewicht auf der viel zu kleinen Sitzfläche des abgenutzten Barhockers. Tabakrauch lag in der Luft. Sein Blick streifte über die vielen Flaschen in den Regalen an der weiß getünchten Rückwand, die bunten Aufkleber, die verschiedenen Formen der fein säuberlich aufgestellten Gläser. Er dachte an nichts Besonderes, ließ seine Gedanken wandern, wollte sich auf nichts Bestimmtes konzentrieren. Nur für eine Weile in Ruhe gelassen werden, keine Antworten auf dumme Fragen geben. Margie schien ihren einzigen Gast an der Bar und seine Launen zu kennen. Gelassen schob sie die winzige Kaffeetasse über das polierte Holz der Theke, blinzelte dabei schelmisch mit ihren großen, braunen Augen, als wollte sie ihn auffordern, ein wenig mehr Lebenslust zu zeigen.

„Dieses Zeug wird dich wieder auf den Damm bringen, Werner“, sagte sie und stemmte dabei trotzig ihre braungebrannten Arme vor ihm gegen die gerundete Kante der Theke.

„Hast du etwa Ärger mit der Maschine?“

Brandner schüttelte nicht existierende Schweißperlen von der breiten Stirn.

„Maschine?“

„Mann, die Tri-Pacer natürlich,“ ergänzte Margie ihre knappe Frage. Brandners ovales Gesicht hellte sich ein wenig auf. Dabei gab er sich einen Ruck und tauchte entschlossen die zwei auf der Untertasse liegenden Zuckerwürfel in den dampfenden Kaffee.

„Kein Ärger, nur eine kleine Pause. Das Bugrad hat sich durch einen herumliegenden, großen Glassplitter einen tiefen Schnitt eingefangen. Der Mechaniker von Valdez zieht mir gerade einen neuen Reifen auf. In einer Stunde bin ich wieder unterwegs.“

„Ein bisschen viel Pech in letzter Zeit, das kostet eine Menge Geld und Zeit“, meinte Margie mit gesenktem Kopf. Ihr schulterlanges, blondes Haar schwang ihr ins Gesicht, Sorge lag in ihrer rauen Stimme. Sie kannte Werner Brandner nun schon viele Jahre, die meisten, die er in diesem verfluchten Land bis jetzt verbracht hatte. Sie kannte seine Macken, wie auch die jedes Piloten und Mechanikers, der in ihrer kleinen Flugplatzbar ein- und ausging. Manchmal kam sie sich vor wie eine Ersatzmutter für die meist unverheirateten, jungen Männer aus Europa und Amerika, die ihr ihre persönlichen Anliegen zur Beurteilung überließen.

Es waren Männer mit jugendlichem Ungestüm und Tatendrang, bereit, ihr Leben für die Buschfliegerei zu riskieren. Wie viele hatten sich mit der Zeit um sie geschart, wie Küken um eine Henne, um ihre Seele auszuschütten, ihre Ängste und Sorgen, aber auch Freuden zu offenbaren! Und wie viele hatte sie schon auf ihrem letzten Weg begleitet. Hoffnungsvolle Männer, die den Anforderungen der Dschungelfliegerei nicht gewachsen waren, sie leichtsinnig unterschätzt hatten.

Brandner war anders; er war scheinbar unter einem besonderen Glücksstern geboren worden. Wie viele Male hatte er schon in gewaltigen tropischen Gewittern das Glück mit seiner Piper herausgefordert und war unversehrt auf den schlimmsten Pisten des Hinterlandes gelandet? Und immer hatte Brandner nach Monrovia zurückgefunden. Aber sie konnte sich auch noch an die Zeit erinnern, als Brandner ohne einen Cent in der Tasche versuchte, sich im Hafen mit Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen.

Brandner war erst vor etwa acht Jahren hier am kleinen Flugplatz östlich der Stadt aufgetaucht, um sein Glück in der Fliegerei zu machen. Dazu verhalf ihm der Gelegenheitskauf einer Piper „Tri-Pacer“, die, kaum noch flugtüchtig, schon Monate am Rande des Platzes gestanden hatte und vom Dschungel schon fast versteckt worden war. Nur mit dem vorhandenen Pilotenhandbuch und ohne je einen Fluglehrer gesehen oder eine Stunde Theoriekurs besucht zu haben, hatte Brandner sich das Wichtigste vom Innenleben der Maschine gemerkt und das Äußere des gedrungenen Fliegers auf Hochglanz poliert.

Schließlich näherte sich der Tag, an dem Brandner die Maschine in die Luft bringen wollte. Innere Zweifel an seinem Können hatten ihn glücklicherweise dazu bewogen, sich Karl Steinhoff als Instruktor zu angeln, einen heruntergekommenen ehemaligen Piloten der Luftwaffe. Ein paar Platzrunden später war Brandner bereits allein um den Flugplatz gekurvt. Er war damals in aller Munde, und niemand gab für die fliegerische Zukunft des kleinen Schweizers einen Pfifferling. Wie hatte Steinhoff doch einmal an der Bar getönt?

„Dieser Verrückte, dieser Brandner mit seiner Tri-Pacer, der macht es bestimmt nicht lange. Er kennt nicht einmal die verdammten Instrumente und weiß nicht, wie ein Höhenmesser oder ein Wendezeiger funktioniert. Völlig daneben, dieser Mann!“

Das war vor gut sechs Jahren gewesen. Brandner hatte nicht nur überlebt, er hatte über 8.000 Stunden hinter sich gebracht, die schlimmsten Landepisten im Land kennengelernt und auch die meisten Piloten überlebt, die das Fliegen in der Zivilisation von Grund auf gelernt hatten. Werner Brandner war ein kleines Wunder, dies war inzwischen auch alten Füchsen wie Steinhoff klargeworden.

Brandners Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen, als er Daumen und Zeigefinger aneinander rieb. „Immer, wenn es finanziell für eine Weile gut aussieht, kommt etwas dazwischen, das ein Loch in den Geldbeutel reißt.“

Margie lachte hell auf.

„Mein Gott, so ein kleiner Reifen an deiner Tri-Pacer kann doch nicht die Welt kosten, oder?“

„Margie, es ist nicht nur dieser eine Reifen. Hier ein neuer Auspuff, da neue Kerzen oder Kabel. Dann wieder eine verbogene Flügel- oder Fahrwerkstrebe, ein neuer Propeller, ein Leitwerk, das repariert werden muss, die mickrigen Bremsen … Es hört nie auf“, stöhnte Brandner, tiefe Falten in der breiten Stirn.

„Ihr alle macht doch gutes Geld mit der Buschfliegerei“, warf Margie ein und zwinkerte mit den langen Wimpern. „Von den Diamanten wollen wir mal nicht reden.“

„Hin und wieder kommt uns das Glück zugute“, gab Brandner zaghaft zu. „Aber seit meiner Heirat ist der Dollar eben auch nur noch die Hälfte wert.“

Margie nickte. Ein Schmunzeln zog feine Grübchen in ihre Wangen. In Gedanken sah sie Brandner vor etwas über einem Jahr über das ganze Gesicht strahlen und den Brief und das Foto aus dem fernen Deutschland im Kreise der Fliegerfreunde hier an der Bar herumschwenken; er hatte sie jedem Interessierten zur Begutachtung vorgezeigt. Es war die einzige Antwort auf seine Heiratsannonce in einer deutschen Wochenzeitschrift gewesen.

Werner Brandner war vom Bild und der Zuschrift so begeistert gewesen, dass er sich auf der Stelle entschlossen hatte, sein Junggesellentum aufzugeben. Innerhalb von ein paar Wochen waren die nötigen Papiere von der Behörde ausgestellt worden und die junge Dame aus Deutschland eingeflogen.

Entgegen den Erwartungen seiner Freunde hatte sich Brandner schon länger auf ein Leben zu zweit vorbereitet. Über lange Monate hinweg hatte er sich an seinen freien Tagen in der praktisch unberührten Wildnis hinter dem St. Paul River ein Stück Land gerodet, das er vor langer Zeit erworben hatte. Auf diesem Land hatte er anschließend sein Haus erbaut. Eine großzügige Behausung aus selbst gefertigten Zementblöcken, soliden Teakholzplanken und Außenwänden aus Tausenden von grünglasigen Bierflaschen, die er aus allen Bars der Stadt zusammengesammelt und hinaus auf sein Stück Land gebracht hatte.

Die soliden Flaschenböden, nach außen aufgeschichtet und die Zwischenräume mit Zement ausgefüllt, ließen ein eigenartiges Tageslicht ins Innere der Wohnräume fallen. Brandner schien auf vielen Gebieten ein besonderes Talent zu haben, ohne je dafür ausgebildet worden zu sein. Nicht nur, dass er einen Stromgenerator aus alten, nicht mehr brauchbaren Teilen zusammenbasteln konnte, er baute auch eine Wasserleitung mit dazugehöriger Pumpe für fließendes Wasser im Haus. Direkt nebenan plagte er sich wochenlang mit der Rodung einer eigenen Landepiste für seine Tri-Pacer ab und konstruierte einen Unterstand für sein Flugzeug, um geschützt vor tropischen Stürmen die Wartung selbst durchzuführen. Für Margie war Brandner ein wahres Genie, und seit er mit dieser Marianne verheiratet war, schien er als treusorgender Familienvater über sich selbst hinauszuwachsen.

Margies Gedanken wurden unterbrochen, als Willy Graber eintrat. Sein schlaksiger Gang, das schmale Gesicht mit dem stets unbekümmerten Ausdruck und die hellbraunen, gescheitelten Haare machten ihn unter Tausenden erkennbar. Behände schob er sich neben Brandner auf einen der Hocker. Ein schiefes Grinsen zeigte seine gesunden Zähne, als er mit dem rechten Daumen auf die halb geleerte Tasse vor Brandner zeigte.

„The same – das Gleiche wie mein Freund hier!“

„Also einen Espresso“, bestätigte Margie und fuhr fort: „Aus Wesua zurück?“

„Nope, ich komme gerade aus Nimba. Die Schweden brauchten wieder einmal dringend Maschinenteile für den Erzabbau.“

Brandner horchte auf. Das Geschäft mit der Nimba-Minengesellschaft, bei dem er nicht mitmischen konnte, lag ihm schwer auf dem Magen. Gegen die schnelleren Cessnas mit mehr Zuladung hatte er bei diesen gutbezahlten, längeren Flügen keine Chance. Seine Tri-Pacer war einfach zu langsam und besaß zu wenig Innenraum, um all das Zeug zu laden, das die Schweden transportieren wollten. Und diese Aufträge brachten eine Menge Geld. Moneten, die er dringend benötigte.

„Bist du heute Morgen direkt von hier gestartet?“, wollte Brandner wissen und unterbrach für einen Moment das Rühren seines Kaffees.

Willy Graber klopfte Brandner jovial auf die Schulter. „Ach wo! Erst musste ich nach Robertsfield, um zwei Passagiere abzuholen, die mit der PanAm angekommen waren. Mit denen ging es nach Buchanan ins Hauptcamp und erst von dort flog ich weiter nach Nimba. Es war ein guter Flug, hat auch eine schöne Stange Geld eingebracht. Max wird sich freuen, wenn er die Rechnung ausstellen darf.“

„Und erst Senator White“, rief Margie über die Schulter, während sie den Kaffee für Willy Graber aus der Espressomaschine presste. Graber lachte gekünstelt. Er räusperte sich und schob eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie umständlich mit einem Streichholz an. Margie hatte den Nagel mit der Bemerkung anscheinend auf den Kopf getroffen, denn Graber war merklich zusammengezuckt. Sichernd schaute er hinter sich, aber es war niemand in der Nähe.

„Dieser verdammte Hund! Eines Tages wird es noch Schwierigkeiten geben. Partner von Max Decker soll der sein, dass ich nicht lache. Er ist nur daran interessiert, wie viel Geld er am Ende des Jahres in seine eigene Tasche stecken kann. Ein Blutsauger ist das.“

„Ist uns allen bestens bekannt“, warf Brandner gelassen ein.

„Was kann man dagegen tun? Nichts! Wir sind in diesem Land nur geduldet, weil wir etwas bringen, was die nicht haben.“

„Was denn?“, fragte Graber spöttisch und blies eine lange Fahne blauen Dunstes durch die Lippen.

„Grips!“, sagte Brandner, ohne aufzuschauen.

„Sind wir damit wieder beim leidigen Thema?“, fragte Margie, die Tasse für Graber in der Hand haltend.

„Scheint so“, brummte Brandner. Mit einer schnellen Bewegung kippte er den Rest in der Tasse hinunter und rutschte seufzend vom Hocker. Willy Graber drehte sich um.

„Hast du einen Flug?“

„Nachher – erst muss ich sehen, ob mein Bugrad fertig montiert worden ist“, antwortete Brandner. Sein Gesicht verzog sich dabei schmerzhaft.

„Schwierigkeiten?“, fragte Margie.

„Nichts Besonderes“, entgegnete Brandner. „Es ist die alte Geschichte.“

Er versuchte, ein Lächeln aufzusetzen; dann bewegte er sich mit seinem eigenartig schleppenden Gang dem offenen Ausgang zu. Ihm war nicht zum Lachen zumute, aber er ließ sich auch nichts anmerken. Die Muskulatur in seiner Hüfte machte ihm heute wieder einmal schwer zu schaffen.

Seit jenem tragischen Zwischenfall mit der Gabunviper in seinem kleinen Gemüsegarten konnte er sich zu einer besonderen Art von Menschen zählen. Er war einer, der dem Tod wahrhaftig in die Augen geschaut hatte.

Nur ungern erinnerte er sich an jenen frühen Abend auf der fast ebenerdigen Veranda vor seinem neuen Haus. Im selbst gezimmerten Sessel zurückgelehnt hatte er die untergehende Sonne auf sich wirken lassen und dabei vergebens nach seiner Sonnenbrille in der Hemdtasche gegriffen. Kurzes Nachdenken hatte ihm die Erleuchtung gebracht: die Brille musste ihm beim Pflücken der Salatgurken im kleinen Gemüsegarten aus der offenen Hemdtasche gefallen sein.

Obwohl schon lange, tiefe Schatten die Umgebung verdüsterten, hatte er sich entschlossen, im Halbdunkel des wild verwachsenen Gemüsegartens nach der Brille zu suchen. Zwischen den kniehohen, breiten Blättern der Gurken war die Sicht praktisch gleich null gewesen. Mit seinen Fingern hatte er daher an der vermuteten Stelle nach der Brille getastet. Das blitzschnelle Zucken in Richtung seiner Hand hatte er nicht gesehen. Er spürte plötzlich einen scharfen, stechenden Schmerz auf seinem Handrücken, sah die Bewegung der Blätter und wusste sofort, was das zu bedeuten hatte.

Blitzschnell war er zurückgesprungen und hatte im Halbdunkel entsetzt undeutlich den dicken, mit unverkennbarem Muster versehenen Körper einer Schlange gesehen. Er hatte sie auch gleich erkannt; die Art und Weise, wie sie sich durch die Deckung der Blätter wand, war nicht zu verkennen gewesen. Eine Gabunviper – eine „Kasava“, wie sie im Volksmund genannt wurde! Der Tod persönlich. Farbig gezeichnet wie ein modernes Gemälde, aber tödlich. Mit fürchterlicher Klarheit war ihm damals bewusst geworden, dass sein Leben an einem sehr dünnen Faden hing. Der Biss dieser Vipern-Art konnte innerhalb kurzer Zeit den sicheren Tod bedeuten.

Brandner hatte trotz seiner Todesangst einen klaren Kopf behalten. Nur keine Panik, hatte er gedacht. Er war allein gewesen; hier draußen im Busch gab es keine Hilfe. Kein Mensch weit und breit, der die letzten Worte von seinen Lippen hätte lesen können. Aber noch war er nicht tot. Noch konnte er gehen, wenngleich ein leichtes Schwindelgefühl seine Sinne benebelt hatte. Vielleicht war es damals auch Angst gewesen, die ihn schwindlig werden ließ.

Und dann hatte er sich an die Spritze mit polyvalentem Antiserum in seinem petrolbetriebenen Kühlschrank erinnert. Eine dünne Hoffnung. Noch vor Erreichen seiner Haustür war ihm schrecklich übel geworden. Unfähig, sich auf den Beinen zu halten, war er mit dem letzten Überlebenswillen und auf den Ellenbogen kriechend über die zwei Stufen bis ins Haus und vor den Kühlschrank gerobbt. Kurz bevor er das Bewusstsein verlor, hatte er mit letzter Kraft die Spritze aus dem Kühlschrank gegriffen und sie sich durch die Jeanshose ins Gesäß gedrückt.

Wie man ihm sehr viel später erzählte, hatte man ihn am nächsten Tag auf dem Bauch liegend und neben der offenen Tür des Kühlschrankes gefunden, die leer gedrückte Spritze immer noch in seinem Hintern steckend. Er selbst konnte sich nur noch sehr schwach an die Zeit danach im Spital erinnern. Zwei Monate lang war er erblindet gewesen, und erst nach fast einem halben Jahr war auch die teilweise Lähmung seines Körpers soweit verschwunden, dass er wieder an eine Beschäftigung denken konnte. Doch seit jener Zeit stimmte etwas mit seinem Körperhaushalt nicht mehr. Gewisse Drüsen hatten unter der Einwirkung des diabolischen Giftes ihre Funktionen teilweise eingestellt. Rasch hatte er an Gewicht zugenommen; ihn schien eine dauernde Müdigkeit zu verfolgen, begleitet von Schmerzen in seinen Gliedern. Heftige Schweißausbrüche, die nichts mit der tropischen Hitze oder Feuchtigkeit zu tun hatten, plagten ihn ebenso wie häufiges Kopfweh, das er vorher nicht gekannt hatte. Immerhin hatte er überlebt – entgegen allen Weissagungen der Ärzte.

Willy Graber beobachtete aus den Augenwinkeln den schleppenden Gang Brandners und die leicht schiefe Haltung seiner Schultern, bis er um die Ecke des Korridors verschwunden war.

„Er sollte sich eben doch eine andere Maschine anschaffen. Diese alte Tri-Pacer, mit der er seit Jahr und Tag umherfliegt, wird auch nicht mehr lange halten.“

Margie blieb stumm. Sie verstand wenig von den technischen Innereien eines Flugzeuges und hatte auch keine Lust, diese näher kennenzulernen. In ihre Gedanken vertieft rieb sie mit einem bunten Tuch die gewaschenen Tassen und Gläser trocken und stellte sie zu den anderen. Ihr Blick fiel auf das angespannte Gesicht Grabers, der unablässig den längst zergangenen Zucker in der kleinen Tasse umrührte. Ein ziemliches Gegenteil von Brandner, dachte sie. Hier dieser drahtige Deutsche, in etwa gleichem Alter wie Werner, aber immer zu Späßen aufgelegt und manchmal mit überbordendem Optimismus. Dort der jetzt rundliche, gesundheitlich angeschlagene Brandner, der stets über die Folgen eines jeden Schrittes grübelte.

Beide waren Buschpiloten, die, Artisten gleich, ihre Maschinen auf kleine, enge Pisten im Hinterland manövrierten und ihren Beruf doch so verschieden ausübten. Willy Graber war in jeder Beziehung ein Profi: während des letzten Weltkrieges Jagdflieger mit acht Abschüssen an der Westfront und selbst einmal von den Alliierten vom Himmel geholt, der Inbegriff eines tollkühnen Fliegers. Brandner, ein Eigenbrötler durch und durch. Für Späße hatte der wenig übrig und doch das Herz am richtigen Fleck. Ein Pilot durch Selbststudium und Erfahrung, und sogar ein ausgezeichneter. Margie schüttelte unmerklich ihren Kopf, strich sich mit dem Handrücken die Haare aus der Stirn. Sie schob ihr Kinn vor, als sie sagte:

„Hast du für heute schon Feierabend?“

Willy Graber schaute auf seine Armbanduhr, als wollte er die Antwort ablesen.

„Ein letzter Flug nach Bombo in etwa einer Stunde, dann ist Schluss für heute.“

„Dein Chef Decker wird wohl sein Geld zählen wollen.“

Grabers Lachen schien echt. Er schnitt eine Grimasse und deutete hinüber zum offenen Hangar, dessen eine Ecke durch den Eingang gerade noch ersichtlich war.

„Er hat andere Sorgen, die ihm im Magen liegen. Geld ist dabei nur ein temporäres Heilmittel.“

„Macht sich der Senator wieder einmal bemerkbar?“

„Scheint so“, murmelte Graber, glitt langsam vom Hocker und streckte seine Glieder.

„Auf die Rechnung, wie immer! Noch vier Tage, dann ist Zahltag und du kriegst dein Geld, okay?“

„Ist in Ordnung!“, rief Margie ihm nach, als der Pilot zielstrebig durch den Ausgang ins gleißende Sonnenlicht trat. Ein feiner Kerl, dachte sie nachdenklich, aber er sollte sich mal eine vernünftige Frau suchen und heiraten. Vielleicht auf die gleiche Weise wie Brandner? Sie musste ihn einmal darauf ansprechen.

Auf dem Vorfeld startete ein Flugzeugmotor; sein Lärm verlor sich langsam. In der Kneipe drehte lautlos der Ventilator an der Decke.

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Grau und nass lag der dichte Nebel über dem Gebiet des St. Paul River. Von den Blättern der Büsche hing schwer der Tau. Vereinzelt durchdrang das zaghafte Schreien der Lachtauben das Halbdunkel des anbrechenden Tages. Werner Brandner zog mit griesgrämigem Gesicht die steife Schutzdecke von der Windschutzscheibe seiner Piper Tri-Pacer und ließ das in den Falten angesammelte Wasser abrinnen. Dann legte er sie unter dem offenen Dach des Unterstandes zum Austrocknen auf einen Querbalken.

Ein kurzer Rundgang um die Maschine bestätigte ihm, dass kein Schaden den heutigen Flug infrage stellen würde. Der Ölstand war unverändert und alle Zündkabel an den Zylindern waren fest. Er stemmte sich schwerfällig auf den linken Sitz und drehte den Startschlüssel; der Motor sprang sofort an. Brandner fröstelte es unter seinem bunten Polohemd. Er zog rasch die Tür ins Schloss, als der Propeller die nasskalte Morgenluft nach hinten schleuderte. Nachdem der Motor ein paar Minuten warmgelaufen war, zog Brandner den Gemischhebel heraus und drehte die Magnetschalter wieder auf „OFF“. Die plötzliche Stille wurde nur vom steten, monotonen Klopfen des Dieselgenerators hinter dem Haus unterbrochen.

Helles Licht fiel nebenan durch die offenstehende Haustür. Er ging hinüber, um die Thermosflasche abzuholen. Marianne stand in einem blassroten Morgenrock in der Türfüllung, als er herantrat. Sie hatte ihm noch ein paar belegte Brötchen eingepackt und streckte sie ihm zusammen mit der gefüllten Thermosflasche entgegen. Besorgt versuchte sie ein Lächeln.

„Pass bitte auf dich auf. Heute scheinen die Wolken dichter und tiefer als sonst zu hängen.“

Ihr Mann war an diesem trüben Morgen nicht in der Stimmung, die Ratschläge seiner jungen Frau anzunehmen. Er war bereits hinter seinem selbst auferlegten Zeitplan, und wenn er sich nicht beeilte, würde die Konkurrenz heute vor ihm in Bombo sein.

Brandner brummte ein paar unverständliche Worte, gab ihr hastig einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und drehte sich dann auf den Absätzen um. Seine Tri-Pacer wartete im Nassgrau des Nebels; der neue Tag nahm sich heute Zeit, das nasse Kriechgras war glitschig. Schwach glänzten auf den Spitzen der Gräser die Tauperlen. Vom Tau sichtbar gemacht hingen feine Spinnweben zwischen einzelnen Grasbüscheln, bildeten bizarre Gebilde. Die hinter der Piste wild wachsenden Palmen versteckten teilweise immer noch ihre Kronen im Dunst, streckten wie mahnende Finger ihre nackten Stämme ins Grau des zaghaft anbrechenden Morgens.

Als Brandner den vorgewärmten Motor wieder startete und mit seiner Tri-Pacer ans östliche Ende der sehr kurzen Graspiste rollte, wurde ihm die Wetterlage bewusst. Anders als sonst blieb der Dunst heute hartnäckig in den Bäumen hängen; die Sicht war nur bis in ein paar Meter Höhe akzeptabel. Er musste beim Start unbedingt in Sichtkontakt mit dem Boden bleiben, sonst würde er in Schwierigkeiten kommen. Für einen kurzen Augenblick dachte er an die Möglichkeit, die wahrscheinlich dünne Wolkendecke vom Start weg steil nach oben zu durchstoßen. Aber er verwarf den Gedanken so schnell wie er gekommen war; er würde es nie schaffen, Blindflug war nicht seine Sache. Brandner dachte grimmig an die vielen Ratschläge und Warnungen, die ihm andere Piloten gaben. Innerlich musste er über so viel Sorge um ihn lächeln. Was brauchte er diese komplizierten Kenntnisse von Blindflug? Was brauchte er all diese verwirrenden Instrumente und Anzeigen, die ihm noch nie einen Sinn erbracht hatten?

Brandner war stolz darauf, dass er, ein fliegerischer Autodidakt, viele andere Piloten an Können weit in den Schatten stellte, wenn es darum ging, einen der gefährlichen Plätze im Hinterland anzufliegen. Wie hatte Bill Weaver doch einmal gesagt? Er habe das Fliegen im Arsch und das wäre die einzige, richtige Art, ein Flugzeug zu fliegen. Das Gefühl müsste man haben, nicht sture, trockene Theorie, die gewisse Piloten nur noch zu Instrumentenguckern machte. Diese Worte waren Balsam gewesen in seinen Ohren. Bill Weaver war schließlich kein Selbstmörder, er wusste, wie man die Kisten durch die Luft bewegte; er wusste, wie man im Sichtflug sein Einkommen sicherte. Er brauchte keine Ratschläge, eher konnte er welche erteilen. Über 8.000 Flugstunden hatte er als Buschflieger in diesem verdammten Land überlebt und noch nie hatte er eine Ahnung von Blindflug gehabt. Das sollte ihm erst einmal einer nachmachen.

Bei angezogener Bremse ließ Brandner nun den Motor hochdrehen, prüfte die Zündmagnete und die Drehzahl. Alles schien in Ordnung. Er stieß den Gashebel bis zum Anschlag nach vorne, löste die Radbremse und hielt die langsam beschleunigende Maschine mit dem Seitenruder in Startrichtung.

Es schien eine Ewigkeit, bis Brandner mit genügend Geschwindigkeit die Tri-Pacer kurz vor Ende der holprigen Piste vom Boden hochziehen konnte. Sofort drückte er nach, um nicht von der Nebeldecke verschlungen zu werden. Nur wenige Meter trennten ihn von den Wipfeln der Palmen, deren Kuppen dunkel und schemenhaft vor ihm aus dem Grau auftauchten.

Brandner war, als ob der Dunst wie ein Vergrößerungsglas wirkte. Die Hindernisse schienen in der plötzlich schlechter werdenden Horizontalsicht enorme Ausmaße anzunehmen. Für einen Augenblick bemerkte er unter sich die vorbeihuschenden Gleise der Eisenerzbahn nach Bomi Hill und kurz darauf huschte er über die dunklen Wasser des Kpo Rivers. Die Wolken lagen hier noch tiefer. Im Tiefstflug den engen Windungen des Flusses folgend, war es ihm jedoch möglich, die Nebeldecke auch hier zu unterfliegen.

Wie weit noch bis zur Küste? Ein, zwei Minuten? In der wilden Kurverei hatte er den Überblick über seine genaue Position verloren. Er musste bald dort sein, denn er raste jetzt knapp über der leicht verschleierten Oberfläche des Flusses. Seine Gedanken flogen und er wusste, dass er in der Klemme war. Wann tauchte endlich die Küste auf? Dort, am flachen Strand, konnte er sogar auf Bodenhöhe fliegen, ohne mit den Bäumen und Palmen in Konflikt zu kommen. Auf diese Art war er schon unzählige Male der Küste folgend bis nach Cape Mount gekommen. Von dort an kannte er den Weg bis nach Bombo wie den Inhalt seiner Hosentasche. In dieser Jahreszeit waren die zähen Morgennebel beinahe eine normale Erscheinung und für ihn nichts Neues. Im Gegenteil, die Fliegerei bei solchen Grenzwerten brachte für ihn den richtigen Grad an Nervenkitzel und auch die Bestätigung, dass er ohne Blindflug selbst bei dicker Suppe fliegen konnte.

Plötzlich merkte er zu seiner Erleichterung, dass sich der Nebel langsam von den Bäumen löste. Rasch riss er die Maschine aus der Enge des vom Fluss gebildeten, baumfreien Korridors und kurvte nach Südwesten, um direkt zum heller werdenden Streifen über dem Strand zu gelangen. Mit einem Schlag war das dunkle Grün unter ihm verschwunden. Erleichtert drückte er die Tri-Pacer wieder tiefer und den schäumenden, hellen Strand entlang. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Brandner kannte diesen Streckenabschnitt bestens. Bald würden die kleinen Lagunen beim Delta des Loffa Rivers rechts vor ihm in Sicht kommen, von dort an löste sich der Nebel immer viel früher auf.

Die Sicht nach vorne betrug momentan noch um die 300 bis 400 Meter und würde dann schlagartig besser werden. Er atmete ein paar Mal erleichtert durch und schaute nach den Instrumenten. Alles schien in bester Ordnung. Schon wollte er sich bequem zurücklehnen, sich entspannen, als er staunend bemerkte, wie sich die Wolkendecke erneut absenkte und nun in einiger Entfernung vor ihm praktisch auf dem Wasser auflag.

Brandner überlegte blitzschnell. Das war doch nicht normal! So etwas hatte er in all den Jahren noch nicht erlebt. Er war in eine Falle geraten! Fieberhaft jagten seine Gedanken. Aber wie er es auch drehte, es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder er kehrte sofort um und versuchte, Monrovia zu erreichen, oder er versuchte wider besseren Wissens durch die Wolkendecke nach oben wegzusteigen.

Die Konturen vor der Windschutzscheibe wurden immer verwaschener. Brandner hatte Schwierigkeiten, die sich nun windende Küste auszumachen und er drückte seine Maschine noch tiefer. Ein paar Meter noch trennten ihn von der schäumenden Brandung. Er musste sich entscheiden. Beim Gedanken, durch die Wolkendecke nach oben durchzustoßen, überkam ihn panische Angst. Was war, wenn er die Orientierung verlor und außer Kontrolle geriet? Dort oben erwartete ihn das Unbekannte, eine Situation, die er nicht zu beherrschen gelernt hatte. Voller Unruhe beobachtete er die nackten Stämme der Palmen am Strand, die ihn wie eine Wand von Fingern warnten.

Umkehren – nicht gegen diese Hindernisse. Er war zu nahe, um eine Kurve zu riskieren; weiter aufs Meer hinaus konnte er nicht, da würde er den Sichtkontakt zur Küste verlieren. Also nach links abdrehen! Sein Blick wechselte nervös nach links auf den weiten Ozean, dessen farbloses Wasser sich mit dem monotonen Grau der aufliegenden Wolken vermischte. Brandner überlegte nicht mehr lange. Kurzerhand legte er seine Tri-Pacer in eine Steilkurve, riss das Höhensteuer unter Vollgas an sich und zog die Maschine in eine Wende.

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Willy Graber saß leicht vorgebeugt und konzentriert in seinem ausgebeulten Pilotensitz. Im Tiefflug raste er mit seiner Cessna 180 den flachen Strand entlang. Die unverschalten Räder berührten dabei fast den hell in der Abendsonne leuchtenden Sand. Schräg vor ihm huschte der langgestreckte Schatten der Maschine zwischen den dunklen Wassern der Lagunen am Loffa River und dem unberührten Küstenstreifen.

Was für ein herrliches Gefühl, die Geschwindigkeit so intensiv zu spüren, dachte Graber. Es war wie in alten Zeiten, als er mit seinem Rottenkameraden mit der Messerschmitt die Ostseeküste entlang zwischen den Fischkuttern hindurchfegte und das freudige Winken der Seeleute entgegennahm.

Das flache Delta des Loffa Rivers wischte nun unter Grabers Maschine durch. Unwillkürlich musste er an die vergangenen Tage denken, an denen er in dieser Gegend die Küste abgesucht hatte, um den vermissten Werner Brandner zu finden. Zwei volle Tage waren alle verfügbaren Flugzeuge eingesetzt worden, aber es war alles umsonst gewesen. Brandner blieb spurlos verschwunden. Kein Wunder, dass seine Frau einem Nervenzusammenbruch nahe war – kaum ein Jahr verheiratet, in einem Land, das für sie immer noch sehr fremd sein musste. Wie er zwischenzeitlich von Margie erfahren hatte, war sie auch noch im vierten Monat schwanger; ein grausames Schicksal. Graber konnte Mariannes Lage und ihre Verzweiflung über den Zustand verstehen. Was war, wenn Brandner nie gefunden wurde? Die Versicherung würde die Auszahlung wahrscheinlich hinausziehen, sie mittellos hängenlassen.

Alle Piloten hatten zwar in der Zwischenzeit eine kleine Sammlung untereinander durchgeführt, die über 600 Dollar eingebracht hatte. Eine vorläufige, kleine Hilfe, die aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein konnte. Für ihn wie auch alle anderen am Flugplatz in Monrovia war klar, dass Werner Brandner irgendwo zwischen seiner Hauspiste und Bombo abgestürzt war, aber wo? An jenem Tag hatte ein verflucht dichter Nebel über dem Küstengebiet gelegen.

Graber hatte den Start nach Wesua im Hinterland wegen schlechter Sicht um eine Stunde verschoben; Brandner jedoch war sehr früh gestartet. Das hatten sie von Marianne erfahren und auch, dass er kurz nach dem Start schon sehr tief im Nebel verschwunden war. Deshalb hatten sie die Suche auch zuerst auf dieses Gebiet konzentriert und erst, als dort keine Anzeichen eines Absturzes gefunden wurden, hatte man sich entschlossen, die Suche auf den ganzen Küstenstreifen bis nach Cape Mount auszudehnen. Aber auch auf der Strecke von Cape Mount bis Bombo war die Suchaktion erfolglos geblieben.

Willy Graber hatte so etwas schon ein paar Mal erlebt, aber immer war es im undurchdringlichen Dschungel des Hinterlandes passiert. Dort konnte selbst ein großes Flugzeug spurlos verschwinden, so viel war ihm klar. Sein Blick schweifte voraus, den schmaler werdenden Küstenstreifen entlang, der zunehmend von hohen Palmen gesäumt war. Die Gischt der auf die Felsen aufschlagenden Brandung sprühte über seine Windschutzscheibe und zog in Schlieren, langen Fäden gleich, nach oben weg.

Ob Brandner an jenem Morgen auch den Sprühnebel der Brandung abbekommen hatte? Tief musste er schließlich geflogen sein, sehr tief sogar, um die Nebeldecke zu unterfliegen. Graber zog die Cessna knapp höher, um ein paar Felsen auszuweichen, tauchte danach gleich wieder ab. Nur ein paar Handbreit trennten die Räder seiner Maschine vom Sand des jetzt flach auslaufenden Strandes.

Da, was war das? Graber hatte etwas im Sand liegen gesehen. Undeutlich, aber etwas, das nicht an diesen Ort gehörte. Ein Fremdkörper in dieser unberührten und menschenleeren Gegend. Instinktiv riss er die Maschine in einer Steilkurve hoch und drosselte den Motor. Mit ausgefahrenen Landeklappen flog er auf Gegenkurs den Küstenstreifen nochmals ab. Die untergehende Sonne blendete, aber er sah das Objekt sofort. Die Umrisse waren deutlich auszumachen und dann war er auch schon über den Gegenstand hinweg.

Das ist ein Reifen, dachte er und zog die Cessna höher, um erneut auf Gegenkurs zu gehen. Ein Reifen – vielleicht ein Flugzeugreifen? Das musste ein Flugzeugreifen sein, ein Bugrad vielleicht. Graber hatte kurz etwas ausmachen können, das wie eine Fahrwerksgabel aussah. Es schoss wie Feuer durch seinen Kopf: war es ein Rad von Brandners Tri-Pacer? Was denn sonst! Entschlossen fuhr er die Landeklappen voll aus und reduzierte die Geschwindigkeit. Der weiße, körnige Sand kam schnell näher. Graber nahm langsam die Schnauze seiner Cessna höher, schob sich parallel zur auslaufenden Brandung an den Strand heran. Seitwärts blickend machte er eine letzte Korrektur, dann stob auch schon der Sand hoch und die Maschine versuchte, nach links wegzuziehen. Mit aller Kraft und unter vollem Einsatz des Motors steuerte er sie wieder auf den feuchten Abschnitt des Strandes, wo er sie zum Stehen brachte.

Mit den letzten Drehungen des auslaufenden Propellers war Graber auch schon vom Sitz, öffnete die Tür und sprang in den feuchten Sand. Aufgeregt rannte er mit pochendem Puls zu der Stelle, wo der Reifen liegen musste. Er hatte sich nicht getäuscht. Es war nicht nur ein Reifen, es war ein ganzes Rad samt Bugradgabel und abgebrochenem Stoßdämpferrohr. Graber riss das eingeschwemmte Wrackteil aus dem Sand, spülte es in der Brandung sauber und ging damit zu seiner Cessna zurück. Es gab keinen Zweifel, die Teile mussten von Brandners Tri-Pacer stammen. Obwohl die Farbe von der Brandung zum größten Teil weggeschliffen war, konnte er die rote Lackierung auf der Fahrwerkgabel noch deutlich erkennen; Brandners Tri-Pacer war immer schon rot lackiert gewesen. Graber schob den Fund in den Gepäckraum und setzte sich wieder hinter das Steuer. Ein letzter Blick zurück zeigte die Sonne als eine versinkende, blutrote Scheibe am Horizont. Es war Zeit, dass er von hier wegkam und den Fund seinem Boss Max Decker zeigte. Irgendjemand am Flugplatz würde sicher in der Lage sein, die Teile mit Bestimmtheit zu identifizieren. Minuten später hob er sachte seine Cessna in den sich bunt verfärbenden Abendhimmel. Er schaute auf seine Uhr; in 20 Minuten würde er über Monrovia sein.

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Max Deckers Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen, als Graber das abgebrochene Bugrad auf den alten Schreibtisch knallte.

„Verdammt, was soll das?“

„Vielleicht die Antwort auf Brandners Verschwinden“, antwortete Willy Graber aufgeregt und deutete mit seinem Zeigefinger auf den schwarz glänzenden Reifen.

„Ich habe diese Reste eines Bugfahrwerks aus dem Sand beim Loffa River gezogen. Es könnte – ja, ich bin überzeugt, dass es das Bugfahrwerk von Brandners Piper Tri-Pacer ist.“

Deckers Blick war eiskalt, als er von dem Wrackteil hochschaute und seinen Piloten fixierte.

„Willst du mir etwa sagen, dass du dort am Strand gelandet bist, um dieses Ding mitzunehmen?“

„Sicher, wie sollte ich denn sonst dieses ‚Ding’, wie du es nennst, bergen?“

„Du riskierst die teure Cessna für irgendein Rad, das du im Vorbeiflug im Sande liegen siehst? Du hättest auf die Fresse fallen können, hoffentlich ist dir das klar.“

„Schon gut, Max! Ich habe aufgepasst und mich in der Nähe der Brandung gehalten. Aber was sagst du zu dem Fund?“

Deckers Stimme wurde ruhiger, als er sich erneut dem Rad auf seinem Schreibtisch zuwandte. Er drehte das Ganze um und besah sich die abgescheuerte Radgabel und das gewaltsam abgebrochene Stoßdämpferrohr.

„Hm, könnte schon von Brandners Maschine stammen. Von einer Tri-Pacer ist es ganz bestimmt. Ich kenne doch die Konstruktion, aber ob es …“

„Moment!“, unterbrach Graber. „Ich habe es doch völlig vergessen.“

Er fuhr sich kopfschüttelnd durchs Haar und schob die feinen Schweißperlen mit dem Handrücken aus seiner Stirn.

„Am Tag vor seinem letzten Flug habe ich Brandner kurz bei Margie an der Bar getroffen. Er hatte wegen eines Reifenwechsels am Bugrad eine Startverzögerung, anscheinend war der Reifen von einer Glasscherbe zerschnitten worden.“

„Und wer hat den Reifen gewechselt?“, fragte Decker und besah sich die leicht zerschundenen Seiten des Reifens.

„Wahrscheinlich der Spanier. Du weißt ja, José übernimmt manchmal so kleine Nebenarbeiten, wenn er etwas verdienen kann.“

Decker brummte etwas Unverständliches. Dann notierte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, verschiedene Zahlen, die auf dem Reifen zu erkennen waren.

„Hier, geh mit diesen Angaben zu José. Vielleicht hat er noch einen alten Lieferschein und wir können die Nummern bestätigen. Wenn die identisch sind, haben wir die Gewissheit.“

Graber schnappte sich den Zettel von Deckers Hand und wollte aus dem Büro stürmen, aber der andere rief ihn zurück.

„Moment mal, nur nicht so schnell. Wir wollen das Ganze gleich einmal bei Margie drüben besprechen. Es ist jetzt sowieso Feierabend, alle sind drüben beim Biertrinken und dieser Fund hier wird viel Gesprächsstoff und vielleicht eine Lösung bringen. Ich werde drüben warten.“

Graber war Sekunden später durch die verglaste Tür nach draußen verschwunden. Decker hob das Bugrad vom Tisch und drehte den Lichtschalter für seines Büros aus. Der Weg hinüber zum Flugplatzgebäude war kurz. Das Wrackteil unter den rechten Arm geklemmt, strebte er mit langen Schritten dem hell erleuchteten Eingang entgegen. Schon von weitem hörte er den Lärm der vielen Gäste an Margies Bar. Er schwoll noch beträchtlich an, als Max Decker am Eingang erschien.

„Was hast du denn da unter dem Arm?“, rief jemand laut, und eine andere Stimme setzte hinzu: „Wahrscheinlich hat er die eine Hälfte eines Horex-Motorrades der Polizei in einem Graben gefunden.“

Lautes Gelächter quittierte die Bemerkung, aber Decker verzog nicht einmal sein Gesicht. Ohne sich aufhalten zu lassen, ging er an der Bar vorbei und betrat das leere Restaurant dahinter. Beim ersten Tisch, der bereits für das Abendessen gedeckt war, schob er das weiße Tischtuch samt dem Besteck und den Tellern auf eine Seite und legte das abgebrochene Bugfahrwerk auf den freien, nun blank glänzenden Teil der Platte.

„That’s it“, sagte er halblaut zu sich und blieb abwartend stehen, wohl wissend, dass die Neugier all jene in diesen Raum treiben würde, die etwas mit der Fliegerei zu tun hatten. Er brauchte nicht lange zu warten. Margie drängte als Erste durch die mit Moskitonetz überzogene Tür. Hinter ihr standen Jo Langen, Weaver und Sam Dickson, die ein wenig unschlüssig dreinblickten.

„Hey, Max! Was hast du mit dieser modernen Skulptur vor?“, fragte Sam Dickson, spöttisch auf das Wrackteil zeigend.

„Skulptur, schön wär’s! Willy hat dieses Ding vor etwa einer halben Stunde in der Nähe des Loffa Rivers aus dem Strandsand geborgen. Er meint, es könnte vielleicht …“

Decker kam nicht weiter, denn die Tür schlug knallend von außen gegen die Wand. Einen rosa Zettel hochhaltend, stürmte Willy Graber mit grimmig-triumphierender Miene in den Raum. Auf seinen Fersen folgte ihm José Prado.

„Wir haben den Beweis! Max, dies hier ist der Beweis!“

„Was für ein Beweis?“, fragte Bill Weaver verwirrt.

Graber legte aufgeregt das Papier in seinen Fingern neben dem Wrackteil auf den Tisch und sagte:

„Der Reifen an diesem abgebrochenen Fahrwerk wurde vor einer Woche von Werner Brandner bei José gekauft und José hat ihn persönlich auf die Felge aufgezogen. Die Nummern stimmen.“

Für Sekunden war es still im Raum. Man hörte nur das heftige Schnaufen von José Prado, der nun den Reifen auf dem Tisch näher betrachtete.

„Von Brandners Maschine?“, stammelte Sam Dickson. Auch er trat nun an den Tisch, um sich persönlich zu überzeugen.

Immer mehr Leute drängten von hinten in den kleinen Raum. Willy Graber fühlte, dass er den Anwesenden eine Erklärung schuldig war; schließlich waren sie auf diesem Flugplatz eine eingeschworene Gemeinschaft von Abenteurern. Alle hatten Werner sehr gut gekannt und mehrere Stunden an der Suche nach ihm teilgenommen. Graber stellte sich ohne Umschweife mit seinen Stiefeln auf einen mit feinem Stoff überzogenen Sessel und erzählte lang ausholend, wie er das Wrackteil am Strand geborgen und nach Monrovia gebracht hatte. Als er von seiner Vermutung erzählte, dass dieses abgebrochene Bugrad vielleicht von Brandners Maschine stammte, hörte das nervöse Scharren der Schuhe auf dem Boden auf; jeder lauschte aufmerksam. Schließlich kam Graber auf den Lieferschein zu sprechen, der den endgültigen Beweis zu erbringen schien.

„Das würde heißen, dass Werner dort am Strand notgelandet ist“, sagte Jo Langen, sich auf die Zehenspitzen stellend. „Aber wo zum Teufel ist dann die Maschine geblieben?“

Es schien, als ob jedermann auf die Gelegenheit gewartet hätte, jetzt seine Meinung zu äußern; alles redete durcheinander, niemand konnte etwas verstehen.

„Ruhe, verdammt noch mal – nur einer soll sprechen!“, mahnte Weaver laut und verärgert.

„Willy, du hast den Reifen gefunden, hast die Gegend genau gesehen – was hast du zu sagen?“

Willy Graber nickte dankbar von seinem Stuhl herab und fuhr fort: „Nun, ich glaube im Gegensatz zu Jo hier nicht an eine Landung Brandners an der Küste. Ihr alle wisst, dass an jenem Morgen eine echte Nebelsuppe über dem ganzen Küstengebiet lag. Wir wissen auch, dass Werner an jenem Morgen früh gestartet ist, um in Bombo die ersten Passagiere aufzunehmen.“

„Wissen wir längst. Komm endlich auf den Punkt!“, rief Jack Burns von ganz hinten.