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Für Frida

Es wird eine Zeit kommen, in der die Menschen verrückt sind, und wenn sie jemandem begegnen, der nicht verrückt ist, werden sie sich zu ihm wenden und sagen: „Du bist verrückt“, weil er nicht ist wie sie.

Antonius, Apophthegmata Patrum

Allgemeiner Hinweis:

Das vorliegende Buch wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch vorgestellten Informationen resultieren, Haftung übernehmen.

MARKUS TORGEBY

BIS AN DIE GRENZEN

DES SEINS

Mein Leben als einsamer Läufer in der schwedischen Wildnis

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Originaltitel:

Markus Torgeby

Löparens Hjärta

Originalverlag:

© 2015 Offside Press AB och Markus Torgeby

Förlag Offside Press AB, Schweden

Text Published by agreement with the Kontext Agency

Englische Version:

The Runner - Four Years Living and Running in the Wilderness

© Bloomsbury Sport, 2018

Übersetzung aus dem Schwedischen: Karl French

Übersetzung aus dem Englischen: Kristina Mundt

Bis an die Grenzen des Seins

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Details sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2018 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen

Auckland, Beirut, Dubai, Hägendorf, Hongkong, Indianapolis, Kairo, Kapstadt, Manila, Maidenhead, Neu-Delhi, Singapur, Sydney, Teheran, Wien

image Member of the World Sport Publishers’ Association (WSPA)

ISBN 978-3-8403-3693-5

E-Mail: verlag@m-m-sports.com

www.dersportverlag.de

INHALT

Prolog

Öckerö

Der Wald

Tansania

Rückkehr

Zehn Jahre später

Danksagung des Autors

Bildnachweis

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PROLOG

Jämtland, Nordschweden, Herbst 1999

ES IST NACHMITTAG. Die Sonne ist müde, aber das Licht ist warm, und ich laufe vom Slagsån hinauf zum Sumpf unterhalb vom Romohöjden. Der Schnee bleibt auf dem Åreskutan liegen. Ich laufe über den Sumpf, und meine Beine fühlen sich leicht an.

Mit riesigen Schritten laufe ich über die Berghänge, bis hinunter zum Indalsälven und vorbei am Ristafallet. Ich folge dem Pfad am Fluss entlang und komme wieder zum Hügel. Drei Kilometer geht es steil bergauf. Ich bewege mich mühelos, gelange wieder zum Sumpf und habe die Sonne im Rücken.

Dann höre ich den Ruf eines Elchs. Ich bleibe stehen. Nach einer Weile höre ich, dass ein anderer Elch ein Stück weiter entfernt antwortet. Ich lege Daumen und Zeigefinger an die Nase, rufe selbst, und beide Elche antworten.

Sie sind beide ziemlich nah, und ich bleibe ruhig stehen. Schließlich kommen sie 30 Meter voneinander entfernt in den Sumpf. Ich bewege mich nicht. Sie sich auch nicht, und ihre großen Ohren sind wie Satelittenschüsseln in meine Richtung gedreht. Wir bilden ein Dreieck – der Bulle, die Kuh und ich. Die Elche haben die Abendsonne in den Augen und den Wind im Rücken. Ihre Beine sind lang und dünn, und sie sehen stark aus.

Ich laufe weiter, die Elche auch. Es kracht im Wald, als sie verschwinden.

Am Helgesjön angekommen, ziehe ich mich aus und springe hinein. Ich schwimme so lange, bis der Schlamm und Schweiß abgewaschen sind. Ich reibe mir die Achselhöhlen mit Sand ein und gehe nackt durch den Wald nach Hause zum Zelt.

Ich ziehe mir Unterwäsche, dicke Socken und meine Mütze an. Es dampft aus meinem Mund, wenn ich ausatme. Ich gehe in den Wald, um Birkenrinde und kleine Zweige zu sammeln, um sie als Anmachholz zu benutzen, und spalte Holz für später, wenn das Feuer richtig brennt. Ich lege immer dickere Äste nach, erhalte das Feuer, bis es warm im Zelt ist, und trockne die Plane.

Der Wald ist ruhig. Mein Gesicht ist warm vom Feuer. Draußen bildet die Dunkelheit eine Wand.

Ich esse Knäckebrot mit Butter und trinke warmes Wasser. Nachdem das Feuer heruntergebrannt ist, gehe ich ins Bett. In meinem Tagebuch halte ich die Ereignisse des Tages fest und beobachte die Sterne durch den Rauchabzug.

Mir gefällt es, in meinen Schlafsack eingepackt dazuliegen und die kalte Nachtluft im Gesicht zu spüren.

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ÖCKERÖ

ES IST HEILIGABEND 1985, und Mama hat Kopfschmerzen. Die Welt dreht sich, sagt sie. Sie hat Gleichgewichtsprobleme.

Ich bin neun Jahre alt, der Älteste von vier Geschwistern. Meine beiden Schwestern sind ein und drei Jahre jünger als ich, mein kleiner Bruder ist zwei.

Weihnachten feiern wir mit unseren Cousins, die in einem Haus in der Nähe wohnen; man muss nur den Hügel hinuntergehen und schon ist man da. Im Werkunterricht fertigte ich für Oma und Opa ein Fischerboot an. Es heißt Kristina, genau wie Opas Boot. Es wurde in einer Ausstellung in der Schule gezeigt. Ich bin daher richtig zufrieden.

Am ersten Weihnachtsfeiertag geht Mama ins Krankenhaus. Sie hat keine Schmerzen, aber ihre Beine tun nicht, was sie möchte.

Mama ist nicht sehr groß – nur 160 Zentimeter – und wiegt 43 Kilogramm. Sie hat blaue Augen, dicke braune Haare und wird nie böse. Sie war erst 19, als ich geboren wurde.

Papa fährt jeden Tag aufs Festland, um sie zu besuchen. Wenn er zurückkommt, sagt er nicht viel, aber beim Abendessen zittert sein rechtes Bein mehr als sonst. Ich spüre, wie der Boden vibriert.

Als Mama eine Woche später nach Hause kommt, geht sie auf Krücken. Sie ist 28 Jahre alt, und irgendetwas stimmt nicht mit ihr, aber man weiß nicht, was.

JEDEN MORGEN GEHE ICH über den Hügel zur Schule; dafür brauche ich zwei Minuten. In meinem blauen Rucksack ist ein Stück Obst. Ich gehe rückwärts und winke Mama, bis ich sie nicht mehr im Küchenfenster sehen kann.

Das Schulgebäude ist alt und heruntergekommen. Der Boden ist abschüssig, und mein Bleistift rollt weg, wenn er mir herunterfällt. Meine Lehrerin Ingrid Bjerger trägt roten Lippenstift, der häufig auf ihren Zähnen landet. Sie raucht, aber sie riecht immer gut.

„Markus, lauf dreimal um die Schule, und ich stoppe die Zeit“, sagt sie.

Das ist eine der Arten, auf die sie mich beruhigt. Meine Beine wollen sich immer bewegen, und mir fällt es schwer, still zu sitzen. In der Pause spielen wir Fußball, und ich ärgere die älteren Jungen, damit sie mich jagen, weil ich die Aufregung spüren möchte.

Öckerö, die Insel, auf der die Familie meiner Mutter schon seit Generationen lebt, liegt in den Schären zwischen Vinga und Marstrand nördlich von Göteborg. Sie ist eine von zwei Gemeinden in Schweden, die nicht mit dem Festland verbunden ist. Die Insel ist nicht groß; es gibt zwar Autos, aber man kann überallhin zu Fuß gehen oder mit dem Rad fahren. Im Westen liegt das offene Meer mit einem Horizont, der niemals endet. Im Osten liegt Göteborg, und die Lichter der Stadt erhellen den Himmel, wenn es dunkel ist.

Auf Öckerö gibt es noch ein paar unbewohnte Orte, aber nicht viele. Die Häuser stehen nah beieinander. Unseres ist groß; Papa hat es auf Omas und Opas Land gebaut, wo vor langer Zeit die Kühe weideten. Nur ein schwarz angestrichener Stahlzaun, den Opa in den Felsboden einbetoniert hat, trennt die beiden Grundstücke voneinander. Früher kletterten meine Geschwister und ich darauf herum und hängten uns kopfüber daran.

Unser Haus ist aus braunen Ziegelsteinen mit einer rauen Oberfläche gebaut, und das Dach ist mit dunklen Betonsteinen gedeckt, die mit Vogeldreck beschmiert sind. Die Möwen sitzen dort gern und kreischen. Fast jeden Tag klettere ich an einem Regenrohr hoch, ziehe mich über die Regenrinne und setze mich aufs Dach, um Wache zu halten. Dort bleibe ich, bis Mama ruft, dass ich herunterkommen soll.

Die anderen und ich haben eigene Zimmer im obersten Stockwerk. Im Keller haben wir einen großen, offenen Kamin. Zwei Brüder von der Nachbarinsel Fotö bauten ihn und das Fundament des Hauses. Papa sagt, er kam eines Tages nach der Arbeit zur Baustelle, um zu sehen, was los war, und einer der Brüder baute gerade den Kamin und Papa war der Meinung, dass er schief aussah. Er fragte sich, ob der Kamin wirklich so aussehen sollte.

„Er ist gut genug für Leute aus der Stadt“, sagte man ihm.

ICH BIN Zehn und nehme an meinem ersten Lauf teil: dem Ö-varvet, zehn Kilometer auf Asphalt. Ich jogge die 500 Meter über den Hügel zur abgedeckten Eislaufbahn, wo der Lauf beginnen wird. Mein Onkel und mein zwei Jahre älterer Cousin stehen ebenfalls am Start.

Ich trage Turnschuhe, pinkfarbene Shorts und ein T-Shirt. Mama, Papa und meine Geschwister sind gekommen, um zuzuschauen. Mama fragt sich, ob es eine gute Idee ist – ist es nicht ein bisschen zu viel für einen Zehnjährigen?

Es geht los. Mein Cousin und ich bleiben zusammen und hängen meinen Onkel schnell ab.

Ein Kilometer nach dem anderen vergeht, und alles scheint in Ordnung zu sein. Wir laufen durch die Straßen von Öckerö, Seite an Seite, mein Cousin und ich. Keiner von uns beiden möchte langsamer werden. Ich schätze, er möchte nicht von seinem jüngeren Cousin geschlagen werden, und ich möchte einfach nur mithalten.

Ich laufe einfach, ich denke nicht, ich mache einen Schritt nach dem anderen. So weit bin ich noch nie gelaufen.

Die Ziellinie kommt immer näher. Wir sprinten, und mir tun die Beine weh. Es fühlt sich an, als gehörten sie nicht richtig zu mir.

Am Ende trennt meinen Cousin und mich eine Sekunde – meine Zeit beträgt 44 Minuten und 4 Sekunden, die Zeit meines Cousins 44 Minuten und 3 Sekunden.

Ich setze mich in den Schatten an die Wand der Eislaufbahn. Meine Beine zucken, als wären sie von mir getrennt. Die Nerven scheinen ein Eigenleben zu führen, und ich kann nichts dagegen tun.

Ich bekomme Nasenbluten. Ich spüre, wie das Salz von dem Schweiß auf meiner Stirn meine Haut steif werden lässt, und es schmeckt nach Eisen, als das Blut mir den Rachen hinunterläuft.

Was für ein Gefühl!

SONNTAGMORGEN IN DER KIRCHE. Die Zeit vergeht langsam. Oma und Opa sitzen ein paar Reihen hinter uns. Mama ist zu Hause auf dem Sofa.

Ich höre Opas Stimme, wenn wir singen. Er liebt die alten Kirchenlieder.

Ich finde sie sehr schwierig. Sie sind so hoch, und ich wage noch nicht einmal, zu versuchen, diese hohen Töne zu treffen. Meine eigene Stimme höre ich nicht gern. Ich weiß nicht, ob ich falsch singe. Es ist besser, zu schweigen.

Während der Predigt beginnen meine Beine zu zucken. Es ist dasselbe Gefühl wie am Pult in der Schule. Was mache ich hier?

Der Prediger benutzt Worte, die ich nicht verstehe. Er spricht vom Weltuntergang und sagt, Gott werde kommen und die Gerechten von den Ungerechten trennen, Kinder würden sich gegen ihre Eltern auflehnen und die Welt werde in Flammen aufgehen.

MAMA LIEGT UNTER ihrer Decke und weint. Oma ist bei ihr. Ich höre sie durch die Wand.

Mama weigert sich, herauszukommen. Sie hat das große grüne Medizinbuch gelesen und sagt, sie wisse jetzt, was mit ihr nicht stimme, warum sie Probleme mit dem Gleichgewicht habe und warum ihr Körper ihr nicht gehorche.

„Ich habe MS. Ich habe alle Symptome. Mein Sehnerv war entzündet, meine Beine sind taub und ich habe immer mehr Gefühl in den Armen verloren, seit ich ein kleines Mädchen war. Ich habe einen Körper, der mir einfach nicht gehorcht, und ich habe Probleme mit dem Gleichgewicht.“

Als Papa von der Arbeit nach Hause kommt, wird er wütend. Er nimmt das große, dicke Buch und versteckt es.

Er möchte nicht, dass Mama weiter darin liest; wir wissen nicht, ob es wirklich MS ist. Die Ärzte haben keine richtige Diagnose gestellt.

Es ist sinnlos, voreilige Schlüsse zu ziehen.

ALS ICH IN DIE MITTELSTUFE KOMME, muss ich ins Ankaret umziehen, ein gelbes Holzgebäude am Hafen. Ich brauche fünf Minuten, um mit dem Fahrrad dorthin zu fahren, und fünf Minuten, um dorthin zu laufen.

Das Gebäude ist neben dem Gymnasium, und wir teilen uns eine Mensa mit den älteren Schülern. Ich ärgere sie auch. Ich kann nichts dagegen tun. Ich liebe es, von den Jungs vom Gymnasium verfolgt zu werden, zu spüren, dass sie näherkommen und dass sie mich verprügeln werden, wenn sie mich fangen. Es ist ernst. Durch den Adrenalinstoß, den ich spüre, wenn ich es gerade noch einmal schaffe, ihnen zu entkommen, kann ich bis zur nächsten Pause ruhig sitzen bleiben.

Meine neue Lehrerin heißt Ingrid. Sie hat graue Haare und trägt meist eine Strickjacke. Ich schreibe so klein, dass sie meine Worte mit einer Lupe lesen muss. Meine Geschichten handeln immer von Blut und Tod.

1988 BIN ICH ZWÖLF und nehme an meinem zweiten Lauf teil. Diesmal hat der Sportverein die Strecke geändert, sodass sie sowohl über Öckerö als auch über die Nachbarinsel Hälsö führt.

Ich habe mehr gespielt, bin mehr gelaufen und habe mehr Fußball gespielt. Deshalb bin ich stärker als letztes Mal. Ich habe richtige Sportschuhe, und ich habe mir die Laufhose von meinem Vater geliehen, eine schicke Hose aus synthetischem Material in den Farben der Nationalmannschaft. Weder mein Onkel noch mein Cousin nehmen teil. Ich kann also mein eigenes Rennen laufen.

Ich laufe schnell los; mein Körper macht mit und ich halte das Tempo. Ich laufe ohne Uhr. Ich höre einfach auf meinen Körper. Es tut weh, aber es funktioniert.

Mir gefällt das Hämmern in der Brust, und ich atme tief. Solange es so ist, werde ich nicht dieses taube Gefühl bekommen. In den letzten Jahren habe ich gelernt, auf der richtigen Seite der Grenze zu bleiben. Nach kaum mehr als 38 Minuten überquere ich die Ziellinie und bin sehr zufrieden.

AN EINEM SONNTAG VERPASSE ICH die Großevangelisation. Und das ist nicht gut. Ich spüre es in mir. Jeder war dort, aber ich spielte Eishockey.

An jenem Tag predigte Egon Sandström. Meine Freunde lernten, in Zungen zu sprechen, aber ich verpasste es. Die Mitglieder der Gemeinde fielen durch die Kraft des Heiligen Geistes zu Boden.

Unser Pastor ist nicht gerade begeistert: „Markus, du musst dich entscheiden. Welchen Weg möchtest du, den schmalen oder den breiten? Den, der in den Himmel führt, oder den, der in die Hölle führt? Du musst dich entscheiden.“

AN EINEM SOMMERABEND GEHE ICH mit Opa Makrelen fangen. Opa war 17, als er zum ersten Mal sieben Tage lang durch dichten Nebel zum Fischen nach Island fuhr, und seitdem ist er Fischer. Er ist klein und stämmig, und seine Haare sind so weiß wie Zucker. Trotz seines Gewichts ist er agil und hat große Füße – Oma sagt, sie sind so groß, damit er bei hohem Wellengang fest auf Deck stehen kann.

Es ist gut, Opas Hilfe zu haben, wenn etwas abgerissen werden muss, sagt Papa. Für feinere Zimmerarbeiten ist er nicht so gut zu gebrauchen. Alles muss schnell gehen, und wenn ein Holzzapfen ein bisschen zu lang ist, sägt er ihn nicht ab, sondern nimmt den Vorschlaghammer und haut ordentlich drauf.

Es kann passieren, dass er einen gerade erst eingepflanzten Strauch abschneidet und erklärt, er habe ihn für Unkraut gehalten. Dann jagt Oma ihn mit einem Stock durch den Garten.

Er betrachtet alles wie frisch gefangene Fische, die sortiert werden müssen. Man muss sich beeilen, manche werden aussortiert und zurück ins Wasser geworfen, und alles wird gut, solange man sich Mühe gibt. Opa lässt sich durch nichts erschüttern. Schreiende Enkelkinder oder Jungen mit Beinen, die laufen müssen, sind kein Problem für ihn.

Wenn meine Cousins und ich auf einen hohen Baum klettern und ein besorgter Erwachsener denkt, wir würden herunterfallen und uns die Beine brechen, sagt Opa: „Ist halb so wild.“

Gegen acht Uhr abends verlassen wir den Hafen. Die Sonne scheint, und die Luft ist mild. Opas Bruder ist auch dabei. Die Brüder sind absolut gegensätzlich. Opas Augen sind blau, die seines Bruders sind braun. Opa denkt, alles wird gut, während sein Bruder vorsichtiger ist und für jede Art von Schraube eine eigene Dose hat.

Als sie jung waren und Öckerös erstes Schiff mit Eisenrumpf besaßen, war Opa der Kapitän und sein Bruder kümmerte sich um den Motor. Das war wahrscheinlich eine gute Arbeitsteilung: ein furchtloser Kapitän und ein äußerst sorgfältiger Mechaniker.

Wir fahren an Hälsö vorbei und erreichen das offene Meer. Die Kabine stinkt nach Diesel und Motoröl, und mir wird langsam übel von den Gerüchen und der Bewegung des Meeres. Opa lacht, als ich mich zum ersten Mal übergebe.

„Das geht gleich weg“, sagt er.

Das Gefühl, dass sich mir der Magen umdreht, verschwindet kurz, kehrt aber bald wieder zurück. Es liegen noch viele Stunden vor uns, bevor wir wieder nach Hause kommen. Zuerst müssen wir zu der Stelle fahren, wo wir die Netze auswerfen, und dann müssen wir stundenlang sehr langsam gen Süden fahren, bis es Zeit ist, die Netze einzuholen.

Warum lerne ich nie? Warum fahre ich mit ihnen, wenn ich immer so seekrank werde?

Nachdem ich mich zum zehnten. Mal übergeben habe, lege ich mich im Frachtraum auf eine feuchte Matratze. Dort schlafe ich unruhig, bis Opa ruft, es sei Zeit, die Netze einzuholen, Zeit, an Deck zu kommen und zu helfen.

Nun, da es dunkel ist, brennen die Lampen auf Deck. Stück für Stück holen wir das Netz ein, ziehen die Fische heraus und legen sie auf Eis. Nach einer Stunde sind wir fertig und machen uns auf den Heimweg.

Der Bootssteg bewegt sich unter meinen Füßen, als ich darauf springe, alles dreht sich. Opa und ich fahren mit dem Rad nach Hause, als gerade die Morgendämmerung einsetzt, er zu seinem Haus, ich zu meinem.

JETZT WISSEN WIR GENAU, was nicht stimmt. Mama hat ihre Diagnose bekommen: multiple Sklerose.

Bei dieser Erkrankung des Nervensystems funktionieren die Signale vom Gehirn an die Muskeln nicht so, wie sie sollen. Das bedeutet, dass die Muskeln schwächer werden, was wiederum bedeutet, dass es schwerer wird, sich zu bewegen. MS verläuft meist in Schüben: Zu bestimmten Zeitpunkten geht es dem Körper schlechter, zwischendurch wird es ein bisschen besser.

Es muss aber nicht so ernst sein, sagen die Ärzte. Man kann verschiedene Arten von MS bekommen. Manche sind aggressiver, andere sanfter. Die Zukunft wird zeigen, welche Art Mama hat.

Abends, wenn sie nach oben geht, um mit meinen Geschwistern und mir das Abendgebet zu sprechen, muss Papa oder einer von uns ihr helfen. Meist bin ich es.

Abends ist Papa meist unten im Keller und macht die Buchhaltung. Er verkauft Büroausstattung, Kopierer und Schreibmaschinen. Die Firma heißt Torgebys Bürobedarf und hat ihren Sitz in der Altstadt von Göteborg, neben SKF, dem Kugellagerhersteller.

Papa ist gut im Verkaufen; er ist ehrlich und offen und die Leute mögen das. Papa übernahm die Firma von seinem Vater, als der an Darmkrebs starb. Damals war ich vier, und ich erinnere mich kaum an ihn.

Meine Schwestern sind wie zwei Seiten derselben Münze. Elin hat dunkle Haare und grüne Augen. Abends ist sie immer sehr munter, aber morgens ist sie fast tot. Sie sieht aus wie Papa. Ida ist abends müde und morgens ganz munter, und sie ist die Einzige in der Familie, die blond ist. Papa nennt sie Skorpan.

Jeden Abend ruft Mama am Fuß der Treppe, damit jemand ihr hinaufhilft, und dann beten wir: „Gott, der du die Kinder liebst, pass auf mich auf, denn ich bin klein …“

Mama kann nicht mehr nach draußen gehen, wenn es windig ist, da sie vielleicht umgeweht werden würde. Sie kann nicht mehr als Arztsekretärin im Lillhagens-Krankenhaus in Göteborg arbeiten und wurde krankgeschrieben. Sie kann ihre Hände nicht mehr dazu bringen, zu schreiben.

Stattdessen liegt sie auf dem Sofa und weint.

Oma verbringt jeden Tag Zeit mit ihr. Ich höre sie aus der Ferne. Mama macht sich Sorgen, was passieren wird.

„Wer wird sich um die Kinder kümmern, wenn ich es nicht mehr kann?“

Opa bringt jeden Tag die Zeitung herein. Ich höre ihn summen, wenn er durch die Garage geht. Er sagt nicht viel, er beobachtet nur still.

Mama ist 30 Jahre alt, und ihr Körper verfällt langsam.

Es ist sehr schwer für mich, dass Mama so viel weint, aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin einfach frustriert.

Sie fängt an, einen Rollstuhl zu benutzen.

ICH HABE DIE MITTELSTUFE BEENDET und gehe für die letzten beiden Jahre auf eine neue Schule namens Bratteberg. Sie erscheint mir trocken und öde; harte Betonkorridore mit nummerierten Spinden an den Wänden. Ich komme nicht damit klar, drinnen zu sitzen, ich will raus. Ich mache keine Hausaufgaben, bin unmotiviert und mein Kopf fühlt sich schwer an.

Meine Beine haben einen solchen Bewegungsdrang, dass ich nicht ruhig auf einem Stuhl sitzen kann.

Sport ist das einzige Fach, das okay für mich ist. Vielleicht bin ich einfach ein bisschen dumm?

Als ich von der Schule nach Hause komme, ruht Mama sich auf dem Sofa aus und ihre Augen sind rot vom Weinen. Einer der Pfleger war da und hat geputzt, und auf dem Herd stehen Fleischklöße. Sie sind klein und rund, nicht so wie die, die Mama früher immer machte. Sie schmecken anders.

Es platzt einfach aus mir heraus: „Warum hörst du nicht endlich auf zu weinen? Ich will dich nicht mehr jammern hören.“

Ich gehe zum ICA, dem Supermarkt, wo ich jede zweite Woche als Aushilfe arbeite. Ich bin für die Molkereiprodukte zuständig und bekomme 30 Kronen pro Stunde. Manchmal, wenn ich Hunger habe, geht mir zufällig ein Joghurtbecher kaputt, und ich verschlinge den Inhalt auf der Stelle im Kühlhaus.

AM ENDE DES JAHRES komme ich in die Auswahl für die nationalen Leichtathletikmeisterschaften der Schulen. Ich werde die 3.000 Meter im Stadium von Stockholm laufen.

Ich stehe früh auf, fahre mit der Fähre und dann mit dem Bus nach Heden, um von dort mit dem Fernbus nach Stockholm zu fahren. Der Einzige, den ich auf der Reise kenne, ist Per-Fredrik, ein Freund von der Nachbarinsel Hönö.

Er ist Schwedens bester Stabhochspringer. Wir kennen uns vom Eishockeyteam. 20 Stunden pro Woche laufe ich Schlittschuh oder spiele Eishockey. Das ist das, was ich tue, wenn ich nicht in der Schule bin oder beim ICA arbeite.

Ich bin zum ersten Mal in Stockholm, und ich bin total gestresst, weil ich nicht weiter als bis zum nächsten Haus sehen kann. Kein Horizont. Alles ist so nah an mir und bewegt sich so schnell.

Ich werde zum ersten Mal auf einer Bahn laufen. Ich jogge zwei Runden, um mich aufzuwärmen; der Tartan fühlt sich gleichzeitig hart und weich an – so etwas hatte ich noch nie unter den Füßen. Ich bin harten Fels und Asphalt gewohnt.

Ich habe mir Papas Laufschuhe ausgeliehen, ein Paar schwere Nikes, die an den Fersen gedämpft sind. Ich trage eine weiße Fußballhose und ein Trikot, das er anhatte, als er an einem Lauf in Göteborg teilnahm.

Die anderen Läufer haben Trikots und Shorts, die farblich aufeinander abgestimmt sind, und richtige Laufschuhe mit Spikes. Es ist das erste Mal, dass ich Spikes sehe. Sie sehen dünn und leicht aus.

Vom Start weg laufen die Jungs mit Spikes ein bisschen zurückhaltend; sie beobachten einander. Ich verstehe nicht, was sie vorhaben. Wenn man an einem Wettkampf teilnimmt, ist es doch sicherlich richtig, so schnell zu laufen, wie man kann. Bei meinen wenigen Wettkampfteilnahmen bin ich immer so schnell losgelaufen, wie ich konnte.

Ich führe und bleibe auch einige Runden vorn, mit meinen schweren Laufschuhen und meiner Fußballhose. Mein Selbstbewusstsein steigt. Die Zuschauer jubeln, es fühlt sich an, als würde jeder mich ansehen. Ich höre meinen Namen durch die Lautsprecher: „Markus Torgeby aus Öckerö ist in Führung!“

Die anderen sind hinter mir. Ich fühle mich großartig und laufe weiter so schnell, wie ich kann. Als wir nur noch zwei Runden vor uns haben, geben die erfahreneren Läufer Gas. Ich muss sie überholen lassen, und sie fliegen auf frischen Beinen an mir vorbei. Meter um Meter. Ich hole alles aus mir heraus, aber es ist sinnlos; der Abstand zwischen mir und den anderen wird nur noch größer.

Nach 9 Minuten und 50 Sekunden bin ich einer der Letzten, der die Ziellinie überquert, 150 Meter hinter dem Sieger.

Die Enttäuschung darüber, nicht mit den anderen mitgehalten zu haben, ergreift meinen gesamten Körper. Ich habe das Gefühl, jeder im Stadion starrt mich an.

DER VATER EINER meiner Mannschaftskameraden beim Eishockey sagt mir immer wieder, ich solle mich aufs Laufen konzentrieren. Er denkt, ich sollte beginnen, ernsthaft bei einem Verein in der Stadt zu trainieren.

„Markus, Laufen liegt dir“, sagt er. „Beim Training läufst du den anderen locker davon. Und es ist offensichtlich, dass es dir Spaß macht. Du bist eher ein Einzelkämpfer und ich denke, dass Laufen genau dein Ding ist.“

Ich gehe von der Schule und lerne im folgenden Sommer auf Björkö einen sehr guten Läufer kennen, der ein paar Jahre älter ist als ich. Wir verabreden uns für den nächsten Tag am Sportzentrum Slottsskogsvallen.

Ich fahre mit dem Rad zur Fähre, nehme den Bus 24 zum Hauptbahnhof und dann die Straßenbahn zum Slottsskogen. Nach einer Stunde und 40 Minuten bin ich da.

Wir treffen uns vor dem Eingang zur Sporthalle. Zusammen mit zwei anderen Läufern laufen wir uns auf der Vier-Kilometer-Runde um den Slottsskogen ein. Hier bin ich noch nie gelaufen, und mir gefällt es, mich zwischen Bäumen zu bewegen. Es riecht anders. Auf Öckerö gibt es kaum Bäume.

Wir werden Intervalle um die Azaleadalen laufen, eine große Wiese im Slottsskogen: achtmal 820 Meter mit 90 Sekunden Pause zwischen den Runden.

Es ist das erste Mal, dass ich Intervalle laufe, und ich weiß nicht, was mich erwartet, nur, dass ich so schnell laufen muss, wie ich kann. Es geht los, und die anderen Jungs geben Gas. Meine Beine brennen, und das Gras erschöpft meine Kräfte.

Am Ende der ersten Runde liege ich 20 Meter zurück. Ich bin kaputt, aber es fühlt sich okay an. Wir machen weiter, ein Intervall nach dem anderen. Jedes Mal liege ich 20 Meter zurück, aber nicht mehr. Ich werde immer erschöpfter, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Nach dem Training bin ich glücklich.

Wir laufen aus und gehen zur Sporthalle, um zu duschen und uns umzuziehen. Der Läufer aus Björkö erzählt mir, er habe keinen Trainer und wisse nicht, wie lange er noch laufen werde.

„Ich trainiere nur zum Spaß mit meinen Freunden, aber du solltest anfangen, mit einem Trainer zusammenzuarbeiten.“

Er nickt in Richtung eines Mannes in der Ecke: „Siehst du den Kerl mit den kurzen dunklen Haaren? Er arbeitet als Lauftrainer für Örgryte. Ich kann ihn nicht leiden, er ist zu streng und schreit zu viel, aber er passt vielleicht zu dir.“

Ich werde dem Trainer des bekannten Sportvereins vorgestellt, und wir beschließen, dass ich am nächsten Tag um 16.30 Uhr wiederkomme, um meine erste Einheit mit der Gruppe zu absolvieren.

ALS ICH AM NÄCHSTEN TAG ANKOMME, lehnt Patrik Sjöberg draußen lässig an einem kleinen Sportwagen und raucht. In der Halle gehe ich an den Hochsprungmatten vorbei, wo dürre Kerle einem Trainer zuhören, der mit einem seltsamen schwedischen Akzent spricht, und am Wurfkreis, wo muskulöse Jungen und Mädchen ihre Dehnübungen machen. Alle konzentrieren sich auf das, was sie tun.

Der Trainer und die anderen Läufer warten in der Kurve, wo sie sich immer vor dem Training treffen. Ich werde vorgestellt: Ein dünnes blondes Mädchen ist jünger als ich, während die anderen alle Jungs mindestens ein Jahr älter sind als ich.

Ich komme mir ein bisschen blöd vor, alle sehen mich an.

„Wir machen Intervalltraining im Änggårdsbergen“, verkündet der Trainer. Zwölfmal 400 Meter auf einer hügeligen Runde mit jeweils 60 Sekunden Pause.

Wir laufen uns bis zum Start der Runde warm, dehnen uns und machen ein paar Sprints, bevor wir anfangen.

„Drei, zwei, eins, los!“, ruft der Trainer, und alle preschen los.

Ich kann ganz gut mithalten, und je mehr Intervalle wir laufen, desto besser fühlt es sich an. Mir wird bewusst, dass das meine Stärke sein könnte, nicht Schnelligkeit, sondern Ausdauer.

Als wir fertig sind, laufen wir zur Halle zurück und schließen das Training mit ein paar Kräftigungsübungen ab. Bevor ich mich umziehe, sagt der Trainer: „Markus, in zwei Wochen finden die regionalen Meisterschaften über 800 Meter statt. Du solltest daran teilnehmen. Du kannst meine Spikes ausleihen. Bis morgen!“

DER WETTKAMPF FINDET im Slottsskogsvallen statt. In den 1940er-Jahren stellte Gunder Hägg hier seine Weltrekorde auf, in hart umkämpften Duellen mit Örgrytes Arne Andersson. Tausende Zuschauer feuerten sie an. Bei den regionalen Meisterschaften 50 Jahre später wurde die Asche durch eine rote Tartanbahn ersetzt, und die Tribünen sind leer.

Ich ziehe die Spikes meines Trainers an. Sie an meinen Füßen zu haben, ist ein ganz besonderes Gefühl. Ich spüre sie kaum. Es ist, als liefe man barfuß.

Als Startsignal bläst der Organisator in seine Pfeife, und ich bin in Bahn fünf. Links neben mir startet Edin Alivodic, der schwedische Juniorenmeister über 1.500 Meter Hindernis. Er ist der Favorit.

Ich habe keine Ahnung, wie es laufen wird. Ich weiß nur, dass 800 Meter eine kurze Distanz sind und das Rennen von Anfang an schnell sein wird.

Es geht los, und ich laufe Schulter an Schulter mit Edin. Das Tempo ist hoch. Nach 400 Metern bin ich müde, aber ein paar Körner habe ich noch. Ich bin ganz dicht an Edin dran und lasse nicht locker.

200 Meter vorm Ziel bin ich noch immer da, während die anderen langsam abreißen lassen müssen. 100 Meter vorm Ziel zieht Edin an, aber ich sauge mich an ihm fest wie ein Blutegel.

Nur zwei Zehntel nach ihm überquere ich die Ziellinie.

Nach dem Lauf gehe ich hustend auf und ab: Mein Hals und meine Lunge sind so schnelles, intensives Atmen nicht gewohnt. Der Trainer ist superzufrieden. Ich auch – mein erster 800-Meter-Lauf, und ich bin bis zum Schluss drangeblieben! Nicht mehr lange, dann werden die anderen meinen Rücken sehen.

Ich habe Schmetterlinge im Bauch. Das werde ich in meinem Leben tun. Es ist so einfach.

EINEN MONAT SPÄTER sitze ich im Bus von Göteborg nach Falun, um an meinen ersten nationalen Meisterschaften teilzunehmen. Der ganze Bus ist mit jungen Leuten aus verschiedenen Göteborger Vereinen besetzt. Wir alle sind zwischen 16 und 18 Jahren alt. Fast alle Gesichter sind neu für mich.

Die Stäbe der Stabhochspringer liegen im Mittelgang, und man sagt mir, ich solle nicht drauftreten. Die Stabhochspringer selbst sitzen alle zusammen in ihrem eigenen Bereich im Bus und spielen Karten. Die Sprinter und Springer sitzen zusammen, und die Werfer sitzen getrennt von den anderen.

Es ist nicht schwer, zu erkennen, wer welche Disziplin betreibt: die großen, schlaksigen Hochspringer mit den nach hinten gegelten Haaren; die kräftigen, pickeligen Werfer mit Kopfhörern. Die Stabhochspringer sind die Lebhaftesten, sie quatschen pausenlos.

Ich werde die 3.000 Meter in der Altersklasse der 16-jährigen Jungen laufen. Die Gruppe ist hart, mit vielen guten Läufern, die schon jahrelang trainieren. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, aber der Trainer denkt, dass ich laufen soll, auch wenn er selbst zu Hause bleibt.