Über das Buch:
Evie Blackwells Fähigkeiten als Ermittlerin haben ihr einen Job in der neuen Task Force für ungelöste Vermisstenfälle eingebracht. Für den Gouverneur hat die Arbeit dieses Teams höchste Priorität. Evie und ihre Kollegen müssen also Ergebnisse liefern – und zwar schnell.
Evies erster Fall ist der einer vermissten Studentin. Doch kann nach so vielen Jahren noch die Wahrheit ans Licht kommen? Und was ist mit den offenen Fragen in Evies Privatleben – zum Beispiel dem unbeantworteten Heiratsantrag …?

Über die Autorin:
Seit 1996 hat sich Dee Henderson mit nur zwei Romanserien an die Spitze der christlichen Schriftsteller in den USA geschrieben. Dem Erfolg entsprechend hat die Tochter eines Pfarrers ihren Beruf als Finanzbeamtin an den Nagel gehängt und lebt als Schriftstellerin bei Chicago.

Kapitel 8

Nachts zu arbeiten, fand Evie entspannend. Sie hatte kein Problem damit, ein paar Stunden zusätzlich zu opfern. Sie zog einige Polizeiberichte aus dem ersten Karton und fing wieder an zu lesen, auf der Suche nach weiteren Fakten für ihre Tafel. Ihr gefiel die Art des Beamten, der die meisten dieser Berichte geschrieben hatte – klar und ohne Umschweife. Er hatte sich besondere Mühe gegeben bei dem Versuch, die Ereignisse zu rekonstruieren. Das zeigte sich darin, wie tief die Fragen gingen, die er gestellt hatte, und wie viele Befragungen er durchgeführt hatte.

Sie blätterte um und sah, dass der nächste Bericht mit einem früheren Datum an dieser Stelle falsch abgelegt worden war. Jennas Führerschein fehlt in ihrem Portemonnaie. Evie las das, stockte und schüttelte dann den Kopf, weil sie selbst diese Tatsache nicht bemerkt hatte – als sie den Inhalt des Portemonnaies durchgesehen hatte, war ihr das tatsächlich entgangen.

Sie nahm ihren Block zur Hand, fügte diesen Tatbestand zu ihrer Faktenliste hinzu und umkringelte den Satz zweimal:

20. Jennas Führerschein fehlt.

Evie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ließ diese Information eine Weile sacken. War es möglich, dass diese Tatsache mit Jennas Verschwinden gar nichts zu tun hat? Es gab Gründe, warum Jenna den Führerschein herausgenommen haben könnte. Vielleicht hatte sie ihn in ihre Hosentasche gesteckt, um beweisen zu können, wie alt sie war, als sie nur kurz aus dem Haus gegangen war und nicht das ganze Portemonnaie mitnehmen wollte. Aber ihr Autoschlüssel hatte noch in ihrer Wohnung gelegen; also war sie nirgendwohin gefahren und den Zeugenaussagen zufolge hatte Jenna keinen Alkohol getrunken. Sie hätte sich in einer Bar also nicht ausweisen müssen.

Wie oft musste man eigentlich den Führerschein vorzeigen? Evie suchte nach Gründen dafür: wenn man von der Polizei angehalten wurde, weil man zu schnell gefahren war; als Ausweis, wenn man mit Scheck bezahlte; bei der Bank, wenn man Geld abheben wollte; als Altersnachweis beim Eintritt in einen Klub mit Altersbeschränkung; zum Nachweis des Alters beim Kauf von Alkohol. Vielleicht als Sechstes noch bei Sicherheitskontrollen am Flughafen. Jenna hatte ihren Führerschein vielleicht seit Monaten nicht mehr benutzt, hätte möglicherweise nicht einmal gemerkt, dass er fort war. Es könnte sich um einen Diebstahl handeln, der Monate zuvor begangen worden war. Wie viele andere verlorene Führerscheine waren in jenem Jahr von Studenten gemeldet worden? Wenn es eine Bande war, die sich auf Identitätsdiebstahl spezialisiert hatte, wäre ihrer nicht der Einzige gewesen. Evie blätterte um und machte sich eine entsprechende Notiz, dieser Frage nachzugehen.

Der Sicherheitsbeauftragte in der Fifth Street Music Hall hatte ihr Videoaufnahmen von Taschendieben gezeigt, die das Gedränge ausnutzten – eine Art Best-of der Wachleute, da es für sie ein regelmäßiges Problem war. Jennas Fahrerlaubnis konnte leicht an dem Abend ihres Verschwindens entwendet worden sein oder bei einem anderen Konzert, das sie früher besucht hatte.

Wenn die Person, die Jennas Führerschein genommen hatte, dadurch hatte herausfinden wollen, wo sie gewohnt hatte, würde dies eine wichtige Frage in Bezug auf das Wer beantworten und alle eliminieren, die ihre Adresse kannten – den Freund, den Exfreund, die meisten Kommilitoninnen aus der Lerngruppe, ihre Freundinnen und deren Freunde.

Wenn ein Fremder den Führerschein entwendet hatte, hätte er ihr nicht nach Hause folgen müssen. Er hätte dort auf sie warten können, die Gegend im Blick behalten und entscheiden, wo man am besten parkt und wie er nach dem Verbrechen unauffällig verschwinden konnte.

Es passt zu dem Fall. Evie tippte mit dem Bleistift auf ihren Notizblock, während sie dieses Szenario durchspielte.

Wenn es viele vermisste Früherscheine um die Zeit von Jennas Verschwinden gegeben hatte, wies das auf eine Bande hin, die sich auf Identitätsdiebstahl spezialisiert hatte. Aber wenn nur das eine oder andere Dokument entwendet worden war, dann war unter Umständen jemand auf der Suche nach Informationen in Bezug auf einen bestimmten Typ Frau. Ein solcher Typ hätte nur dann gehandelt, wenn ihr Wohnhaus ein Ort war, wo er unbemerkt auf die Rückkehr seines Opfers warten konnte.

Evie griff zum Telefon, froh darüber, dass einige Beamte noch an ihren Schreibtischen waren. Sie fragte nach vermissten Führerscheinen in den Jahren rund um Jennas Verschwinden – die als gestohlen gemeldeten und die als verloren registrierten. Die Kollegen hatten das sicher überprüft und die Daten, die sie damals angefordert hatten, müssten sich im elektronischen Archiv befinden. Trotzdem schadete es nicht, die Informationen ein zweites Mal abzufragen.

David kam mit Mantel über dem Arm und Handschuhen in der Hand herein. Als sie das Telefonat beendete, blieb er vor ihrem Schreibtisch stehen. „Du hast was gefunden. Das höre ich an deiner Stimme.“

„Jennas Führerschein war nicht in ihrem Portemonnaie.“

Er dachte einen Moment nach, dann grinste er. „Das ist wieder eine entscheidende Tatsache, die zu einer Antwort führen kann. Du hast noch keinen Namen, aber er ist da, auch wenn du ihn noch nicht sehen kannst.“

„Ich glaube, du hast recht. Er sucht auf Konzerten nach Mädchen, die er mag, oder welche vom Campus, die ebenso musikbegeistert sind wie er. Und wenn er glaubt, dass ihm keiner auf die Schliche kommt, wird er aktiv. Die Musik ist sein Ding, seine Leidenschaft, und sie wird ihn auch überführen.“

„Wann ist deine nächste Befragung oder bist du für heute Abend fertig?“

Sie blickte auf ihre Liste. „In zehn Minuten. Dann noch eine in anderthalb Stunden.“

„Komm nach dem nächsten Gespräch eine Runde mit mir spazieren und lenk dich eine halbe Stunde lang ab, dann kann sich alles in deinem Gehirn setzen.“

Sie lächelte angesichts seines Vorschlags. „Klar, ich kann eine Pause gebrauchen. Aber ich werde mich für diesen Spaziergang wie ein Eskimo einmummeln und mich an dir festklammern. Diese Stiefel sind schick, aber sie haben glatte Sohlen und sind nicht zum Wandern gedacht. Und so wie du aussiehst, hat es wieder angefangen zu schneien.“

David lächelte. „Maggie ist kein eifersüchtiger Typ; fühl dich frei, mich als Gehstock zu benutzen. Wir suchen uns einen heißen Kakao oder etwas in der Art. Du bist mir noch die Geschichte mit deiner besseren Hälfte schuldig, nachdem ich dir von mir und Maggie erzählt habe.“

„Rob Turney. Meine bessere Hälfte.“ Um Zeit zu sparen, rief Evie die Internetseite der Firma auf, für die er arbeitete, und klickte auf seine Vita. „Lies es dir durch. Die Details, was seinen Job betrifft, würde ich sowieso nicht richtig wiedergeben“, sagte sie und zeigte auf den Bildschirm.

David trat um den Schreibtisch herum und fing an zu lesen. „Du bist durchaus mit einem ehrgeizigen Menschen verbandelt“, sagte er, als er zu Ende gelesen hatte.

„Es ist ein bisschen so wie mit Ann. Rob stellt mich ständig berühmten Leuten aus der Geschäfts- und Finanzwelt vor, aber ich habe keine Ahnung, wer sie sind, was sie machen und warum ich sie kennen müsste.“

David lachte.

„Er schließt Deals ab. Das beschreibt ihn wohl am besten. Und er versucht, einen Heiratsdeal mit mir abzuschließen.“

„Ich habe mich schon gefragt, an welchem Punkt ihr seid“, verriet David lächelnd.

„Ja. Es ist irgendwie schön, aber irgendwie auch schwierig. Seine Eltern finden, ich sei nicht gut genug für ihn. Rob findet das nicht. Und ich habe mich dabei ertappt, dass mir die Meinung seiner Eltern wichtiger ist, als sie sein sollte.“

„Führ dein nächstes Interview und dann machen wir uns auf die Suche nach dem Kakao. Du musst von der Klärung eines Falls umschalten auf die Klärung deines Privatlebens. Und ich brauche einfach eine Pause. Ich habe gute Gespräche geführt, aber das alles muss sich jetzt erst einmal eine Weile setzen.“

„Wenn es doch nur so einfach wäre, mein Leben zu sortieren.“ Evie seufzte.

David tippte auf den Stapel Papier auf ihrem Schreibtisch. „Wo ist das Blatt mit den zwei Spalten bezüglich deiner privaten Entscheidungen?“

„Ich könnte nur schlecht mit mir leben, wenn ich mein Leben auf Ja-oder-Nein-Spalten reduzieren würde.“

„Aber so denkst du nun mal, Evie. Manchmal kommt man der Wahrheit näher, wenn man etwas zu Papier bringt, weil man es dann schwarz auf weiß sieht.“

Er hatte recht. Der Wecker ihres Handys klingelte. Ihre nächste Unterhaltung mit dem Chef von Jennas Freund bei der Zeitung dürfte nicht lange dauern. „Gib mir ein paar Minuten, dann gehen wir spazieren.“

* * *

Evie machte sich gerade noch ein paar Notizen, als David wieder in der Tür erschien. „Hast du etwas Nützliches erfahren?“, fragte er, während er seinen Mantel anzog.

„Jenna hat gelegentlich für die Zeitung gearbeitet – Kommentare aus Studentensicht, solche Sachen – und unter ‚Verfasser unbekannt‘ veröffentlicht. Verschiedene Themen haben Kommilitonen für sie geschrieben. Jetzt, wo ich weiß, welche Artikel von ihr sind, kann ich mehr von ihren Sachen lesen.“

Sie zog sich warm an, schob den Schal über Mund und Kinn, dann gingen sie hinaus. Die Straße war hell erleuchtet. David zeigte auf ein Café an der nächsten Ecke. „Dann erzähl mir mal von Rob.“

„Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll.“

„Liebst du ihn?“

Evie warf David einen Blick zu und fragte sich, wie sie ihre Situation in Worte fassen sollte, die für einen Mann, der bis über beide Ohren in seine Freundin verliebt war, einen Sinn ergaben. „Ich mag ihn. Sehr. Manchmal glaube ich sogar, dass ich ihn liebe. Aber ich habe Erfahrung mit abgesagten Hochzeiten, sodass ich dazu neige, nervös zu werden, wenn dieses Thema angesprochen wird.“

„Kannst du nervös definieren?“

„Drei Verlobungen, die es nicht bis zum ‚Ja, ich will‘ geschafft haben.“

David zog eine Grimasse. „Autsch.“

„Genau. Das war alles vor ewigen Zeiten. Ich habe kürzlich erst einem Freund erzählt, dass die drei allesamt gute Männer waren. Jeder von ihnen würde einen hervorragenden Ehemann abgeben. Aber wenn die Beziehung anfing, schwierig zu werden, habe ich mir nicht sehr viel Mühe gegeben, um bis zur Hochzeit durchzuhalten. Ich habe etwas gesucht, von dem ich meinte, ein Mann könnte es mir geben ... jemand, der die Leere füllen sollte, die ich empfand; der mich vervollständigte. Doch mittlerweile bin ich erwachsen geworden und aus dieser Phase meines Lebens herausgewachsen.

Rob ist anders. Er ist mehr ... ja, was? Sich unserer mehr bewusst, meiner Person mehr bewusst? Ich habe mich auch verändert. Es gibt Zeiten, in denen ich mir sicher bin, dass er nicht der Richtige ist, aber dann denke ich kurz darauf wieder, dass er es doch sein könnte. Wir sind an dem Punkt, wo ein Heiratsantrag von ihm kommen wird, wenn ich es will und wenn er davon ausgehen kann, dass ich Ja sagen werde. Rob ist sich seiner Sache bereits absolut sicher. Er will eine gemeinsame Zukunft.“

„Du bist unsicher, was du willst.“

„Wahrscheinlich eher unsicher, wie ich mir eine Ehe vorstelle, als was Rob betrifft.“ Evie bemühte sich, die richtigen Worte zu finden. „Ich will etwas in meinem Leben, was einen Kontrast zu meiner Arbeit bildet; etwas, was sich nicht darum dreht, welchen Tatort ich gerade besichtigt habe. Ungelöste Fälle sind ziemlich einfach, verglichen mit meinem normalen Job. Heute Abend oder morgen wird mein Telefon klingeln; dann wird es irgendein Polizeibeamter in einer Kleinstadt sein, der mit einem Doppelmord zu tun hat und den Bundesstaat um Hilfe bei den Ermittlungen bittet. Oder es ist ein Fall von Brandstiftung, bei dem Menschen umgekommen sind und der Ähnlichkeiten zu anderen Fällen in Illinois aufweist. Diese schwierigen Anrufe werden immer wieder kommen und ich bin gut darin, diese schwierigen Fälle zu lösen. Ich mache meinen Job auch gerne. Aber ich muss diese Tür zwischendurch schließen können, ein anderes Leben haben – das brauche ich. Und vielleicht liebe ich Rob tatsächlich deswegen. Bei unseren Tischgesprächen wird kein einziges Tatortdetail Thema sein. Er ist das ‚normale Leben‘ – na ja, wenn man es so nennen kann, soweit jemand mit Robs Position in der Finanzwelt ein normales Leben haben kann. Ich treffe eine Entscheidung in Bezug auf die Ehe, auf Rob, aber auch in Bezug auf das, wofür er steht. Ein Leben jenseits der Polizeiarbeit. Und ich will mich nicht allein aus dem Wunsch heraus für Rob entscheiden, damit ich einen Ausgleich in meinem Leben habe. Das wäre ihm gegenüber nicht fair.“

„Es klingt so, als würdest du nicht erwarten, dass andere diese Sehnsucht nach einem Leben abseits des Polizistendaseins verstehen“, sagte David. „Das kann ich nachvollziehen, Evie. Ich verstehe es wirklich. Aber um als Polizeibeamtin ein Leben außerhalb deines Jobs zu haben, musst du selbst in der Lage sein ‚abzuschalten‘, wenn du nach Hause gehst – abgesehen davon, dass du dich bei deinem Partner geborgen fühlen musst. Was du finden willst, hat ebenso viel mit dir zu tun wie mit Rob.“

Evie dachte an die letzten beiden Tage und nickte. „Ich habe bis spätabends Jennas Tagebücher gelesen – anstatt einen Film zu gucken oder ein Buch zu lesen. Ich habe die Abende damit verbracht, neue Ideen zu meiner Theorienliste hinzuzufügen. Und ich weiß, dass ich mich – wenn auch nur kurz – gestört fühlen würde, wenn das Telefon klingelt, auch wenn Rob anruft. Die Arbeit ist diese Jagd, das ständige Rätsel, das meine Zeit und mein Denken mit Beschlag belegt, bis es gelöst ist und ich es wieder in Kisten verstauen kann. Danach, bis ich eine neue Kiste aufmache, kann ich außerordentlich faul sein, was die Arbeit betrifft, und sie auch ganz liegen lassen. Aber wenn ein Fall offen ist und die Einzelheiten in meinem Kopf herumschwirren, dann zählt nur noch: ‚Wie kann ich dieses Rätsel lösen? Und lenk mich bitte nicht ab.‘“

„Was von beidem möchtest du bändigen?“, fragte David. „Den Wunsch, deine Arbeit zu machen, oder den Reflex, dich von Unterbrechungen gestört zu fühlen?“

Die Frage entlockte Evie ein Lächeln. „Ann und ich haben darüber gesprochen, ob Gott manche Menschen einfach für den Beruf des Polizisten erschaffen hat. Eigentlich kann ich nicht anders, es ist eine Angewohnheit, knifflige Probleme des Lebens zu lösen. Ich will gar nicht so eingleisig sein, aber es ist mir tatsächlich wichtig, Lösungen zu finden. Und wenn es um ein Verbrechen geht, ist es für die Betroffenen auch wichtig, dass ich die Lösungen schnell finde. Diese Intensität abzuschwächen, ist gar nicht so einfach – sie scheint sich von allein zu ergeben.“

„Um deine Analogie zu gebrauchen: Gott hat Maggie so geschaffen, dass sich bei ihr alles um Musik dreht“, sagte David. „Wenn es eine Pause in unserer Unterhaltung gibt, notiert sie sich eine Textzeile für ein Lied am Rand der Zeitung, die zufällig vor ihr liegt. Sie kann nicht anders. Ihre Gedanken drehen sich die ganze Zeit um Musik. Sobald eine Pause eintritt, eine Stille, entstehen in ihrem Kopf ausdrucksstarke Texte. Es ist so, als würde eine Flut von Musik eindringen, sobald sie eine Lücke findet. Wieso sollten dein Ideenreichtum und die Was-wäre-wenn-Fragen, die für deinen Job so wichtig sind, nicht auch in dein Gehirn hineingelegt sein? Vielleicht kannst du sie gar nicht ausstellen, Evie. Wenn es ein Rätsel gibt, an dem du dir die Zähne ausbeißen kannst, wird dein Verstand sich damit beschäftigen und Lösungen finden, bis das Rätsel gelöst ist.“

„Bei dir ist es aber nicht so.“

David zuckte mit den Schultern. „Ich arbeite anders. Ich sehe jemandem in die Augen, höre, was er sagt, suche nach der Lüge. Ich bin intensiv bei der Sache, aber auf andere Weise. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit und widme ihr viele Stunden, aber es ist nicht so wie das, was du als deinen Prozess beschreibst. Jedem das Seine. Wir machen beide erfolgreich unsere Arbeit.“

„Wie man bei meiner Vorgehensweise ein Privatleben haben soll, ist mir ein Rätsel“, seufzte Evie. „Wenn du und Maggie gemeinsam esst, summt sie vielleicht ein paar Takte und fragt dich, was du davon hältst: ‚Gefällt dir diese Liedzeile?‘ Ich denke eher so etwas wie: ‚Ich wette, er hat den Kerl mit einem Anglermesser ausgenommen und wahrscheinlich hat er das Messer noch immer im Angelkoffer.‘ Nicht gerade die Art Bemerkung, die man beim Essen machen sollte! Und wenn ich mit den Gedanken dabei bin – bei einem Mord oder etwas noch Schlimmerem –, dann ist es schwierig, höflichen Small Talk darüber zu machen, dass die Blaubeermuffins heute Morgen besonders gut schmecken.“

David lächelte. „Okay, das gebe ich zu.“ Er zog die Tür zum Café auf. „Abgesehen von dem Konflikt mit der Arbeit und deiner Art zu denken – willst du denn heiraten?“

„Das hängt wohl davon ab, wann du mich das fragst, und das ist Teil des Problems – ich weiß es wirklich nicht.“

David bestellte zweimal heiße Schokolade mit Schlagsahne zum Mitnehmen. Auf dem Rückweg legte Evie die Hände um den warmen Pappbecher.

„Du solltest wirklich eine von deinen Zwei-Spalten-Listen machen“, schlug David vor. Evie nickte, aber sie war nicht sicher, was sie überhaupt auf so eine Liste schreiben sollte.

Eine Weile gingen sie schweigend weiter.

„Darf ich dir noch eine Beobachtung mitteilen, Evie? Wenn du heiraten wolltest, würdest du zu Rob Ja sagen. Du hast noch nicht eine Sache genannt, die dir bei ihm Sorgen macht – sein Charakter, seine Arbeit, seine Vergangenheit –, sondern nur, dass seine Eltern dich nicht für die Richtige halten. Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein Mann seine eigenen Entscheidungen trifft, anstatt nur die Entscheidungen seiner Eltern zu kopieren. Wenn man davon ausgeht, dass er dich liebt, ist er wahrscheinlich der Richtige.“

Evie nickte. „Die Frage ist also: Liebe ich ihn?“

„Ich würde sagen, das ist die Frage“, stimmte David zu.

„Wahrscheinlich mache ich mir zu viele Gedanken darüber.“

„Ich vermute, dass du dazu neigst“, erwiderte David grinsend.

Evie lächelte. „Woher wusstest du, dass du Maggie liebst?“

„Alles in mir hat gesagt, dass ich sie liebe – die Gefühle, das Herz, die Träume. Sie ist die Richtige.“

„Du bist mir keine große Hilfe.“

Jetzt lachte David. „Kannst du dir vorstellen, das ganze Leben mit ihm zu verbringen?“

„Ja.“

„Vermisst du ihn, wenn du ihn nicht siehst?“

„Es ist eher so, dass ich die Lücke zutiefst fühlen würde, wenn es ihn nicht gäbe und ich ihn nicht sehen könnte. Aber wir haben nicht jeden Tag Kontakt, wie die meisten Paare es wohl machen. Wahrscheinlich sprichst du öfter mit Maggie als ich mit Rob.“

„Mach deine Listen, Evie“, sagte David wieder und lachte leise. „Es gibt einen Grund, der mit Rob nichts zu tun hat, weshalb du vor der Ehe zurückscheust. ‚Single‘ ist nicht die Lösung; es sei denn, es ist wirklich das, was du willst. Und du wirkst auf mich nicht wie jemand, der sein Leben allein verbringen möchte. Deine Stimme klingt weicher, wenn du von Rob redest.“

„Ann ist sich nicht sicher, dass er der Richtige für mich ist.“

„Kennt sie euch beide gut?“

„Mich kennt sie besser als jeder andere. Rob hat sie ein paarmal getroffen.“

„Dann höre dir ihre Bedenken an und berücksichtige sie bei deiner Liste. Und hör auf, bei dem Gedanken an eine Liste die Nase zu rümpfen – sie ist nur ein Werkzeug, das dich zwingt, deine Gedanken auf Papier klar zu formulieren. Sieh es als eine Methode, um zur Wurzel deiner Unsicherheit vorzudringen.“

„Schon die Tatsache, dass ich eine Liste machen soll, passt mir nicht. Du hattest nicht so einen Stress, als du über eine gemeinsame Zukunft mit Maggie nachgedacht hast.“

„Manchmal kommt die Liebe wie von alleine und manchmal ist sie die schwierigste Entscheidung, die ein Mensch im Leben trifft. Deshalb ist nicht das eine richtig und das andere falsch – es ist einfach so. Die Liebe, die einer Ehe zugrunde liegt, ist mehr als ein Gefühl, mehr als eine Reihe von Fakten, die unterm Strich eine Schlussfolgerung ergeben. Sie ist die bewusste Entscheidung, dass dies der Mensch ist, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen werde. Das musst du mit Kopf und Herz entscheiden, Evie. Denn diese Entscheidung hat Folgen. Mehr Zeit kann gut und hilfreich sein, wenn man neue Informationen bekommt. Aber wenn der Zeitpunkt für die Entscheidung gekommen ist, dann musst du sie treffen. Diesen Schritt zu vermeiden, bringt dich nicht weiter.“

„Bei dir klingt es so ... so einfach, David.“

David öffnete die Tür zu ihrem jetzigen Arbeitsplatz. „Nicht einfach. Nur notwendig. Das Leben zeigt sich hauptsächlich in den Entscheidungen, die wir treffen: die Richtungen, in die wir gehen; die Veränderungen, die wir vornehmen. Du bist an einer solchen Wegkreuzung. Akzeptiere das, Evie. Wenn es Zeit wird für eine Entscheidung, dann bete, denk nach, hör auf Kopf und Herz – und dann triff deine Entscheidung.“

* * *

Als sie zum Hotel zurückfuhr, ertappte Evie sich dabei, dass sie in Gedanken wieder einmal die bekannten Fakten zu ihrem Fall durchging. Wie eine Auster, in der sich eine Perle bildet, war dieser Fall zu einem Reibungspunkt geworden, den sie nicht ignorieren konnte. Es war keine Geisterjagd. Irgendjemand hatte Jenna verschwinden lassen. Sie wünschte, sie könnte diesen Jemand deutlicher erkennen – eine ungefähre Vorstellung einer Person würde es ihr leichter machen, einen Namen für sie zu finden.

„Ich glaube nicht, dass es für den Kerl das erste Mal war“, flüsterte sie. Morgen würde sie sich ähnliche Fälle vornehmen – die letzte Spur, die sie noch nicht weiterverfolgt hatte, abgesehen davon, dass sie das FBI um Daten gebeten hatte.

Der vermisste Führerschein könnte eine Trophäe sein, die vielleicht eine Verbindung zwischen den Fällen herstellte. Ein Opfer bei einem Konzert auszuwählen war vielleicht ein Muster, die Entführung ohne Zeugen ein Hinweis auf die Methode. Je besser sie Jennas Situation verstand, desto einfacher würde es sein, verwandte Fälle zu entdecken.

Im Autoradio lief ein Song von Triple M. Wieder fiel Evie Maggies starke, klare Stimme auf. Sie konzentrierte sich auf den Text, um den Song richtig zu genießen. Jetzt, wo sie Maggies Geschichte mit David kannte, verstand Evie die Tiefe der Emotionen, die in Maggies Liedern zu spüren war. Sie hatte anderen, die auch auf die Liebe in ihrem Leben warteten, eine Menge zu sagen.

„Gott, wenn Maggie annehmen kann, dass Jesus sie liebt, wird sie selbst von einem Meer der Liebe umgeben sein – nicht nur, weil sie David heiraten kann, sondern weil sie auf ewig eine Liebesbeziehung mit Jesus führen wird“, flüsterte Evie.

Sie wünschte, sie wüsste, wie man wirklich knifflige Probleme wie Maggies Fragen über Gott lösen konnte. Wie erklärte man, dass die Auferstehung von den Toten das Zeichen dafür war, dass Jesus wirklich Gottes Sohn und der Retter der Welt war? Es war der Beweis dafür, dass Jesus wirklich war, wer er zu sein behauptet hatte; dass er auf der Erde die Macht hatte, die Sünden der Menschen zu vergeben, wie er sagte; dass er allen, die ihn anriefen, ewiges Leben versprach. Der Ruf von Jesus war so einfach – „Folge mir!“ – und doch brauchte es einen Schritt des Glaubens, um darauf zu vertrauen, dass er auf jeden Menschen wartete und für ihn da war. Wenn Maggie diesen Schritt tun könnte, würde sie entdecken, dass Jesus tatsächlich auf ihre Antwort wartete. Aber das konnte ihr niemand abnehmen. Evie konnte nur erahnen, wie tief der Schmerz in Davids Herzen sein musste, während er sich danach sehnte und dafür betete, dass Maggie zum Glauben finden möge.

„Gott, kannst du Maggie bitte in diesem Jahr helfen, dich zu finden? Bitte hilf irgendjemandem, dich so klar und deutlich zu beschreiben, dass sie deine Gestalt in den Worten erkennt, deine Gegenwart wirklich erlebt und dich annimmt. Bitte pflanze die Saat des Glaubens in ihr Herz. Ich weiß, wie sehr du sie liebst. Du willst doch, dass sie dich findet. Bitte schenke, dass sich noch in diesem Jahr alles zusammenfügt, wie auch immer das geschehen mag. Das wäre für David eine solche Erleichterung und für Maggie ein Segen. Danke, Vater.“

Evie war froh, dass Gott die Menschen besser verstand, als sie selbst es tat. Maggies Fragen waren die Folge ihrer Erfahrungen im Leben. Vielleicht gab es irgendwo in dieser persönlichen Geschichte ein Hindernis, das aus dem Weg geräumt werden musste. Es gab für sie eine Möglichkeit, zum Glauben an Gott zu kommen. Evie wünschte David und Maggie von Herzen, dass sie auf ihrem gemeinsamen Weg in den nächsten Monaten einen großen Schritt weiterkamen.

Als sie in die Hoteleinfahrt einbog, wanderten Evies Gedanken zu den Fragen zurück, die sie Jennas Freund während ihrer Unterhaltung stellen wollte. In etwa fünfunddreißig Minuten würde sie mit ihm sprechen.

* * *

Um zwei Uhr morgens schlang Evie die Arme um ein Kopfkissen und überlegte, ob sie aufstehen und einen alten Film anschauen sollte. Wenn ihre Gedanken nicht bald zur Ruhe kamen, würde sie etwas unternehmen müssen. Sie hatte beide Bücher zu Ende gelesen, die sie mitgebracht hatte. Das war eine schöne Ablenkung gewesen, aber dann war die Wirklichkeit zurückgekehrt. Bei diesem Fall überschlugen sich die Theorien wie Wellen auf stürmischer See.

Das Gespräch mit Jennas Freund war ein totaler Reinfall gewesen. Sie hatte gedacht, Robin sei schwer durch ein Interview zu führen, aber Steve ... er war bereit gewesen, ja sogar regelrecht erfreut, über Jenna zu reden, aber Evie hatte bei ihm eindeutig die Gegen- und Unterströmungen unterschätzt.

In den vergangenen neun Jahren hatte Steve sich bemüht, herauszufinden, was mit Jenna geschehen war. Jetzt war er eine wandelnde Ansammlung verschiedenster Unterhaltungen, die er nach Jennas Verschwinden mit anderen Freunden und Nachbarn geführt hatte. Das, was er damals gewusst hatte, war durch Hunderte von Gesprächen überlagert und verwässert worden. Was auch immer er den Ermittlern ursprünglich an Fakten hatte mitteilen können, konnte sie nur aus den Berichten der ersten Befragungen durch die Kollegen herausfinden.

Als ihr das bewusst geworden war, hatte Evie sich keine Hoffnungen mehr gemacht, dass ihre Unterhaltung etwas bringen würde. Aber diese Erkenntnis hatte ihr auch gezeigt, was sie bei der Bearbeitung ungelöster Fälle besser verstehen musste. Deshalb war auch dieses Gespräch in gewisser Weise hilfreich gewesen.

Drei entscheidende Facetten hatte sie an diesem Abend bei Steve entdeckt: Er war ein Mann, der immer noch um einen Menschen trauerte, den er geliebt hatte. Er war immer noch Journalist – zum Zeitpunkt von Jennas Verschwinden war er Sportreporter gewesen. Aber die Ereignisse von damals hatten ihn veranlasst, in die Nachrichtenredaktion zu wechseln, in der er nach wie vor arbeitete, und er stellte selber prüfende Fragen. Und schließlich war er immer noch der misstrauische, vorsichtige potenzielle Verdächtige, der feste Freund von Jenna. Die Beamten hatten im Laufe der Jahre mehrmals mit ihm gesprochen, sowohl in Form von informellen Unterhaltungen als auch im Rahmen offizieller Befragungen, bei denen sie versucht hatten, sein Alibi zu knacken oder zu beweisen, dass er irgendetwas mit Jennas Verschwinden zu tun hatte. Jennas Fall war Vergangenheit, aber für Steve war er ein wichtiger Teil seiner persönlichen Vergangenheit, seiner eigenen Lebensgeschichte. Damit verbunden war der Schmerz über den Verlust und über die offenen Fragen, die immer noch in der Luft hingen.

Der junge Mann tat Evie ehrlich leid. Wie Jennas Eltern brauchte auch er eine Antwort, bevor er im Leben wirklich nach vorn blicken konnte. Auch wenn das Gespräch mit ihm sonst nichts gebracht hatte, war Evie jetzt davon überzeugt, dass Steve nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte, das geschehen war – was auch immer geschehen war. Jennas Verschwinden hatte ihn verfolgt und sein Leben auf eine Weise aus der Bahn geworfen, wie es nicht der Fall gewesen wäre, wenn er selbst hinter dem Verbrechen gesteckt hätte. Wenn Steve schuldig wäre, wäre er einfach erleichtert gewesen, weil man ihn nicht erwischt hatte, und hätte sich von dem Ereignis distanziert.

Was ist mit dir geschehen, Jenna?

Evies Gedanken schienen in einem fruchtlosen Suchmodus festzustecken. Sie hatte Fakten und Theorien, aber nichts Handfestes war daraus entstanden. Das musste sich ändern. Morgen würde sie gezielt einige Namen unter die Lupe nehmen, beschloss Evie, sie würde sich auf einzelne Personen konzentrieren und sehen, was über sie herauszufinden war. Es konnte nur besser sein als dieses endlose nächtliche Gedankenkarussell.

Evie schlug die Bettdecke zurück. Sie hatte Jennas Laptop ins Hotel mitgenommen, war aber noch nicht dazu gekommen, ihn sich näher anzusehen. Sie würde nachsehen, woran Jenna gearbeitet hatte, bevor sie verschwand, mit wem sie im E-Mail-Austausch gestanden hatte, welche Internetseiten sie aufgerufen hatte.

Evie schaltete die Nachttischlampe ein, klappte den Laptop auf und drückte auf den Power-Knopf. „Gott, was mir zu dieser nächtlichen Stunde durch den Kopf geht, ist nicht besonders kompliziert – wo ist dieses Verbrechen geschehen? Wer hatte damit zu tun? Welcher Faden wird mich zu nützlichen Informationen führen? All diese W-Fragen müssen geklärt werden. Bitte hilf mir dabei. Danke.“ Es war kein ausgeklügeltes Gebet, aber es war besser, als allein mitten in der Nacht hier zu sitzen und zu arbeiten. Gott war sowieso wach. Da konnte sie genauso gut mit ihm reden.

Sie gähnte, als sie Jennas E-Mail-Konto aufrief. Im Posteingang befanden sich 816 Nachrichten. Evie lachte leise. „Warum liest du die nicht für mich, Gott, und sagst mir, welche davon ich mir genauer ansehen sollte?“

Dann fing sie an, die Betreffzeilen zu überfliegen. Eine Stunde mit diesen E-Mails würde sie entweder schläfrig machen oder irgendwelche nützlichen Informationen hervorbringen. Im Moment würde sie beide Optionen als Fortschritt werten.