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Mel McMarsters

Alisha und der Hexenzirkel


Gibt es Hexen? Na klar, es gibt ja Besen auch. Dieses Buch ist daher allen Hexen gewidmet.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

Dieses Buch ist nicht für Leser unter 18 Jahren geeignet. Warum?

Die Welt der Magie wird oft romantisiert und doch birgt sie unglaubliche Gefahren und Schrecken. In diesem Buch existieren die Hexen mitten unter uns normalen Menschen. Sie sind selten, sie sind verborgen und selbst die Magie an sich, ist dem normalen Menschen keine Last im Alltag. Wie problematisch ein Leben mit Magie werden könnte, wird in diesem Buch durchleuchtet. Selbst die wenigen normalen Menschen, die von den Hexen wissen, werden durch ihr Wissen mitunter in Schwierigkeiten verstrickt, welchen sie fallweise nicht gewachsen sind.

So wie im richtigen Leben, bei dem es ja bekanntlich nichts umsonst gibt, ist es auch bei magisch begabten Menschen nicht anders. Magie hat eben immer einen Preis. Auf die eine oder andere Weise bezahlt man immer für seine Taten, auch wenn es oft nicht sofort ersichtlich ist, worin dieser Preis besteht.

Onkel Roderik

»Sind wir schon da?«, erkundigte sich Alisha erneut und konnte die Heiterkeit in ihrer Stimme kaum mehr verbergen. Alishas Vater war, wie auf Kommando, zusammengezuckt und von der Rückbank aus sah Alisha förmlich, wie sich seine Kiefermuskeln unter seinen gut gepolsterten Wangen spannten, als er die Zähne zusammenbiss. Auch seine Fingerknöchel traten schon weiß hervor, da sich seine Hände so fest am Lenkrad verkrampften. Fast hätte Alisha laut aufgelacht, aber der verärgerte Blick ihrer Mutter am Beifahrersitz, die sich zu Alisha umgedreht hatte, hinderte sie daran. »DAS haben wir nicht damit gemeint, als wir wollten, dass du nicht mehr so verschlossen bist und häufiger mit uns sprichst. Hör auf, uns zu nerven!«, keifte Alishas Mutter und drehte sich wieder nach vorne. Sorglos zuckte Alisha mit den Schultern und grinste einfach nur frech, was ihren Vater, der sie durch den Rückspiegel im Fahrgastraum beobachtete, nur noch mehr zu ärgern schien.

»Lass gut sein. Bald darf sie Rody nerven«, flüsterte Alishas Vater. Ihre Mutter nickte und flüsterte, »Eigentlich gemein, dass wir ihm das antun. Aber dieses Wochenende und vielleicht auch noch nächste Woche brauchen wir ihn.« Leise begann ein Konversation, welcher Alisha nur schwer folgen konnte. Die Nebengeräusche auf der Autobahn waren zu laut und ihre Eltern sprachen zu leise. Schließlich beobachtete Alisha lieber die Landschaft, die an ihnen vorüberzog und genoss die warmen Sonnenstrahlen durch das Seitenfenster, die ihre mit Sommersprossen übersäte Haut streichelten. Es war nach diesen vielen kalten Tagen der erste schöne Tag im Frühling und das helle Licht schmeichelte nicht nur ihren karottenroten Haaren, es verbesserte auch Alishas Laune, die mit Andauern des schlechten Wetters immer mieser geworden war. Schließlich wanderten ihre Gedanken, wie sie es so oft taten.

Alisha war erst neun Jahre alt und ihre Eltern verdienten es ihrer Meinung nach, dass Alisha ihnen das Leben schwer machte. Schließlich wusste sie bereits, seit sie vor Jahren anfing zur Schule zu gehen, wie andere Eltern sich ihren Kindern gegenüber verhielten. Es hatte nicht lange gedauert, bis Alisha festgestellt hatte, dass sie von ihren Eltern lediglich verwaltet und gar nicht wirklich erzogen wurde. »Räum dein Zimmer auf« und »Mach deine Hausaufgaben«, war alles, was ihre Eltern für lange Zeit zustande gebracht hatten. Auch bei ihren Geschwistern war es so gewesen, bis diese in die Pubertät gekommen waren. Marcel war der Älteste und daher war er dann auch als Erster wie ein richtiges Kind behandelt worden. Als er vierzehn Jahre alt geworden war, hatte es begonnen. Das Verhalten ihrer Eltern änderte sich über Nacht und plötzlich umsorgten sie ihn regelrecht. Nur noch die Mädchen wurden links liegen gelassen oder vor den Fernseher gesetzt, während Marcel jetzt ihre volle Aufmerksamkeit genoss. Allerdings war es auch schon wieder vorbei, als Marcel sechzehn wurde und Yvonne mit vierzehn in die Pubertät kam. Irgendwie musste Marcel die Eltern enttäuscht haben, denn plötzlich war Yvonne die Prinzessin und ihr Bruder war wieder im Aus. Marcel war sogar so sauer deswegen, dass er kaum mehr Zeit daheim verbrachte. Wenn er aber daheim war, dann kümmerte er sich hauptsächlich nur um Alisha. Ihm mussten die gleichen Dinge bewusst geworden sein, wie Alisha, denn ihr älterer Bruder verhielt sich mehr wie ein Vater für sie, wie ihr beider Vater es tat. Marcel achtete sogar auf Alishas Ernährung und half ihr so gut er konnte bei den Problemen mit Mitschülern, die Alisha häufig hatte. Er war auch der Einzige, der mit Alisha jemals Konsolenspiele oder Gesellschaftsspiele gespielt hatte. Sie genoss die gemeinsame Zeit mit ihrem Bruder sehr und auch ihm schien es zu gefallen, zumindest von der kleinen Schwester beachtet zu werden.

Der Gedanke an die widersprüchliche Behandlung machte Alisha wütend und sie drehte sich wieder ihren Eltern zu. Sie öffnete den Mund, um lauthals ihre Standardfrage zu stellen, die sie sich von einem lustigen Esel im Fernsehen abgeguckt hatte, wurde aber von ihrem Vater sofort zurechtgewiesen. »Wenn du jetzt nochmal dieselbe Frage stellst, stopfe ich dir einen meiner schweißnassen Socken in den Mund«, drohte ihr herzloser Vater, der im Moment nur liebevoll mit Yvonne umgehen konnte. Alisha überlegte für einen Sekundenbruchteil und sagte, »Ich habe Durst. Kann ich bitte etwas zu trinken haben?« Das lästige Kind auf der Rückbank würde seine Strategie ändern, aber es würde niemals aufgeben. Die weißen Fingerknöchel ihres Vaters erfreuten Alisha, denn sie hatte einen Volltreffer gelandet. »Wir sind bald da. Du bist kein kleines Kind mehr, also wirst du das aushalten«, beantwortete ihre Mutter die Frage verärgert. Tolle Eltern. Da könnte ich genauso gut von Wölfen aufgezogen werden‘, dachte sich Alisha und blickte wieder nach draußen.

 

»Erster Halt, Wolfsburg. Bei Onkel Roderik bekommst du sicher etwas zu trinken«, verkündete Alishas Vater erleichtert. Die Fahrt von Magdeburg hierher hatte eindeutig zu lange gedauert. Ihm und seiner Frau wäre es lieber gewesen, Alisha bei Freunden zu lassen, aber Rody hatte darauf bestanden, die kleine Alisha endlich einmal kennenzulernen. Genau genommen war es seine Bedingung gewesen, um überhaupt mit zu dem Treffen zu kommen. Schließlich hatte er nicht viel Grund selbst dorthin zu fahren.

Alisha streichelte über die Metallbrosche, welche die hübsche Form eines Schmetterlings hatte. Sie wusste nur, dass ihre Eltern einen losen Kontakt zu diesem Onkel Roderik unterhielten und dass er natürlich gar nicht ihr Onkel war. Er hatte diesen Schmetterling für sie angefertigt und ihren Eltern mitgegeben, als sie ihn voriges Jahr besucht hatten. Auch andere Ziergegenstände in ihrem kleinen Haus waren von Onkel Roderik gebastelt worden. Die Bienen und Schmetterlinge in den Blumentöpfen und im Garten ihrer Eltern stammten alle von diesem seltsamen Mann. War er ein exzentrischer Künstler, der gerne seine Kunstwerke verschenkte? War er ein Einsiedler, weil er noch nie zu Besuch gekommen war? Alishas Eltern erwähnten nur, dass er mit anderen aus ihrem Club gebrochen hatte und sich nicht mehr viel um Kontakt bemühte. Andererseits hatte er für Alisha ihren Eltern diese Brosche mitgegeben und ihre Geschwister hatten früher ähnlichen Schmuck bekommen. Marcel hatte vor langer Zeit einen frech grinsenden Frosch bekommen und später, als er älter und wilder geworden war, bekam er eine Kette mit einem Totenkopfanhänger, der irgendwie andauernd zu lachen schien. Yvonne hatte verschiedene Blumenbroschen bekommen und sie trug sie auch sehr gerne. Vielleicht waren es doch eher ihre Eltern, die Onkel Roderik nicht zu sehr in ihrem Leben haben wollten und ihn deshalb nie einluden. Zutrauen würde Alisha ihren Eltern so einiges.

»Deine Brosche sieht hübsch aus. Onkel Rody wird sich sicher freuen, dass du sie trägst«, lobte ihre Mutter mit ungewohnt sanfter Stimme. Seit wann verhielt sich Alishas Mutter, wie eine Mutter? »Ich weiß ja, dass du mit Erwachsenen Schwierigkeiten hast, also sei bitte brav. Rody ist ein schwieriger Mensch und er hat sicher auch ohne dich schon genug Probleme«, ermahnte ihr Vater Alisha und genau das löste nur das Eine in Alisha aus: Sie wollte so unartig und rebellisch sein, wie nur irgend möglich war. Alisha unterdrückte die Gefühle gleich wieder, denn sie sah auf ihre Brosche und konnte nicht glauben, was ihre Eltern über diesen Mann sagten. Immerhin hatte er schon seinen Wert bewiesen, indem er ihr diese Brosche geschenkt hatte. Als Alisha genau darüber nachdachte, erinnerte sie sich sogar daran, dass ihre Eltern ihr die Brosche beinahe widerwillig gegeben hatten. Als wäre es ihnen nicht recht, dass ihre Kinder Geschenke von diesem Mann bekamen. Eines stand jedoch bereits fest, von ihren eigenen Eltern hatte Alisha noch nie etwas so Schönes geschenkt bekommen.

 

»Der Wohnblock da vorne müsste es sein«, verkündete Alishas Mutter. Ihr Vater grunzte nur zustimmend. Für Alisha war auch alles klar, denn die Wohnung in der zweiten Etage des Wohnbaues leuchtete förmlich grün. Es war genauso ein wunderschönes Grün, wie der Garten ihres Hauses und wie die Blumenstöcke daheim. Das Grün war auch viel intensiver als das Grün, mit welchem die Schmuckstücke von Alisha und ihren Geschwistern leuchteten. Nur ihre Eltern konnten es wie üblich nicht sehen. Waren ihre Eltern denn blind? »Was schaust du denn schon wieder so intensiv auf deine Metallbrosche? Fang bloß nicht wieder an zu erzählen, die wäre grün. Sonst denkt Onkel Roderik noch, dass du spinnst«, ermahnte ihr Vater, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Alisha verkniff sich einen Kommentar, denn diese Diskussion hatte sie schon einmal gehabt und wegen einer Androhung, mit ihr zum Psychiater zu gehen, behielt sie lieber einiges für sich. Andere Eltern, denen ihre Kinder nicht egal waren, hätten nachgefragt und herausgefunden, dass Alisha zwar die Metallbrosche in ihrer richtigen Farbe sah, aber dass die Brosche grün leuchtete. Alisha konnte eben etwas sehen, was andere nicht sehen konnten. Außerdem war sie noch sehr jung und konnte sich deshalb noch nicht so leicht verständlich machen, wie ein Erwachsener es konnte. Einem Erwachsenen, dem man selbst egal war, konnte man so etwas schon gar nicht begreiflich machen. Man war für so eine Person, auch wenn es die eigenen Eltern waren, eben nur ein dummes, spinnendes Kind. Es war also kein Wunder, dass Alisha beschlossen hatte zu schweigen und dass sie lieber alles nach und nach selbst herauszufinden wollte.

 

Die Parkplatzsuche hatte nicht allzu lange gedauert und endlich durfte Alisha aussteigen. Verärgert beobachtete sie ihren Vater, der schon wieder über der Motorhaube seines Autos gebeugt stand und begann, auf seinen ganzen Stolz einzureden. In dieser Familie wurde sogar ein blaues Auto besser behandelt, als ein Kind. Nein, der Wagen war nicht wirklich blau, er war eigentlich rot. Er strahlte an manchen Stellen bloß in blauer Farbe und das taten jetzt auch die Hände und die Augen ihres Vaters. Während er liebevoll unverständliches Zeugs zu seinem Wagen flüsterte, schien auch ein blauer Dunst aus seinem Mund zu entweichen, der sich langsam über das ganze Auto verteilte. Aber die Farbe Blau war auch seit zwei Jahren Tabu. Damals hatte Alisha es gewagt, sich bei den Gästen ihrer Eltern zu erkundigen, warum Mama und Papa so oft Blau waren. Anstelle einer Antwort hatte es zuerst verlegenes Gekicher und dann zwei Monate Hausarrest für Alisha gegeben. Alisha würde die Farbe Blau ihren Eltern gegenüber auch niemals wieder erwähnen.

Alishas schüttelte den Kopf ziemlich heftig. Es half und sie sah nur noch ihren Vater, der mit dem Wagen flüsterte. Mit diesem kleinen Trick konnte sie verhindern, so häufig die Ausstrahlung von Dingen oder ihren Eltern zu sehen. Nur ihre Brosche und die Schmuckstücke ihrer Geschwister leuchteten immer grün, auch wenn sie den Kopf geschüttelt hatte. Es war seltsam. Alisha fiel auf, dass die Wohnung in der zweiten Etage jetzt nicht mehr vollständig grün leuchtete. Die Außenwand hatte jetzt die selbe Farbe, wie alle anderen Wohneinheiten, aber die Fenster und der Balkon strahlten noch genauso, wie sie es vorher taten, nur etwas schwächer. Es musste beinahe ein genauso gutes Grün sein, wie es in den Schmuckstücken steckte.

Plötzlich fröstelte es Alisha, obwohl es gute achtzehn Grad haben musste. Die feinen Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf und die Luft war wie elektrisch aufgeladen. Hinter sich hörte sie, wie ihre Mutter den Kofferraum schloss. Auch ihr Vater war mit seinem Ritual fertig und den Geräuschen nach schlenderten beide entspannten Schrittes in ihre Richtung. Bemerkten sie denn nicht, dass etwas nicht stimmte? Mit unglaublicher Geschwindigkeit fegte ein hellblauer Blitz auf die Wohnung in der zweiten Etage zu, wurde aber durch das grüne Leuchten aufgehalten und zurückgeschleudert. Als hätte der Blitz Verstand, nahm er erneut Anlauf und versuchte jetzt, durch eines der Fenster in die Wohnung zu kommen. Aber jetzt war noch etwas anderes zu sehen und Alisha klappte entsetzt den Mund auf. Ein kreisrunder, purpurfarbener Schild war vor dem Fenster erschienen. Mehrere stilvoll gebogene Linien in dunklerem Purpur bildeten Streben im inneren des Schildes und verliehen ihm ein atemberaubendes Aussehen. Mit einem lauten Knall krachte der Blitz in den Schild und wurde sofort mit unglaublicher Wucht zurückgeschleudert. Er flog genau in die Richtung, aus welcher er ursprünglich gekommen war. Dumpfes Donnergrollen folgte und Alisha zuckte entsetzt zurück, genau in ihren Vater hinein. Ihre Eltern hatten wohl hinter ihr darauf gewartet, dass sie sich endlich in Richtung Eingang in Bewegung setzte. »Verdammt! Was ist denn jetzt schon wieder?«, fluchte ihr Vater sofort und sah Alisha finster an. Verängstigt von dem Beobachteten fragte Alisha automatisch, »Habt ihr den Donner nicht gehört?« Beide Elternteile schüttelten den Kopf und wirkten sauer. »Das Gewitter war daheim in Magdeburg. Seit wir auf der Autobahn sind, ist doch das schönste Wetter. Und jetzt setz dich in Bewegung, junge Dame«, rügte ihre Mutter, wie immer ohne jedes Verständnis. Alishas Kopf wurde rot und sie beschloss, nichts mehr zu sagen. Wütend stapfte sie auf den Wohnblock zu und schalt sich selbst eine Närrin, weil ihre Eltern ihr wieder einmal keine Chance gaben und natürlich auch keine Erklärung boten. Sie waren also nicht nur blind, sondern auch noch taub.

Alishas Mutter war keine drei Schritte weit gekommen, da wurde sie von ihrem Mann am Arm gepackt und zurückgehalten. Finster sah sie ihn an, da sie sein Gemecker über ihre Tochter jetzt nicht hören wollte, aber er wirkte nicht wütend, sondern erstaunt. »Riechst du das auch?«, fragte er mit unsicherer Stimme. Sie schnupperte und antwortete verblüfft, »Riecht irgendwie nach Ozon!« Verunsichert und den Himmel beobachtend folgten die beiden ihrer Tochter. Sie hatten vorher schon gewusst, dass dieses Treffen seltsam werden würde, aber mit diesem kleinen Zwischenfall hatten sie eindeutig nicht gerechnet.

 

Mit jeder Stufe wurde Alisha aufgeregter. Sie konnte nicht sagen, ob es gut oder schlecht war. Auf jeden Fall war es aufregend. Alisha wollte unbedingt als Erste oben sein, damit sie nicht auch noch von diesem Roderik ignoriert werden würde. War sie als Erste oben und alleine mit ihm, musste er sie einfach beachten. Vielleicht würde ja wenigstens er sie wie ein richtiges Kind behandeln und nicht einfach nur beiseite schieben?

Alisha hastete die letzten Stufen in die zweite Etage hoch und stürmte den Gang entlang auf die offen stehende dunkelbraune Tür zu, die in einem unglaublich intensiven Smaragdgrün leuchtete. Die vielen verschiedenen Grüntöne, der hellblaue Blitz und der purpurne Schild waren für Alisha der Beweis, dass hier jemand wohnte, der über die Farben Bescheid wissen musste. Aufgeregt stieß Alisha die Tür auf und stolperte förmlich in das Vorzimmer. Das lag vermutlich an den vielen Schuhen, die unordentlich am Boden verstreut lagen. Offensichtlich hatte sich dieser Onkel Roderik keine Mühe gemacht, sich auf den Besuch vorzubereiten. Alisha zog sich nicht einmal die Schuhe aus und hastete sofort durch die nächste, halb offen stehende, Tür. Dort fand sie das mit Abstand unordentlichste Wohnzimmer, dass sie je gesehen hatte. Allerdings war es weder schmutzig noch schlampig. Es türmten sich lediglich verschiedenste Bastelarbeiten auf Tischen und Regalflächen. Die unfertigen Stücke wiesen kein Leuchten auf, aber die fertigen Stücke glühten alle in leicht unterschiedlichen Grüntönen. Sie waren offensichtlich schon zurechtgelegt worden, um sie einzupacken und mitzunehmen, denn eine leere Tasche lag neben den ungewöhnlichen Werken. Flink sauste Alisha zum Couchtisch und inspizierte jedes einzelne Stück. Langsam näherte sich ihre Hand einem besonders schön gearbeiteten Drachenamulett, welches eine ebenso intensive smaragdgrüne Ausstrahlung hatte, wie die Eingangstür. Mit einem dumpfen Platsch landete eine zweite rechteckige Umhängetasche neben den Kleinoden und Alisha schreckte zurück. Sie war so vertieft gewesen, dass sie nichts und niemanden mehr wahrgenommen hatte und jetzt fühlte sich regelrecht ertappt.

Langsam drehte sich Alisha in die Richtung, aus der die Tasche gekommen war und erblickte endlich den Mann, der diese wundervollen Kunstwerke erschaffen haben musste. »Bist du Roderik?«, fragte Alisha hocherfreut, da sie diesen ihr noch unbekannten Mann instinktiv sofort gerne hatte. Der Mann runzelte die Stirn und antwortete, »Nö, ich bin der Klaus. Roderik ist mein Nachbar. Das Zeugs auf dem Tisch soll ich für ihn einpacken.« Alishas Welt brach zusammen. Wie konnte sie sich nur so irren! Sofort wurde ihr Kopf knallrot und ihr Herz raste wie wild. Sie war einfach so in die Wohnung eines Fremden hineinspaziert. Dieser Klaus starrte sie dermaßen intensiv an, dass Alisha immer unwohler wurde. Ihr Magen spielte jetzt auch noch verrückt und jeden Moment müsste sich ihr Gashochdruck mit einer lauten Explosion entladen. Das Rot in ihrem Gesicht wurde immer dunkler und Alisha zappelte herum, weil sie den Druck kaum mehr aushielt. Sie war hier in Peinlichkeitshausen gefangen und hatte keine Chance zu entkommen.

»Hallo, Rody. Kannst du Alisha noch etwas zu trinken geben, bevor wir wieder fahren?«, erklang die Stimme von Alishas Mutter aus dem Vorzimmer. Es war also doch die richtige Wohnung gewesen und Alisha war hereingelegt worden! Nur half das ihrem Magen nicht. Kurz starrte sie den unverschämten Roderik noch finster an, dann hastete sie durch die offene Balkontür ins Freie. Endlich wurde sie ihren Gashochdruck los, aber es war so laut, dass es jeder gehört haben musste. Jetzt war es erst recht peinlich. Alisha stolperte wieder zurück ins Wohnzimmer und Rody hielt sich dezent die Hand vor den Mund. In seinen Augen glitzerte es feucht, als er sein Opfer belustigt betrachtete. »Nicht witzig«, fauchte Alisha leise und blieb mit verschränkten Armen bei der Balkontür stehen. Dafür kam dieser Roderik jetzt zu ihr, packte sie unter den Armen und hob sie einfach hoch. Alisha hing an seinen ausgestreckten Armen und sah in ein frech grinsendes Gesicht. Roderik musste über Vierzig sein und sein Haaransatz war schon etwas höher. Anders als bei ihrem Vater, waren seine Wangen aber nicht aufgedunsen und er machte generell einen gepflegteren Eindruck. Durch seinen weiten, leichten Pullover konnte Alisha allerdings nicht erkennen, ob er muskulös oder so wie ihr Vater ein wenig beleibt war. Auf jeden Fall schaffte er es mühelos sie hochzuheben. Allerdings war Alisha auch ziemlich klein für ihr Alter.

»Verzeihst du mir den kleinen Spaß?«, fragte dieser Roderik mit tiefer, sanfter Stimme und Alisha nickte. Schließlich löste sie ihre verschränkten Arme und streckte sie mit gespreizten Fingern erwartungsvoll ihrem Gastgeber entgegen.

Rody hatte gleich verstanden und zog die kleine Alisha ganz an sich heran. Sofort schlossen sich Alishas Arme um Rodys Nacken und sie presste ihr Gesicht an seinen Hals. Alisha konnte nicht anders und begann Rody zu beschnüffeln. In der Achterbahnfahrt ihrer Gefühle stellte Alisha fest, dass der seltsame Onkel sehr angenehm nach Plätzchen roch. Immer wieder und wieder sog sie die Luft ein und dabei schnurrte sie, wie eine Katze. Dann bemerkte sie, dass sie auch beschnüffelt wurde, aber es war ihr ganz und gar nicht unangenehm. Es erschien ihr einfach richtig. »Ich verstehe«, flüsterte Rody ihr ganz leise ins Ohr, aber Alisha verstand natürlich nicht. Widerwillig legte sie ihren Kopf zurück, um Rody direkt ansehen zu können, aber dieser erkannte sofort ihren fragenden Blick und flüsterte lediglich, »Es gibt immer einen richtigen Zeitpunkt für Fragen und Antworten. Du wirst dich gedulden müssen.« Alisha lächelte zufrieden und schmiegte sich wieder glücklich an Onkel Rodys Hals.

Das Poltern im Vorzimmer verriet Alisha, dass ihr Vater nun auch endlich eingetroffen war und sogar beinahe umgefallen wäre. Er fluchte bereits laut und Alishas Mutter meckerte sofort über seine Tollpatschigkeit los. Dann trat Alishas Mutter ein und nörgelte sofort weiter, »Wir wollen gleich wieder losfahren. Alisha, du hast deine Schuhe gar nicht ausgezogen. Das habe ich dir aber anders beigebracht.« Alisha zuckte in Rodys Armen kurz zusammen, aber der legte einfach diese klodeckelgroße Pranke beruhigend auf ihren Rücken. »Muss sie auch nicht. Meine Wohnung, meine Regeln. Hallo, Silvia«, erwiderte Rody mit ruhiger Stimme. Dann wurde Alisha durch das Wohnzimmer getragen. Über seine Schulter blickend erkannte Alisha, wie ihre Mutter das Gesicht verzog. Am liebsten hätte sie ihrer eigenen Mutter gleich die Zunge herausgestreckt, aber stattdessen schmiegte sie sich nur noch fester an Rody. Am Ende des länglichen Wohnzimmers war die Küche und Alisha spürte, wie sich Rodys Arme von ihrem Körper lösten und seine riesigen Hände wieder unter ihren Armen waren. Sanft hob Rody sie ein Stück hoch und setzte Alisha direkt auf die Arbeitsplatte neben dem Herd. Offensichtlich gefiel ihrer Mutter das noch weniger, denn daheim hätte sie nie auf der Arbeitsplatte sitzen dürfen. Rody öffnete den Kühlschrank und zauberte eine Karaffe hervor. Der Färbung nach könnte das frisch gepresster Orangensaft sein, dachte sich Alisha und nickte freudig zur Antwort auf den fragenden Blick von Rody. Keuchend stolperte Alishas beleibter Vater durch die Wohnzimmertür und grüßte freundlich, »Hallo, Rody. Echt schade, dass ihr keinen Aufzug habt.

 

Alisha schwieg jetzt lieber und dafür beobachtete sie von nun an genau, was passierte. Rody schenkte ihr den Saft in ein Glas, welches mit Figuren aus einem Comic verziert war. Alisha kannte diese Comics sogar von Marcel und mochte vor allem den dicken Gallier, da er mit seinem Bauch ein wenig wie ihr Vater aussah. Sie solle sich ruhig nachschenken, hatte Rody ihr gesagt und sich dann ihren Eltern gewidmet. Alishas Vater hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht und Alishas Mutter half, die ganzen hübschen Ziergegenstände einzupacken. Als Rody das Drachenamulett in der Hand hielt, zögerte er und drehte sich fragend zu Alisha um, die ihre Augen nicht einmal jetzt von dem hübschen Drachen lassen konnte. Mit einem Lächeln kam er auf Alisha zu und legte das Amulett mit einem Augenzwinkern neben die Karaffe auf die Arbeitsplatte. Obwohl es offensichtlich für sie bestimmt war, traute sich Alisha das Amulett nicht einmal anzufassen, so nervös war sie. Unsicher griff Alisha nach der Karaffe und versuchte sich nachzuschenken, da passierte das Unglück. Alisha patzte aus und schüttete ein wenig daneben. Anstelle eines Donnerwetters passierte aber etwas sehr Merkwürdiges. Rody griff sich ganz unspektakulär ein Schwammtuch aus der Spüle und wischte damit einfach die Arbeitsplatte und den Boden des Glases ab. Er wirkte gar nicht zornig und machte auch keine Anstalten, Alisha einen Anpfiff zu verpassen. Alishas Mutter war da aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sie war bereits zum Küchenteil gekommen und sah Alisha schon sehr finster an. Ihre Hände waren in die Hüfte gestemmt und sie sog auch schon mit offenem Mund die Luft ein, um Alisha lauter anschreien zu können. Alisha schrumpfte zusammen und sah jetzt aus, wie ein Häufchen Elend.

Blitzschnell schoss Rodys Hand genau vor Silvias Stirn. Noch bevor Alishas Mutter losschreien konnte, erklang ein dumpfes ‚Pock‘ auf ihrer Stirn. »Aua. Ist das wieder so ein ‚deine Wohnung, deine Regeln‘ Ding?«, erkundigte sich Alishas Mutter verblüfft und schielte wie ein Chamäleon mit den Augen über ihren eigenen Nasenrücken. »Das ist so ein ‚aus Mücken Elefanten zu machen, ist keine Kindererziehung‘ Ding.«, erklärte Rody ruhig, aber das Missfallen in seiner Stimme war dennoch gut herauszuhören. »Ich erziehe meine Kinder, wie ich es will«, meckerte Silvia leise und verschwand zurück zum Couchtisch, um den Rest der Gegenstände in die Tasche zu packen. »Yvonne ist gerade in der Pubertät. Ich wette, die wäre wegen so einer Lappalie niemals zusammengestaucht worden. Habe ich recht?«, erkundigte Rody sich leise. Alisha nickte unmerklich und war doch sehr erstaunt über diese Frage. Sie beschloss, sich eine geistige Liste mit Fragen zu machen, die sie offensichtlich nur stellen konnte, wenn ihre Eltern nicht dabei waren. Vor allem wollte sie wissen, welcher Gegenstand unter Rodys Pulli immer wieder blau zu leuchten schien. Von Rody selbst ging zwar kein solch blaues Leuchten wie von ihren Eltern aus, aber er trug etwas unter dem Gewand, dass sie sehr neugierig machte.

 

Drei Gläser Saft waren für Alisha fast schon zu viel, aber der Saft war einfach zu gut gewesen. Die Toilette bei Onkel Rody zu benutzen war nicht weiter dramatisch, denn bei Onkel Rody fühlte sie sich wohl. Ansonsten war es ihr eher unangenehm, fremde Toiletten zu benutzen. Während Alisha beschäftigt war, ging bei den anderen alles sehr schnell. Als sie fertig war und sich die Hände gewaschen hatte, standen alle schon abmarschbereite im Vorzimmer. Alishas Vater grinste breit wie ein Honigkuchenpferd, was sie irgendwie sehr freute. Bevor sich Alisha erleichtern gehen musste, hatte Alishas Vater so sehnsüchtig auf die Karaffe gesehen, dass sie von der Arbeitsfläche gehopst war und ihm einfach ein Glas eingeschenkt und gebracht hatte. Alishas Vater hatte sich herzlich bedankt, aber ihre Mutter hatte leise genörgelt, »Ohne zu fragen. Die führt sich ja schon auf, als wäre sie hier zuhause.« Während sich die Stimmung ihres Vaters offensichtlich sehr verbessert hatte, verschlechterte sich die Stimmung ihrer Mutter zunehmend.

Dass sie danach im Treppenhaus einfach von Onkel Rody hochgenommen und getragen wurde, freute Alisha, aber es störte ihre Mutter bereits gewaltig. Vor dem Wohnblock stand Alisha wieder auf eigenen Beinen und sah sehnsüchtig zu Rody hinauf. Schließlich streckte er ihr seine Pranke entgegen und sofort legte sie ihre Hand in die seine. Als sich seine Finger sanft um ihre kleine Hand schlossen, war Alisha glücklich. Alisha zog Onkel Rody Richtung Auto und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit, als wäre sie ein ganz normales Kind. Noch nie hatten ihre Mutter oder ihr Vater sie an der Hand genommen, zumindest, soweit sie sich erinnern konnte. Diese Art von Verbundenheit zwischen Eltern und Kindern kam in ihrer Familie nicht vor. Aber Alisha wusste, dass so etwas in fast allen anderen Familien, die sie kannte, andauernd vorkam und dass so ein Verhalten nicht einmal etwas Besonderes war. Es war aber für Alisha etwas Besonderes und sie lechzte immer mehr und mehr nach Onkel Rody, der sie einfach nur ganz normal und ihrem Alter entsprechend behandelte.

 

»Willst du gar nicht wissen, ob wir schon bald da sind?«, ätzte Alishas Mutter während der Fahrt. Sie drehte sich auch immer wieder verärgert um und sah auf die Rückbank. Immer wenn sie das tat, griff sich Alisha sofort Rodys Hand und grinste sie frech an. Alishas Mutter wurde immer anstrengender, aber ihr Vater war jetzt viel fröhlicher, als auf der Fahrt zu Rody. »Welches Verhältnis Orangensaft zu Mangosaft hast du genommen? Das war ja megalecker«, erkundigte er sich vergnügt. »Ich schick dir das Rezept mit der geheimen Zutat, wenn du willst«, antwortete Rody freundlich. Alishas Vater nickte verzückt und Alisha wunderte sich, wie ausgelassen er eigentlich war. Andererseits hatte ein einfacher Saft ihn glücklicher gemacht, als jede Eins die Alisha in der Schule je bekommen hatte. Trotzdem freute sie sich für ihn. Im nächsten Moment bimmelte auch schon der SMS-Ton von seinem Mobiltelefon. »Schatz? Kannst du das gleich vorlesen?«, erkundigte sich Alishas Vater bei seiner Frau und gab ihr das Telefon. Grummelnd las sie das Rezept vor und warf danach wieder einen verärgerten Blick auf die Rückbank. Rody schüttelte den Kopf, denn das Verhalten von Alishas Mutter wurde schön langsam nervig. Zum Glück war Hannover nicht mehr allzu weit entfernt, denn dort war das eigentliche Treffen.