Über Georges Simenon

GEORGES SIMENON geboren 1903 im belgischen Lüttich, gestorben 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Vom Haus Krull, von der Familie Krull entdeckte Hans – auch er ein Krull, aber ein reiner, ein Krull aus Deutschland – als Erstes, noch bevor er aus dem Taxi gestiegen war, eine Reklame aus Transparentpapier, die an der Glastür des Ladens klebte.

Seltsam, obschon so viele Details lockten, hatte er nur Augen für diese Reklame, auf der er in Spiegelschrift zwei Wörter entzifferte: Amidon Remy.

Der Hintergrund war blau, ein schönes Ultramarin, die Mitte des Bildes nahm ein friedlicher weißer Löwe ein.

Alles andere existierte zu diesem Zeitpunkt nur in Hinblick auf den Löwen, dessen Mähne makellos weiß wie frische Wäsche war: eine weitere Reklame, ebenfalls durchsichtig, mit den Wörtern Bleu Reckitt; aber ohne ersichtlichen Grund spielte sie nur eine Nebenrolle; ein gelb aufgemaltes Wort, die eine Hälfte der Buchstaben auf der linken Scheibe der Tür, die andere auf der rechten: Buvette; ein Schaufenster vollgestopft mit Tauen, Schiffslaternen, Peitschen und Teilen eines Pferdegeschirrs; schließlich hier draußen in der Sonne ein Kanal, Bäume, Lastkähne, die reglos im Wasser lagen; und eine gelbe Straßenbahn, die bimmelnd den Quai entlangfuhr.

»Amidon Remy«, buchstabierte Hans beim Aussteigen.

Während er den Kopf hob und das Wechselgeld einsteckte, dachte er:

Schauen wir mal, wie die französischen Krulls so sind!

Über dem Geschäft stand ein Fenster offen. Man sah den Oberkörper eines jungen Mannes, der in Hemdsärmeln an einem Tisch voller Hefte saß. Aus einem anderen Teil des Hauses ertönten üppige Klavierakkorde.

Jetzt entdeckte Hans im fern wirkenden Halbdunkel des Ladens, hinter der Auslage mit den Schiffsartikeln, den Kopf einer Frau, graues Haar, die Stirn, ihre Augen. Im selben Moment erhob sich oben im Fensterrahmen der hemdsärmelige junge Mann und blickte neugierig hinab auf das Taxi; ein weiteres Fenster öffnete sich rechts daneben: das spitze Gesicht eines jungen Mädchens.

Er musste nur drei Meter Gehsteig überqueren und dann die Glastür öffnen. In der linken Hand trug Hans einen Koffer aus gelbem Leder oder vielmehr sehr gut gemachtem Kunstleder, wie es in Deutschland hergestellt wurde. Da er groß war, machte er auch große Schritte. Einen Schritt. Zwei Schritte. Er streckte die Hand aus, um den Knauf zu drehen. Da öffnete sich die Tür von selbst, und eine sonderbare Stimme, eine Frauenstimme, aber eine krächzende, in der sich Tiefen und Spitzen kakophonisch mischten, kreischte, alle anderen Geräusche übertönend:

Hans, den Koffer in der Hand, musste ausharren, während sich auf der Schwelle zwei Frauen schubsten: Die eine schüttelte die andere, versuchte, sie hinauszudrängen, während die Megäre verbissen ihren Monolog zu Ende bringen wollte.

Ein Wort fiel Hans dabei auf, das Wort »pervers«, dessen Bedeutung er zu kennen glaubte, das ihm aber zu einer Familie wie den Krulls schlecht zu passen schien. Dann noch ein Wort, das die grauhaarige Händlerin, zweifellos seine Tante, aussprach:

»Es reicht, Pipi, machen Sie keinen Krach!«

Und »Pipi« setzte sich gleich neben Amidon Remy in seinem Kopf fest.

All das hatte stattgefunden, während er aus dem Auto gestiegen, den Fahrer bezahlt und die paar Schritte zur Tür gemacht hatte. Und schon war der junge Mann vom ersten Stock im Laden, packte die Betrunkene am Arm und versetzte ihr einen so heftigen Stoß, dass sie einige Meter weit torkelte.

»Hans Krull?«, fragte er, als er den Koffer des Reisenden ergriff.

»Der bin ich, ja«, antwortete Hans auf Deutsch.

Trotz allem musste man sich erst an ihn gewöhnen: Die Tante musterte ihn von oben bis unten, von unten bis oben, doch spürte man, dass der Koffer mit den blitzenden Nickelverschlüssen ihr am stärksten ins Auge stach.

»Kommen Sie rein, Cousin«, sagte der junge Mann

Nun der Geruch. Allerdings nicht sofort. Zunächst die Ladenglocke. Wenn die Tür geöffnet und geschlossen wurde, ertönte eine Glocke, wie Hans noch nie eine gehört zu haben glaubte.

Dann im Laden der Geruch, eine Mischung aus Holzteer, der zum Kalfatern von Kähnen verwendet wurde, Tauen und Gewürzen, wobei der Geruch von Schnaps dominierte, der an einer Ecke der mit Zinkblech verkleideten Theke ausgeschenkt wurde.

»Kommen Sie ins Wohnzimmer, Cousin. Wer hätte gedacht, dass Sie einen Wagen nehmen? … Anna! Elisabeth! Cousin Hans ist da!«

Hinter dem Laden lag die Küche, die Hans wie das Zentrum des Hauses vorkam, man drängte ihn aber nach rechts durch einen kühlen blau gekachelten Flur in ein Zimmer, wo sich ein junges Mädchen hastig vom Klavierhocker erhob.

»Guten Tag, Cousin.«

»Guten Tag, Cousine.«

»Das ist Elisabeth. Vater nennt sie Lisbeth. Das ist Anna. Ich bin Joseph …«

»Sprechen Sie gar kein Französisch?«, fragte Elisabeth, während ihre Mutter, die Hände vor dem Bauch gefaltet, im Türrahmen verharrte.

»Sehr wenig … sehr schlecht … Sie werden es mir beibringen.«

Alle Einführungen sind unangenehm, dennoch behielt Hans seine gute Laune, eine gute Laune besonderer Art, wie man sie in diesem Haus nicht kannte. Es

»Soll ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen, Cousin?«, leierte Joseph, der etwa fünfundzwanzig war, also in Hans’ Alter, neben ihm aber hölzern wirkte.

Die Treppenstufen waren frisch gebohnert und knarrten. Im ganzen Haus roch es wie im Laden, wenn auch weniger stark, und in den oberen Stockwerken außerdem nach Schlafzimmer. Durch das Fenster auf dem Treppenabsatz sah man einen Hof, in dem ein einziger Baum stand.

»Hier entlang, Cousin. Das Zimmer ist ganz oben, dafür geht das Fenster auf den Kanal. Möchten Sie sich vielleicht frisch machen?«

Hans betrachtete seine Hände, die völlig sauber waren. Er lächelte und hätte beinah erklärt, wieso. Sollte er es Joseph sagen?

Nicht gleich!, entschied er. Später würde er ihm vielleicht einmal erzählen, dass er im Zug aus Köln eine schöne Frau kennengelernt, ihr geholfen hatte, ein paar Dinge am Zoll vorbeizuschmuggeln, und sie dann, als sie beide ausgestiegen waren, ins Hôtel du Chemin de Fer mitgenommen hatte.

Abenteuer dieser Art hatte er dauernd, fast ohne sein Zutun. Sie hatte sich nicht einmal ganz ausgezogen.

»Meine Schwägerin erwartet mich um vier, und mein Mann kommt um sechs nach Hause«, hatte sie gesagt.

Deswegen hatte er sich schon frisch gemacht, bevor

»Sie haben schon fast die ganze Familie gesehen«, erklärte Joseph gewissenhaft, während sein Cousin den Koffer öffnete und ein paar kleine Gegenstände herausholte. »Mama kümmert sich um den Laden …«

»Wieso hat sie die andere Frau Pipi genannt? Ist das ein richtiger Name?«

»Ein Spitzname! Diese Frau ist für meine Mutter der reinste Albtraum. Sie lebt mit ihrer Tochter und einem Penner auf einem aufgegebenen Lastkahn, von dem nur ein Teil aus dem Kanal ragt. Sie macht Besorgungen für die Schiffer, vor allem für die durchreisenden, die nur ein paar Minuten in der Schleuse haltmachen. Von morgens bis abends ist sie betrunken, und wenn sie mal muss, hockt sie sich einfach hin, am Ufer, auf dem Gehsteig, ganz gleich, wo sie gerade ist …«

»Verstehe.«

»Meine Schwester Anna, die ältere …«

»Wie alt ist sie?«

»Dreißig. Sie macht den Haushalt. Als Sie gekommen sind, hat sie gerade in der Küche gebügelt … Elisabeth ist siebzehn. Sie nimmt Klavierstunden. Sie möchte Klavierlehrerin werden …«

»Und Sie?«

»Ich mache meinen Doktor in Medizin. In zwei Wochen muss ich meine Arbeit über den bilateralen Pneumothorax verteidigen …«

»Und der Vater?«

»Der sitzt von morgens bis abends in der Werkstatt,

Die Werkstatt war im Erdgeschoss, am Ende des Flurs, und ging hinaus auf den Hof. Zwei Männer hockten auf so niedrigen Stühlen, dass sie direkt auf dem Boden zu sitzen schienen, und flochten Körbe aus Weidenruten.

Der eine, der mit seinem schönen weißen Bart einer Statue des heiligen Joseph glich, war Vater Krull, Cornélius Krull. Nachdem er als Korbflechter durch Deutschland gezogen war und dann durch Frankreich, hatte er sich in dieser Stadt niedergelassen, ohne besonderen Grund, so wie man sich eben niederlässt, wenn man das Ende seiner Reise erreicht hat.

Statt Hans die Stirn zu küssen, zeichnete er mit dem Daumen ein Kreuzzeichen darauf, offenbar eine für ihn typische Geste, und fragte dann:

»Wie geht es meinem Bruder Wilhelm?«

»Gut … recht gut …«, antwortete Hans rasch.

»Wohnt er immer noch bei uns daheim in Emden? In seinem letzten Brief, dreißig Jahre ist das her, hat er geschrieben, er sei Schuster geworden …«

Cornélius Krull hantierte weiter mit den biegsamen Weidenruten, während ein Priem mal die linke, mal die rechte Backe des Gehilfen blähte, der schon genauso lange hier war wie Vater Krull.

»Möchten Sie jetzt mein Zimmer sehen, Cousin?«

Darin roch es schal. Der unangenehmste Geruch im ganzen Haus. Joseph war ein Langweiler, mit seinem schlaksigen Körper, dem bleichen, immer ernsten Gesicht, dem Bürstenschnitt, dem Haar, das weder blond noch rot war, und den mattblauen Augen.

»Das war einmal. Jura. Ich musste das Studium abbrechen, aus politischen Gründen …«

»Und was machen Sie jetzt in Deutschland?«

»Nichts. Ich gehe nicht mehr nach Deutschland zurück.«

Er spürte, wie Josephs Blick kalt und misstrauisch wurde.

»Wenn mein Französisch ein bisschen besser ist, gehe ich nach Paris und schlage mich irgendwie durch … Vielleicht lasse ich mich auch einbürgern … Sind Sie eingebürgert?«

»Vater ist schon vor dem Krieg Franzose geworden. Ich habe meinen Militärdienst hier in Frankreich geleistet.«

Hans mochte sich in Josephs Zimmer nicht länger die Beine in den Bauch stehen und ließ ihn zurück mit seiner Doktorarbeit über den bilateralen Pneumothorax … Sowie ein bilateraler Pneumothorax eingesetzt hat, lässt sich auf Röntgenaufnahmen der Lungenkollaps erkennen und …

Dies waren die letzten Wörter im Heft. Klavierakkorde hallten von allen Wänden des Hauses wider. Hans ging ihnen nach und setzte sich hinter seiner Cousine Lisbeth, die eine lange spitze Nase hatte.

»Sagen Sie mal, Ihr Bruder ist aber kein Ausbund an Lebenslust!«

Sie lächelte, sagte aber nichts.

»Ihre Schwester auch nicht!«

Die Tapete war geblümt. Das offene Fenster ließ den Sommer herein und mit ihm Straßenlärm, vor allem das

»Gerade eben«, erklärte Hans, während er den Nacken seiner Cousine betrachtete, »bin ich vor Ihrem Vater in eine peinliche Situation geraten …«

»Wieso? Weil Vater fast nichts redet?«

»Nein … Weil er wissen wollte, wie es meinem Vater geht.«

»Und das war peinlich?«

»Allerdings! Mein Vater ist schon vor fünfzehn Jahren gestorben.«

Er sagte es fröhlich, und Lisbeth, die sich rasch nach ihm umdrehte, konnte sich ihrerseits ein Lächeln nicht verkneifen.

»Aber sein Brief? Der Brief, den er meinen Eltern geschrieben hat …«

»Den habe ich geschrieben!«

»Wieso?«

Hans kratzte sich scherzhaft am Kopf. Während er, der deutsche Krull, wie man ihn hier nannte, fast braun war, fast wie ein Südländer aussah, hatten die französischen Krulls einen Teint wie dänisches Porzellan.

»Ganz genau weiß ich das auch nicht. Ich hab gedacht, ein Brief meines Vaters wäre wirkungsvoller als ein Brief von mir. Ich kann sehr gut Schriften nachahmen. Ich habe also geschrieben, dass mein Sohn Hans zwei, drei Monate in Frankreich verbringen soll, um sein Französisch zu verbessern.«

»Sind Sie jetzt wütend?«

»Mich geht das nichts an. Aber wenn mein Vater …«

»Sagen Sie’s ihm?«

»Was denken Sie von mir?«

»Verstehen Sie mich: Ich musste unbedingt aus Deutschland weg und hatte nur noch ein paar Mark. Da habe ich an den Bruder meines Vaters gedacht … Ich fragte mich allerdings, ob er nach all den Jahren immer noch in derselben Stadt wohnt. Es kommt mir komisch vor, wenn jemand so lange am selben Ort bleibt …«

»Und Sie?«

»Ich habe schon überall in Deutschland gelebt, in Berlin, München, auch in Österreich, dann in Hamburg. Ich war auch mal auf einem Schiff der America Line …«

»Was haben Sie gemacht?«

»Eigentlich alles. Auf dem Schiff war ich als Musiker … In Berlin hatte ich mit Film zu tun …«

»Davon erzählen Sie hier besser nichts«, sagte sie und wandte sich wieder dem Klavier zu.

»Ich weiß!«

»Warum erzählen Sie dann mir gleich am ersten Tag davon?«

»Darum!«, antwortete er, indem er auf die Tür zuging, dann einen Augenblick innehielt, um seine Cousine von Kopf bis Fuß zu mustern.

Gleich danach erklangen wilde Tongirlanden aus dem Wohnzimmer.

 

Er hatte sich nicht nur mit dem Haus, sondern auch mit der Umgebung vertraut gemacht. Von der Stadt merkte man nicht viel: Man befand sich ganz am Rand und gehörte kaum noch dazu.

Keine fünfzig Meter vom Haus entfernt wendete die Straßenbahn. Das sagte alles.

Gegenüber lag der Quai, mit drei, vier Baumreihen, Bänken, Bohlen, Bauhölzern und Backsteinen, die von den Lastkähnen abgeladen wurden.

Am anderen Ufer des Kanals war eine Brache, die für Truppenübungen genutzt wurde; der Schießstand war in einem lang gezogenen roten Gebäude untergebracht. Von morgens bis abends hörte man das peitschende Knallen der Lebel-Gewehre. Doch das war auf der anderen Seite des Wassers. Das gehörte nicht zum Quai Saint-Léonard und zählte deshalb nicht.

Am Quai Saint-Léonard kam nach dem Laden der Krulls nur noch ein Haus mit einer Werkstatt: die Tischlerei Guérin.

Weiter vorn am Ufer war die Werft der Gesellschaft Rideau mit dem Trockendock und den halb fertigen Booten.

»Gehen Sie nie am Kanal spazieren?«, fragte Hans Lisbeth.

»Gehen Sie denn überhaupt spazieren?«

»Sonntags, wenn die ganze Familie in die Kirche geht.«

Auch die französischen Krulls waren dem Protestantismus treu geblieben.

»Langweilen Sie sich nie?«

»Ich langweile mich die ganze Zeit.«

Er langweilte sich nicht. Er durchstöberte das Haus, durchschnüffelte noch die hintersten Winkel und amüsierte sich über alles, sogar über Anna, die ihre Pflichten mit ernster Miene und sehr gewissenhaft erfüllte.

»Möchten Sie etwas Käse nehmen, Cousin?«

»Warum ›nehmen‹? Warum sagen Sie nicht ›essen‹?«

»Weil man das auf Französisch so sagt: ›Je prends du fromage, tu prends du fromage …‹«

Er vergaß keine ihrer Bemerkungen, wies sie ein paar Stunden später auf Widersprüche hin, freundlich und mit einem fröhlichen Funkeln in den Augen. Und hin und wieder blinzelte er Lisbeth zu, ohne besonderen Grund, und Lisbeth wandte den Kopf ab.

Obschon Cornélius Krull vier Fünftel seines Lebens in Frankreich verbracht hatte, hatte er nie richtig Französisch gelernt. Umgekehrt hatte er sein Deutsch praktisch vergessen, sodass er ein sonderbares Kauderwelsch sprach, das nur seine Familie verstand.

»War Pipi schon wieder da, Tante Maria?«

Er neckte seine Tante, die ein wahres Monument war, und fragte in unschuldigem Ton:

»Warum halten Sie immer beide Hände vor den Bauch?«

Es war morgens um elf, eine Zeit, die er mochte wegen des Lichts, der Düfte aus der Küche, der Ladenglocke, die nicht aufhörte zu läuten.

Er war eben in sein Zimmer hochgegangen, ohne genau zu wissen, warum, nachdem er unten in der Küche ein Stück Wurst aus dem Schrank genommen hatte. Angezogen, wie er war, hatte er sich auf dem Bett ausgestreckt. Er horchte. Die Geräusche aus dem Nebenzimmer deuteten darauf hin, dass Lisbeth ihre Matratze umdrehte und dann das Bett bezog.

Er sah zur Decke und auf die vielen Pünktchen, die die Fliegen dort hinterlassen hatten.

Rübergehen? Nicht rübergehen? Soll ich’s versuchen? Soll ich’s nicht versuchen?

Er aß das letzte Fitzelchen Wurst, stand auf, wischte sich die Lippen ab und lächelte sich im Spiegel zu. Dann drehte er vorsichtig den Türknauf, horchte auf dem Treppenabsatz, ergriff den Knauf der nächsten Tür und öffnete sie lautlos.

Lisbeth wandte sich ruckartig um, zuckte bei seinem Anblick zusammen und blickte verängstigt um sich.

Er hatte sich nicht getäuscht.

Wovor fürchtete sie sich, wenn nicht davor?

Und das Laken war noch nicht richtig eingeschlagen …

Und sie trug kein Kleid unter ihrer Kittelschürze!

»Was wollen Sie …«

Er lächelte, zwinkerte ihr zu und schloss die Tür.

Als er eine Viertelstunde später auf Zehenspitzen wie

Joseph. Dieser stand nicht direkt vor der Tür und nicht auf gleicher Höhe mit Hans, er war auf der Treppe, ein paar Stufen unter ihm. Hans sah nur seinen Oberkörper.

Joseph war bleich, noch bleicher als sonst, und sein Gesicht zuckte beunruhigend. Man hätte meinen können, er habe sich davongestohlen, um nicht dabei erwischt zu werden, wie er durchs Schlüsselloch schaute.

Hans überlegte nicht lange, was zu tun sei. Er zog sich mit einem Zwinkern aus der Affäre und ging in sein Zimmer. Durchs Fenster betrachtete er die vorbeifahrende Straßenbahn, die grüne Masse der Bäume, zwischen denen das Wasser des Kanals funkelte, und schnupperte an sich, da er noch ein wenig nach Lisbeth roch.

Beim Mittagessen sagte Joseph nichts. Er war so langweilig wie üblich, durchdrungen von Feierlichkeit und Würde.

Der alte Cornélius, der als Einziger Anrecht auf einen Korbsessel hatte, sagte nie etwas, und Hans hatte sich schon gefragt, ob er einfach zu dumm dafür sei.

Anna dagegen nahm sich ihres Cousins an.

»Wie nennen Sie das?«, fragte sie und zeigte auf eine Schüssel.

»Karotten.«

»Und das?«

»Fleisch.«

Er hätte gern gelacht, der neben ihm sitzenden Lisbeth einen Rippenstoß versetzt und sie – warum nicht? – gefragt:

Wie nennen Sie das, was wir eben getan haben?

Er riss sich zusammen, lächelte nicht eigentlich, verströmte aber dennoch gute Laune.

»Du isst ja gar nichts, Lisbeth«, tadelte Tante Maria.

»Ich hab keinen Hunger.«

Er ließ es sich nicht nehmen, in einem Ton, der zum feierlichen Joseph gepasst hätte, zu verkünden:

»In Ihrem Alter sollte man immer Hunger haben!«

Lisbeth warf ihm einen traurigen Blick zu. Er sah, dass ihre Augen feucht waren, und drückte ihr fröhlich das Knie.

»Nicht wahr, Joseph, Sie als Arzt denken doch auch …«

Die anderen konnten das nicht verstehen. Sie glaubten, es sei ein Tag wie jeder andere, friedvoll und sonnenbeschienen. Sie hatten keine Ahnung, dass wenige Minuten genügt hatten, um …

Plötzlich stand Lisbeth auf, das Gesicht in der Serviette vergraben, und nachdem sie zur Tür hinausgegangen war, hörte man ein heiseres Schluchzen.

»Was hat sie nur?«, fragte ihre Mutter beunruhigt.

Worauf Joseph seinem Cousin in die Augen blickte. Der alte Cornélius war ganz auf sein Essen konzentriert und kaute langsam weiter, während der Gehilfe in der Werkstatt seine Stulle verzehrte, die er jeden Morgen mitbrachte.

 

»Nennen Sie ihn doch Joseph, Hans!«, mischte sich Tante Maria ein.

Es war Abend geworden. Man saß auf dem Gehsteig, mit dem Rücken zum Haus, der Onkel in seinem Korbsessel, die anderen auf Stühlen mit Strohgeflecht.

Die Sonne war eben untergegangen. Aus dem Kanal stieg feuchte Frische auf, und zwischen den Bäumen bildeten sich feine Nebelschwaden.

Zwanzig Meter weiter, vor der Tür des Tischlers, mehr Stühle, mehr Menschen, die aber nichts mit den Krulls zu schaffen hatten und auch nie herüberschauten.

Cornélius rauchte eine lange Porzellanpfeife, die Augen halb geschlossen, der Bart so steif wie der einer Heiligenfigur. Tante Maria hatte einen Stapel karierter Geschirrtücher vor sich und markierte die Ecken mit rotem Baumwollgarn. Anna hatte ein Buch mitgebracht, in dem sie nicht las, und Lisbeth hatte ein Unwohlsein vorgeschützt, um sich ins Bett zu legen.

Die Welt war beinah leer. Die Kähne schliefen. Ein dünner Wasserstrahl aus einem undichten Schieber der Schleuse plätscherte wie ein Brunnen, ein Geräusch, das zunächst alle zehn Minuten, im Lauf der Nacht dann weniger häufig vom Lärm der Straßenbahn unterbrochen wurde.

»Ja doch … Geht ein bisschen spazieren … Aber kommt nicht zu spät zurück …«

Hans hatte nie einen Hut auf, was seine Lässigkeit noch betonte. Er trug schmiegsame Hemden mit offenem Kragen, und die besondere Weichheit seiner Kleidung unterstrich Josephs Steifheit.

Die beiden jungen Männer gingen mit großen, langsamen Schritten dahin.

Sie waren nicht nur gleich alt, sondern auch gleich groß und hatten beide lange Beine und große Füße.

»Sie sagen ja gar nichts, Cousin Joseph!«

Wenn sie sich umdrehten, konnten sie die Familie vor dem Haus sitzen sehen und ein Stück weiter die des Tischlers. Über einen Kahn waren Leinen gespannt, an denen Wäsche trocknete.

»Ich frage mich, was Sie mit meiner Schwester vorhaben …«

»Gar nichts habe ich mit ihr vor!«

Der Stadtrand lag hinter ihnen, und vor ihnen erstreckte sich das Land oder vielmehr eine unbestimmte Zone mit Hecken, Brennnesseln, Brachen. Die Weiden mit den Kühen lagen weiter draußen.

»Haben Sie durchs Schlüsselloch geschaut?«, fragte Hans leichthin.

Er wandte sich dabei nicht seinem Cousin zu. Er wusste auch so, dass der errötete.

»Falls ja, werden Sie festgestellt haben, dass sie ebenso Lust darauf hatte wie ich …«

Er sah Josephs Hand, eine lange Hand, die in der Dämmerung noch bleicher wirkte, eine sonderbar geformte Hand, die plötzlich zu zittern begann.

»Warum sind Sie zu uns gekommen?«, fragte Joseph zögernd.

»Weil ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte!«

»Das hab ich doch eben gesagt. Mein Vater hatte nur einen Bruder und eine Schwester. Die Schwester ist in Lübeck im Kloster. Ich hätte ja nicht gut zu ihr ins Kloster gehen können …«

Und dann in leichterem Ton:

»Haben Sie heute gearbeitet?«

»Nein!«

»Deswegen?«

»Wegen allem …«

»Allem was?«

»Einfach allem!«

Seine Hände zitterten. Er war knapp zwanzig Meter vor einer Gaslaterne stehen geblieben, der letzten vor dem offenen Land. Hans folgte seinem Blick und bemerkte etwas Undeutliches, ein Paar, das sich in der Dunkelheit umarmt hielt, wobei sie auf den Zehenspitzen stand, um ihre Lippen auf seine drücken zu können.

»Wer ist das?«, fragte er mäßig interessiert.

»Sidonie …«

»Und wer ist Sidonie?«

»Pipis Tochter … Egal …«

»Sagen Sie mal, Joseph!«

»Was?«

»Sind bei Ihnen in der Familie nicht alle ein bisschen … überspannt?«

Das war nicht das richtige Wort. Er hatte gezögert. Hätte er den Ausdruck »einen Stich haben« gekannt, er hätte ihn bestimmt verwendet.

»Warum fragen Sie das?«

»Einfach so… Mir geht da so einiges durch den

»Mein Vater ist normal«, fiel ihm Joseph ins Wort.

»Kann sein … Ich meinte ja nur … Sind immer so viele Schiffe auf dem Kanal?«

»Immer. Das ist der wichtigste Hafen der Stadt …«

»Haben Sie viele Freunde?«

»Keine!«

»Und an der Universität?«

»Da ist man nicht sehr beliebt mit einer Mutter, die den Fuhrknechten Getränke ausschenkt …«

»Warum tut sie das?«

»Weil die Leute im Viertel uns als Ausländer betrachten und nicht zu uns kommen … Ohne die Schiffer und die Fuhrknechte …«

Der Weg war mittlerweile nicht mehr als ein schmaler Treidelpfad am Kanal. Ein flaches Boot glitt langsam dahin, es gehörte einem Mann, der verbotenerweise Netze und Reusen auslegte und beim Wriggen das Ufer im Auge behielt.

»Haben Sie eine Geliebte, Cousin Joseph?«

»Nein …«

Ein gehässiges, böses Nein.

»Wollen wir umkehren?«

Wieder sahen sie das Paar bei der Gaslaterne, die Lippen der beiden schienen zusammengeschweißt. Weiter

Die Luft war blau, die Nebelschwaden von einem etwas helleren Blau, alles war blau, der Himmel, die Bäume, nachtblau, und blau war auch die durchsichtige Reklame für Amidon Remy.

Bevor er seine Zimmertür öffnete, blieb Hans auf dem Treppenabsatz stehen. Er hörte etwas, das wie ersticktes Schluchzen klang, und zuckte mit den Schultern.

Dann, als er im Bett lag, vernahm er die Schritte von Joseph, der unter ihm in seinem Zimmer im Kreis ging, da an Schlaf nicht zu denken war.

Vor der hässlichen Entdeckung am Kanalufer lagen noch drei Werktage und ein Sonntag.

Hans wusste über alles Bescheid, einerseits weil er selbst vom Bett aus das geringste Scharren hörte und seinen Ursprung erriet, andererseits weil er unermüdlich überall war, in der Küche hinter Anna, im Laden bei seiner Tante, wenn sie einem Fuhrmann zu trinken ausschenkte oder mit Pipi stritt, in Lisbeths Zimmer, das seine Cousine kaum mehr zu betreten wagte, in der Werkstatt und im Zimmer von Joseph. Meist hatte man ihn nicht hereinkommen hören, fuhr bei seinem Anblick zusammen und fragte sich, wie lange er einem schon zugeschaut hatte.

Hans wusste, dass Cornélius morgens als Erster aufstand und dass dem seit seiner Hochzeit so war. Vielleicht war es beim ersten Mal Zufall gewesen, und dann hatte der Onkel es einfach beibehalten. Lautlos ging er in Pantoffeln die Treppe hinunter in den Keller und füllte zwei Eimer mit Kohlen. Dann feuerte er an, was Hans an einem Petrolschwall erkannte.

Danach wurde die Tür zum Laden geöffnet. Der Onkel mahlte Kaffee, und während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, stopfte er seine lange Pfeife.

Um sechs tappte er die Treppe wieder hoch und stellte seiner Frau eine Tasse Kaffee auf den Nachttisch.

Eines wusste er nicht, erfuhr es aber an diesem Sonntag. Dass man zwar die Rollläden vor den Fenstern geschlossen hielt, die Ladentür aber einen Spaltbreit offen ließ und auch sonntags Lebensmittel verkaufte und Getränke ausschenkte. Und dass außerdem – ebenfalls wegen des Ladens – nicht alle zum Gottesdienst gingen. Tante Maria und Anna blieben abwechselnd zu Hause.

Die anderen nahmen an diesem Sonntag die Straßenbahn, und schon das Warten an der Haltestelle hatte etwas Feierliches. Der Onkel, der einen Gehrock trug und dessen Hände in grauen Handschuhen steckten, blickte starr vor sich hin. Joseph behielt seine gelangweilte Miene bei und neigte – ganz wie seine Mutter – wehmütig oder resigniert den Kopf.

Die Wege des Herrn sind unergründlich …

Das war das Thema der Predigt an diesem Sonntag. Als sie aus der Kirche kamen, war die Stadt belebt, und auf dem Jahrmarkt in der Stadtmitte herrschte Hochbetrieb.

»Sind Sie schon mal Karussell gefahren, Cousine?«, wollte Hans von Lisbeth wissen.

Jedes Mal, wenn er sie anschaute, glaubte sie, erröten zu müssen, und Joseph hielt dem Blick seines Cousins ebenso wenig stand.

Hans lachte angesichts der Fremdheit der Familie Krull inmitten der ausgelassenen Menge: Nicht nur kamen sie aus der protestantischen statt der katholischen Kirche, nicht nur sprach Onkel Cornélius kaum Französisch … Alles an ihnen, bis zu Josephs resigniertem Lächeln, wirkte in dieser Umgebung völlig fremd.

Die arme Lisbeth! Sie konnte den anderen nicht mehr in die Augen sehen und machte ein Drama aus dem winzigen Ereignis, das ihr Fleisch versehrt hatte. Das Sonderbare dabei war, dass die Art, wie Hans sie sozusagen Stück für Stück begutachtet hatte, sie heftiger aufwühlte als das, was er ihr angetan hatte. Auch jetzt noch nahm sie zuweilen instinktiv die Hände vor die Brust, um sich zu vergewissern, dass ihre kleinen Birnenbrüste nicht nackt waren.

»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, verkündete Joseph zu Hause seiner Mutter, die immer wissen wollte, worüber gepredigt worden war.

Um drei kam Monsieur Schoof mit Marguerite. Hans, der die beiden noch nicht kannte, war dennoch im Bilde. Monsieur Schoof war der einzige Freund der Familie, auch er ein eingebürgerter Deutscher, der etwa zur gleichen Zeit wie Vater Krull nach Frankreich gekommen war und in der Rue Saint-Léonard ein Geschäft für Butter und Käse führte.

Er war sehr klein und rund und rosig, mit vergissmeinnichtblauen Augen und Lippen wie ein Säugling; Marguerite war ebenso frisch und pummelig, sodass man versucht war, in sie reinzubeißen.

Joseph und sie waren zwar nicht offiziell verlobt, aber das tat nichts zur Sache, stand ihre Heirat doch seit Ewigkeiten fest.

Was tat sich sonst noch? Nichts. Cornélius redete nicht. Er thronte in seinem Korbsessel wie für ein Familienporträt und nahm nur ab und zu mit weihevoller Gebärde die Pfeife aus dem Mund, um ein paar Silben zu äußern, die seinem Freund Schoof galten.

Schoof war selig. Alle beide waren glücklich, wenn sie hier auf dem Gehsteig saßen, den Kanal betrachteten, die Straßenbahn, die von Zeit zu Zeit vorbeifuhr, eine sonntäglich herausgeputzte Familie, die einen Besuch abstatten ging. Man schnupperte den Duft des Kakaos, der beim Tischler nebenan zubereitet wurde, wo der Sonntag etwa im gleichen Rhythmus verlief.

Hans beobachtete zuweilen Josephs Hände und sah voraus, wann sie sich wieder verkrampften, als würde der Cousin von Schwindel ergriffen.

»Wollen wir ein bisschen nach oben gehen?«, flüsterte Hans Lisbeth ins Ohr, die brav auf ihrem Stuhl saß.

Das wäre lustig gewesen: in dieser Stille bei offenem Fenster, während die Familie unten im Kreis auf dem Gehsteig saß – doch Lisbeth fuhr zusammen, als hätte man ihr etwas Blasphemisches gesagt.

Vielleicht mit Anna? Unglücklicherweise hatte diese bereits die Solidität und Zähigkeit ihrer Mutter angenommen, und Hans hatte bemerkt, dass sie einen Hüftgürtel trug, der sie so starr erscheinen ließ wie eine alte Anrichte.

Auch so verging die Zeit, denn der Tisch, der nach dem Mittagessen abgeräumt, dann für den Nachmittags

Erst nach dieser letzten Mahlzeit ging Hans aus, streifte über den Jahrmarkt, wie üblich ohne Hut, die Hände in den Taschen, eine Zigarette zwischen den Lippen und mit der Joseph so irritierenden Haltung eines Menschen, der sich überall zu Hause fühlt.

Ein Mädchen fiel ihm auf, und er war sich fast sicher, dass es die Kleine war, die er im Schatten des Quais gesehen hatte, an einen Mann gedrückt: Sidonie, die Tochter der berühmten Pipi.