ROBERT QUINT

 

 

DIE TERRANAUTEN, Band 9:

Die Stunde des Riemenmanns

 

 

 

Science-Fiction-Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE STUNDE DES RIEMENMANNS von Robert Quint 

 

Zeitlicher Überblick über den Terranauten-Kosmos 

Die Terranauten-Glossar 

 

Das Buch

 

Man schreibt das Jahr 2500 irdischer Zeitrechnung.

Obwohl in den Toten Räumen von Berlin Sarym-Schirme jede PSI-Aktivität unmöglich machen, gibt der Riemenmann Llewellyn 709 nicht auf. Zusammen mit dem Psyter Scanner Cloud und den Mitgliedern der Loge von Hadersen Wells sucht er in den abgeschotteten Räumen unterhalb der Hauptstadt des Kaiser-Konzerns nach einer Fluchtmöglichkeit. Währenddessen wird Lordoberst Valdec von einer Abordnung der Logenmeister, unter der Führung von Hadersen Wells unter Druck gesetzt, den von Kaiser festgehaltenen David terGorden freizulassen.

 

DIE TERRANAUTEN – konzipiert von Thomas R. P. Mielke und Rolf W. Liersch und verfasst von einem Team aus Spitzen-Autoren – erschien in den Jahren von 1979 bis 81 mit 99 Heften und von 1981 bis 87 mit 18 Taschenbüchern im Bastei Verlag. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht die legendäre Science-Fiction-Serie erstmals und exklusiv als E-Books.

  DIE STUNDE DES RIEMENMANNS von Robert Quint

 

 

 

»Ishmail!«, zischte der Riemenmann. »Hierher!«

Der Treiber, dessen Gestalt sich vor dem Halbbogen der Tunnelöffnung als grauer Schemen abzeichnete, folgte dem Klang der Stimme und erreichte keuchend den Riemenmann.

Ishmail Tout holte tief Luft. »O’Hale und Suvez haben Schwierigkeiten«, sprudelte es aus ihm hervor. »Irgendetwas muss bei der Zerstörung der Beobachtungskamera auf dem Hauptkorridor schiefgegangen sein. Eine Alarmanlage schaltete sich ein.«

Llewellyn 709 ließ sich seine Besorgnis nicht anmerken. »Und weiter?«, fragte er ruhig.

Tout zuckte die Achseln. »Na ja, dieser Cloud zerschnitt die Leitung und kroch dann in den Versorgungsschacht. Kein Mensch weiß, wie er es geschafft hat, die gesicherte Tür des Schachtes aufzubrechen. Auf jeden Fall kappte er der Wachmannschaft die Energieversorgung. Die dürften da oben jetzt ebenfalls im Dunklen sitzen.«

Der Riemenmann wiegte zweifelnd den Kopf. »Sie besitzen mit Sicherheit ein Notstromaggregat«, murmelte er. »Falls sie es geschafft haben, eine Meldung durchzugeben...«

»Kaum«, winkte Tout ab. »Scanner kletterte den Schacht hinauf bis zur obersten Etage. Er sagt, er hätte die Kommunikationsverbindungen zur Außenwelt zerstört. Wenn wir Glück haben, dauert es eine Stunde, bis ein Bote die Garnisonen der Grauen und das Konzil informiert hat.«

»Und wenn wir Pech haben, sitzen wir bald wieder dort, wo wir hergekommen sind!« Der Riemenmann knurrte unwillig. »Wo steckt Cloud jetzt?«

»Er ist mit Sardina zurück, um die anderen zu holen. Von Rosen und seiner Bande ist noch nichts zu sehen.«

Llewellyn lachte leise. »Das wird hier auch schwerfallen«, bemerkte er ironisch. »Was treiben die Dunklen?«

Tout zuckte die Achseln. »Wir haben zwei Späher überwältigt. Die übrige Gemeinschaft feiert die Aufnahme von Diborra und Bauer-Coln. Das Fest neigt sich bereits dem Ende zu. Dann wird es gefährlich. Aber in ein paar Minuten müsste Cloud Angila und den Rest der Leute erreicht haben.«

»Okay«, knurrte Llewellyn, »Wir müssen uns also verdammt beeilen.«

Die beiden Männer schwiegen.

Schwer lastete die Stille über dem dunklen Tunnel.

Zwanzig oder dreißig Meter weiter endete er abrupt vor einer Mauer. Eine Notleuchte erhellte trübe das braune Material der Wand. Kunststoff, wie der Riemenmann wusste, und offenbar nach Errichtung mit einer diamantharten Glasur übertüncht, von der sogar Laserstrahlen abprallten. Seit mehreren Jahrzehnten war dieses Verfahren nicht mehr gebräuchlich, weil es stabilere Baustoffe gab, aber ohne Zweifel erfüllte die Mauer auch jetzt noch ihren Zweck.

»Wir brauchen eine Sprengladung«, erriet Tout Llewellyns Gedanken. Seine Stimme klang in der Finsternis seltsam fremd. »Oder wir müssen uns durchgraben. Aber dafür fehlen uns die notwendigen Werkzeuge.«

»Sehr romantisch«, spottete der Riemenmann. »Fast wie in alten Abenteuerromanen, in denen sich die Helden sieben Jahre und zweiundvierzig Tage ihren Weg aus dem Kerker hinausbuddeln.«

»Hast du einen besseren Vorschlag?« Tout bewegte sich unruhig und schielte zurück in den Tunnel.

Alles war leer.

Von den Treibern und den übrigen Gefangenen war nichts zu sehen.

»Vielleicht weiß dieser Cloud einen Rat«, brummte Tout schließlich, als der Riemenmann nicht antwortete.

»Wir sollten uns nicht zu sehr auf Cloud verlassen«, gab der Riemenmann zurück. »Außerdem habe ich schon einen konkreten Plan, wie wir vorgehen werden.«

Der Treiber versuchte, die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchdringen. »Du hältst nicht viel von Cloud, nicht wahr, Llewellyn?«

»Ich... weiß es nicht«, erklärte der Riemenmann zögernd. »Cloud ist mir ein Rätsel. Er verschweigt etwas. Niemand von den anderen Gefangenen kennt ihn näher. Seit seiner Einlieferung hat er sich abgesondert.«

»Du meinst, er ist ein Agent des Konzils?« Tout wirkte nervös.

Llewellyn zuckte die Achseln. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Hinter ihnen war es hell geworden. Der Lichtkegel einer Taschenlampe stach durch die ewige Nacht in den Tiefen der Toten Räume.

»Cloud«, sagte der Riemenmann leise.

Der Lichtkegel kam näher. Das Prasseln vieler Schritte folgte. Dann Schreie. Entsetzte Schreie, die wie Feuer durch die Gewölbe fauchten.

Tout und der Riemenmann fuhren in die Höhe, liefen Cloud entgegen. Der Häftling taumelte. Über seine rechte Wange lief Blut.

»Scanner!«, brüllte Llewellyn alarmiert. »Was ist geschehen?«

Aus den Augenwinkeln sah er den Schatten von Angila und Serge-Serge Suvez, dahinter acht, zehn, ein Dutzend weitere Häftlinge des unterirdischen Inhaftierungslagers.

Cloud schüttelte benommen den Kopf und wischte sich über die verletzte Wange. »Rosen!«, stieß er hervor. »Die Dunklen haben uns bemerkt. Sie sind uns dicht auf den Fersen. Es sind mindestens fünfzig oder sechzig Mann. Ein halbes Dutzend von uns haben sie schon erwischt.«

Angila und Suvez waren heran.

»Llewellyn!«, keuchte die junge Treiberin. »In wenigen Minuten sind die Dunklen hier. Sie sind bewaffnet. Ein paar von ihnen müssen ein altes Waffendepot entdeckt haben. Explosivgewehre!« Sie schöpfte Atem. »Rosen wird uns alle umbringen! Ich habe schon versucht, sie mit Psi aufzuhalten, aber vergeblich. Die Toten Räume verschlucken alles.«

Der Riemenmann ergriff Angilas Hand. »Kommt!«, schrie er. »Beeilt euch!«

Binnen Sekunden wimmelte der Tunnel von Menschen. Aufgeregt stolperten die Häftlinge durch die Dunkelheit, hasteten auf die braune Wand zu, als könnte sie ihnen Schutz vor dem Ansturm der Dunklen Gemeinschaft bieten.

Scanner Cloud fuchtelte mit der Taschenlampe. Geisterhaft tanzte der Strahl über die rohen Wände, die gebogene, zerklüftete Decke, an der stellenweise noch die Fetzen einer blassblauen Verkleidung hingen.

»Ich werde versuchen, die Dunklen aufzuhalten«, schrie der schwergewichtige Mann durch den Lärm. »Rosens Bande mag kein Licht. Vielleicht wird meine Lampe sie eine Weile aufhalten.«

Der Riemenmann hob bestätigend einen Arm und blickte sich suchend nach den anderen Treibern um. Endlich entdeckte er Sardina und O’Hale, die sich durch die sich langsam beruhigende Menge schoben und an Llewellyns Seite eilten.

Massiv ragte die Mauer vor ihnen auf.

Tout klopfte prüfend dagegen und schnitt ein besorgtes Gesicht. »Ziemlich dick«, knurrte er. »Also, Llewellyn, wie sieht dein genialer Plan aus?«

»Berührt mich«, flüsterte der Riemenmann. »Ihr alle. Wir brauchen Körperkontakt. Denkt nicht. Konzentriert euch nur auf mich. Rasch!«

»Es ist unmöglich«, seufzte Suvez. »Du weißt, dass hier unsere Psi-Kräfte blockiert werden.«

Der Riemenmann schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns an der Peripherie der Kavernen, praktisch schon außerhalb. Damit sind wir auch am Rand des Energiefeldes, das unsere Psi-Kräfte absaugt. Vielleicht ist die Blockade hier nicht mehr voll wirksam. Möglich wäre das. Es ist unsere einzige Chance! Oder wollt ihr von Rosen umgebracht werden?«

Die Treiber bildeten um den Riemenmann eine enge Traube. Ihre Körper schienen zu erstarren.

Die anderen Häftlinge, die dem seltsamen Geschehen zuschauten, versanken in atemloses Schweigen.

Und durch die Stille flüsterten die fremdartigen hypnotischen Gesänge der Dunklen Gemeinschaft, die wie Schmutzwasser durch die Tunnel strömten und unaufhaltsam näher kamen.

Das trockene Bellen eines altmodischen Gewehres hallte durch die Nacht.

Llewellyn 709 zuckte zusammen und verstärkte seine Konzentration.

Müdigkeit und Erschöpfung legten sich auf seine Glieder, während seine psionischen Sinne nach dem gewaltigen Energiereservoir von Weltraum II tasteten.

Das war der Fluch, der auf den Treibern lastete.

Jedes Einsetzen ihrer parapsychischen Kräfte bezahlten sie mit ihrer Vitalität. Treiber alterten schnell, denn der Weltraum II schenkte nichts, sondern tauschte seine Psi-Energie gegen menschliche Lebenskraft.

Der Riemenmann begann zu zittern. Überdeutlich spürte er die Panzerung um seinen Schädel, die Barriere, die in den Toten Räumen zwischen Weltraum II und den Treibern stand. Und doch wirkte sie poröser als im Wohntrakt, im Innern der Kavernen. Es schmerzte, als er nach den übergeordneten Energien tastete, die von unsichtbaren Fesseln seinem Zugriff entzogen wurden.

Aber sie mussten es schaffen! Sie mussten!

Clouds schriller Ruf drang gedämpft an sein Ohr.

»Sie kommen!«, brüllte der Häftling. »Macht euch bereit!«

Und Llewellyn konzentrierte sich auf die Mauer, warf ihr all seine Wut, seinen Hass entgegen.

Das Material knirschte. Feine Risse durchzogen die Oberfläche, aber die Mauer hielt stand.

Der Riemenmann taumelte. Schmerz pulsierte hinter seiner Stirn, drohte ihm den Kopf zu sprengen.

Wieder hämmerte ein Gewehr. Pfeifend schoss ein Querschläger durch den Tunnel. Irgendwo erklang ein gequälter Schrei.

Der Gesang der Dunklen kroch wie ein lebendes Wesen durch die Dunkelheit.

»Zerschelle«, flüsterte der Riemenmann in Trance. »Brich in tausend Stücke. Auseinander mit dir!«

Wieder brandete die psionische Welle gegen die Wand.

Krachend wurden mehrere kopfgroße Steinbrocken aus dem Material gesprengt, zerfielen augenblicklich zu Staub. Die Mauer knirschte heftiger. Rasend schnell verbreiterten sich die Risse, wurden zu armdicken Spalten, die sich immer tiefer in den superharten Kunststoff fraßen.

Angila begann zu schluchzen. Ihr Gesicht wirkte in dem roten Dämmerschein der Notleuchte wie das einer Toten. Sie wankte, wurde von irgendjemandem aus der Schar der Gefangenen gestützt.

Clouds Taschenlampe flackerte. Er zog sich langsam zurück, duckte sich, wenn ein Schuss krachte und die Kugel durch die Finsternis schwirrte und irgendwo einschlug.

Es war ein Wunder, dass die Querschläger nicht schon mehr Verletzte gefordert hatten.

Jetzt wurden am Ende des Tunnels auch die ersten grotesk vermummten Gestalten sichtbar. Das Licht der Taschenlampe schien sie ein wenig zu irritieren.

Jemand kicherte irr.

»Es ist die Zeit der Finsternis!«, kreischte eine verzerrte Stimme.

»Kommt in den Schoß der Nacht, ihr Verfluchten, Todgeweihten!«

Dann folgte wahnwitziges Gelächter, dem nichts Menschliches mehr anhaftete.

Der Riemenmann versuchte, den Lärm der Schüsse und die entsetzten Schreie zu ignorieren. Er fühlte, wie die Mauer unter seinen psionischen Hieben nachzugeben begann. Nur noch Sekunden, dann hatten sie es geschafft.

»Auf sie, Diener der Nacht!«, gellte Rosens Ruf auf.

In diesem Moment zersprang mit einem ohrenbetäubenden Donnern die Mauer in unzählige Bruchstücke. Ein Schwall frischer Luft wehte Llewellyn ins Gesicht. Der Riemenmann taumelte. Seine Beine schienen nachzugeben. Schatten wallten vor seinen Augen, und das Hämmern seines Herzens übertönte jeden anderen Laut.

Endlich wich die dumpfe Betäubung, machte einer Mattigkeit Platz, die jede einzelne Zelle seines Körpers zu erfüllen schien. Verschwommen sah er Touts eingefallenes Gesicht vor sich. Der Treiber schrie irgendetwas und deutete immer wieder nach vorn.

Angila war zusammengebrochen. Suvez zerrte sie wieder in die Höhe und schleppte sie zusammen mit Sardina und O’Hale aus Llewellyns merkwürdig verengtem Blickfeld.

»Was... ist passiert?«, brachte der Riemenmann mühsam hervor. Jedes Wort erschöpfte ihn.

»Die Dunklen!«, brüllte Tout. »Sie sind fort! Die Mauer ist verschwunden. Schau doch! Schau!«

Schwerfällig drehte Llewellyn 709 den Kopf. Er blinzelte, glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Aber es war Wirklichkeit. Dort vorn – scheinbar greifbar nah – äugte die Helligkeit des Tages in einen zerfallenen Tunnel, brannte schmerzhaft in den Netzhäuten.

Jemand rüttelte Llewellyn an der Schulter. Es war Cloud. Der Häftling grinste breit. »Einfach umwerfend!«, entfuhr es ihm. »Kaum war das Licht zu sehen, schon flohen die Dunklen wie die Hasen! Sie haben es wirklich geschafft, Treiber!«

Der Riemenmann griff sich an den Schädel. Leere erfüllte sein Inneres. Es war, als hätte er sein ganzes Selbst mit der psionischen Anstrengung verloren.

»Wir müssen verschwinden«, stöhnte er »Ich...«

Ein Treiber und Cloud zogen ihn wortlos mit sich. Hinter den Trümmern der Zwischenwand war der Boden uneben und lehmbedeckt. In einer Nische raschelte etwas; vielleicht ein Tier, das sich hier eingenistet hatte.

Der Gang führte immer steiler werdend in die Höhe und endete schließlich vor einer unregelmäßigen, pflanzenüberwucherten Öffnung. Durch sie fiel das Tageslicht nach unten in das Dunkel der Toten Räume.

Die Gefangenen, die sich vor dem Vorhang aus Pflanzentrieben versammelt hatten, lachten und umarmten sich vor Erleichterung.

»Wie sieht es draußen aus?«, fragte der Riemenmann heiser.

Angila Fraim, die inzwischen wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, lächelte schwach. »Hell, mein Schatz«, murmelte sie. »Verdammt hell.«

Der Riemenmann nickte. »Ein kleines Problem. Es wird einige Zeit dauern, bis sich unsere Augen wieder an das Sonnenlicht gewöhnt haben.«

Er löste sich aus Clouds stützendem Griff und stolperte auf die Öffnung zu. Vorsichtig schob er einige Triebe beiseite und blinzelte hinaus.

Die Helligkeit ließ ihn ächzen, seine Augen tränen. Tausend Feuerbälle tanzten vor ihm und verblassten erst nach langen Minuten, als sich seine Augen allmählich an die ungewohnte Lichtfülle gewöhnten.

Ruinen türmten sich vor ihm auf.

Der Ausgang aus den unterirdischen Kavernen befand sich auf einer Bodenerhebung, an deren Fuß wie zerbrochene Zahnstümpfe die Überreste einst riesiger Hochhäuser standen. Krieg und Klimaveränderungen, Stürme und jahrelange Wolkenbrüche hatten die Gebäude zerstört und nur die untersten Geschosse übrig gelassen. Hier und da ragte ein krummer Stahlpfeiler in die Höhe, rostzerfressen und von den Exkrementen der wilden Vogelschwärme bedeckt.

Das alte Berlin lag vor Llewellyn.