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Für meinen Vater

Bettina Kupfer, geboren 1963, hat Schauspiel, Psychologie und Psychoanalyse studiert. Nach zahlreichen Theater-Engagements arbeitet sie immer wieder als Schauspielerin für Film und Fernsehen (u. a. Schindlers Liste, Tatort, Drei mit Herz) und ist Dozentin im Fach Psychologie. Daneben verfasst sie Drehbücher und ist Produzentin der Mimi & Crow Filmproduktion.

Ein verlagsneues Buch kostet in ganz Deutschland und Österreich jeweils dasselbe. Das liegt an der gesetzlichen Buchpreisbindung, die dafür sorgt, dass die kulturelle Vielfalt erhalten und für die Leser bezahlbar bleibt. Also: Egal ob im Internet, in der Großbuchhandlung, beim lokalen Buchhändler, im Dorf oder in der Stadt – überall bekommen Sie Ihre verlagsneuen Bücher zum selben Preis.

Covergestaltung: b3k-design

© 2018 Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin

Bettina Kupfer

Drei Steine für Betty

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Wer nur ein einziges Leben rettet,
rettet die ganze Welt
.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Dreieinhalb Monate später

Kleines Glossar

Kapitel 1

Ich habe mich oft gefragt, ob ich Großmutter wirklich so ähnlich bin, wie Papa immer sagt. Er meint nämlich, dass Kinder meist nicht den Eltern, sondern eher den Großeltern ähnlich sind. Und er findet, dass ich Oma Minnie ganz besonders ähnlich bin und nicht Mama oder ihm. Ich weiß es nicht. Es gibt nur ein Foto von Oma, und da ist sie zwölf Jahre alt, genauso alt wie ich jetzt bin. Nicht ganz, denn ich bin gerade erst zwölf geworden, doch trotzdem, wenn man genau hinsieht, gibt es schon eine gewisse Ähnlichkeit. Sie lächelt genauso wie ich, und ihre Beine verschränkt sie auf Fotos auf dieselbe Art, wie ich es tue, fast wie ein Knicks – aber so stur wie sie ist, das bin ich nicht! Obwohl? Wenn ich etwas will, dann setze ich das auch durch. Koste es, was es wolle. Also sind wir uns wohl doch ziemlich ähnlich – Oma Minnie und ich.

Trotzdem ist Oma Minnie seltsam, und sie ist mir oft fremd. Manchmal sieht sie einfach vor sich hin und fängt an zu lachen. Oder sie sagt etwas vor sich hin, das kaum verständlich ist, oder sie wird merkwürdig, wenn es um Deutschland geht. Das ist das Thema überhaupt mit Oma. Deutschland! Sie wollte nie nach Frankfurt kommen und uns besuchen. Das hatte sie so mit sich ausgemacht, da kam man nicht dazwischen. Ich konnte das lange nicht verstehen, weil wir so eine gemütliche Wohnung haben, mit Decken bis zum Himmel und langen schweren Vorhängen vor dem Fenster, die die Welt mit all ihrem Irrsinn draußen lassen, wie Mama sagt.

Immer hat Oma einen Grund erfunden, warum es gerade nicht passte. Papa und Mama haben schon oft deshalb gestritten. Zum Beispiel als David auf die Welt kam, das war vor sechs Jahren. Da wollte Papa Oma aus Israel abholen, um ihr den winzigen David zu zeigen, doch sie weigerte sich zu kommen. Es gab deswegen ganz viel Streit. Und da habe ich Papa auch zum ersten Mal weinen gehört. Ich sollte davon nichts mitkriegen, deshalb hatte er sich im Wohnzimmer eingeschlossen. Aber ich konnte hören, wie er ganz leise weinte, und deshalb konnte ich auch in der Nacht nicht schlafen, weil es mir Angst gemacht hat. Wie kann man auch schlafen, wenn der eigene Vater weint!

Aber ich traute mich nicht zu fragen – am Tag darauf war Papa nämlich wieder normal und gut gelaunt, sodass ich schon dachte, dass ich mir das alles nur eingebildet und das Ganze bloß geträumt hatte.

Doch in der nächsten Nacht ging es wieder los. Es war zum Verrücktwerden. Ich überlegte mir damals eine Strategie, nämlich immer besonders lieb zu Papa zu sein. Aber das hat auch nicht geholfen. Dann habe ich, wenn Papa weinte, zuerst zu Gott gebetet und mir gewünscht, dass Papa wieder glücklich wird, und danach, weil ich ja nicht schlafen konnte, habe ich das kleine Radio angeschaltet, das Papa mir zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Und habe es ganz leise gemacht und fest aufs Ohr gedrückt. Im Radio war immer so viel los! Vor Hörspielen habe ich mich gegruselt – aber oft kamen Lieder, die kenne ich heute noch auswendig, obwohl ich damals noch gar kein Englisch konnte.

Ein Lied war ein richtiger Ohrwurm, Somewhere Over The Rainbow hieß es. In diesem Lied ging es um den Himmel und dass es über dem Regenbogen einfach schön ist. Das hatte mir Mama mal übersetzt. Und genau dadurch ist sie auch dahintergekommen, dass ich Papa weinen gehört und deshalb heimlich das Radio angemacht hatte. Das hat sie wütend gemacht, und sie hat mit Papa darüber gestritten, dass Oma Minnies „Geschichte“ nicht an mir hängenbleiben sollte. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, was sie damit meinte. Denn wann immer wir Oma Minnie in Jerusalem besuchten – und das war oft –, gab es keine „Geschichte“ oder so etwas. Es war immer lustig und fröhlich dort, und wir hatten alle viel Spaß zusammen.

Aber wenn ich ganz ehrlich bin – am Ende ist Oma Minnies „Geschichte“ dann doch an mir hängengeblieben. Ich hätte nie gedacht, dass diese „Geschichte“ einmal so wichtig für mich werden könnte und dass ich verstehen würde, warum Oma nie nach Deutschland wollte, nach Frankfurt zu uns, obwohl wir doch ihre einzige Familie sind.

Alles fing damit an, dass wir in den Sommerferien Oma Minnie in Israel besucht hatten, so wie wir das in allen Sommerferien tun. Wir wollten wie immer zuerst mit ihr zum Baden ans Rote Meer, aber dieses Mal wollten wir sie auf jeden Fall mit zu uns nach Frankfurt nehmen, zu meiner Bat Mitzwa nämlich. Und Oma Minnie hatte zugesagt, weil sie selbst nie eine Bat Mitzwa gehabt hatte, wie sie sagte, und auch deshalb die von ihrer einzigen Enkelin nicht verpassen wollte. Darauf war ich so stolz! Dass Oma wegen mir mit nach Deutschland kam und Papa deswegen fast Luftsprünge machte, weil er sich so sehr freute!

Zwei Wochen verbrachten also Oma Minnie, Papa, Mama, David und ich in Eilat am Roten Meer. Schwimmengehen, faulenzen, am Strand spielen und das Schönste: Delfine beobachten. Oma hat in Eilat eine kleine Wohnung, in der wir dann immer wohnen. Im Grunde haben wir zu fünft dort keinen Platz. Aber David und ich schlafen mit Oma im Schlafzimmer und Papa und Mama auf der Couch im Wohnzimmer. Eigentlich ist das Wohnzimmer auch die Küche, was besonders lustig ist, weil David und ich meistens schon viel früher wach sind als alle anderen, und wir uns Kakao machen, was Mama und Papa gar nicht gefällt, weil sie noch weiterschlafen möchten. Das führt dann dazu, dass es meistens eine Kissenschlacht gibt und wir danach mit Mama und Papa noch ein wenig kuscheln, während Oma das Frühstück macht. Helfen dürfen wir ihr dabei nicht, weil sie so froh darüber ist, dass wir alle zusammen sind und sie für uns sorgen kann. Sie sagt immer: „Dass ich das noch erleben darf – eine richtige kleine Familie!“

Und dann ist sie jedes Mal so gerührt, dass ihr eine winzige Träne über die Wange rollt, die ihr Papa wegumarmt. „Meine kleine Minnie Mutter“, sagt er dann zu ihr und hält sie ganz fest. Das sieht komisch aus, weil Oma wirklich sehr klein ist und Papa riesig. Dann sieht Oma aus wie ein kleines Mädchen mit vielen Falten. Und ich stelle mir vor, dass ich vielleicht auch mal einen Sohn habe, der so groß ist wie Papa, und der mich auch so umarmt und ich dann so aussehe wie Oma, so alt und klein und zerbrechlich, weil ich ihr ja so ähnlich bin, wie alle sagen.

Es gibt jedoch einen Wermutstropfen bei der ganzen Glückseligkeit in den Ferien, und das ist Opa Schmuel, den ich ja nicht gekannt habe, weil er lange, bevor ich geboren wurde, gestorben ist. „Einfach so“, wie Oma Minnie immer sagt. Und sie vermisst Opa sehr. Je älter sie wird, desto mehr muss sie an ihn denken, sagt sie, und daran, dass er seine Enkel nie gesehen hat. Opa Schmuel und Oma Minnie hielten nach dem Krieg zusammen wie Pech und Schwefel, und als Opa gestorben ist, war Oma nur noch die Hälfte von einem Ganzen, und deshalb wollte Papa sie ja auch zu uns nach Frankfurt holen, damit sie nicht so alleine ist, aber sie wollte bei Opa bleiben, in Jerusalem, und ihn jeden Tag auf dem Friedhof besuchen. So wie an jenem Freitag, bevor wir alle nach Frankfurt reisen wollten.

Wir hatten uns von den Delfinen verabschiedet, die kleine Wohnung abgeschlossen und waren mit dem Auto nach Jerusalem zurückgefahren. Es war früh am Morgen, weil es da noch kühl war und besser zum Autofahren, denn im Sommer ist es in Israel ziemlich heiß, weit über vierzig Grad. Und von Eilat bis nach Jerusalem geht die Straße durch die Wüste Negev: Die Straße flimmerte vor Hitze, und das Auto mit uns Fünfen quälte sich über den Asphalt, sodass Papa fluchte und schimpfte, dass wir kein Auto mit Klimaanlage haben und immer noch mit Opas alter Schrottkarre fahren müssen, aber Oma hängt halt an Opas Auto. Und Papa eigentlich auch, selbst wenn er es nicht zugeben mag. Immerhin ist es das Auto von seinem Vater, und das kann ja nichts dafür, dass es aus der Mode gekommen ist. Außerdem ist Oma der Meinung, dass der gute alte Volvo wie ein gemütlicher Esel ist, der es nicht eilig hat und obendrein ein Teil von Opa ist, der dadurch mit uns auf die Reise geht. Oma sagt immer, dass wir im Bauch von Opa verreisen, so nennt sie nämlich das Innere von Opas Auto. Und Papa kann und will ihr den Wunsch, mit dem alten Auto zu fahren, nicht abschlagen, weil er ja weiß, wie viel Oma das Auto von Opa bedeutet. Deshalb nimmt er die Reiseschikane auf sich und schimpft und flucht halt. Vor allen Dingen wenn Oma will, dass er schneller fährt, und sagt, dass man noch viel mehr aus Opas Auto herausholen könnte. Dann fängt Papa an über Automotoren zu fachsimpeln, das nervt Mama, weil sie das gar nicht interessiert, und Oma freut sich, dass jetzt alle über Opa reden. David und ich halten uns da aber meistens raus – auch weil wir am Fenster sitzen dürfen und uns den warmen Fahrtwind ins Gesicht wehen lassen und dann irgendwann gar nichts mehr hören.

Jedenfalls kamen wir also an Schabbat in Jerusalem an, und Oma wollte noch zum Friedhof, sich von Opa verabschieden. Deshalb hatte Papa ja auch mächtig auf die Tube gedrückt, damit wir nicht so spät bei Oma ankommen würden, denn an Schabbat essen wir immer – wirklich immer! – alle zusammen. Das ist Papa ganz wichtig. Er geht zwar nicht in die Synagoge, aber der Schabbat ist ihm heilig: Kerzen anzünden und gemeinsam essen, das war und ist Gesetz. Wir halten Schabbat ein, für den Frieden und Familienzusammenhalt, wie Papa und Mama sagen, und das jeden Freitag, ohne Widerrede, da gibt es kein Pardon.

Ich wollte Oma unbedingt auf den Friedhof begleiten, und so ließ uns Papa am Friedhof Givat Shaul in Jerusalem aussteigen, während er mit Mama und David zu Omas Haus fuhr, um das Schabbatessen vorzubereiten. Zuerst wollte David auch mit, aber Oma wollte nicht zu viele beim Abschied dabeihaben, nur mich, weil sie ja wegen meiner Bat Mitzwa Abschiednehmen musste. Das verstand David, außerdem durfte er zum Trost auf dem Tablet daddeln, was er in Wirklichkeit natürlich auch viel lieber macht, als auf einen Friedhof zu gehen.

Mittlerweile war es schon Mittag, und es war so heiß, dass die Hitze durch die Sohlen meiner Sandalen kroch, wenn ich zu lange stehen blieb. Aber Oma Minnie war wie immer gut vorbereitet. Sie hatte einen Regenschirm dabei, als Sonnenschutz, unter dem ich auch noch Platz fand, so groß war er. So gingen wir also beide gemeinsam zum Grab von Opa. Ich weiß gar nicht, wie Oma das Grab von Opa immer findet, denn überall liegen Steinplatten dicht an dicht, die alle ähnlich aussehen. Aber Oma Minnie geht immer ganz zielsicher und schnurstracks durch die vielen steinigen Gräber, bei denen ich mich jedes Mal verirre und in die falsche Richtung laufe, aber Oma immer – stur wie ich bin – von meinem Weg überzeugen will. Oma lächelt dann nur und murmelt: „Ach Amit, es ist die Liebe, die mich zu Schmuel führt, nur die Liebe – so blind, wie ich jetzt bin.“

Ja, die Liebe: Ich liebe Mama, Papa und David und Oma, und ich liebe manche Dinge, die ich schön finde, wie zum Beispiel den versteinerten Friedhof, auf dem Opa wohnt. Es ist so still dort, dass man sogar Vögel zwitschern hören kann. Und manchmal hört man auch das Rauschen des Verkehrs, der um Jerusalem herumgeführt wird, aber das klingt eher wie ein Meeresrauschen; jedenfalls stelle ich mir das immer so vor, auch wenn es gar nicht stimmt. Und ich liebe diese kleine Bank, die beim Grab von Opa steht, auf die sich Oma immer setzt und Opa von dem erzählt, was sie gerade erlebt hat.

An jenem Freitag erzählte sie Opa von Eilat und den Ferien, und sie verabschiedete sich von ihm, weil sie ja nach Frankfurt flog. Ich frage mich immer, ob Opa wirklich hören kann, was Oma sagt. In einem Buch über den Tod habe ich mal gelesen, dass die Seele davonfliegt, und der Körper im Grab zu Erde wird. Also mit was spricht Oma? Mit der Erde oder mit der Seele? Gerade als ich darüber nachdachte, setzte sich ein kleiner Schmetterling auf Opas Grabstein. Gleich neben einen der Steine, die Oma Minnie auf das Grab gelegt hatte. Ob das Opas Seele war? Als ich Oma danach fragte, antwortete sie: „Opa ist überall. Im Schmetterling, in deiner kleinen Hand, in meiner Seele, überall …“

In meiner Hand? Nie und nimmer! Was redet Oma nur für ein Zeug! Aber Oma sagt oft so merkwürdige Dinge. Deshalb nehme ich nicht immer alles ernst, was sie sagt, und denke mir meinen Teil.

Zum Abschied habe ich Opa einen Stein auf sein Grab gelegt. Ich finde es schön, dass man auf jüdische Gräber immer einen Stein legt, als Gruß und als Zeichen dafür, dass man an den Verstorbenen denkt. Deshalb hatte ich auch einen besonderen Stein, einen mit vielen weißen Sprenkeln, aus Eilat mitgebracht, den ich extra für Opa gesucht hatte. Die Sprenkel sollen das Sternenmeer sein, sagte ich ihm, das wir im Flugzeug durchfliegen, und dann an ihn denken. Oma nickte andächtig und zeichnete mit ihrer Hand die Inschrift von Opas Grabstein nach.

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Schmuel Goldstein
1922–2002

Dann seufzte sie und flüsterte liebevoll: „Ich bin bald wieder da, Schmuel.“

Langsam verließ sie den Friedhof. Ich folgte ihr. Ich glaube, sie hat ein bisschen geweint und wollte, dass ich das nicht sehe, deshalb blieb ich eine Weile hinter ihr, bis ich sie dann doch unterhakte und mit ihr langsam nach Hause ging. Wir schwiegen beide. Ich tat es, weil ich fühlte, dass es das Richtige war, weil ich Respekt vor Omas Gefühlen habe, immerhin hatte sie eine schwere Reise vor sich und das nur für mich.

Kapitel 2

Der Weg vom Friedhof zu Omas Haus erschien mir an dem Tag besonders lang, weil wir die ganze Zeit geschwiegen haben. Es hatte sich etwas verändert, zwischen Oma und mir, vielleicht weil ich nun bald erwachsen bin, das ist man ja nach der Bat Mitzwa. Früher, als ich noch kleiner war, da habe ich nicht so gemerkt, wie es Oma ging, ob sie traurig war oder fröhlich, aber inzwischen kann ich irgendwie mehr fühlen, was mit Oma los ist. Und auf dem Nachhauseweg merkte ich, dass sie über Schmuel nachdachte und über die Reise nach Frankfurt. Und ich merkte, dass sie ihr Versprechen, mit nach Frankfurt zu kommen, einhalten wollte, aber eigentlich nicht konnte, weil sie bei Schmuel bleiben wollte. Ich sprach sie aber besser nicht darauf an, denn etwas in mir sagte, dass sie nicht darüber sprechen mochte.

Ich kenne das. Es gibt Dinge, über die ich nicht sprechen möchte, und dann kommen Fragen über Fragen, meistens von Mama, und das nervt richtig, weil ich nicht antworten kann, weil die Antwort sonst so alleine dasteht – sie hat noch keine richtigen Worte und kann noch nicht nach draußen in die Welt.

Deshalb war ich ganz froh, als wir endlich Omas Haus erreichten. Eigentlich ist Omas Haus eher ein Häuschen. Aber klein und fein! Schon der Weg zum Haus ist besonders. Da ist das verwunschene Gartentor, das nicht mehr richtig schließt, und die alte Steintreppe, aus deren Ritzen viele Blumen wachsen – sie führt hinauf auf die große Terrasse. Von allen Seiten duftet es nach Orangen und Oleander. Omas Orangen- und Oleanderbäume sind schon uralt, und sie wachsen ganz knorkelig neben der Treppe und spenden Schatten in der Sommerhitze.

Wir stiegen ganz langsam die Stufen hoch, denn manche bröckelten schon etwas, und Papa wollte sie reparieren lassen, aber das wollte Oma nicht, denn die Treppe hatte einst Schmuel angelegt. Und deshalb solle sie so bleiben, wie sie ist. Außerdem würde sie ja selbst auch schon bröckeln, und „daher passen die Treppe und ich zusammen“, so sagte Oma Minnie dann immer, wenn Papa mit dem Handwerkervorschlag kam. Papa und Oma haben sich also darauf geeinigt, dass sie die Treppen ganz langsam rauf- und runtergeht, damit sie nicht stürzt.

Oma lächelte selig, als wir oben angekommen waren. Ich wusste ja, zu Hause fühlte sie sich am wohlsten, weil es das Haus war, in dem sie ein Leben lang mit Opa Schmuel und Papa gewohnt hat, als er noch klein war. Deshalb sagte sie auch immer, dass es so schön nach Heimat duftet und nach Wohligsein und Vertrautheit.

Von der Terrasse aus geht es direkt ins Esszimmer, vorbei an zwei Olivenbäumen, die den Eingang wie zwei Soldaten bewachen. Den einen hat Oma Minnie für David gepflanzt, den anderen für mich. Mein Baum ist riesig geworden, und er trägt schon mehr als hundert Früchte und sieht einfach extraordinär aus.

Oma und ich hörten, wie Mama auf dem Klavier spielte. Was sie besonders gerne am Schabbat tut, weil sie da Zeit hat und Papa sich darüber freut. Er kann Mama stundenlang beim Klavierspielen zuhören, und beide sehen sich dann immer so verzückt an. Das mag ich an Mama und Papa, dass sie „so ein Herz füreinander haben“, wie Papa immer sagt. Und außerdem duftet es freitags immer so herrlich nach dem frischen Berches. Ich mag dieses Schabbatbrot für mein Leben gern, und früher, als ich noch kleiner war, wünschte ich mir, eine Maus zu sein, die in dem warmen weichen Hefezopf wohnt.

David saß schon am Tisch, und als Oma und ich ins Esszimmer traten, winkte er Oma sofort zu und rief: „Mein rechter, rechter Platz ist leer, da wünsch ich mir die Oma her!“ Oma setzte sich gleich neben David und streichelte ihm über den Kopf.

„Ihr wart ja lange weg“, sagte Papa zu Oma gewandt, die zuckte nur mit den Schultern und lächelte lieb. Ich setzte mich ihr gegenüber, das tat ich am liebsten, dann konnte ich nämlich in ihr Gesicht mit den vielen hundert Falten sehen, die so ungeordnet neben- und übereinander lagen. Ich stellte mir immer vor, dass jede Falte von Oma eine Geschichte ist, die sich dort eingegraben hat und nun von all ihren Erlebnissen erzählt. Mama setzte sich neben mich, und Papa saß mal wieder am Tischende, wie der Boss der Familie – aber das war er ja irgendwie auch. Nur nicht am Schabbat. Da zündet nämlich Mama die Kerzen an und eröffnet das Fest. Ich kann zwar auch ein bisschen Hebräisch, weil ich es für die Bat Mitzwa lernen muss, aber so gut wie Mama, die das mal studiert hat, werde ich das wohl nie können.

Während Mama also die Kerzen anzündete und die Streichhölzer ausglühen ließ, sprach sie das Schabbatgebet: „Baruch Atah Adonai Elohejnu Melech Haolam, Ascher Kideschanu bemizwoitav veziwanu lehadlik ner schel Schabbat.“ Das klingt so schön auf Hebräisch! Auf Deutsch heißt es: „Gelobt seist Du, unser Gott, König der Welt, der Du uns durch Seine Gebote geheiligt hast und uns geboten hast, das Licht des Schabbats zu zünden.“

Das Gebet, das Mama da sprach, war ja immer das Gleiche, aber es rührte Oma jedes Mal, so lange ich denken kann. Aber an diesem Freitag, da war sie irgendwie anders, so traurig und verschlossen. Ich hatte das Gefühl, dass in ihrem Gesicht neue Geschichten entstanden, so sehr runzelte sie die Stirn. Das tat sie eigentlich nur, wenn sie über etwas Schwieriges nachdachte, was sie nicht lösen konnte.

Plötzlich hatte ich so eine Vorahnung davon, wie schon vorher auf dem Spaziergang, dass Oma sich das mit der Reise nach Frankfurt anders überlegen würde und nur noch nicht wusste, wie sie es uns sagen sollte, weil sie niemanden verletzen wollte. Ich glaube, Oma und ich sind uns wirklich sehr ähnlich – wir haben eine gemeinsame Sprache, die über Worte hinausgeht. Jedenfalls wusste ich auf einmal ganz genau, dass Oma nicht mitkommen würde. Das war wie ein großer Schreck, der mein Herz für Sekunden stehen ließ. Papa hat das nicht gemerkt. Er war guter Dinge, stand auf, sprach den Kiddusch, den Segensspruch zum Schabbat, und ließ den Becher Wein herumgehen, aus dem alle einen kleinen Schluck trinken durften.

Ich beobachtete Oma aufmerksam und, genau wie ich es mir gedacht hatte, sagte sie plötzlich in die Stille hinein: „Kurt, es tut mir leid, aber ich kann nicht mitkommen, ich kann nicht nach Frankfurt kommen, ich werde bei Schmuel bleiben.“

Wenn Oma Kurt zu Papa sagt, dann wird es meistens ernst. Und das wurde es auch. Denn was dann passierte, war fürchterlich. Ich war gar nicht geschockt, weil ich ja irgendwie wusste, dass Oma die Reise nach Frankfurt absagen würde – aber Papa war so sprachlos, dass er sich erst einmal setzen musste. Wir alle blieben ganz still, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Dann stand Papa stumm wieder auf und ging auf die Terrasse. Wir sahen ihm alle nach. Die Stimmung war wie zum Platzen.

„Es tut mir leid, Kurt“, murmelte Oma leise, aber noch so laut, dass Papa sie verstehen konnte. Und das reizte ihn, jedenfalls wurde er plötzlich sehr, sehr wütend.

„Leid?! Dass ich nicht lache! Du weißt, was das Amit und mir und unserer ganzen Familie bedeutet! Dass du zu uns hältst, dass du zu unserer Familie gehörst und dass du nach Frankfurt kommst, zu Amits Bat Mitzwa!“

Ich weiß gar nicht, was schlimmer war: dass Papa mit Oma so schimpfte oder dass sie nicht nach Frankfurt kommen wollte, jedenfalls merkte ich, wie meine Beine anfingen zu zittern und ich so ein leeres Gefühl im Bauch bekam – es fühlte sich an, als hätte ich monatelang nichts gegessen.

Papa wetterte weiter: „Du bist die Einzige aus unserer Familie, die wir noch haben. Siehst du eigentlich nicht, was du da anrichtest? Kannst du nicht einmal über deinen Schatten springen?“

Da mischte sich Mama ein: „Kurt, hör auf, sie kann es nicht! Nicht nach alldem, was sie durchgemacht hat!“

„Was hat sie denn durchgemacht?“, wollte David wissen. Dass er sich immer in alles einmischen musste!

Papa regte sich jetzt richtig auf: „Ja, erzähl es David doch. Erzähl es Amit! Es ist ihre Bat Mitzwa! Ist es das, was du willst?“

Ich wollte gar nicht wissen, was Oma alles durchgemacht hatte, ich wollte nur, dass der Streit aufhört, aber es ging gerade so weiter. Und dann begann Oma Minnie wieder von Betty zu reden, das war ihre Schwester, die sie das letzte Mal als Baby gesehen hatte. Aber Papa ließ sie gar nicht ausreden.

„Hör mir auf mit Betty! Hör endlich auf damit! Gib deine Hoffnung begraben. Deine Schwester Betty ist tot! Arolsen, das Deutsche Rote Kreuz, Freunde, die jüdischen Verbände … alle haben nach ihr gesucht, fünfzig Jahre lang … sie ist tot! Verdammt noch mal!“

Papa war noch wütender als sonst, und ich bekam richtig Angst vor ihm. Oma Minnie senkte wie immer in solchen Situationen den Kopf und sagte gar nichts mehr. Das kannte ich von ihr. Sie ist dann wie ein dunkler schwerer Holzschrank, der seinen Schlüssel selbst verschluckt hat, und den keiner mehr öffnen kann, auch sie selbst nicht.

David fragte, was denn Arolsen ist, und ich war froh, dass er das fragte, denn ich wusste auch nicht, was Arolsen ist. Doch Papa schwieg, und Oma schwieg auch.

Mama versuchte, die Stimmung zu retten, und erklärte ganz freundlich: „Nun ja, Arolsen ist eine Suchstelle für alle im Krieg verloren gegangenen Menschen – und Oma hat ihre kleine Schwester Betty im Krieg verloren, deshalb hat sie nach ihr gesucht.“

Papa hörte gar nicht hin, was Mama sagte, und fragte Oma noch einmal wegen Frankfurt, und ob sie sich das nicht doch noch überlegen wollte. Er setzte sie richtig unter Druck. Und das alles nur wegen mir und meiner Bat Mitzwa! Ich fühlte mich plötzlich so schrecklich und gemein! Wie ein Monster, das ganz viel will und Oma nicht schützen konnte vor Papa. Der polterte immer weiter: „Du weißt schon, Mutter, dass du nie wieder eine Bat Mitzwa erleben wirst, nie wieder!“