Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

Text copyright © Cas Lester 2017

Illustrations copyright © Kate Forrester 2017

Originally published in the English language as

Do You Speak Chocolate? by Piccadilly Press, an imprint of Bonnier Zaffre, London.

Die Originalausgabe erschien 2017 bei Piccadilly Press, einem Imprint von Bonnier Zaffre, London.

The moral rights of the author and illustrator have been asserted.

© 2018 arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Cas Lester

Übersetzung: Christine Spindler

© Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung einer Illustration von Kate Forrester

ISBN eBook 978-3-8458-2924-1

ISBN Printausgabe 978-3-8458-2735-3

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In Liebe für meine Freunde –

danke für alles!

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Röcke!

Englisch

Nadima

Sprichst du Schokolade?

Schreibst du mir?

Melodrama!

Fattusch

Der Elternbrief

Einladung

Emojis

Kurdî

So ein Theater!

Genial!

Pizza

Nadimas Heimat

Shoppen bis zum Umfallen

Zelten

Eine Überdosis Mathe

Nadimas Familie

Spas Dikum

Türkische Köstlichkeit

Im Kino

Lokum

Die totale Katastrophe

Nachsitzen

Ärger

Abgetaucht

Es tut mir leid

Alles geklärt!

Beste Freundinnen

Kronjuwelen

Familien

»G« wie »gestorben«

Ausraster

Wütend

Einfach dumm!

Charity Challenge Week

Schoko-Lokum

Sonderlieferung

Gut gemeint

Wieder abgetaucht

Tränen

Kara

Lily

Pyjamaparty

Heimat

BFF auf Kurdisch

Inspiriert!

Nadimas Geschichte

Freundinnen

Happy Eid!

Unsere Rezepte

Weitere Titel

Leseprobe zu "Der lange Weg zum Wasser"

Röcke!

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich Nadima kennenlernte. Das war nämlich der Tag, an dem ich meine drei großen Brüder dazu brachte, Röcke in die Schule anzuziehen. Ob du’s glaubst oder nicht.

Es war Sommer und es herrschte eine Affenhitze. Wir schwitzten alle erbärmlich in unseren langen, schwarzen Hosen. Ich setzte eine Petition auf, dass wir Shorts tragen durften. Mein Ziel war es, sie von allen Schülern unterzeichnen zu lassen.

Um den Ball ins Rollen zu bringen, wollte ich am nächsten Tag meine kurze Sporthose in die Schule anziehen, also fragte ich meine Freundin Lily, ob sie mitmachen würde. Sie sagte Ja. Dann erzählte sie es ihrer Freundin Kara, und Kara riet ihr, es lieber bleiben zu lassen, weil sie nur Ärger bekommen würde. Am Abend davor schrieb Lily mir sozusagen in allerletzter Minute:

Tut mir leid, Josie, ich werde morgen keine Shorts anziehen. Lil.

Was sollte das denn? Also wirklich, Lil. Es sah ihr gar nicht ähnlich, mich so hängen zu lassen, aber ich hätte mir ja denken können, dass Kara mal wieder aufdringlich ihre Nase in unsere Angelegenheiten steckte.

Und dann hatte ich den genialen Einfall, meine Brüder dazu zu bringen, Röcke zu tragen.

Sie dachten, das würde ein herrlicher Spaß werden. Ich auch. Ich hielt es für eine prima Idee – jedenfalls zu dem Zeitpunkt.

Als wir am nächsten Morgen vor der Schule aus Mums Auto stiegen, zeigten alle lachend auf uns. Ich muss zugeben, dass meine Brüder zum Brüllen aussahen. Miniröcke sind nicht gerade ihr bestes Modestatement. Keiner von ihnen hat dafür die passenden Beine. Und auch keine geeigneten Schuhe.

»Ich sterbe auf der Stelle vor Scham«, stöhnte Dan und zupfte an seinem Rock.

»Ich ziehe mich noch vor dem Unterricht auf dem Klo um«, verkündete Nick.

Nick ist eigentlich der jüngste meiner großen Brüder, doch er wird die anderen bald überragen. Er geht erst in die neunte Klasse, aber er ist schon so groß wie Dan, der zwei Klassen über ihm ist. Matt ist mein ältester Bruder und geht in die zwölfte Klasse. Er blieb auf dem Parkplatz stehen, warf mir einen finsteren Blick zu und murmelte: »Ich sehe lächerlich aus.«

Das stimmte. Er ist fast einen Meter neunzig groß und seine Boxershorts blitzten unter dem Rock hervor.

»Sei kein Weichei, Big Bro.« Lachend schlug ich ihm auf den Rücken. Dann marschierten wir zum Eingang – wo wir direkt in die Rektorin hineinliefen.

Mrs C begann sofort, uns zu ermahnen, weil wir »nicht die Schuluniform« trugen.

»Und ob!«, widersprach ich. »Ich trage meine Sporthose und meine Brüder die Uniformröcke.«

»Die Schuluniform für Jungs sieht keine Röcke vor«, belehrte sie mich.

»Steht denn tatsächlich irgendwo geschrieben, dass die Jungs keine Röcke tragen dürfen?«, fragte ich herausfordernd.

»Ähm, nein«, lenkte sie ein. »Nicht direkt.«

»Sehen Sie!«, gab ich zurück.

Sie sah mich über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Josephine Watson, du gehst erst in die siebte Klasse, und ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft du bereits die Hausregeln missachtet hast. Versuchst du etwa, ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen?«

»Nein, Miss. Außerdem missachte ich nur die blöden Regeln.«

Mrs C hob eine Augenbraue. Matt stupste mich an und Nick trat mir auf den Fuß.

»Mach nur so weiter, dann wirst du heute nachsitzen«, drohte Mrs C.

Meine Brüder sogen hörbar die Luft ein.

»Ist das Ihr Ernst, Miss?«, erkundigte ich mich.

»Allerdings«, erwiderte sie. Dann befahl sie uns, Schuluniformen aus der Fundsachen-Kiste anzuziehen. Für mich gab es darin nur eine schmuddelige Hose, die mir fünfzehn Zentimeter zu kurz war. Sie war grässlich, stank noch schlimmer und ich sah darin total bescheuert aus.

Als ich ins Klassenzimmer kam, kriegte Kara sich vor Lachen schier nicht mehr ein.

»Was hast du denn an?«

Daraufhin starrten natürlich alle sofort in meine Richtung.

»Ein Ballkleid«, erwiderte ich sarkastisch. Alle kicherten darüber, außer Kara.

»Aber ich dachte, du würdest deine Shorts anziehen«, sagte sie und sah dabei möglichst unschuldig drein.

»Die hatte ich auch an, aber Mrs C bestand darauf, dass ich mich umziehe.«

Kara wandte sich an Lily. »Ich habe dir gleich gesagt, dass sie Ärger bekommen wird.«

Lily schnitt eine Grimasse. Die beiden saßen mit Chloe und Elly auf ihrem Tisch.

»Von wegen, ich habe überhaupt keinen Ärger bekommen«, sagte ich, was ja auch beinahe stimmte.

(Ich erwähnte nicht, dass Mrs C mir mit Nachsitzen gedroht hatte. Das war mir sowieso egal. Hier ging es um eine gute Sache.)

Ich glitt auf meinen Platz am Tisch daneben und stellte meine Tasche auf den Boden. »Wenn ihr es genau wissen wollt, hat Mrs C mich gefragt, ob ich versuche, ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen.«

»Echt?«, keuchte Chloe. »Das wäre supercool!« Chloe glaubt alles, was man ihr erzählt.

»Wieso hast du eigentlich Shorts getragen?«, wollte Elly wissen.

»Sie hat eine Petition aufgesetzt, dass wir alle unsere Shorts tragen dürfen«, erklärte Lily.

»Cool«, sagte Ryan. »Die würde ich unterschreiben.«

Liam nickte. »Ich auch.«

Ryan und Liam sind die Klassenclowns und sitzen am selben Tisch wie ich. Wir haben eine Menge Spaß zusammen. Ich holte die Petition heraus und sie unterschrieben sie. Wow, dachte ich, schon zwei Unterschriften.

»Eigentlich hatte ich nicht vor, als Einzige Shorts zu tragen«, sagte ich und sah Lily dabei direkt an.

Ihre Miene verdüsterte sich, was mir recht war.

»Setz Lily nicht so zu«, fuhr Kara mich an. »Du darfst nicht erwarten, dass alle nach deiner Pfeife tanzen.«

Sie hatte es gerade nötig! Das wollte ich ihr sagen, doch in dem Moment kam unsere Klassenlehrerin Mrs W herein.

Während sie die Anwesenheitsliste durchging, flüsterte Kara fast die ganze Zeit auf Lily ein und warf mir dabei kleine, stichelnde Blicke zu, also redete sie vermutlich über mich. Na toll.

Englisch

Anschließend hatten wir eine Doppelstunde Englisch. Ich hasse Englischstunden, und Doppelstunden hasse ich gleich doppelt so sehr.

Mum meint, ich solle den Englischunterricht als Herausforderung betrachten, »die ich meistern kann, da ich die Fähigkeit habe, großartig allen Widrigkeiten des Lebens zu trotzen.«

Ich würde den Englischunterricht gern als Herausforderung betrachten, »die ich meistern kann, da ich die Fähigkeit habe, großartig allen Widrigkeiten des Lebens zu trotzen«, wenn mein Lehrer nicht so ein totaler geistiger Tiefflieger wäre. Mr J scheint es für pädagogisch wertvoll zu halten, seine Schüler vor Demütigung eines langsamen Todes sterben zu lassen.

Wenn etwas laut vorgelesen werden soll, wählt er immer eins der Kinder mit Legasthenie aus, damit es sich vor der ganzen Klasse blamiert. Vorzugsweise trifft es mich. Warum?! WARUM?! Ich bin grässlich legasthenisch. Dabei wimmelt es in meiner Klasse von Kindern, die ganz scharf darauf sind, laut vorzulesen. Zum Beispiel die ganzen Kids mit Theaterambitionen (von denen Kara eins ist). Wieso nimmt er ausgerechnet mich dran?

Oder er stellt der ganzen Klasse eine Frage und will, dass ich sie beantworte, obwohl ich mich nicht mal gemeldet habe. Wieso nimmt er nicht eins der Kids dran, die wie wild mit den Händen wedeln und ganz offensichtlich die richtige Antwort kennen? Was bringt es denn, jemanden zu fragen, der ganz klar keinen blassen Schimmer hat?

Für mich steht fest, dass der Typ ein Knallkopf ist.

Ich hockte da und wappnete mich für den üblichen Tiefschlag, während Mr J unsere Hausaufgaben zurückgab. Ich klappte mein Heft auf. Wie üblich, war der halbe Text grellrot durchgestrichen, unterkringelt und mit traurigen Smileys gepflastert.

Lehrern sollte die Verwendung von Emojis untersagt werden. Es ist megapeinlich, wenn sie versuchen, hip zu sein. Obendrein hat er ans Ende der Seite riesengroß geschrieben: »Überprüfe deine Rechtschreibung.« Wie soll ich denn meine Rechtschreibung überprüfen, wenn ich von vornherein nicht weiß, wie etwas geschrieben wird?

Sagte ich schon, dass der Typ ein Honk ist?

Egal, was kümmert mich die blöde Rechtschreibung?

Erstens haben alle Computer eine Rechtschreibprüfung.

Zweitens ist die englische Rechtschreibung sowieso komplett BEKNACKT. Man kann ein Wort auf drei unterschiedliche Weisen schreiben, die Aussprache ist immer dieselbe. Das ist doch gaga!

Drittens kann ein falsch geschriebenes Wort auch nützlich sein. Ich weiß nämlich, wie der Süßstoff erfunden wurde. Nach einem wissenschaftlichen Experiment notierte jemand »taste the results« anstatt »test the results«, also man solle das Ergebnis probieren, nicht testen! Wenn derjenige sich damals nicht verschrieben hätte, wäre die geniale Erfindung unentdeckt geblieben und es gäbe heute keine Diätcola.

Mr J war bereits dabei, Arbeitsblätter zu verteilen. »Heute arbeiten wir an etwas, das man Erörterung nennt. Wenn ein Text überzeugen soll, sollte er mindestens drei gute Argumente ins Feld führen«, ließ er uns wissen.

Wieso drei?, dachte ich. Würde ein einziges, richtig gutes Argument nicht genügen? Und von wem stammt diese Regel überhaupt?

Mr J redete immer noch. »Ich möchte, dass ihr drei Gründe dafür findet, wieso es euch gestattet sein sollte, selbst über eure Schlafenszeit zu entscheiden. Listet die drei Gründe auf und schreibt darunter eine kurze Zusammenfassung eurer Argumente.«

Ich hatte Mühe, ihm zu folgen. Das lag zum Teil daran, dass ich mich damit schwertue, mehrere Anweisungen gleichzeitig zu verarbeiten, zum größten Teil aber daran, dass ich in Gedanken woanders war. Ich machte mir Sorgen, weil ich vorhin zu Lily gemein gewesen war.

Sobald Mr J mir den Rücken zudrehte, riss ich die Ecke eines Blatts von meinem Arbeitsheft ab und schrieb ihr.

Lil tut mia laid Josie

Ich beugte mich nach vorn, um ihr das Papier zu geben, aber als sie gerade danach griff, sah Mr J in meine Richtung.

»Josie Watson!«, fuhr er mich an. »Mach dich an die Arbeit! Du hast es von allen Kindern in der Klasse am nötigsten, dich in Englisch mehr anzustrengen. Und hör damit auf, andere abzulenken, die …« Er war drauf und dran, uns einen Vortrag darüber zu halten, wie wichtig Englisch für die Zukunft jedes Einzelnen von uns ist (gähn), da ging die Tür zum Klassenzimmer auf und Mrs C rettete uns.

Sie hatte ein Mädchen dabei, das unsere Schuluniform und ein dazu passendes blaues Kopftuch trug.

Nadima

»Guten Morgen, 7R«, sagte Mrs C. »Das ist Nadima. Sie ist noch nicht lange in Großbritannien und spricht nur sehr wenig Englisch. Aber ich weiß, dass ihr euch gut um sie kümmern und sie willkommen heißen werdet.«

Sie nickte Mr J zu und ging. Dabei zog sie die Tür so fest hinter sich zu, als hätte sie Angst, das Mädchen könnte weglaufen wollen. Das wäre ihr nicht zu verdenken gewesen, denn alle starrten sie an. Zum Fürchten, oder? Man hätte meinen können, sie sei eine Außerirdische. Und das nur, weil sie neu in der Klasse war. Aber sie stand an der Tür und starrte tapfer, ja geradezu mutig zurück.

Als ihr Blick auf mich fiel, schenkte ich ihr zur Begrüßung ein breites Lächeln. Es war toll, wie ihr ganzes Gesicht daraufhin strahlte, als sie zurückgrinste. Da der Platz neben mir frei war, klatschte ich mit der Hand drauf und gestikulierte in ihre Richtung. Sie kam zu mir, glitt auf den Stuhl und grinste mich dabei immer noch strahlend an.

»Hi, ich bin Josie«, sagte ich.

Sie antwortete: »Ich bin Nadima. Hallo.« Aber sie hatte einen sehr starken Akzent, darum klang es eher so: »Ichch binn Nadieeema. Hhhall-o.«

Etwas war total seltsam. Obwohl ich sie nicht kannte und nicht wusste, wie sie war, konnte ich nicht anders, als sie augenblicklich ins Herz zu schließen. Ich glaube, es gefiel mir, dass sie so forsch war. Sie wirkte wie jemand, der sich nichts gefallen ließ.

Ich fand es schön, dass zur Abwechslung jemand neben mir saß. In diesem Schuljahr war der Platz neben mir in fast jedem Fach leer geblieben. Lily war meine beste Freundin in der Grundschule gewesen und hatte dort immer neben mir gesessen. Aber im letzten Schuljahr hatte sie angefangen, neben Kara zu sitzen. Versteht mich nicht falsch, Lily und ich sind immer noch Freundinnen, und ich habe auch noch eine Menge anderer Freundinnen, wie Chloe und Elly.

Wir sind alle eine große Clique, darum sollte alles prima sein, und das wäre es auch, wenn Kara und ich uns nicht auf den ersten Blick gehasst hätten, im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schwer es ist, mit jemandem befreundet zu sein, der mit jemandem befreundet ist, der euch nicht leiden kann.

Jedenfalls kam Mr J zu uns herüber und reichte Nadima das Arbeitsblatt über das Schlafenszeit-Thema. Und dann sagte er, ich solle ihr helfen.

Ich?!??*!*!

Ernsthaft?!

Ich bin vermutlich der letzte Mensch auf Erden, der irgendjemandem in Englisch helfen kann.

Aber ich tat mein Bestes und versuchte, ihr langsam und deutlich zu erklären, worin unsere Aufgabe bestand. Nadima nickte höflich. Ich glaube allerdings, dass sie kein einziges Wort verstand. Doch das schien sie gar nicht zu stören. Vielleicht war sie daran gewöhnt.

Als der Pausengong ertönte, sah sie mich nur schulterzuckend an und grinste breit, während wir unsere Sachen zusammenpackten.

»Ihr könnt eure Erörterung daheim fertig machen«, bellte Mr J, als alle aus dem Klassenzimmer strömten.

Daraufhin stöhnten alle genervt, außer Nadima natürlich.

Sprichst du
Schokolade?

Draußen auf den Stufen vor der Mensa versammelten sich alle um Nadima wie Haselnusskrokant auf einem Ferrero Rocher. Zum einen, um sie zu begrüßen, zum anderen, um nichts zu verpassen.

Kara legte sofort los.

»Hi! Ich bin Kara«, sagte sie, warf lässig ihre Haare zurück und zog alle Aufmerksamkeit auf sich. »Wo kommst du her?«

Nadima lächelte und zuckte bedauernd die Schultern.

»Ich denke nicht, dass sie dich versteht«, sagte ich.

Kara warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Was du nicht sagst«, meinte sie. Dann wiederholte sie die Frage langsamer und lauter. Lauter! So ein Blödsinn.

»Ich glaube nicht, dass sie taub ist«, bemerkte ich trocken.

Kara ignorierte mich und preschte weiter vor. »Sprichst … du … Englisch?«

Doch bevor Nadima überhaupt antworten konnte, sagte Chloe: »Seit wann lebst du in England?«

Elly fragte: »Woher kommst du?«

Und Lily wollte wissen: »Wo lebst du jetzt?«

Sie überhäuften sie förmlich mit Fragen. Es war bescheuert. Nadima lächelte und nickte nur. Aber sie wirkte allmählich ein bisschen verwirrt.

»Das reicht«, rief ich. »Lasst sie in Ruhe. Ihr merkt doch, dass sie kein Wort versteht.«

»Also, das ist einfach nur rassistisch! Zu denken, sie könne kein Englisch«, behauptete Kara.

»Nein, das ist es nicht!«, sagte ich wütend.

»Josie hat das nicht rassistisch gemeint«, sagte Lily ruhig.

»Mrs C hat uns gesagt, dass Nadima nur sehr wenig Englisch spricht«, erklärte ich.

Als ich ihren Namen nannte, schaute Nadima mich an. Plötzlich war es mir peinlich, dass wir alle über sie redeten, als wäre sie gar nicht anwesend.

Doch dann fingen Ryan und Liam an, wie Bekloppte herumzuhüpfen und aufeinander draufzuspringen, bis sie beide ins Gras kullerten. Dann rangelten sie miteinander. Es ging ihnen bestimmt darum, Nadimas Aufmerksamkeit zu erregen. Sie grinste und verdrehte die Augen.

»Wow, total erwachsen«, sagte ich zu den Jungs. Dann sah ich Nadima an und sagte: »Jungs, was?«

»Ja, Jungs, was?«, wiederholte sie im genau gleichen Tonfall, aber mit ihrem witzigen Akzent.

Alle lachten sich kringelig und Nadima lächelte mich an. Ryan und Liam lagen auf dem Boden und grinsten wie Vollpfosten.

»Wartet mal! Ich hatte gerade einen brillanten Einfall«, sagte Kara. Sie zog ihr Handy aus der hinteren Tasche ihrer Hose. »Wir können doch Google Translate verwenden.«

»Tolle Idee«, rief Lily und holte ebenfalls ihr Handy raus.

»Ja«, stimmten Chloe und Elly zu und griffen ebenfalls nach ihren Handys. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe. Ehrlich, ich und Google Translate? Ich finde es schon schwierig genug, etwas Englisches zu lesen.

Karas »brillanter Einfall« erwies sich als ziemlicher Reinfall. (Ich meine das nicht hämisch, ich erwähne es nur.) Die größte Schwachstelle bestand darin, dass wir gar nicht wussten, aus welchem Land Nadima stammte, und als wir sie danach fragten, verstand sie uns nicht.

»Wir fangen am Anfang der Liste an und arbeiten die Sprachen alphabetisch ab«, schlug Kara vor. Sie las die erste Sprache vor. »Afrikaans.«

»Wird das in Afrika gesprochen?«, fragte Chloe.

»Bestimmt.« Elly zuckte die Schultern.

Ich sah zu Lily hinüber und schlug schweigend die Hände vors Gesicht. Sie verkniff sich ein Kichern. Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen dem, was ich wegen der Shorts-Sache zu ihr gesagt hatte. Ich wollte mich entschuldigen. Aber das ging nicht, solange Kara und die anderen dabei waren.

Chloe scrollte sich durch die Sprachenliste auf ihrem Handy. »Du meine Güte, es gibt ja Hunderte!«

»Von den meisten habe ich noch nie gehört«, sagte Elly. »Was ist das für eine? Bangla?« Sie klickte darauf.

»Seht euch das an«, rief sie und zeigte uns das Display.

Jetzt waren alle damit beschäftigt, sich verschiedene Sprachen anzusehen. Zum Beispiel:

was Arabisch ist, und:

was Chinesisch ist, und:

was Japanisch ist.

Das war ja alles total faszinierend, aber es brachte nichts. Nadima schaute es sich nicht mal an. Sie stand nur da und sah verblüfft drein. Ich grinste sie an und zuckte komisch übertrieben die Schultern. Sie grinste und tat es mir nach.

Als Kara bewusst wurde, dass es unmöglich war, sich mit Nadima zu unterhalten, verlor sie das Interesse und ging. Natürlich mit Lily im Schlepptau.

Auch alle anderen verzogen sich nach und nach.

Kurz darauf war ich mit Nadima allein. Eine Ewigkeit lang starrten wir uns schweigend und verlegen an.

»Äh … Sprichst du Französisch?«, fragte ich. Nadima sah mich nur an. »Äh … Deutsch?«, probierte ich.

Sie runzelte die Stirn. Ich nahm das als Nein. Umso besser, denn ich spreche sowieso weder Französisch noch Deutsch.

Wieder entstand eine lange, noch peinlichere Stille. Dann hatte ich einen grandiosen Einfall, wenn ich das so sagen darf. Ich griff in meine Tasche, holte eine Schokoladentafel heraus, brach ein Stück davon ab und bot es Nadima an.

»Sprichst du Schokolade?«, fragte ich.

Und wieder schien ihr Gesicht regelrecht aufzuleuchten und sie bekam einen lebhaften Blick. Sie nahm die Schokolade, aber bevor sie diese in den Mund steckte, wühlte sie in ihrer Schultasche herum und reichte mir etwas, das in Alufolie gewickelt war. Ich schälte die Folie ab, und etwas, das wie die türkische Süßigkeit Lokum aussah, kam zum Vorschein.

Es war ein sehr großes Stück eingedickter Sirup, in Puderzucker gewendet. Ich war eigentlich noch nie besonders scharf auf Lokum, um ehrlich zu sein. Es ist mir zu klebrig und zu zäh. Aber ich aß es, um sie nicht zu beleidigen. Und was soll ich sagen: Es war köstlich. Es war überhaupt nicht wie das Zeug, das man im Laden kaufen kann. Es war viel weicher und blieb nicht an den Zähnen kleben, sondern schmolz förmlich im Mund. Superlecker!

Da standen wir und futterten die Süßigkeiten, die wir uns gegenseitig geschenkt hatten, und in diesem Moment wusste ich, dass wir Freundinnen werden würden, auch wenn keine von uns ein Wort von dem verstand, was die andere sagte.

Keine Ahnung, woher ich das wusste. Ich kann es nicht erklären. Aber ich wusste es einfach.

Schreibst du mir?

Ich hatte den ganzen Tag keine Gelegenheit, mich bei Lily zu entschuldigen. Darum schrieb ich ihr sofort, als ich nach der Schule wieder zu Hause war.

Tut mia laid das ich fihs zu dia war.

Schreibs du mia?

Die Autokorrektur zauberte daraus:

Tut mir leid, dass ich fies zu dir war.

Schreibst du mir?

Ich wartete eine Weile, aber es kam keine Antwort. Lil ist eigentlich nicht der Typ, der einem lange grollt. (Im Gegensatz zu anderen Leuten. Ich nenne keine Namen, aber ihr könnt es euch sowieso denken.) Wenn sie nicht mit mir reden wollte, musste ich sie ernsthaft verärgert haben. Ich beschloss, sie später anzurufen, falls sie mir nicht schrieb.

Donnerstags bin ich immer damit dran, das Abendessen zu kochen. Ich warf eine Packung Nudeln in kochendes Wasser, öffnete drei Dosen Thunfisch und rieb bergeweise Käse. Ihr glaubt gar nicht, wie viel meine Brüder verputzen können. Das kommt daher, dass sie so viel Sport treiben. Ich vermischte alle Zutaten zu einem Thunfisch-Nudelauflauf und schob ihn in den Ofen. Dann checkte ich wieder mein Handy. Immer noch keine Antwort von Lily.

Die Donnerstagabende sind übrigens die besten der ganzen Woche. Nick hat Fußballtraining, Dan spielt Rugby und Matt geht zum Karate (wie übrigens so ziemlich jeden Abend). Meine Brüder sind alle unfassbar sportlich und der Spiegel im Flur ist fast komplett mit ihren Medaillen zugehängt. Ich war sechs Jahre alt, als ich das letzte Mal eine Medaille gewonnen habe, und zwar zusammen mit Lily beim Dreibeinlauf. Aber Mum hebt sie alle auf. Eines Tages wird das Gewicht der ganzen großartigen sportlichen Erfolge dieser Familie den Spiegel von der Wand reißen.

(Lach!)

Donnerstags kommen meine Brüder also schnell hereingerauscht, schnappen sich ihre Sportsachen und flitzen schon wieder davon. Zwei Stunden später holt Mum sie ab, wenn sie von der Arbeit heimfährt.

Und so bin ich ganz allein zu Hause – allein mit dem Computer! Matt ist der Einzige von uns, der einen eigenen Laptop hat, darum muss ich mich immer mit Nick und Dan um den Laptop in der Küche rangeln. Mum hat mir versprochen, dass ich einen eigenen bekomme – wenn ich in die zwölfte Klasse komme. Also erst in fünf Jahren! So lange kann ich nicht warten, denn ich gründe gerade ein Unternehmen. Ich setzte mich an den Rechner und öffnete die Website, die ich gestaltete.

Wusstet ihr, dass unheimlich viele erfolgreiche Unternehmer Legastheniker sind? Da wären zum Beispiel Lord Alan Sugar (bekannt aus der amerikanischen Sendung The Apprentice) und die Gründerin der Kosmetikkette The Body Shop. Außerdem Richard Branson und Jamie Oliver … und der Typ, der auf die Idee mit den IKEA-Möbelhäusern kam. (Ich weiß nicht, wie er heißt, und wenn ich es wüsste, könnte ich seinen Namen vermutlich nicht buchstabieren.) Ich bin wild entschlossen, selbst eine von ihnen zu werden.

Ich habe alle möglichen Geschäftsideen ausprobiert. Letzten Sommer habe ich vor unserem Haus selbst gebackene Cupcakes und Limonade verkauft, was ziemlich gut lief. Dann habe ich versucht, meine Brüder als Babysitter und Autowäscher zu vermieten, was total danebenging. Das kam zum Teil daher, dass sie nicht begeistert davon waren, mir mein Honorar in Höhe von zehn Prozent ihrer Einnahmen auszuhändigen. Aber größtenteils lag es daran, dass sie nicht viel davon hielten, überhaupt arbeiten zu müssen.

Ich habe eine Menge Ideen. Meine beste im Moment ist eine Website für Kinder, auf der sie ihre alten Spiele und Klamotten verscherbeln können. Mit dem Geld können sie dann neue Sachen kaufen, weshalb (und das ist ein Geniestreich!) die ganzen Spiele- und Klamottenläden ganz scharf darauf sein werden, auf meiner Seite Werbung zu platzieren. Damit verdiene ich dann mein Geld. Clever, was?

Aber ohne einen eigenen Rechner kann ich kein erfolgreiches Unternehmen leiten.

Ich arbeite daran.

Ich checkte erneut mein Handy. Immer noch keine Antwort von Lily. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass Kara ihr befohlen hatte, mich zu ignorieren. Also versuchte ich, sie anzurufen, aber Lil ging nicht ran. In dem Moment hörte ich Mums Schlüssel in der Haustür und kurz darauf kamen meine Brüder wie eine Herde hungriger Elefanten in die Küche getrampelt.

»Hm, das riecht gut«, sagte Mum, die hinter ihnen in die Küche kam und mich umarmte.

»Her mit dem ESSEN!«, schrie Nick, schob sich an mir vorbei und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

»Was gibt es zum Abendessen?«, wollte Matt wissen und stieg über Nick, um zu seinem Stuhl zu gelangen.

»Nudelauflauf mit Thunfisch«, verkündete ich.

»Bitte sag, dass du keine Erbsen hineingetan hast«, bettelte Dan, der sich unter dem Tisch hindurchduckte, um an seinen Platz zu kommen.

»Ich habe Erbsen hineingetan«, sagte ich vergnügt und stellte die Auflaufform auf den Tisch.

»Ach nöööööö!«, stöhnte Dan, der auf der anderen Seite des Tisches auftauchte.

»Reiß dich zusammen und iss dein Gemüse.« Ich grinste.

Mum saß ruhig auf ihrem Platz und ignorierte das Chaos um sich herum.

»Es sieht großartig aus, Schatz. Danke«, sagte sie und verteilte mit dem Servierlöffel den Nudelauflauf.

Er war übrigens sehr lecker, wenn ich das so sagen darf.

»Und, hattet ihr alle einen schönen Schultag?«, erkundigte sich Mum, während wir zulangten.

»Perfekt«, erwiderte Matt und warf mir einen finsteren Blick zu. »Die Röcke waren der absolute Hit«, sagte er ausdruckslos.

»Ah«, meinte Mum.

»Ja, ich hatte besonders viel Spaß daran, von Mrs C angepflaumt zu werden«, sagte Dan.

»Ganz zu schweigen davon, dass wir den ganzen Tag in irgendwelchen widerlichen Klamotten von jemand anderem herumlaufen durften«, stöhnte Nick.

»Ja, danke, Schwesterchen«, sagte Dan.

»Ich kann nichts dafür«, verteidigte ich mich. »Woher hätte ich ahnen können, dass Mrs C uns zwingt, die Fundsachenkiste zu durchwühlen.«

»Ich bin sicher, dass mich etwas gebissen hat.« Nick schüttelte sich und kratzte sich wie verrückt die Beine.

Mum schnitt eine Grimasse. »Also ein rundum mieser Tag, ja?«

»Nicht ganz«, sagte ich und erzählte ihr von Nadima.

»Woher stammt sie?«, wollte Matt wissen.

»Keine Ahnung. Ich kann sie nicht fragen, weil sie zu wenig Englisch versteht.«

»Das muss schwer sein«, sagte Mum, »wenn man den ganzen Tag von Menschen umgeben ist, deren Sprache man nicht spricht.«

»Also etwa so, wie mit den Mädchen in meiner Klasse abzuhängen«, sagte Dan.

»Und vermutlich ist es auch ein wenig furchteinflößend«, fuhr Mum fort.

»Ich sag’s ja, etwa so, wie mit den Mädchen in meiner Klasse abzuhängen«, sagte Dan. Matt grinste ihn an.

»Ich hoffe, dass alle nett zu ihr sind«, sagte Mum. »Damit sie das Gefühl hat, willkommen zu sein, und sich leichter integriert.«

Ich dachte daran, wie Kara versucht hatte, Google Translate zu verwenden. Aber dann fiel mir ein, wie alle sich verzogen hatten, nachdem ihnen klar geworden war, dass sie mit Nadima gar nicht reden konnten. Das fand ich im Nachhinein ein bisschen gemein.

»Sie ist total wild darauf, Englisch zu lernen«, sagte ich. »Sie hat ständig auf Sachen gezeigt wie die Treppe und eine Bank und hat gefragt: ›Was ist bitte?‹ Also habe ich ihr den ganzen Tag die Bezeichnungen für Dinge genannt. Ich kam mir vor wie ein wandelndes Wörterbuch.«

»Komm aber nicht auf die Idee, ihr zu zeigen, wie man etwas schreibt«, meinte Nick.

»Ha, ha, sehr witzig«, sagte ich.

»Nick, das ist nicht lustig.« Mum warf ihm einen warnenden Blick zu.

Nick grinste mich an, aber ich ignorierte ihn. Es stört mich nicht, wenn man mich wegen meiner Rechtschreibschwäche aufzieht, aber manchmal bin ich einfach nicht in der richtigen Stimmung dafür. Ich war sauer, weil meine Shorts-Aktion ein totaler Reinfall gewesen war, außerdem wartete ich sehnsüchtig darauf, dass Lily endlich schrieb.

Falls sie nicht mehr mit mir redete, dann würde morgen ein echt blöder Tag werden.

Melodrama!