Über Stef Penney

Stef Penney wuchs in Edinburgh auf. Sie studierte Philosophie, Theologie und Filmwissenschaften, schrieb mehrere Drehbücher und arbeitete als Regisseurin. Ihr Debüt „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ wurde mit einem der wichtigsten Literaturpreise Englands (Costa Book of the Year) ausgezeichnet, „Im Licht des Polarsterns“ ist ebenfalls für diesen Preis nominiert.
Mehr Informationen zur Autorin unter www.stefpenney.com.

Marie Rahn studierte an der Universität Düsseldorf Literaturübersetzen. Sie übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, u.a. Lee Child, Aldo Busi, Kristin Hannah, Silvia Day und Sara Gruen.

Informationen zum Buch

Eine große Liebe im ewigen Eis.

1889: Als Flora mit zwölf das erste Mal die Arktis sieht, ist sie fasziniert. Seither ist es ihr größter Wunsch, Polarforscherin zu werden. Doch in dieser Männerwelt Fuß zu fassen scheint unmöglich. Jahrelang muss sie um Anerkennung kämpfen, dann führt sie der Zufall auf ein Expeditionsschiff, und ihr Traum wird Wirklichkeit. Hoch oben im ewigen Eis lernt sie Jakob kennen, Mitglied einer konkurrierenden Forschungsgruppe. Allen Widrigkeiten zum Trotz verlieben sie sich. Aber darf diese Liebe Bestand haben, nach allem, wofür Flora ihr Leben lang gekämpft hat?

»Atemberaubend und einzigartig.« The Observer

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Stef Penney

Im Licht des
Polarsterns

Roman

Aus dem Englischen von Marie Rahn

Inhaltsübersicht

Über Stef Penney

Informationen zum Buch

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Prolog

Teil Eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil Zwei Vega im Sternbild Lyra

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil Drei Die Entstehung von Gletschereis

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil Vier Arcturus in Boötis

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Teil Fünf Polaris

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Teil Sechs Das festgewordene Meer

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Teil Sieben Thule

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Teil Acht Destruktive Interferenzen

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Teil Neun Thuban im Sternbild Draco

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Epilog

Ein Glossar von Wörtern der Inuit

Dank

Nachweise

Impressum

Für Mr. Van

Nordpol, 1893

6236-001.tif

Ihr seht Dinge und fragt: »Warum?« Aber ich träume Dinge, die niemals waren, und frage:
»Warum nicht?«

GEORGE BERNARD SHAW

Prolog

MCGUIRE AIR FORCE BASE,
NEW JERSEY, 40º0' N, 74º35' W

APRIL 1948

Das Flugzeug blitzt wie eine dicke, glänzende Aluminiumzigarre in der Sonne. In selbstbewusstem Aufwärtsschwung prangt das Wort Arcturus auf dem Rumpf. Ein Name, der extra für diese Reise angebracht wurde: Man hat die Bezeichnung eines Himmelsgestirns wohl passender gefunden als die nichtssagende Zahlenfolge, die vorher am Heck stand. Während des Krieges wurde der Flieger zum Transport von Bomben genutzt. Jetzt hat er eine deutlich friedlichere Fracht: zwar auch Soldaten der Air Force – hochdekoriert, mit grauen Haaren und müden Augen –, aber vor allem Wissenschaftler verschiedener Universitäten, ein Kamerateam von ABC und eine ganze Reihe Journalisten.

Die Filmcrew macht vor dem Flugzeug ein paar Aufnahmen von den Wissenschaftlern. Es wird noch ein Nachzügler erwartet, der Ehrengast: eine Britin fortgeschrittenen Alters, die einst, vor fünfzig Jahren, als Schnee-Königin bekannt war und mit ihren weißen Haaren und der aufrechten Haltung nichts von ihrer Ausstrahlung verloren hat.

Endlich sind alle bereit, ins Flugzeug zu steigen. Randall ist nervös – nicht so sehr wegen des Flugs, obwohl es sein erster ist, sondern weil er unbedingt einen Platz neben ihr ergattern will. Seit Monaten schon hat er sich auf dieses Treffen vorbereitet. Als er sich jetzt neben sie setzt, würdigt sie ihn keines Blickes, sondern starrt weiter aus dem Fenster. Ihm gegenüber sitzt ein Meeresforscher aus Harvard, hinter ihm ein Mann, über dessen Fachgebiet niemand etwas Genaueres zu wissen scheint und der sich jetzt in eine Autozeitschrift vertieft. Unter lautem Dröhnen startete das Flugzeug, er wird in den Sitz gepresst, seine Kopfhaut beginnt zu kribbeln. Als sich die Maschine zur Seite neigt, tauchen die Sonnenstrahlen ihre Gesichter in hellen Glanz. Randall fasst sich ein Herz, wendet sich seiner Nachbarin zu und versucht, über das Dröhnen der Motoren hinweg ihre Aufmerksamkeit zu erheischen.

»Ich habe Zeitungsartikel über Sie gelesen«, ruft er.

Mit gerunzelter Stirn blickt sie zu ihm hinüber.

»Zeitungsartikel! Über Sie!«, brüllt er.

Wieder Stirnrunzeln.

»So eine aufregende Zeit! Sie haben alle gekannt!«

»Wer sind Sie?«, fragt sie.

»Randall Crane … Crane! Hallo! Ich bin vom World Magazine mit einem Artikel betraut worden.«

»Der Journalist.«

Genauso gut hätte sie auch »Küchenschabe« sagen können. Sie wendet den Blick wieder ab und blickt aus dem Fenster, wo die Sonne auf ein weiches Feld weißer Wolken scheint.

»So schön, nicht wahr? Sieht so die Arktis aus?« Er lehnt sich näher zu ihr, eifrig, aber auch andächtig, fast atemlos angesichts des grellen Lichts und des leuchtenden Blaus des Himmels. Nach dem holprigen Start fühlt es sich jetzt so an, als bewegten sie sich gar nicht.

»Sie waren noch nie da.«

»Nein«, gibt er mit einem gewinnenden Lächeln zu. »Ich kann’s gar nicht erwarten. Hoffentlich stört es Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, dass ich einiges über Sie gelesen habe.« Trügt sein Eindruck oder neigt sie jetzt leicht ihren Kopf in seine Richtung? »Sie waren eine Berühmtheit! Eine Pionierin.«

»Nun. Ja.«

»Und die … diese Auseinandersetzung … ich fand es schon immer unglaublich spannend, was damals passiert ist. Wie stehen Sie eigentlich dazu?«

Wahrscheinlich sollte er es langsamer angehen, sich zügeln, aber er ist so begeistert, so voller Energie, dass es ihm einfach nicht gelingen will.

»Welche Auseinandersetzung?«

»Die zwischen Armitage und de Beyn … und dass niemand weiß, was mit ihnen geschah. Sie kannten sie doch, oder?«

»Du liebe Güte! Das ist alles schon so lange her. Und jetzt sind alle tot. Bis auf mich.« Ihr Ton ließ unmöglich erkennen, ob sie darüber Befriedigung oder Bedauern empfindet. »Das alles ist doch jetzt nicht mehr relevant.«

»Aber ist die Wahrheit denn nicht wichtig?« Hoffnungsvoll blickt er ihr in die Augen, doch sie weicht ihm aus.

»Niemand scheint zu wissen, was wirklich passiert ist. Daher würde ich gerne Ihre Meinung dazu hören.«

»Was wirklich passiert ist?« Sie lächelt, nicht zu ihm gewandt, sondern in sich hinein. »Sie schmeicheln mir, wenn Sie annehmen, ich wüsste die Wahrheit.«

»Ich würde zumindest gerne hören, was Sie darüber denken. Wollen Sie es mir verraten?«

»Es ist ziemlich laut hier.«

Die Snow Queen lehnt ihren Kopf an den Sitz, den Blick wieder aus dem Fenster gerichtet. Sie wirkt müde, aber für Randall mit seinen siebenundzwanzig Jahren wirkten alle alten Menschen müde. Sie musste mittlerweile siebenundsiebzig sein. Ihre Haare sind so weiß wie die Wolken draußen, ihre Augen dunkelgrau wie Kieselsteine. Sie hat sich dezent geschminkt, also ist ihr wichtig, was andere über sie denken. Das gibt ihm Hoffnung. Er hat ihre Bücher über den Norden gelesen und die Archive nach Berichten von Zeitgenossen durchforstet. Zeitungsartikel vom Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben sie als wunderschön, aussagekräftige Fotografien hat er nicht gefunden, auf den wenigen, die sie zeigen, ist sie winzig und verschwommen, meist in einer Gruppe vermummter, weißgesichtiger Menschen, die in die Kamera starrten. An Deck eines Schiffs. Auf einem Kai. Vor einem Hörsaal. Doch gab es auch eine Porträtaufnahme von ihr, die sie mit Anfang zwanzig zeigte: von einem Fotostudio als Schneekönigin vor der Kulisse einer Eislandschaft in Szene gesetzt, hoch aufgerichtet, mit rundem, weichem, von einer Pelzkapuze umrahmten Gesicht, den Blick auf einen fernen Horizont gerichtet. Mit einem dicken Haarzopf über der Schulter. In seinen Augen eher eindrucksvoll als schön. Wann immer Randall das Bild länger betrachtete, hatte er das Gefühl, etwas in ihren weit aufgerissenen Augen zu entdecken, nur was? Arroganz? Ambitionen? Angst? Es hätte fast jedes Gefühl in diese erstarrte Miene hineingedeutet werden können. Wie die meisten alten Porträts war es faszinierend und gab doch nur wenig preis. Jetzt hat sie die Augen geschlossen.

Randall blickt sich um. Einige Wissenschaftler dösen, andere lesen Zeitschriften, es wird noch Stunden dauern, bis sie ihr Ziel erreichen.

*

Flora Cochrane, sie hatte schon viele Nachnamen, aber dieser wird ihr bis zu ihrem Tod bleiben, schreckt aus dem Schlaf auf. Sie hat von Orten und Menschen geträumt, die ihr schon seit Jahrzehnten nicht mehr im Traum begegnet sind. Ihr Mund kribbelt noch von der Erinnerung an die Berührung warmer Lippen. Ein fast vergessenes Gefühl durchströmt sie. Einen Augenblick lang weiß sie nicht, wo sie sich befindet, ein infernalisches Dröhnen durchrüttelt ihr Gehirn, um sie herum ist es schmerzhaft hell; nach und nach verlässt sie das Wohlgefühl, und ihr fällt wieder ein, dass sie in einem Flugzeug sitzt. Als sie zur Seite schaut, sieht sie den absurd jungen Mann neben sich; ob sie womöglich im Schlaf geredet hat? Aber niemand schaut in ihre Richtung. Vermutlich hätte man es bei dem Lärm ohnehin nicht hören können.

»Wir befinden uns gerade im Landeanflug auf Neufundland.«

Er hat sich zu ihr gelehnt und brüllt ihr ins Ohr. Flora nickt kaum merklich, ohne ihn anzusehen, und hofft nur, er will nicht schon wieder ein Gespräch mit ihr anfangen. Sie würde gerne auf die Toilette gehen, weiß aber nicht mehr, ob es hier eine gibt. Obwohl sie von früher an Reisen in ausschließlich männlicher Gesellschaft gewöhnt ist, findet sie es immer noch mühsam, die einzige Frau zu sein.

Als sie durch eine Schicht Wolken sinken, buckelt und schaukelt das Flugzeug wie ein kleines Schiff auf rauer See. Sehr interessant, diese Form des Reisens. Innerhalb weniger Stunden haben sie über tausend Meilen zurückgelegt. Wie lange man früher dafür gebraucht hätte. Selbst mit dem Schiff und bei starkem Wind sicher Tage. Mittlerweile ist sie also schneller als der Wind. Ein Gedanke durchzuckt sie: Wie sehr er das geliebt hätte. Er hätte vor Freude gelacht …

»Was ist denn so lustig?«

Der junge Mann ist beharrlich. Aber seine Vertraulichkeit verärgert sie weniger, als sie gedacht hätte. Ein gewisser welpenhafter Charme umgibt ihn; vielleicht liegt das an seinen braunen Augen oder an seinen Haaren, die ihm trotz seiner Pomade in die Stirn fallen.

Mit einem Kopfschütteln zeigt sie auf ihre Ohren: Die Motoren dröhnen jetzt noch lauter. Er nickt, schenkt ihr sein Lächeln und wartet weiter auf seine Chance.

*

BASIS DER ROYAL CANADIAN AIR FORCE IN GANDER, NEUFUNDLAND, 48°57' N, 54°36' W

Sie sind an einem See in Neufundland, der wie ein gekrümmter Finger aussieht, gelandet. Die Airbase sieht zwar alles andere als luxuriös aus, wurde aber angeblich sowohl für Männer als auch für Frauen eingerichtet. Man hat sogar eigens für sie eine Frau abgestellt, die sie in ihr Quartier führt und ihr zeigt, wie man den wattierten Spezialanzug anzieht, den sie morgen tragen soll; er sieht aus, als wäre er für Riesenbabys oder Verrückte entworfen worden.

»Wie lange ist es her, seit Sie das letzte Mal da oben waren?«, fragt die Frau, die eine steifgesprühte Frisur und einen Lippenstiftfleck auf den Zähnen hat.

»Ach, hundert Jahre. Seit der letzten Eiszeit nicht mehr.« Sie lächelt, um zu zeigen, dass es witzig und nicht abschätzig gemeint war. Die Frau lacht, aber eher mechanisch, ohne belustigt zu sein. Auf Witze hat sich Flora noch nie besonders gut verstanden. Eine Weile, in ihren Zwanzigern, hat sie es versucht, dann aber aufgegeben.

»Ich war überrascht, dass ich gefragt wurde. Dass es niemand Wichtigeren gab.«

»Nicht aus dieser Ära. Sie haben alle überlebt«, erklärt die Frau lächelnd. »Glück für Sie.«

Verärgert runzelt Flora die Stirn.

»Wissen Sie«, fährt die Frau fort, »als ich jung war, habe ich alles über Sie und Ihre Expeditionen gelesen. Ich fand es sehr inspirierend, dass eine Frau das schon damals konnte.«

»Nun … leicht war es nicht. Aber es ist sicher auch heute nicht leicht.«

»Nein. Während des Kriegs lagen die Dinge ein bisschen anders, aber jetzt, seit die Männer zurück sind, sollen wir wieder aus dem Weg, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Mit einem lauten Ratsch zieht sie den Reißverschluss zu. »Danke. Ich glaube, jetzt komme ich allein zurecht.«

»In einer Stunde gibt es Abendessen. Bis dahin werden Sie sich wohl noch etwas ausruhen wollen. Wenn Sie was brauchen, rufen Sie mich bitte.«

Als die Frau die Tür hinter sich schließt, streckt Flora sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf dem Bett aus. Vielleicht kommt auch noch einmal der Traum aus dem Flugzeug wieder. Und anschließend könnte sie sich einen Cocktail genehmigen. Einen dieser süßen, tückischen Drinks, die sie in New York hatte.

Draußen dämmert es, die Wolken haben sich verzogen und die Luft ist vollkommen klar. Seit Jahren hat sie nicht mehr derart klare Luft erlebt, aber schließlich war sie auch seit Jahren nicht mehr so hoch im Norden. Durch das Fenster kann sie schwach die vertrauten Sterne aufgehen sehen. Da ist Arcturus, den die Eskimos den Alten Mann nennen, Uttuqualualuk. An die Namen der Menschen, denen sie heute begegnet ist, kann sie sich nicht erinnern, aber die Namen, die sie vor so langer Zeit gelernt hat, hat sie nie vergessen. Da, direkt über dem Horizont, ist die Alte Frau: Vega. Etwas weiter der Karibu, den man auch als Großen Bären kennt. Cassiopeia: der Leuchter. Und da taucht, schwach rötlich, der Stern mit dem makabren Namen Sikuliaqsuijuittuq auf: der Ermordete.

Sie steht auf, öffnet das Fenster, beugt sich hinaus und atmet tief die kühle Luft ein. Dann reckt sie den Kopf auf der Suche nach Draco, der sich um Polaris herum windet, und nach Thuban, den einstigen und zukünftigen Polarstern. Sie starrt in den Himmel, bis ihr die Augen tränen, doch offenbar ist es zu früh oder zu hell oder ihre Augen sind einfach zu müde, denn sie kann ihn nicht finden.

Seit sie wusste, dass sie hierhin zurückkehren würde, hat sie immer wieder an jene Zeit gedacht. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie, wie sich das Tal vor ihr ausbreitet: mausbraun, grün und grau; winzige Farbjuwelen; der See in atemberaubendem Blau. Onmogelijk Dal – das Unmögliche Tal – nannten sie es. Aber es war möglich, wenn auch nur kurz.

Vor nicht allzu langer Zeit erkrankte ihre alte Freundin Poppy, und Flora fuhr noch einmal zu ihr, um sie ein letztes Mal zu sehen. In ihrem Bett wirkte sie winzig, und sie redete völlig ruhig über ihren nahenden Tod. Sie glaubte an den Himmel der Christen. Sie war überzeugt, dort ihre Söhne wiederzutreffen, die im Krieg gefallen waren. Flora hatte zwar genickt, konnte sie in ihrem Glauben aber nicht unterstützen. Wie gern hätte sie an den Himmel geglaubt, doch das war ihr schon immer falsch vorgekommen; der Himmel war hier auf Erden. Das wusste sie, denn sie hatte es selbst erlebt.

Teil Eins

Eine gläserne Phiole mit GIFT,
ein Eisenhaken, ein Kupferpenny, ein rotes Band.
Ein Stift aus Bronze (krumm). Ein besticktes Taschentuch. Ein Stück Holz, geformt wie ein Wal.

Kapitel 1

AUF SEE, NORDATLANTIK

SOMMER 1883

Dies war eine Liste der Dinge, die Flora auf ihrer ersten Reise stahl. Es gab noch weitere, aber sie schrieb nur ihre Lieblingssachen auf. Jahrelang benutzte sie den Holzwal als Talisman: Er war aus hellem, feinporigem Holz, seidenglatt, Kopf, Flosse und Schwanz nur angedeutet. Augen und Blasloch waren mit einer heißen Ahle hineingebrannt worden. Er schmiegte sich wunderbar in ihre Hand. Sie wollte ihn haben, seit sie ihn das erste Mal in der Hand des Steuermanns gesehen hatte, und als sie ihn in einer der Speigatten, jenen Öffnungen an den Seiten der Reling, durch die das Wasser von Deck fließen konnte, fand, steckte sie ihn ohne jeden Skrupel ein. Der Wal befand sich auf dem Weg zurück ins Meer; also hatte sie alles Recht, ihn zu nehmen.

Flora Mackie war zwölf Jahre alt, als sie zum ersten Mal den nördlichen Polarkreis überquerte. Im November zuvor war ihre Mutter gestorben und ihr Vater hatte nicht gewusst, was er mit ihr, seinem einzigen Kind, anfangen sollte. William Mackie war der Kapitän eines Walfängers aus Dundee, Schottland. Flora kam mit ihrem Aussehen und den schroffen Umgangsformen nach ihm, von der Anmut ihrer Mutter hatte sie nichts geerbt. Elsa Mackie war eine hübsche Frau gewesen, die sich gern in ihrem guten Aussehen sonnte. Ihr Mann war zwar stolz auf sie gewesen, doch die Frau eines Kapitäns hatte in Dundee – nein, eigentlich überall – nur begrenzte Möglichkeiten, ihre Reize zur Schau zu stellen. Sie war entsetzt gewesen über den Prozess, Flora zu zeugen, kritisch, was das Ergebnis betraf, und bemängelte ständig die Unzulänglichkeiten ihrer Tochter, hauptsächlich ihre Wildheit und ihre dicke Taille. Noch bevor Flora sprechen konnte, entwickelte Mrs. Mackie ein nicht näher definiertes, hartnäckiges Leiden und überließ Floras Erziehung im Großen und Ganzen einem Kindermädchen namens Moira Adam, das zwar tüchtig war, aber hart wie dorischer Granit. In den letzten Wochen vor Mrs. Mackies Tod saßen der Kapitän, der von einer erfolgreichen Fangsaison aus dem Norden zurückgekehrt war, und seine Tochter gemeinsam im Vorderzimmer, während sich die Ärzte im Krankenzimmer die Klinke in die Hand gaben. Als Elsa Mackie starb, spürte ihr Mann weniger Trauer als Schuldgefühle: Wäre er zu Hause geblieben, anstatt sie manchmal bis zu zwei Jahre am Stück allein zu lassen, wäre sie vielleicht nicht gestorben, dachte er. Was, wenn mit Flora dasselbe passierte?

Andere Kapitäne nahmen ihre Frauen auch mit auf Walfang, sagte er zu sich, denn er war kein Mann, der offen mit anderen über seine Gedanken sprach, warum also sollte er nicht auch seine Tochter mitnehmen? Er war schon so oft in der Davisstraße, jener Meerenge zu Grönland, gewesen, dass sie ihm nicht mehr besonders gefährlich erschien. Und so stand sein Entschluss fest, sehr zum Argwohn der Leute, aber da er nur wenige Freunde in der Stadt hatte, erfuhr er nichts davon. Es hieß, er hätte sie lieber bei Verwandten unterbringen sollen. Oder in einem Internat, einem Heim oder Kloster. Aber Captain Mackie ahnte nicht, dass die Leute redeten, und wenn, wäre es ihm gleichgültig gewesen. Er hatte einen Großteil seines Lebens auf Schiffen verbracht, die letzten fünfzehn Jahre als Kapitän und absoluter Herrscher nach Gott; er war es gewohnt, seinen Willen durchzusetzen.

Und so setzten Flora und ihr Vater im April 1883 vom schottischen Dundee aus im Walfänger Vega die Segel. Etwas Gutes würde dabei nicht herauskommen, murmelten die Leute. Was sie damit meinten, wollten sie nicht sagen, aber sie war ein junges Mädchen auf einem Schiff voller Männer, die in ein Land aus Eis, in ein Meer aus Blut aufbrachen. Das hatte es noch nie gegeben – es war unmoralisch, wenn man so wollte. Und ganz entschieden falsch.

Captain Mackie zog einen großen Teil der Gewissheit, dass seiner Tochter nichts zustoßen würde, aus seinem Schiff. Die Vega war ein dampfbetriebener, 320 Tonnen schwerer Dreimaster aus der Werft Gourlay, dessen Bug und Laderäume mit sechs Zoll dicken Eichenplanken verstärkt worden waren. Vierundzwanzig Quadratzoll dicke Balken, jeder aus einem einzelnen Stamm gesägt, waren querschiffs verlegt worden, um den Rumpf gegen den Druck miteinander verschmelzender Eisschollen zu schützen.

Captain Mackie, der fast dreißig Jahre in den Gewässern um Grönland herum gesegelt war, hielt die Vega für das beste Schiff, das Dundee je hervorgebracht hatte. Er war nicht nur Kapitän, sondern auch Miteigentümer und besaß zehn Vierundsechzigstel der Vega, liebte allerdings alles von ihr mit Besitzerstolz und der Hingabe eines Kapitäns für ein Schiff, das ihn bisher immer wieder treu und tapfer nach Hause gebracht hatte. Er war überzeugt, dass Flora auf ihr kein Leid geschehen könne.

Die Vega war weder groß noch schön; Walschoner der Davisstraße waren im Allgemeinen klein, gedrungen und langsam, aber Flora fand sie einfach wunderbar: Sie liebte das dicklackierte Schandeck, über das sie kaum hinwegblicken konnte und das sich glatt und leicht klebrig anfühlte; sie liebte es, über das schimmernde, blankpolierte Messing der Reling zu streichen. Wenn niemand hinsah, setzte sie sich rittlings auf die riesigen Balken und konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwas sie brechen könnte. Sie liebte sogar den Geruch, dunkel und bitter nach Teer, Salz, Kohle und nach Tran, Blut und Tod.

Aber am meisten liebte sie den Namen des Schiffs. Alle anderen Segler, die sie kannte, waren nach Männern benannt, Dee, Ravenscraig und John Hammond, die Vega kam ihr dagegen vor wie eine furchtlose Verbündete aus Holz und Teer: die Schwester, die sie nie gehabt hatte. In der erbarmungslosen männlichen Welt des Nordens eine unverbrüchliche Gefährtin, die sie zu schätzen wusste.

Mit fünfzig Mann Besatzung und einem Mädchen war das Schiff voll. Oft war Flora allein in ihrer Kabine, wo sie lernen sollte, doch wirklich einsam war sie nie. Wo auch immer sie sich aufhielt, hörte sie wahre Symphonien menschlicher Geräusche. Durch die Holzwände bekam Flora viele Flüche mit. War ihr Vater in der Nähe, tat sie so, als hörte sie sie nicht – oder verstünde sie nicht, wenn sie unüberhörbar waren.

Ihr Vater gab sein Bestes, um ihr ein Zuhause zu bieten. Sie teilte mit ihm die winzige Kapitänskajüte, die in der Mitte durch eine Decke getrennt war, welche sich hin und her schieben ließ wie ein echter Vorhang. Sie hatte ein Bett, das mit einem Seil an einem Balken befestigt war, so dass es mehr oder weniger in der Horizontale blieb, während die Wellen das Schiff in alle Richtungen bewegten. Noch in der Crichton Street hatte sie alle möglichen Geschichten über Seeleute gehört, sie lauschte schamlos und ohne Scheu, wo es nur ging. Seemänner taten jungen Mädchen wohl irgendwelche aufregend schrecklichen Dinge an, doch auf der Vega behandelten sie sie freundlich und respektvoll. Nur für alle Fälle hatte sich Flora dennoch eine Waffe besorgt: ein Taschenmesser, das sie an einer Schnur um den Hals trug und unter ihrem Hemdchen versteckte. Im Grunde befürchtete sie aber nicht, dass ihr die Matrosen etwas antun würden; dafür waren alle zu freundlich und sie nicht attraktiv genug, mit ihrem runden, bleichen Gesicht und ihren kieselgrauen Augen. Schon früh hatte sie gelernt, dass es weibliche Wesen gab, die für ihre körperlichen Vorzüge gemocht wurden (wie ihre Mutter), die auf der Straße Blicke auf sich zogen, mit einem Lächeln und besonderer Aufmerksamkeit bedacht wurden, und andere, die unsichtbar waren wie Geister. Sie war es gewohnt, nicht gesehen zu werden. Dennoch war es gut, auf alles vorbereitet zu sein. Und in ihrer Phantasie konnte sie ja goldlockig und zerbrechlich sein, ein herzförmiges Gesicht und veilchenblaue Augen haben, wie die kleine Heldin in ihrem Lieblingsbuch Die arme Miss Caroline. Was tat es zur Sache, dass sie noch nie jemanden mit veilchenblauen Augen gesehen hatte (oder auch einem herzförmigen Gesicht)? Dann träumte sie davon, wie sie, stark und mutig, sich gegen alle Angriffe wehrte.

Captain Mackies Hauptsorge war, dass Flora weiterhin eine Ausbildung bekam. Am Ende ihrer Reise sollte sie die Bibel gelesen haben, am besten die Evangelien auswendig können, die Herrlichkeit von Gottes Schöpfung in Form der Welt um sie herum erfahren und vor allem eine Ahnung haben von der Geschichte der Menschheit. Er bestand darauf, dass sie ein Tagebuch führte, in dem sie auflistete, was sie gelesen hatte, damit er sehen konnte, dass sie es verstanden hatte. Extra zu diesem Zweck hatte er mehrere Notizbücher gekauft.

Flora starrte auf die Drucke von Pflanzen und Vögeln. Heute habe ich etwas über Sperlingsvögel gelernt, schrieb sie in ihr Heft mit dem Titel Was ich gelernt habe, von Flora Elsa Caird Mackie. Es gibt sehr viele Unterformen, zum Beispiel Amseln. Dies schien ihren Vater zufriedenzustellen. Sie arbeitete sich durch die Weltgeschichte für Kinder und wusste daher, dass die Geschichte bei den Ägyptern begann, dann kamen die Griechen und danach die Römer. Schließlich kam Jesus, nach dem alles irgendwie bergab ging. Sie fand die Weltgeschichte für Kinder zwar faszinierend, aber zu vage. Außerdem hatte sie den Eindruck, dass es immer langweiliger wurde, je mehr man sich der Gegenwart näherte. In ihrem eigenen Jahrhundert gab es längst keine Gladiatoren, mumifizierten Katzen und Schierlingsbecher mehr, sondern nur noch Monarchen, die sich aber nicht mal mehr gegenseitig ermorden wollten. Dazu die ständig wachsenden landwirtschaftlichen Erträge und die industrielle Spinnmaschine. Flora war enttäuscht. Sie sehnte sich danach, mehr zu erfahren: Wie genau brachten Gladiatoren einander um? Wie war es möglich, dass ein Pharao seine Schwester heiratete? Wie schmeckte Schierling, und wie lang dauerte es, bis man daran starb? (Musste man sich erbrechen, ersticken oder verbluten?) Zu diesen Fragen und anderen wirklich interessanten Themen jedoch schwieg die Weltgeschichte für Kinder.

Zwei Tage nachdem sie die schottische Insel Mainland umschifft hatten, nahm Flora ein weiteres Notizbuch hervor und zögerte eine Weile, bevor sie es aufschlug. Ihre Gedanken wanderten zu dem Stöhnen, das sie in der Nacht zuvor auf der anderen Seite des Schotts gehört hatte. Ihr Vater hatte leise schnarchend geschlafen. Ob der Mann nebenan krank war? Unbewusst spürte sie, dass etwas anderes dahinterstecken musste, und den Rest der Nacht konnte sie nicht schlafen.

Ohne etwas auf den Umschlag des Heftes zu schreiben, schlug sie es auf, blätterte bis zur letzten Seite vor und notierte etwas in winziger, vollkommen unleserlicher Schrift. An einem Ort, wo Privatsphäre und Alleinsein illusorisch bis unmöglich waren, hatte sie das Bedürfnis, etwas zu haben, was nur für ihre Augen bestimmt war. Als sie am Ende des Tages das Kapitel über Sperlingsvögel überflogen, ein Kapitel über die Griechen und einen Teil des Matthäusevangeliums gelesen hatte, nahm sie das titellose Tagebuch wieder hervor und schrieb: Ich mag keine Vögel. Sie haben kein Fell und gucken mich komisch an.

Die einzigen Vögel, die sie hier draußen zu Gesicht bekam, waren Möwen, die auf der Reling landeten und sie mit ihren Murmelaugen dreist anstarrten.

Die Offiziere der Vega, die Harpuniere, Steuermänner und Zahlmeister, kamen alle aus Dundee oder aus Orten des Fife County: Cellardyke, Pittenweem und St. Monance; die Ruderer dagegen stammten von den Orkney-Inseln. Von den fünfzig Mann an Bord hießen elf John und sieben Robert. Flora freundete sich mit dem jüngsten Robert an, einem Schiffsjungen aus Dundee, dessen Nachname Avas lautete. Robert war ein Jahr älter, aber mehrere Zentimeter kleiner als Flora. Mit seinem bleichen, spitzen Gesicht erinnerte er an die Kinder vom Fischmarkt, aber er strotzte vor guter Laune und grenzenloser Begeisterung. Von den Ägyptern hatte er zwar noch nie gehört, und er glaubte auch, Newcastle sei die Hauptstadt von London, aber gerade dieses Maß an Unwissenheit faszinierte Flora.

»Ich könnte dir lesen beibringen«, sagte sie, nachdem sie sich eine Woche kannten.

»Lesen? Wieso denn?«, fragte er grinsend.

»Weil …« Flora war sprachlos. »Damit du lesen kannst.«

»Was sollte ich denn lesen?«, fragte er, und in seiner Stimme schwang echte Neugier mit.

Sie zögerte und überlegte, was ihm wohl am besten gefallen würde. »Zum Beispiel … die Zeitung.«

»Ach, da steht doch nur Quatsch drin.«

»Dann Geschichten. Über Seefahrer …«

»Die erlebe ich doch selber.«

Wie eine Woge erhob sich über ihnen ein mächtiger Lärm, lautes, durchdringendes Grölen drang vom Bug: Die Ruderer hissten die Segel und stimmten dabei ein mysteriöses Lied an, dessen Wortlaut man nicht verstehen konnte. Mit leichtem Unbehagen starrte Flora zu ihnen hinüber; sie waren groß – größer und kräftiger als die Männer, die sie kannte. Ihre Haare waren sandfarben, ihre Haut rot und rau und Knochen an Wangen und Stirn scharf gezeichnet. Und ihr Gesang hatte eine Macht, die etwas in ihr aufrührte.

»Verstehst du die?«

Robert blickte sie an. »Vou, vou!«, imitierte er das seltsame Brüllen der Männer. Dann lachte er und zuckte die Achseln.

Die Zeit, die sie miteinander verbrachten, war nicht planbar und konnte jederzeit von einem gebrüllten Kommando unterbrochen werden; dann sprang Robert sofort auf, kletterte ein Segel hoch oder verschwand unter Deck. Jedes Mal blickte Flora ihm betrübt nach. Sie wusste, dass Robert sie vergaß, kaum dass er ihr den Rücken zugekehrt hatte. Er hatte seinen Platz in den Abläufen des Schiffs, während sie nur ein Mädchen war, das unnützerweise mitfuhr.

Ihr einziger anderer Freund an Bord war der Wundarzt Charles Honey. Wie die meisten Ärzte auf Walschonern hatte er gerade seine medizinische Ausbildung beendet und kein Geld für eine eigene Praxis. Er war dreiundzwanzig, wirkte aber wegen seiner frischen Gesichtsfarbe und seiner unschuldig verwirrten Miene deutlich jünger. Die ersten beiden Wochen an Bord litt er schrecklich an der Seekrankheit, und sein Elend war auf dem ganzen Schiff zu hören. Zuerst hatten die Seeleute Mitleid, doch nach ein paar Tagen fingen sie an, sich über ihn lustig zu machen.

Flora war die Einzige die ihn regelmäßig auf seiner Station besuchte. Und so war es auch dort, dass sie Ian Sellar kennenlernte.

Sie kämpften sich gerade wieder einmal durch einen Nordwestwind, und die Vega knarzte an allen Ecken und Enden. Honeys Flaschen und Gläser ratterten auf ihren Regalen; und als das Schiff zur Leeseite kippte, rutschte ein Becher Kaffee den Schreibtisch hinunter, so dass sich sein Inhalt über alle Papiere ergoss.

Flora hockte auf dem Krankenbett, stemmte den Rücken gegen die Kabinenwand und löcherte Honey mit Fragen über das Sezieren von Leichen. Während früherer Gespräche hatte sie erfahren, dass Medizinstudenten das taten, doch jetzt machte Honey Ausflüchte – genauer gesagt, er log sie an. Zwar hatte sie als Tochter des Kapitäns eine gewisse, wenn auch geborgte, Autorität, und er wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, doch befürchtete er auch, der Kapitän würde es ganz und gar nicht gutheißen, wenn er den Kopf seiner Tochter mit Gräueln füllte.

»Welche Windstärke haben wir eigentlich?«, fragte er jetzt um sie abzulenken.

»Ach, vielleicht – « Wieder kippte das Schiff, als der Nordatlantik sich gegen seinen Rumpf warf. » – sechs … oder fünf. Fünf, würde ich sagen. Es könnte noch viel schlimmer sein.«

»Das will ich doch nicht hoffen, sonst sind meine Medikamente in Gefahr.« Mit ziemlich wildem Blick sah er zum Regal hoch, während der Wind schaurig durch die Segel pfiff.

»Aber haben Sie schon mal die Leiche einer Frau aufgeschnitten?«

»Himmel, Flora, warum willst du das wissen?«

»Weil man doch etwas über ihr Inneres erfahren muss, das ganz anders ist als das eines Mannes, oder etwa nicht?«

Sie bedachte ihn mit einem schlauen Blick. Anfangs war es leicht gewesen, Dr. Honey zum Erröten zu bringen, aber mittlerweile war er auf der Hut.

»Ich bin sicher, du weißt weit mehr, als du zeigst, kleine Dame, und jetzt ziehst du mich auf.«

»Aber nein! Ich möchte vielleicht auch eines Tages Arzt werden. Menschen heilen. Aber ohne Kenntnisse kann man Kranke nicht heilen! Was meinen Sie? Würde ich ein guter Arzt sein?«

Gerade, als Honey den Mund öffnete, um ihr zu antworten, klopfte es laut an der Tür, und das Schiff kippte in ein tiefes Wellental.

»Verfluchte Scheiße!«

Flora ließ sich nichts anmerken.

Die Tür flog auf, und herein schlurfte ein großer schlaksiger Seemann, der mit schmerzverzerrter Miene seinen rechten Arm hielt. Es war einer der Orkney-Männer: Ian Sellar.

»Doktor, ich …« Als er Flora sah, wurde er rot.

»Miss Mackie wollte gerade gehen. Jetzt aber los mit dir, Flora.«

»Kann ich nicht helfen?«

Ian Sellar ließ stöhnend seinen Arm los.

»Ach, Sellar, was ist denn da passiert?«

»Bolzen von ’ner Dolle. Schulter.«

Er presste die Lippen zusammen und schloss die Augen. Honey setzte ihn auf einen Hocker unter der Lampe, nahm ein Skalpell und schlitzte mit einer routinierten Bewegung sein Hemd auf. Flora, die den Mund aufgerissen hatte, als er nach dem Skalpell griff – wollte er etwa amputieren? –, drückte sich aufgeregt hinter ihnen herum.

Ian Sellar war einer der jüngeren Orkney-Insulaner und der perfekteste Mann, den Flora je gesehen hatte. Während die meisten Bewohner des Nordens raue, rote Haut hatten, besaß seine die Farbe von Honig. Seine Gesichtszüge waren markant, und er bewegte sich anmutig. Jetzt starrte Flora auf seinen nackten, goldfarbenen Rücken. Sie begriff einfach nicht, wieso er ihr noch nicht früher aufgefallen war. Honey schnalzte leise mit der Zunge, als er die Schulter abtastete, wo sich Blut unter der Haut ausbreitete.

»Sie ist nicht ausgerenkt, Sellar. Nur schwer geprellt. Sie müssen eine Weile eine Armschlinge tragen. Flora, gib mir mal die Verbandsrolle da. Nein, da drüben … Wenn du dich nützlich machen willst, kannst du etwas von dem Hamameliswasser in das Schälchen gießen. Das ist da drüben drin …«

Mit flinken Bewegungen tat Flora, worum sie gebeten wurde. Mit den meisten Heilmitteln der Krankenstation war sie vertraut. Sie gab Honey Verband und Nadeln, Kompressen und Brandy und behielt dabei wie eine Katze ihr Gleichgewicht, während das Schiff unter dem Ansturm wütender Wogen schaukelte. Ians Gesicht war unter seiner Sonnenbräune bleich; winzige Schweißtropfen rannen ihm die Schläfen hinunter. Flora stand hinter ihm und sah zu, doch als das Schiff abrupt nach Steuerbord kippte, taumelte sie gegen ihn und ihre Finger strichen über seine glänzende gesunde Schulter. Sofort riss sie die Hand weg, als hätte sie sich verbrannt. Honey selbst war mit einem unterdrückten Fluch rückwärts gestolpert, und Sellar saß mit zusammengekniffenen Augen da. Keiner der beiden schien bemerkt zu haben, dass sie es mit Absicht getan hatte.

Ab diesem Zeitpunkt hielt Flora an Deck ständig Ausschau nach Sellar, spitzte die Ohren, ob sie seine grobe Sprechweise hörte, und erkannte seine Stimme irgendwann sogar durch die Holzwände hindurch. Die Männer waren nie allein auf dem Schiff, abgesehen von den wenigen Minuten bei der Notdurft, doch selbst wenn er allein gewesen wäre, hätte sie sich ihm niemals genähert. Was hätte sie auch zu ihm sagen sollen?

*

Während der langen Stunden der Dämmerung suchten Vater und Tochter am Himmel nach Venus und Mars, Altair, Arcturus und Polaris. Manchmal saßen sie die ganze kurze Nacht an Deck und folgten dem Lauf der Sterne. Sie waren umringt von Sternbildern, die nie zur Ruhe kamen: die Bären, der Drache, Perseus, Cassiopeia, Kepheus, wobei keines von ihnen, außer dem Drachen, so aussah, wie der Name nahelegte.

»Wieso wird der Wagen Großer Bär genannt, wenn er doch wie ein Wagen aussieht?«

»Weil du nicht alles von ihm siehst. Der Wagen ist nur der Rücken und Schwanz des Bären.«

»Aber Bären haben doch keine Schwänze. Jedenfalls keine langen.«

»Vielleicht hatten die Bären bei den alten Griechen lange Schwänze.«

Flora lachte spöttisch.

Ihr Vater fand, dass sie sich zu viel herausnahm.

»Außerdem, woher willst du wissen, dass Draco wie ein Drache aussieht?«, fuhr er fort. »Hast du schon je einen Drachen gesehen?«

»Jedenfalls Bilder davon.«

»Und glaubst du, diese Bilder sind wirklichkeitsgetreu?«

»Natürlich nicht! Es gibt doch keine Drachen.«

»Also sieht Draco vielleicht genauso wenig aus wie ein Drache wie Ursa major wie ein Bär.«

»Ja, aber … man kann doch nicht nicht aussehen wie etwas, das es nicht gibt …« Sie verstummte, weil sie nicht weiterwusste. »Bären gibt es jedenfalls. Wieso mussten sie überhaupt was erfinden? Sie hätten es doch auch Schlange nennen können. Schlangen gibt es.«

»Fragst du mich, warum die Menschen Ungeheuer erfunden haben?«

»Ja, schon.«

»Vielleicht, weil sie nie auf Walfang waren. Sieh dir mal Dracos Schwanz an – auf halber Strecke zwischen den Bären. Da ist ein Stern heller … der zweithellste.«

Sie richtete sein Teleskop auf der Rah aus. Das Schiff lag vollkommen ruhig, das Meer war wie ein Tümpel. Zweihundert Meter entfernt ragte ein Eisberg reglos in die Höhe, verdoppelt in der spiegelglatten Oberfläche. Auch die Sterne spiegelten sich im Wasser, so dass es aussah, als schwebte die Vega im dunklen Weltraum, unter und über sich Sterne und grenzenlose Tiefe.

»Siehst du? Das ist Thuban. Der war früher, zu der Zeit, als die Ägypter ihre Pyramiden bauten, der Polarstern. An die Ägypter erinnerst du dich doch noch, oder?«

»Ja. Sie hatten einen Gott mit Falkenkopf.«

»Ja, das stimmt. Und der hieß?«

Kurzes Zögern. »Horus.«

»Genau. Die Ägypter bauten die Cheopspyramide so, dass Thuban durch einen Schacht genau in die Mitte des Grundrisses scheinen konnte.«

Flora war verwirrt.

»Wie konnte das denn der Polarstern sein?«

»Vor fünftausend Jahren war Thuban tatsächlich der Polarstern. Und eines Tages – in ferner Zukunft – wird er es wieder sein. Und er wird perfekter platziert sein als Polaris. Warum? Weil die Erde sich schräg um ihre Achse dreht. Wie ein Kreisel kurz vor dem Umkippen.« Er demonstrierte es mit seiner Hand. »Ganz, ganz langsam. Im Moment ist natürlich Polaris der Polarstern, genauer gesagt: Er befindet sich näher zum Himmelspol als alle anderen, aber eines Tages … Alles verändert sich, Flora. Ganz gleich, wie gut oder schlecht etwas ist, nichts dauert ewig.« Er bewegte das Teleskop weiter hoch und leicht nach links. »So, jetzt sieh dir das an.«

»Ich sehe Vega«, sagte Flora mit Nachdruck: Die metaphysische Dimension, die ihr Gespräch angenommen hatte, beunruhigte sie.

»Gut. Eines Tages, in vielen Tausend Jahren, wird sie ebenfalls der Polarstern sein. Und ein sehr heller und gut sichtbarer, wenn auch nicht so genau platziert wie Thuban. Und wenn sie der Polarstern ist, dann ist der Sommer im Dezember und der Winter im Juni.«

Während Flora noch darüber nachdachte, wurde ihr klar, wie sehr sie Thuban, den einstigen und zukünftigen Leitstern, mochte. Aber am liebsten mochte sie Vega. Sie gehörte zu allen auf dem Schiff, aber vor allem, jedenfalls hatte Flora das Gefühl, zu ihr. Als sie kurze Zeit später herausfand, dass die Eskimos Vega die Alte Frau nannten, war sie sehr gekränkt.

Der Wellengang des Atlantiks ließ immer mehr nach, bezwungen von den immer zahlreicher auftauchenden Eisbergen. Die Sonne kam heraus und blieb rund um die Uhr, als könnte sie es nicht über sich bringen, sie zu verlassen. Sie brachte Farbe in die grauen Eisberge: grüne Mulden, königsblaue Schatten, aquamarinfarbene Löcher. Die ganze Wasserwelt glitzerte.

Flora hing stundenlang über dem Schandeck und starrte auf das Eis. Es war genauso, als starre man ins Feuer: Man konnte einfach nicht damit aufhören. Die Präzision, die in allem lag, was mit Eis zu tun hatte, eröffnete ihr einen ganz neuen Erfahrungshorizont. Jedes Stück war anders, einzigartig und von einer fragilen Schönheit.

Einen besonders eindrucksvollen Eisberg würde sie nie vergessen, mit Klüften und Zinnen wie ein Berg in den Alpen, welcher, als er sich langsam drehte, einen über dreißig Meter hohen Bogen aus Eis präsentierte. Er glitzerte weiß, hatte oben tiefblaue Spalten, und sein wasserumspülter Fuß war in einem hellen, seidigen Grün. Wie ein verfallenes Meisterwerk einer untergegangenen Zivilisation lockte es sogar die abgeklärtesten Seemänner an die Reling.

Vom Krähennest ertönte plötzlich ein Ruf: »Wenn Miss Mackie hochkommen würde, könnte sie etwas Schönes sehen.«

Ihr Vater schickte Flora vor sich hinauf: Sie kletterte nicht zum ersten Mal an einem ruhigen Tag zum Ausguck, doch dazu musste sie ihre Röcke feststecken, und er kletterte für alle Fälle hinter ihr. John Inkster hob sie durch das Loch, und sie zwängte sich in die Lücke vor ihm. Er legte lose seine Arme um sie, und Flora starrte fasziniert auf das, was sich vor ihren Augen auftat.

Über dem Bogen war die Spitze des Eisbergs zu einem kleinen Plateau abgeflacht. Die Sonne hatte das Eis weggeschmolzen und einen kleinen runden See gebildet, der tiefblau wie flüssige Saphire leuchtete – und jetzt konnte sie sehen, dass ein winziger Zufluss einen Kanal in den weißen Rand des Sees ritzte, ein milchblaues Rinnsal, das zur Kante des Plateaus lief und auf der anderen Seite verschwand. Ein blindes blaues Auge, das eine einzige endlose Träne vergoss.

»Tja, Miss Flora«, sagte Inkster, und sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Ohr. »Was halten Sie von unseren Eisinseln? Sind die nicht schön?«

Flora merkte, dass ihr die Worte fehlten. Es gab einfach keinen Ausdruck, der passend genug war, um diese Schönheit zu beschreiben. Sie drehte sich mit glänzenden Augen zu Inkster um, der sie freundlich anlachte.

Sie kamen gut voran, doch bei dreiundsiebzig Grad Nord stießen sie auf Packeis. Nebel stieg auf und verdeckte die schneebedeckte Küste der Baffininsel. Die anderen Schiffe der Flotte holten auf: Ravenscraig, Symmetry, Mariscal und Hope… Durch die treibenden Eisschollen bahnten sie sich einen Weg Richtung Nordwasser, wo sie Wale vermuteten. Ein Mann auf dem Ausguck steuerte das Schiff, spähte in das undurchdringliche Grau und schrie sich heiser. Der Nebel erstickte alle Geräusche bis auf das Brüllen des Ausgucks und das schaurig schwappende Wasser.

»Wal in Sicht! Wal in Sicht!«

Flora war in der Kajüte. Sie kletterte an Deck und wich den Männern aus, die zu den Ruderbooten an den Davits stürzten. Sie spürte förmlich die Anspannung im Schiff: rennende Füße, knappe Kommandos. Sie sah Ian Sellar mit aufgeregter Miene ins erste Ruderboot springen. Die fünf Männer nahmen ihre Positionen ein, und die Mannschaft an Deck kurbelte sie ins Wasser hinunter. Mit kraftvollen Bewegungen stießen sie sich ab und der Steuermann bellte Befehle. Die Ruderer drehten das Boot einmal um sich selbst, dann schoss es davon. Plötzlich spürte sie schwer die Hand ihres Vaters auf ihrer Schulter.

»Flora«, mahnte er, »wenn sie mit dem Fisch zurückkommen, gehst du nach unten. Sollte ich dich dann noch an Deck sehen, setzt es was.«

»Wann darf ich wieder rauskommen?«

»Wenn ich es sage.«

»Aber was ist, wenn …«

Da bedachte er sie mit einem so strengen Blick, dass sie sofort verstummte. Er hatte sich geschworen, dass Flora den eigentlichen Prozess des Walfangs nicht mit ansehen würde. Sie dachte, sie wisse alles darüber. Sie dachte, sie sei darauf vorbereitet. Aber an diesem Tag kam das Boot leer zurück, sie hatten den Wal verloren.

Am nächsten Tag hatten sie mehr Glück: Zwei Boote wurden zwei Walen hinterhergeschickt, einen schafften sie zu fangen. Flora lauschte auf das Gebrüll, als der Kadaver längsschiffs geholt wurde. Die Männer waren vollkommen aus dem Häuschen. Wortlos setzte sie sich hin und sah nichts, hörte aber alles und roch etwas, das schlimmer war, als sie sich je hätte vorstellen können. Der Geruch von Blut füllte ihre Nase, ihren Mund, ihre Haare. Dann der atemberaubende Gestank von Fäulnis, von Verfall und Verwesung, der sie würgen ließ. Die Männer arbeiteten in der Mitte des Schiffs, aber sie hörte das Trommeln ihrer Füße und ihr Gelächter – lauter und wilder als sonst, so, als wären sie trunken vom Gemetzel, als wären sie im Blutrausch.

Sie hörte Klingen schlitzen und hacken, das Sägen von Knochen und das Reißen – das schier endlose Reißen von Haut – ; ein Spritzen, von dem sie hoffte, es wäre Wasser, selbst als sie spürte, dass es Blut war. Das Ganze zu sehen hätte nicht schlimmer sein können: Auch so sah sie vor sich, wie die Klingen in Fleisch und Fett drangen, das Blut um die Füße der Männer spülte und ihre Ärmel rot färbte.

Als ihr Vater sie schließlich aus der Kajüte holte, war sie kränklich bleich und mürrisch. Meerwasser war über die Decks gepumpt worden, um die blutigen Reste wegzuspülen. Doch das ausgeweidete Gerippe des Wals schwamm immer noch in der Nähe und wurde von Fischen und gefräßigen Seevögeln attackiert. Auf dem Deck sah man graurosa Eingeweide, die von Matrosen mit Heugabeln in den Laderaum verfrachtet wurden. An den Segelstangen trockneten blutverschmierte Knochen.

»Ich hab dir ja gesagt, dass es ein schmutziges Geschäft ist«, erklärte ihr Vater. »Verstehst du jetzt, warum du das nicht mit ansehen solltest?«

»Ich wüsste nicht, wie es noch schlimmer sein sollte, als es nur zu hören und zu riechen«, gab sie zurück. »So stelle ich mir eben alles vor. Und in der Kajüte kriege ich keine Luft.«

Ihr Vater, das musste man ihm lassen, wog seine Ansicht gegen ihre ab. In der Folge durfte sie, wenn die Männer arbeiteten, an einem Fleck achtern bleiben und von dort aus alles beobachten, ihnen aber nicht in die Quere kommen. Sie war sich der Gefahren bewusst: Das Deck war glitschig von Blut und Tran, und mehr als einmal sah sie einen Mann ausrutschen und unter die tückischen Klingen geraten.

Kapitel 2

MELVILLE BAY, 76°21' N, 71°04' W

WINTER 1883 –1884

Die Männer nannten Flora ihr Maskottchen, denn in dieser Saison schlachtete die Mannschaft der Vega mehr Wale als jedes andere Schiff. Mitte August rammte ein Sturm Packeis in den Flaschenhals zwischen Kap Alexander und Kap Isabella und die alte Symmetry steckte fest. Die anderen Schiffe fuhren dicht an sie heran, um die Mannschaft aufzunehmen, falls – wenn – die Symmetry zerquetscht würde. Der Sturm wurde schlimmer, Südwestwinde trieben die Schiffe in die Melville Bay zurück und häuften riesige Eisfelder um sie herum auf. Captain Mackie setzte sich mit Flora in der Kajüte zusammen, um ihr zu eröffnen, dass sie dieses Jahr nicht nach Hause kämen. Zu seiner Überraschung lächelte sie.

Sobald er eine passende Eisscholle ausgesucht hatte – eine massive Fläche so groß wie der Barclay Park –, schickte er seine Mannschaft mit drei Meter langen Sägen los. Flora sah zu, wie sie ein Loch aus dem Eis schnitten, in dem die Vega