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Sophienlust
– 188 –

Liebevolle Eltern für Cornelia

Wer gibt der kleinen Waise eine Heimat?

Elisabeth Swoboda

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-772-1

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Marlene Schermann schob verstohlen den linken Ärmel ihrer Pelzjacke hoch und sah auf ihre Armbanduhr aus Weißgold, die eine so extravagante Form aufwies, dass es nicht einfach war, die Zeit mit einem kurzen Blick abzulesen.

Trotz des Tränenschleiers, der sie ihre Umgebung nur verschwommen wahrnehmen ließ, bemerkte Hilde Kohlmann diese Geste und war darüber erbittert. Hat diese Frau nicht einmal für das Begräbnis ihres ältesten Sohnes und ihrer Schwiegertochter Zeit?, dachte sie. Sie selbst war von Kummer und Schmerz über den plötzlichen Tod ihrer Tochter Karin halb betäubt. Eine Woche war seit dem Unglück verstrichen, und Hilde konnte noch immer nicht fassen, dass Karin, ihre heitere fröhliche Karin, nicht mehr am Leben war. Aber auch Walters Tod betrübte sie. Sie hatte ihren Schwiegersohn gern gemocht, wenn sie auch von dessen Familie, die aus seiner Mutter Marlene und seinen beiden jüngeren Brüdern Werner und Wilfried bestand, nicht viel hielt. Im Augenblick hasste sie die kühle, gelassene Marlene beinahe, weil diese keinerlei innere Beteiligung an der Begräbniszeremonie verriet. Sie muss doch ebenso sehr leiden wie ich, dachte Hilde. Auch ihr Kind liegt in dem Grab, das gerade zugeschaufelt wird.

Hilde Kollmann wandte sich schluchzend ab. Walter und Karin Schermann hatten sich zusammen mit ihrer kleinen Tochter Cornelia auf der Rückfahrt von einem Skiurlaub befunden. Auf der vereisten Fahrbahn war Walters Wagen ins Schleudern gekommen und gegen einen Baum gerast. Karin war sofort tot gewesen. Walter hatte den Unfall nur um wenige Stunden überlebt, und die siebenjährige Cornelia lag schwerverletzt im Maibacher Krankenhaus. Aber sie würde am Leben bleiben. Das hatten die Ärzte Hilde Kohlmann versichert, und daran klammerte diese sich.

Nachdem Hilde viele Hände von ihr zumeist Unbekannten gedrückt und auf die Beileidsfloskeln ein stereotypes »Danke« gemurmelt hatte, fühlte sie sich wie ausgehöhlt.

»Du bist so blass, Mutti«, flüsterte Hildes ältere Tochter Vera ihr besorgt zu. »Was kann ich für dich tun?«

»Nichts«, seufzte Hilde. Die Gegenwart ihrer anderen Tochter bildete einen gewissen Trost für sie. Vera war nun der einzige Mensch, der ihr geblieben war – außer Cornelia natürlich.

Die Trauergäste zerstreuten sich langsam. Nur die engsten Angehörigen standen an dem Grab, das inzwischen zugeschüttet worden war.

Marlene streckte Hilde verabschiedend die Hand hin. »Ich muss mich beeilen«, sagte sie dabei. »Die Rede von diesem Pfarrer war endlos. Ich sollte schon längst im Hotel Central sein. Ich fürchte, ich habe das Wichtigste versäumt.«

»So?«, fragte Hilde, nicht aus Interesse, sondern um irgendetwas zu sagen. Sie fand, die elegante Selbstsicherheit von Marlene Schermann wirkte auf dem Friedhof fehl am Platze, aber sie schüchterte sie trotzdem irgendwie ein.

»Im Hotel Central findet eine Bademodenschau statt«, erklärte Marlene. »Ich muss wissen, was vorgeführt wurde, damit ich die Bestellungen für meinen Sohn aufgeben kann.«

»Du …, du gehst zu einer Modenschau? Heute?«, fragte Hilde bestürzt.

Marlene zuckte mit den Schultern. »Natürlich bin ich heute nicht in der richtigen Stimmung dafür«, meinte sie. »Aber was bleibt mir anderes übrig. Schließlich lebe ich von meinem Modesalon. Deshalb muss ich mich auch darum kümmern. Sehen wir uns noch, bevor ihr nach Wien zurückfahrt?«

»Nein, ich glaube nicht«, entgegnete Hilde. »Vera will morgen früh abreisen. Heute wollen wir Cornelia noch einmal im Krankenhaus besuchen. Am liebsten würde ich das Kind gleich morgen mitnehmen, aber die Ärzte haben es mir verboten. Cornelia ist noch nicht transportfähig.« Hilde zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: »Es bleibt doch dabei, dass Cornelia bei uns in Wien leben wird, sobald sie gesund ist? Du wirst keinen Anspruch auf das Kind erheben?«

»Nein, ich bin froh, dass ihr es nehmt«, erwiderte Marlene. Ihre Worte schienen ihr selbst lieblos zu erscheinen, denn sie sprach schnell weiter. »Selbstverständlich liebe ich mein Enkelkind, aber ich könnte nie genügend Zeit für Cornelia aufbringen.«

»Aber Sie haben immerhin drei Söhne großgezogen«, warf Vera ein. Zum Unterschied von ihrer Mutter fühlte sie sich von Marlene Schermann nicht eingeschüchtert. Sie empfand eine gewisse Antipathie gegen die Schwiegermutter ihrer verstorbenen Schwester, war aber gleichzeitig von ihr ein wenig fasziniert.

Marlene lächelte geschmeichelt. »Das wundert mich selbst«, meinte sie. »Allerdings lebte mein Mann noch, als die Buben klein waren. Er hat sich um sie gekümmert, wenn ich verhindert war. Und jetzt sind sie bereits groß genug, um meine ständige Anwesenheit entbehren zu können. Nicht wahr?«, fragte sie ihre beiden Söhne.

»Sehr richtig, Mama«, stimmte Wilfried, der jüngere der beiden, ihr zu. Vera wusste, dass er achtzehn war, drei Jahre jünger als sein Bruder Werner. Walter war der älteste gewesen. Er war achtundzwanzig Jahre alt geworden.

Vera fand, dass die beiden noch lebenden Brüder wohl einander glichen, nicht aber dem verstorbenen Walter.

Werner und Wilfried waren ziemlich groß, blond und hatten sehr helle Augen. Sie waren gut aussehende junge Männer, aber trotzdem war Vera froh, dass der Mann ihrer Schwester und Cornelias Vater anders gewesen war. Bei Walter hatte Vera immer gewusst, woran sie war. Seinen jüngeren Brüdern gegenüber fühlte sie sich deswegen sonderbar unsicher, obwohl sie ihnen mit ihren achtundzwanzig Jahren und ihrem Beruf als Gymnasiallehrerin überlegen war. Sie hatte das Gefühl, dass hinter der glatten Höflichkeit der beiden noch etwas anderes steckte. So etwas Ähnliches wie geheimer Spott, der jedoch nicht ihr, Vera, sondern der Welt im allgemeinen zu gelten schien.

Hilde Kollmann drückte später, als sie sich mit ihrer Tochter auf der Heimfahrt nach Wien befand, Veras Überlegungen in Worte aus. »Ich kann die drei nicht leiden. Die Mutter nicht und die beiden Burschen auch nicht«, stellte sie unverblümt fest.

»Bist du nicht voreingenommen?«, fragte Vera. »Sie haben dir nichts getan.«

»Mir nicht – aber Karin«, murmelte Hilde.

»Karin? O nein!«, rief Vera aus. »Karin war sehr glücklich mit Walter. Wenigstens diesen Trost haben wir.«

»Wenn ich mir vorstelle, dass sie in einem Haus mit diesen Leuten leben musste«, fuhr Hilde, ohne auf Veras Einwand zu achten, fort.

»Karin ist mit ihnen immer gut ausgekommen«, erinnerte Vera die Mutter. »Du kannst gegen Frau Schermann alles mögliche vorbringen, aber nicht, dass sie für Karin eine böse Schwiegermutter war.«

»Sie hat sie nicht gerngehabt. Keine Träne hat sie ihr nachgeweint«, stieß Hilde hervor.

»Sie hat auch um Walter, der doch ihr Sohn war, nicht geweint. Zumindest nicht in Anwesenheit anderer. Wahrscheinlich ist sie nicht der Typ dazu.«

»Sie ist eine eiskalte Geschäftsfrau«, grollte Hilde. »Sogar am Tag des Begräbnisses dachte sie an nichts anderes, als an das Geschäft.«

»Ja, Mutti, du hast vollkommen recht«, sagte Vera beschwichtigend. »Trotzdem ist Karin gut mit ihr ausgekommen. Oder vielleicht gerade deshalb. Frau Schermann hat sich nur um ihr Geschäft gekümmert und den Haushalt Karin überlassen. Karin war glücklich und zufrieden. Daran darfst du nicht zweifeln.«

»Und jetzt ist sie tot«, seufzte Hilde.

Vera schwieg. Alles, was es an Trostworten gab, hatte sie ihrer Mutter schon wieder und wieder gesagt. Auch sie trauerte um Karin, obwohl die beiden Schwestern, seit sie erwachsen waren, einander fremd geworden waren. Es war nicht nur die räumliche Entfernung zwischen Maibach und Wien gewesen, die sie voreinander getrennt hatte, es war eher die Verschiedenheit der Interessen gewesen. Karin, die ein Jahr jünger als Vera gewesen war, hatte mit neunzehn geheiratet und war nach Maibach gezogen. Ein Jahr später war Cornelia auf die Welt gekommen, und von diesem Zeitpunkt an hatte für Karin nur mehr ihr Mann und ihr Kind existiert, während Vera zuerst in ihrem Studium und dann in ihrem Beruf aufgegangen war. So hatten die beiden sich nicht oft getroffen. Vera hatte ihre Schwester in Maibach nur selten besucht. Dafür hatte sie ihr häufig geschrieben, aber leider war Karin keine eifrige Briefeschreiberin gewesen. Mit einem Wort: Es hatte nur mehr wenig Gemeinsames gegeben. Trotzdem war die Trauer, die Vera empfand, tief und echt. Sie dachte zurück an die glückliche Kindheit, die sie zusammen mit ihrer Schwester verlebt hatte, und nahm sich fest vor, das alles an die verwaiste Cornelia weiterzugeben und dem Kind nach Möglichkeit die Eltern zu ersetzen.

Als ob Hilde die Gedanken ihrer Tochter erraten hätte, sagte sie: »Zu dumm, dass wir Cornelia nicht bei uns haben. Ich werde erst erleichtert sein, wenn ich sie endlich außer Gefahr weiß.«

»Sie ist außer Gefahr«, beruhigte Vera ihre Mutter. »Der Arzt, der sie behandelt, hat es uns versichert, und der Oberarzt hat es bestätigt.«

»Sie war so still und blass«, klagte Hilde. »Und so winzig klein. Und diese vielen Schläuche …« Sie schauderte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals wieder gesund wird.«

»Sie wird gesund werden«, sagte Vera fest. »Aber es wird geraume Zeit dauern, bis sie wieder gesund ist.«

»Ich hätte vielleicht in Maibach bleiben sollen«, meinte Hilde. »Da hätte ich sie besuchen können.«

»Davon hätte sie vorläufig nicht viel«, entgegnete Vera. »Hast du nicht gehört, was der nette Arzt gesagt hat? Cornelia braucht vor allem Ruhe. Sobald sie gesund ist, werde ich sie nach Wien holen, und dann werden wir uns bemühen, sie für alles zu entschädigen. Hoffentlich werde ich mit ihr umgehen können«, setzte sie nachdenklich hinzu.

»Du? Du bist doch Lehrerin. Es ist dein Beruf, mit Kindern umzugehen«, sagte Hilde.

»Die Kinder, die ich unterrichte, sind älter als Cornelia. Außerdem ist es bei Cornelia etwas anderes. Sie ist meine Nichte – mehr noch, ich hoffe, dass sie mich mit der Zeit als Mutterersatz akzeptiert, obwohl ich mich mit Karin natürlich nicht vergleichen kann.«

Hilde sah ihre Tochter, die ihre Blicke fest auf die Fahrbahn gerichtet hatte, von der Seite her an. Veras Profil bot einen ansprechenden Anblick, nicht nur für eine von ihrem Kind eingenommene Mutter. Vera besaß eine hohe gerade Stirn, und ihre Nase war weder zu groß noch zu klein, aber eine ganz kleine Spur aufwärtsgebogen. Ihr Mund war zart und eingeschnitten. Sie hatte regelmäßige Gesichtszüge und große blaue Augen.

»Es ist sonderbar«, sagte Hilde plötzlich, »aber Tatsache ist, dass du ohne Weiteres für Cornelias Mutter gelten könntest. Sie sieht eher dir ähnlich als Karin.«

»Findest du? Das ist mir nie aufgefallen. Es stimmt auch nicht. Cornelia hat Karins dunkelblonde Haare geerbt, ihre Augen …«

»Du hast die gleichen Augen.«

»Aber nicht die gleiche Haarfarbe. Meine sind langweilig braun, während Karin …« Vera brach ab und seufzte. Wie hatte sie mit fünfzehn, sechzehn Jahren ihre jüngere Schwester um ihre goldglänzenden, dichten langen Haare beneidet. Sie war fest überzeugt gewesen, und war es auch heute noch, dass Karin die weitaus hübschere gewesen war. Und gerade sie hatte so jung sterben müssen. Aber es hatte keinen Sinn, darüber zu reden und zu klagen, am wenigsten ihrer Mutter gegenüber, der es schwer genug fiel, ihren eigenen Schmerz zu beherrschen.

Im Moment wurde Hilde allerdings auch noch von anderen Ängsten geplagt. »Glaubst du …, glaubst du, dass es möglich ist, dass Marlene es sich wieder anders überlegt?«, fragte sie ihre Tochter.

»Was anders überlegt? Wovon sprichst du?«

»Immer noch von Cornelia. Solange ich das Kind nicht bei mir habe, kann ich an nichts anderes denken. Ich fürchte, dass Marlene Schermann später vielleicht doch nicht auf das Kind verzichten wird.«

»Da kannst du ganz beruhigt sein«, entgegnete Vera. »Hast du vergessen, dass sie froh ist, dass wir sie nehmen?«

»Ja, das hat diese herzlose Frau gesagt …«

»Schimpf nicht auf Frau Schermann«, unterbrach Vera ihre Mutter. »Sei zufrieden, dass sie Cornelia uns überlässt. Oder würdest du dich lieber mit ihr um das Kind streiten?«

»Nein. Nur …, ich kann Marlene nicht verstehen. Auch ihr müsste ihr Enkelkind doch über alles gehen.«

»Für uns ist es ein Glück, dass das nicht der Fall ist, denn sonst würde sie sich nicht von Cornelia trennen.«

Hilde sah die Logik von Veras Argument ein, aber sie schüttelte darüber den Kopf. Niemals würde sie Marlene Schermanns Gefühlskälte begreifen können. Sie selbst konnte kaum die Sehnsucht, ihr Enkelkind in die Arme schließen zu dürfen, bezähmen.

*

Doch es sollten noch drei Monate vergehen, bis Cornelia endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Und dann ergaben sich Schwierigkeiten, mit denen Hilde Kollmann nicht gerechnet hatte.

»Jetzt? Ich kann jetzt nicht weg«, sagte Vera, als ihre Mutter ihr freudestrahlend Marlenes Brief brachte, in dem stand, dass Cornelia so weit gesund sei, dass ihre Tante Vera sie abholen könne.

»Wieso nicht?«, fragte Hilde. »Du musst Cornelia von Maibach abholen. Einstweilen ist sie bei der Familie Schermann, aber du weißt genau, dass sie denen nur im Weg ist, während ich es kaum erwarten kann, Cornelia bei mir zu haben.«

»Mutti! Ich unterrichte in einer Maturaklasse. Ich kann im Moment nicht verreisen. Wir stecken in den letzten Vorbereitungen für die Matura. Ich kann mir nicht einmal einen einzigen Tag freinehmen. In drei Wochen ist es vorbei, dann ist Schulschluss. Könntest du dich nicht bis dahin gedulden?«

Vera wusste, dass ihre Frage überflüssig war. Ihre Mutter wollte sich nun keinen einzigen Tag mehr gedulden. Deshalb runzelte sie die Stirn und überlegte. »Ich könnte höchstens über das Wochenende …, wenn ich Samstagmittag …, wegfahren. Nein …, Maibach ist zu weit weg. Mit dem Wagen schaffe ich das nicht. Vielleicht, wenn ich fliege …«

Aber davon wollte Hilde nichts hören. »Fliegen ist zu gefährlich«, stellte sie fest. »Erst heute stand wieder etwas über einen Flugzeugabsturz in der Zeitung.«

Vera unterließ es klugerweise, ihre Mutter daran zu erinnern, dass das Autofahren nicht minder gefährlich war, wie der Unfall, der Walter und Karin das Leben gekostet hatte, bewies.

»Also gut«, sagte sie schließlich. »Ich werde mit dem Direktor reden. Wenn ich ihm den Fall klarlege, wird er vielleicht einsehen …«

»Nein«, entgegnete Hilde, der Bedenken gekommen waren. »Das schadet dir womöglich in der Schule. Das will ich nicht. Ich weiß etwas Besseres. Ich werde Cornelia selbst abholen.«

»Ist das nicht ziemlich umständlich? Da du nicht Auto fährst, müsstest du die Bahn benützen, und einige Male umsteigen.«

»Das macht mir nichts aus. Als ich Karin nach Vaters Tod vor zwei Jahren besuchte, bin ich auch mit der Bahn gefahren. Es hat keine Schwierigkeiten gegeben.«