Über das Buch:
Als Cooper O’Connor, Sohn eines bekannten Wanderpredigers, seinen Vater mit 18 Jahren Hals über Kopf verlässt, träumt er von einer Musikerkarriere im fernen Nashville. Im Gepäck hat er eine Gitarre und die Überzeugung, dass er es mit seinem außergewöhnlichen Talent schon schaffen wird. Aber die Rechnung geht nicht auf. Erst als Cooper die Sängerin Daley Cross kennenlernt, scheint sich sein Blatt endlich zu wenden.
Zwanzig Jahre später lebt Cooper zurückgezogen in den Bergen Colorados. Keiner weiß um seine Vergangenheit. Keiner ahnt, dass sich hinter den Narben dieses Mannes eine faszinierende Geschichte verbirgt. Doch dann taucht Daley plötzlich auf …

Über den Autor:
Charles Martin studierte Englisch und Journalistik und hat einen Doktortitel in Kommunikationswissenschaften. 1999 gab er seinen Beruf auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Der von der Presse gefeierte, preisgekrönte Autor lebt mit seiner Frau Christy und drei Söhnen in Jacksonville, Florida.

Kapitel 6

Das Riverview Center ist eine Einrichtung für betreutes Wohnen mit vierzig Betten auf einem zwanzigtausend Quadratmeter großen Grundstück. Es steht vor der felsigen Kulisse des Sleeping Indian Mountain. Die malerische und gepflegte Anlage wird von einer gesunden, blumenfressenden Herde Rotwild zugleich kurz geschoren und zerwühlt. Zu einer Seite hin ist sie vom Arkansas River begrenzt, der für ein konstantes, friedliches Wasserrauschen sorgt.

Ich fuhr über die kurze Brücke und auf der kurvigen, von großen Pappeln gesäumten Allee bis zum Parkplatz. Es war früher Nachmittag und fast alle Bewohner machten entweder ein Mittagsschläfchen oder sahen fern. Ich stellte den Wagen ab und stieg aus. Daley folgte mir. Sie schien ihre Stacheln eingefahren zu haben.

Wir gingen ins Foyer und durch viele Flure bis zu Marys Zimmer. Die Tür war geschlossen. Als ich sie leise öffnete, sah ich, dass sie schlief. Wir setzten uns hin und warteten. Das war immer einer meiner Lieblingsmomente. Wenn sie schlief, hatte sie keine Zuckungen.

Daley sah sich im Zimmer um. „Du hättest mir das sagen sollen“, flüsterte sie.

„Als ich wieder die Gitarre in die Hand genommen hatte, habe ich nach einem sicheren Ort gesucht, wo ich die ersten Gehversuche unternehmen kann. Die Leute hier freuen sich über die Abwechslung und sind nicht pingelig, wenn einem hin und wieder ein Ton verunglückt oder man etwas schief singt. Außerdem können sie nicht wirklich abhauen. Mary war eine der Ersten, für die ich gespielt habe. Als ich sie kennenlernte, habe ich gemerkt, dass wir einiges gemeinsam haben.“

„Zum Beispiel?“

„Wir sind beide Daley-Cross-Fans.“

Daley ließ ihren Blick über die Wände schweifen, die mit Postern und Karten von ihr übersät waren.

„Wobei sie eher ein Groupie ist“, sagte ich. „Es geht schon fast ins Unerträgliche.“

Marys dunkle Haare waren ihr ins Gesicht gefallen. Speichel lief ihr auf das Kissen. Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und tupfte ihr den Mundwinkel ab. Sie blinzelte und lächelte und sofort waren die Zuckungen wieder da.

Mary leidet an extremem Strabismus. Sie schielt. Wenn sie jemanden mit einem Auge ansieht, steht das andere Auge senkrecht und man sieht nur noch das Weiße. Das fokussierende Auge wandert immer wieder von links nach rechts. Ihr rechtes Auge stellte auf mich scharf und sie hob den Kopf, damit ich ihr ein zweites Kissen darunterschieben konnte. Ihre Stimme war kratzig wie die von Katharine Hepburn. „Ich habe gerade von dir geträumt.“

Ich zog mir den metallenen Hocker auf Rollen heran und legte die Arme auf ihr Bett. „Und wovon?“

„Wie du das erste Mal für mich gespielt hast.“

„Eigentlich habe ich für die ganze Station gespielt.“

„Ja, aber du konntest den Blick nicht von mir abwenden.“

Ich lachte. „Das stimmt.“ Ihre rechte Hand fing an, wie ein Fisch zu zappeln. Ich schob meine Hand unter ihre und hielt sie fest. Niemand hatte weichere Haut als sie. „Kann ich selbst heute noch nicht.“

Im Lauf der Jahre hatte Mary zig Medikamente ausprobiert, um ihre zerebrale Lähmung und deren Auswirkungen aufzuhalten. Kaum eins davon hatte Besserung gebracht. Gegen die Zuckungen hatte keins geholfen.

Es gab nur ein Gegenmittel. Wenn ich spielte, hörten ihre Zuckungen auf. Mary sagt, der Schmerz wird „rausgewaschen“.

Mary hat fast ihr gesamtes Erwachsenenleben in dieser Einrichtung verbracht. Sie ist der Liebling des Hauses und muss selten um etwas bitten.

Eine Schwester klopfte und kam herein. Sie winkte mir zu. „Hallo Cooper.“

„Hallo Shelly. Wie geht es Peter?“ Ich stand auf und half der Schwester dabei, Mary auf die Seite zu drehen. Dann zog ich den Sichtschutz ums Bett, damit Shelly ihr die Windel wechseln konnte.

Shelly hatte das schon tausendmal gemacht. Sie konnte es vermutlich im Schlaf.

„Der kleine Witzbold hat die Tuba gegen das Schlagzeug getauscht. Meinte, er habe mehr Rhythmusgefühl als drei Schlagzeuger zusammen und es sei an der Zeit, dass die Welt das auch erfährt.“

Hinter dem Sichtschutz hob Mary den Arm, tastete nach meinem Kopf und schob ihn zur Seite. „Wehe, du guckst. Ich bin immer noch eine Frau.“

Ich sprach in Richtung Wand. „Es gibt kein wichtigeres Bandmitglied als den Schlagzeuger. Die ganze Band steht oder fällt mit dem Beat. Schlagzeuger kriegen nicht immer viel Aufmerksamkeit, aber sie sind das Spannseil, das den ganzen Laden zusammenhält.“

Shelly rollte Mary zurück auf den Rücken und brachte die volle Windel zur Tür. „Das mag sein, aber wenn der kleine Duracellhase nicht bald seine Note in Chemie verbessert, wird der einzige Rhythmus, den er hören wird, mein Fuß sein, der ihn in den ...“ Sie formte die letzten Worte nur mit dem Mund.

„Da kann ich dir nicht helfen.“

Shelly ging. Mary und ich mussten lachen. Dabei bekam Mary einen Hustenanfall. So hatte sie sich schon lange nicht mehr angehört. Sie hustete und man hatte das Gefühl, es würde sich einiges lösen.

Ich sah sie ernst an. „Hat Dr. George das schon gehört?“

„Er war letzte Woche hier und heute früh auch.“ Sie zeigte auf ein Fläschchen, das auf dem Nachttisch stand. „Ein ganz neues Antibiotikum. Soll die kleinen Plagegeister töten.“ Ihr gutes Auge sprang von links nach rechts. Es rollte weg von mir zu Daley, die auf einem Stuhl an der Wand saß. Mary schien überrascht, noch eine dritte Person im Zimmer zu entdecken.

„Oh, hi. Hab Sie nicht gesehen.“ Sie tastete nach ihrer Brille mit Gläsern so dick wie Aschenbecher, setzte sie auf und schob sie nach oben. Dann legte sie den Kopf schief, um Daleys Gesicht zu betrachten, erst in die eine Richtung, dann in die andere. Schließlich richtete sie ihn wieder auf. „Das sind ja Sie!“

Daley stand auf und reichte Mary die Hand. „Hallo, ich bin Da...“

Mary umklammerte sie mit beiden Händen. „Ich weiß, wer Sie sind.“ Mit einer ausladenden Bewegung deutete sie auf die Wände. „Ich kann nur nicht glauben, dass Sie in meinem Zimmer stehen.“

Eine meiner Aufgaben hier ist, für Unterhaltung zu sorgen. Beziehungsweise meine einzige Aufgabe. Als Teil dieses Auftrags hatte ich Dads Bus repariert und so viele Bewohner und Pflegepersonal wie hineinpassten zu Konzerten in der Gegend kutschiert. Nie mit Übernachtung, nur zum Konzert und zurück. Und Daley Cross war eine der Favoritinnen im Haus. Jedes Mal, wenn sie im Umkreis von Buena Vista auftrat, wurden die Rufe nach einem Ausflug laut. Von allen Konzerten hatte Mary die Eintrittskarten, Programme und Poster aufgehoben und sie hingen nun eingerahmt an den Wänden. Eine lebende Gedenkstätte für Daley Cross.

Mary sah mich an, wischte sich die Haare aus dem Gesicht und tastete nach ihrem Lippenstift auf dem Nachttisch. „Du hättest mich warnen sollen.“

„Hättest du mir denn geglaubt?“

„Nein. Aber du hättest es wenigstens versuchen können.“

Sie zog die Kappe vom Lippenstift, aber ihre Hand zitterte viel zu sehr. Sie würde es nur noch schlimmer machen. Daley setzte sich neben ihr Bett. „Darf ich?“

Mary versuchte, still zu liegen, während Daley ihr die Lippen nachzog. Marys Körper drückte aus, was ihr Gesicht nicht konnte. Als sie fertig waren, legte ich meinen Gitarrenkoffer unten aufs Bett, löste die Bremsen und schob sie durch die breite Tür. „Bist du bereit?“

„Ich schätze, du wirst mir nicht verraten, was jetzt kommt, oder?“

„Nö.“

Sie hielt Daleys Hand, während ich sie den Flur entlangschob.

„Cooper O’Connor!“

„Ja, Ma’am.“

„Das zahl ich dir heim.“

Ich lachte. „Dann ist das hier ein erstes Konziliationsangebot.“

Sie zog die Nase kraus. „Konzi-was?“

Der Flur führte zu einem Saal, in dem ein großer schwarzer Mann mit Anzug und dunklen Lederschuhen an einem Klavier saß und leise spielte, um sich die Hände aufzuwärmen. „Konziliation“, sagte er über die Schulter.

Mary drehte sich um. „Nicht du auch noch.“

Er spielte lauter. „Sein Vater liebte das Wort. Hat er andauernd benutzt.“

Mary runzelte die Stirn. „Du weißt, dass ich nicht folgen kann, wenn du mit diesen neunmalklugen Wörtern um dich wirfst. Was bedeutet das?“

„Es heißt Versöhnung.“

„Big-Big“, sagte ich, „darf ich vorstellen: Daley Cross.“

Er lächelte, spazierte mit seinen Pranken über die Tasten und sah uns über die Schulter an. „Miss Daley Cross. Den Namen kenne ich doch. Wie geht es Ihnen heute? Willkommen zur Singstunde.“

Die Schwestern brachten Bewohner in Betten und Rollstühlen und machten eine Art Kreis um das Klavier. Miss Fox saß mit ihrem Strickzeug da und murmelte, wann Renny sie endlich abholen würde. Mr Barnes stand in der Ecke, hatte seine obligatorischen Holzfällerboots an, einen Kittel und sonst nichts. Miss Phillips saß im Rollstuhl, klaubte ihre Zahnprothese aus dem Mund und steckte sie wieder hinein. Miss Anderson lag in ihrem Bett und schlief. Die Schwestern hatten es an die Wand geschoben. Und Mr Simpson saß auf einem Hocker und sah mich erwartungsvoll an. Der Rest murmelte leise etwas vor sich hin. Soweit ich wusste, war die einzige Gemeinsamkeit dieser Leute, dass sie hier in Riverview wohnten und einst meinen Vater gekannt hatten.

Ich ging zu einem Abstellraum und holte noch einige Instrumente heraus. Vor Mr Simpson baute ich drei umgestülpte Plastikeimer auf und gab ihm Sticks. Miss Fox reichte ich ein Tamburin und legte eins zu Miss Anderson ins Bett. Miss Phillips bekam eine Glocke. Dann fing ich an, meine D-35 zu stimmen.

Big-Big wartete erst gar nicht auf eine Antwort von Daley. „Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich und lassen Sie Ihre Engelsstimme hören. Zeigen wir den jungen Hüpfern mal, was richtige Musik ist.“

Big-Big war noch fit genug, um allein zu wohnen, aber er hatte trotzdem vor einigen Jahren sein Haus in der Stadt verkauft und war mit meiner Hilfe in eins der Apartmenthäuser hier auf dem Gelände gezogen. Die Wohnstätten mit Einzelapartments hatten einen erstklassigen Ausblick auf die Collegiate Peaks und waren in Reichweite des Pflegepersonals, falls ein Bewohner Hilfe brauchte. Big-Big konnte jederzeit kommen und gehen und sein Essen entweder selbst zubereiten oder im Speisesaal mit den anderen einnehmen. Das Ganze war unabhängiges Wohnen für Leute, die nicht mehr wussten, wie lange sie noch unabhängig waren.

Eine der Schwestern hatte den Beamer eingeschaltet und saß vor einem Laptop, mit dem sie die Texte an die Wand warf. Daley setzte sich neben mich und wollte mir gerade etwas ins Ohr flüstern, als Big-Big einen meiner Lieblingschoräle anstimmte. Seine Stimme war ideal für dieses Kirchenlied. „When the roll is called up yonder ...

Ich reihte mich ein und ließ die Gitarrensaiten klingen. Big-Bigs friedlich dröhnender Bass räumte irgendwie meine Sorgen aus. Nach kurzer Zeit stimmte Daley ein und sang leise eine zweite Stimme. Big-Big lächelte und wiegte seinen Kopf hin und her. Nachdem nun alle wach waren, leitete er zuerst zu „I’ll Be a Sunbeam“ und anschließend zu einem der Lieblingschoräle im Haus, „In the Garden“, über.

Bald darauf stand Daley neben Mary, klatschte und sang. Mr Simpson hielt den Takt auf seinen Eimern fast ohne Fehler und die Damen mit Tamburin und Glocke bildeten eine gelungene Umrahmung. Irgendwann fielen Miss Phillips die Zähne aus dem Mund und rutschten quer durch den Raum zum Klavier. Überrascht, aber nicht angeekelt hob Daley sie auf und gab sie ihr zurück. Miss Phillips schob sie schnell wieder hinein, grinste und setzte ihre Glocke wieder in Gang. Beeindruckt von ihrem Einsatz trat mitten im Refrain von „Blessed Assurance“ Mr Barnes nach vorn und forderte Daley zum Tanz auf. Sie willigte höflich ein und behauptete sich bei einem Dosido im völlig falschen Tempo mit dem Zweiundneunzigjährigen. Obwohl sie fast vor Schreck stehen blieb, als er sich umdrehte und sein Kittel aufwehte. Sie schlug eine Hand vor den Mund und zeigte mit der anderen darauf. „Hilfe!“

Ich schüttelte belustigt den Kopf. „Manchmal zieht er den Kittel auch falsch herum an.“

Daley lachte und hielt sich die Augen zu. „Bitte nicht.“

Die ganze Zeit über lag Mary im Bett und bewegte nichts außer ihrem Kopf und Hals. Sie sang aus Leibeskräften. Big-Big leitete zu „Come Thou Fount“ über und ich zupfte das Intro. Da sprang Miss Fox auf und fing an zu klatschen. Mit dem Blick zur Decke sang sie eine zweite Stimme zu Daley. Als wir bei der vierten Strophe waren, spielte Big-Big immer leiser und machte Platz für Miss Fox’ Solo. „Prone to wander, Lord, I feel it ...

Unterstützt von Daleys leisem Gesang führte uns Miss Fox bis zur letzten Strophe. Der Chor des Riverview Center war in Hochform und sang nur minimal schief.

Nachdem er ihr für ihren wertvollen Beitrag gedankt und Miss Fox unter dem Applaus der wachsenden Zuhörerschaft aus Pflegepersonal und Bewohnern Platz genommen hatte, stimmte Big-Big „Great Is Thy Faithfulness“ an. Hinterher warf er Mary einen Blick zu, die schon strahlend in ihrem Bett darauf wartete, ihr eigenes Solo zu singen. Big-Big spielte ein paar Akkorde zur Überleitung und hörte dann auf, legte die Hände in den Schoß und wartete darauf, dass ich das nächste Intro übernahm.

Ich spielte die ersten Töne mit dem Plektrum und verlagerte mich dann auf leise Akkorde, um Mary das Signal zu geben. Sie setzte auf den Schlag genau ein und ließ ihre zittrige Stimme erklingen: „When I survey the wondrous cross, on which the Prince of Glory died ...“ Spontaner Applaus brachte sie nur noch mehr zum Lächeln. Daley stellte sich neben ihr Bett und sang leise mit. Mary drückte auf die Fernbedienung ihres Bettes und stellte die Rückenlehne auf, bis sie fast aufrecht saß, nahm Daleys Hand und sang mit ihrer neuen Freundin.

Big-Big dankte allen, die gekommen waren, erinnerte an das gemeinsame Eisessen am nächsten Nachmittag und daran, bitte das Rotwild nicht zu füttern. Und als Ruhe eingekehrt war, ließ er die ersten Töne des letzten Liedes erklingen. Dabei drehte er sich zu Daley um und sagte: „Miss Cross, seien Sie doch so nett. Setzen Sie sich zu mir und singen Sie uns etwas vor.“

Daley schlängelte sich durch die Betten und setzte sich auf die Klavierbank, den Rücken an Big-Bigs linke Schulter gelehnt. Sie setzte an und sang mit einer Klarheit, die ich schon lange nicht mehr gehört hatte.

O Lord my God, when I in awesome wonder ...“ Als sie die vierte Strophe sang, filmten viele Mitarbeiter des Pflegepersonals mit ihrem Handy mit. Big-Big spielte mit geschlossenen Augen. „How great thou art ... how great thou art.“ Der letzte Ton klang unter der holzvertäfelten Decke nach. Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Da fing Mr Barnes an zu klatschen und alle stimmten mit ein.

Ich weiß nicht, was ihr Gesang in den anderen ausgelöst hatte, aber als Daley aufstand und Big-Big einen Kuss auf die Wange gab, waren ihre Schultern aufrechter und die Falten um die Augenwinkel verschwunden.

Big-Big stand auf und verbeugte sich vor Daley. „Bitte kommen Sie wieder“, sagte er und zeigte auf mich. „Er klingt besser, wenn Sie auch da sind.“

Wir schoben Mary zurück in ihr Zimmer. Shelly hatte die Idee, ein Erinnerungsfoto zu machen, das eingerahmt werden und einen Platz an der vollen Wand finden sollte. Daley zögerte nicht lange und kletterte zu Mary aufs Bett. Die beiden posierten wie zwei lang verschollene Schwestern und Mary strahlte über das ganze Gesicht.

„Miss Cross?“, sagte Mary, als wir gerade gehen wollten. Daley wandte sich noch einmal um.

Mary hielt eine CD in der Hand. „Darf ich ein Autogramm haben?“

Es war Marys zweites Album. Vor zwanzig Jahren hatten wir es gemeinsam in Nashville aufgenommen, kurz vor dem Feuer. Daley setzte ihren Namen darauf und reichte die CD zurück, blieb aber am Bett stehen und sah mich an. Sie tippte mit den Fingern auf dem Gitter herum, das ein Herausfallen verhindern sollte. „Mary, hat Cooper Ihnen je etwas über die CD erzählt?“

Mary schüttelte den Kopf. „Was meinen Sie damit?“

„Hat er Ihnen erzählt, dass er der Gitarrist ist?“

Mary bekam große Augen. „Nein!“ Sie sah mich an. „Das hat er mir nie verraten.“

Daley nickte. „Hab ich mir gedacht.“ Sie zog sich den Hocker heran und wendete die CD hin und her. „Hat er Ihnen erzählt, dass acht von diesen Songs aus seiner Feder stammen?“

Mary fiel fast aus dem Bett. „Was?“

Daley zeigte auf die Titelliste. „Den hier hat er geschrieben, diesen hier, diesen ...“ Marys Augen wurden immer größer. „Und wenn Sie eine Gitarre hören, dann war er das.“

„Das heißt ja ... dass Cooper fünf Nummer-eins-Hits geschrieben hat.“

Daley nickte. „So ist es.“

Mary griff nach einem Kissen und warf nach mir. „Cooper O’Connor! Seit fünfundzwanzig Jahren liege ich hier und verschmelze immer mehr mit diesem Bett und du hast nie auch nur einen Piep gesagt.“ Dann warf sie ein zweites Kissen nach ihm. „Ich kann es nicht glauben!“

Ich zuckte mit den Achseln und legte die Kissen zurück auf ihr Bett, außerhalb ihrer Reichweite.

Daley tätschelte ihr die Hand. „Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren.“

Mary verschränkte die Arme und lächelte kampfeslustig. „Und ich werde ihn mir ordentlich zur Brust nehmen, wenn Sie nicht da sind, auch wenn ich dann wie eine Verrückte aussehe, weil ich ihn anschreie.“

„Cooper?“, rief Mary, als wir zum zweiten Mal fast aus dem Zimmer waren.

Ich steckte den Kopf noch einmal hinein. „Jetzt sind wir quitt.“ Dann schloss ich die Tür.

Sie lachte laut auf. „Oh, von wegen! Wir sind kein bisschen quitt und ...“

Auf dem Weg zum Parkplatz sagte Daley kein Wort. Wir stiegen in den Jeep. Ich ließ den Motor an, setzte mir die Costas auf und wollte gerade den Rückwärtsgang einlegen, als Daley auf einmal ihre Hand auf meine legte. Ihr Kopf lehnte an der Kopfstütze und sie sah mich aus dem Augenwinkel an. „Danke.“

„Wofür?“

Sie nickte in Richtung des Gebäudes, das wir gerade verlassen hatten. „Dafür.“

„Nein, ich danke dir. Du hast vielen Menschen den Tag versüßt. Und Mary gleich das ganze Jahr. Wenn nicht sogar Jahrzehnt. Wahrscheinlich ist dein Auftritt längst der nächste Hit auf YouTube.“

„Verglichen mit dem, was diese Leute mir gegeben haben, war mein Beitrag ein Witz.“ Daley schloss die Augen. „Es ist schon lange her, dass überhaupt jemand ein Video von mir hochgeladen hat.“

Als die Sonne hinter Mount Princeton versank, kam die Kälte aus den Ritzen gekrochen. Hier draußen ist sie nie ganz weg. Noch nicht einmal in den Sommermonaten. Sie versteckt sich nur hinter Steinen und im Wasser, bis die Sonne weg ist. Jetzt, beinahe Anfang Oktober, wartet sie nicht lange, bis sie herauskommt.

Ich fuhr vom Parkplatz und blickte noch einmal in den Innenspiegel. Auf dem Rasen vorm Haus stand Big-Big und sah uns nach.

Er lächelte.

Kapitel 7

Buena Vista liegt eingebettet am Fuß der Collegiate Peaks, ist aber kein Winterurlaubsort wie Vail, Aspen oder Steamboat. Hier ist es im Winter still. Nur wenige Besucher verirren sich hierher. Im Sommer ist das anders. Der Continental Divide Trail, Quad-Touren, Rafting, Kajakfahren, Stand-up-Paddeln und Mountainbiking schwemmen eine Menge Touristen in die Stadt. Einige Tausend abenteuerlustige Studenten kampieren hier, um die Rafting-Firmen, Sommercamps, Ausrüstungsshops und all die Outdoorabenteuer zu besetzen. Für die wenigen Tausend Einwohner, die „Bju-nie“ ihr Zuhause nennen, gehört die Flut und Ebbe der Abenteuerlustigen genauso dazu wie die Schneeschmelze im Frühling.

Notwendig eben.

Das Ptarmigan wurde in den 1860ern eigentlich als Kirche errichtet. Die Granitblöcke für den Bau hatte man direkt aus den Bergen geholt. Die Wände sind fast anderthalb Meter dick und tragen eine Gewölbedecke und eine Empore, von der man auf eine kunstvoll geschnitzte Bühne schaut. Angesichts der schwindenden Zahl an Gemeindegliedern baute ein Unternehmer um die Jahrhundertwende die Kirche zu einem Theater mit vierhundert Sitzplätzen um. 1929 wurde es geschlossen und das Gebäude fast fünfzig Jahre sich selbst überlassen.

Als mein Vater es 1990 bei einer Zwangsversteigerung für einen Bruchteil seines Werts kaufte, waren die Wände voller Graffiti, fast alle Buntglasfenster zerbrochen oder zerschossen und das Dach undicht. Hausbesetzer hatten Matratzen in den Saal gebracht, die schnell Ratten angezogen hatten.

Durch einen „Konstruktionsfehler“, wie mein Vater es nannte, war die Akustik im Haus jedoch phänomenal. Er wusste nicht, was er mit dem Haus vorhatte, und wenn doch, hat er es mir nie verraten, aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es immer weiter verfiel. Ich weiß noch, wie er auf den Stufen zum Eingang stand und den Kopf schüttelte. „Wie kann man nur aus einer Kirche ein Theater machen?“ Dad konnte das nie verstehen.

Welche Pläne er für das Theater auch immer hatte, sie wurden nie Realität.

Als ich nach Buena Vista zurückkehrte, kratzte ich mich am Kopf, warf einen langen Blick auf das Ptarmigan und beschloss, zu Ende zu führen, was mein Vater begonnen hatte. Zumindest hatte ich dadurch etwas zu tun, während mein Kopf sich langsam enthedderte. Das Ptarmigan ist nach einem fasanenartigen Vogel benannt, auch bekannt als Alpenschneehuhn, das sich seiner Umgebung sehr gut anpasst. Er bevorzugt karge, schneereiche und zerklüftete Gipfel und sein Gesang hört sich an wie ein lautes Krächzen.

Wie gemacht für mich.

Beim Versuch, dem Ptarmigan zu seinem alten Glanz zu verhelfen, kam schnell ein Problem zutage. Geld. Ich hatte Nashville mit sehr wenig davon hinter mir gelassen. Jimmy in einer Hand, Erinnerungen in der anderen – und leider viele schmerzhafte. Angesichts unseres unschönen Auseinandergehens musste ich davon ausgehen, dass sich der hinterhältige Produzent und die verbitterte Daley das Geld, das wir mit meinen Songs verdient hatten, geteilt hatten und es ihnen zwischen den Fingern zerronnen war. Trotzdem rief ich meine Bank in Nashville an.

Offensichtlich waren wir nicht das erste Pärchen in Music City, das auf so verletzende Art getrennte Wege ging. Als mir der Angestellte meinen Kontostand nannte, ließ ich fast den Hörer fallen. „Wie bitte?“

In den fünf Jahren seit meinem Weggang hatten sich meine Tantiemen angesammelt und Zinsen gebracht. Ich konnte mir keinen Privatjet oder eine Villa in den Hamptons leisten, aber ich war bei Kasse.

Wenige Jahre später hatte ich den Collegiates ihr Juwel, ein anheimelndes Theater mit einigen hundert Sitzplätzen, wiedergegeben. Außerdem hatte ich die Empore zu einer Wohnung umbauen lassen, wo ich den Winter über wohnte, wenn mich Schnee und Eis aus meiner Berghütte vertrieben. Aus einer Laune heraus ließ ich mir sogar ein recht gut ausgestattetes Studio installieren.

Es dauerte nicht lange, da war das Ptarmigan eine beliebte Location für Unplugged-Konzerte, Weihnachtsmusicals von Schulen, den „Nussknacker“ und Chöre auf Tour.

Jetzt, wo das Ptarmigan wieder in Schuss war, widmete ich mich dem Lariat, auch bekannt als das „The Rope“. Im Rope gab es jeden Abend Livemusik und unter Singer-Songwritern westlich der Rocky Mountains hatte es sich inzwischen einen Namen gemacht. Man verdiente nicht viel, aber das Publikum war treu und dank der Flut durstiger Collegestudenten im Sommer sprach es sich als Geheimtipp herum. Ich wollte mein Engagement für das Haus geheim halten und gründete deswegen eine GmbH, nannte sie „Timbrel and Pipe“ und kaufte das Rope. Abgesehen von meinem Anwalt wusste niemand davon, und das ist mir auch ganz recht so.

Das Rope ist ein altes Backsteingebäude und hat zwei große, gewölbeartige Räume. Die Decke ist gut viereinhalb Meter hoch, was erklärt, dass die Freiwillige Feuerwehr hier in den Fünfzigern und Sechzigern einen Leiterwagen unterstellen konnte. In einem Raum kriegt man Bier und Halbwahrheiten aufgetischt, im anderen gibt es Musik und den Rest der Wahrheit. Die Akustik ist gar nicht mal so übel und je mehr Bier Frank ausschenkt, desto besser wird sie.

Frank Green ist aktuell der Geschäftsführer. Ich habe ihn am Telefon eingestellt und seinen Chef hat er nie zu Gesicht bekommen. Er kommt von hier und abgesehen davon, dass er ein Lügner, Betrüger und Dieb ist, der seine Künstler unterbezahlt, ist er ganz gut in seinem Job. Er hat eine Glatze und buschige Augenbrauen, legt in der Körpermitte zu, sieht einem fast nie in die Augen, fährt einen zwanzig Jahre alten qualmenden Pick-up und steckt sich pro Woche drei- bis fünfhundert Dollar aus der Kasse ein.

Damit bezahlt er die Medikamente für seine krebskranke Frau und die Logopädin für seine Tochter.

* * *

Frank sah uns kurz an, als Daley und ich eintraten. Er nickte mir zu, wischte den Tresen und widmete sich dann dem Fußboden mit einem Wischmopp. Seine Schultern hingen herab.

„Wie geht es Betty?“, fragte ich.

Er steckte den Wischmopp in den Eimer und betätigte den Auswringhebel. Der Duft von Pine-Sol erfüllte die Luft. „Etwas besser heute.“

Er hat mich noch nie angesehen, wenn ich ihm diese Frage stellte, und auch die Antwort fiel jedes Mal gleich aus. Obwohl Betty im Lauf der Jahre ein Dutzend Mal ins Krankenhaus gekommen war. Oder sogar auf die Intensivstation, weil sie gegen diese oder jene Infektion kämpfte.

Über ihm an der Wand hing ein Poster mit einer idyllischen Südseeinsel. Palmen, Strand, Cocktails mit Schirmchen. Frank war noch nie außerhalb von Colorado gewesen. Genauso wenig wie seine Frau oder Tochter. Die Ecken des Posters rollten sich schon nach innen. Es war eine sichtbare Erinnerung an den Urlaub, den er nie machen würde. Früher habe ich Frank dabei erwischt, wie er das Bild ansah. Heute kommt es nur noch selten vor.

Mehr als einmal – wenn Frank zu tief in eine Flasche Bourbon geschaut hatte – hat er mir erzählt, wie sein betrunkener Vater ihm schon als kleinen Jungen immer einen Schlag auf den Hinterkopf gegeben und ihn angeblafft hatte, während sich der Speichel in seinen Mundwinkeln sammelte: „Du Nichtsnutz. Aus dir wird nie etwas werden. Warum tust du uns nicht den Gefallen und krepierst endlich?“

Frank sah dann immer aus dem Fenster, nahm einen Schluck, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und donnerte das Glas mit einem gequälten Lächeln auf den Tisch. „Und er hatte recht!“ Und jedes Mal fielen mir nicht seine muskulösen Arme auf, die baumstammartigen Beine oder die gespielte Tapferkeit in seiner Stimme, sondern die Tränen in seinen Augen.

In den ersten Jahren, als er für mich arbeitete, war er fair und ehrlich. Dann wurde seine Frau krank.

Ich setzte mich in eine Ecke und stöpselte Ella in den Verstärker. Angesichts von Daleys kräftiger Stimme brauchte ich ein Instrument mit etwas Durchsetzungsvermögen, und auch wenn ich im kleinen Saal im Riverview Center eher leise und abgedämpft gespielt hatte, meine D-35 konnte beides. Daley stand schräg rechts vor mir, das Mikro vor sich. Ausgewaschene Jeans. Klassisches Oxfordhemd. Pferdeschwanz. Ihr rechter Ärmel war aufgeknöpft und bedeckte den größten Teil der Armschiene. Der Glanz und Glamour des einstigen Stars war weg. Sie stand einfach nur da. Ohne Ansprüche. Ohne den Versuch, irgendeine frühere Version von sich selbst zu sein. Daley war einfach nur Daley.

Während ich die Gitarre stimmte, warte Daley und sah zu. „Zu Weihnachten schenke ich dir ein Stimmgerät“, sagte sie und lächelte.

Ich tippte auf mein Ohr. „Ich habe eins hier drin. Wie der eingebaute Anspitzer bei den Buntstiftpackungen früher.“

Sie wollte mich etwas fragen. Das konnte ich sehen. Und auch, wie Daley versuchte, ihre Frage hinunterzuschlucken.

Also antwortete ich ungefragt: „Der Chirurg in Nashville scheint beim Rekonstruieren des Trommelfells ganze Arbeit geleistet zu haben. Ich kann hören wie Steve Austin.“

„Wer?“

Ich zupfte die tiefe E-Saite und stimmte sie fast zwei Oktaven tiefer. „Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann.“

Sie lachte. Die Anspannung fiel sichtlich von ihr ab und gesellte sich zu unserer schmerzhaften Vergangenheit.

Manche Menschen werden auf der Bühne nervös. Sie schwitzen. Stammeln. Stolpern. Reden zu viel, weil sie die Stille nicht ertragen. Andere sind für die Bühne wie geschaffen. Was mir an Livemusik am besten gefällt, ist, mit Leuten zusammenzuspielen, die beim Betreten der Bühne vergessen, dass sie dafür bezahlt werden. Daleys Gesicht sagte mir, dass sie auch ohne Bezahlung gesungen hätte – trotz Franks schneller Entschuldigung und dem Versprechen, den „Fehler“ auszubügeln und ihr die üblichen dreihundert Dollar für neue Acts zu bezahlen.

Was die ganze Sache noch spannender machte, war die Tatsache, dass außer uns dreien nur noch zwei Leute im Lokal waren. Daley machte sich also darauf gefasst, vor einem Publikum aus zwei Zuhörern zu singen – die mittlerweile sicher ihr drittes oder viertes Bier vor sich stehen hatten. Was wiederum bedeutete, dass sie Daley in etwa zwanzig Minuten wahrscheinlich gar nicht mehr hörten.

Es sah nach einem großartigen Abend aus.

Ich spielte ein paar Tonleitern und wärmte meine Finger auf. Daley warf mir einen Blick über die Schulter zu. „Kann ich dich auf ein Bier einladen?“

Ich warf mir eine weitere Tablette gegen Magenbeschwerden ein. „Nein, danke.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Sodbrennen?“

„So was in der Art.“

Mit einem Schmunzeln sah sie mir beim Spielen zu. „Bist du so weit oder möchtest du lieber noch ein bisschen üben?“

„Bitte, nach Ihnen.“

Sie feixte. „Und übrigens, wir fangen in E-Dur an. Du weißt doch, wo das ist, oder?“

Meine Finger durchliefen still die E-Dur-Tonleiter auf dem ganzen Griffbrett. „Augenblick, ich suche noch.“

Ohne Begrüßung, ohne Pomp, ohne den Versuch, die Nerven durch eine lange Einleitung zu beruhigen, setzte Daley zu singen an und ich hatte das Gefühl, Janis Joplin persönlich würde auf der Bühne stehen. Nach „Me and Bobby McGee“ schloss sie direkt „Piece of My Heart“ an. Jetzt, wo sie unsere Aufmerksamkeit hatte und die Stimme eingesungen war, verließ sie die Standardschiene, schwang sich drei Stockwerke höher in Richtung unantastbar und sang Whitney Houstons „I Will Always Love You“.

Ich hörte auf zu spielen, um ihr besser zuhören zu können, aber sie warf mir einen Was soll das?-Blick zu. Als meine Finger wieder den Gitarrenhals berührten und die Töne erklangen, dachte ich nur: Wie kann man nur so mutig sein und einfach mal so Whitney Houston singen?

Ihr Auftritt sprach sich herum. Oder vielleicht schallte ihre Stimme bis auf die Straße hinaus. Jedenfalls war sie ungefähr beim sechsten Song und wir hatten auf einmal fünfzig, sechzig Leute im Publikum, die von benachbarten Restaurants oder einfach von draußen hereingekommen waren. Viele machten große Augen. Alle waren wie gebannt. Niemand sah zu mir, was wohl hieß, dass ich meinen Job ganz gut machte. Als Daley ihr Set mit einer sinnlichen Ballade beschloss, war längst ein Keil in der Tür und die Leute tranken draußen Bier und ließen die Fenster von draußen beschlagen. Es gab nur noch Stehplätze.

Irgendwann in der Geschichte der Musik entstand das illusorische Idealbild eines Musikerlebens. Musiker sind so wahrhaftig und authentisch, verstehen die Existenz der Menschheit und die tiefen Mysterien des Universums, wenn sie ihre Lieder singen, und zugleich bekämpfen sie im Stillen ihre selbstzerstörerischen Impulse und inneren Dämonen. Dieser unsichtbare Konflikt verleiht dem Ganzen noch mehr Dramatik. Und in diesem Wirbel aus seelenzerfressender Angst, Wut und Qualen kämpft die einsame Stimme beherzt und wacker, schöpft daraus ihre Kraft und mündet schließlich in einen Song.

Daley war überhaupt nicht so.

Daley schöpfte aus etwas anderem. Aus einer reinen Quelle. Einer Quelle, die sie geschützt hatte, obwohl sie selbst von niemandem in Schutz genommen worden war. Sie hatte ihr eigenes Reservoir. Keinen Konflikt. Keine Angst. Keine Dämonen. Sie brachte einfach ihr Lied auf die Bühne und machte den Mund auf. Bei ihr war es keine Darbietung.

Sondern eine Darbringung.

Daleys Gesang sprudelte aus ihr heraus wie Wasser. Und wir, das Publikum, waren viel zu lange in der Wüste gewesen.

Mitten im zweiten Set stand einer der beiden Männer, die von Anfang an da gewesen waren, auf und taumelte auf die behelfsmäßige Bühne zu, der Blick eine Mischung aus Ungläubigkeit und Verzückung. Ich rutschte schon bis zur Kante meines Hockers vor, aber Daley bedeutete mir hinterm Rücken, mich zurückzuhalten. Der Mann griff in seine Tasche, holte einige zerknitterte Dollarscheine hervor und legte sie vor ihr auf den Boden. Mit den Lippen formte Daley ein „Danke“ und er kehrte an seinen Platz zurück – rückwärts. Andere folgten seinem Beispiel. Als das zweite Set vorbei war, brachte uns Frank ein leeres Gurkenglas und stellte es vor Daley. Mit den Scheinen war es fast halb voll.

Daleys Bühnenpräsenz war so routiniert, als wäre sie seit zwei Jahrzehnten auf Tour. Sie nahm Augenkontakt mit dem Publikum auf und sprach auch zwischendurch mit ihren Zuhörern.

„Woher kommen Sie?“

„Sie sehen aus, als wären Sie schon lange verheiratet. Verraten Sie uns Ihr Geheimnis!“

„Danke für die Einladung! Das ist keine so gute Idee, aber vielleicht kann ich was für Sie singen?“

„Hi. Haben Sie einen Lieblingssong?“

„Oh, Sie haben Geburtstag? Na, dann mal alles Gute!“

Ein Paar mit seiner acht- oder neunjährigen Tochter hatte sich Stück für Stück in die gefüllte Kneipe vorgekämpft und die Kleine sang viele Songtexte mit.

Daley zeigte auf das Mädchen. „Hey, Mom und Dad? Darf sie mir vielleicht helfen? Hast du Lust? Na, komm nach vorn.“

Die Menge teilte sich wie das Rote Meer und die Kleine stieg auf die Bühne. Daley holte sich einen Hocker und half ihr draufzuklettern. Ihre Füße baumelten in der Luft. Daley hockte sich hin und fragte: „Was wollen wir singen?“ Die Kleine flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Noch nie habe ich eine so schöne Version von „Over the Rainbow“ gehört. Das Publikum fraß den beiden aus der Hand. Ich war genauso gebannt wie alle anderen. Irgendwann hörte ich einfach auf zu spielen. Wieder traf mich ein fragender Blick, aber dieses Mal schüttelte ich den Kopf. Als Nächstes sangen die beiden „On Top of Spaghetti“. Noch während das Publikum applaudierte, raunte ihr das Mädchen den nächsten Vorschlag zu, und die beiden brachten die Menge mit „You Are My Sunshine“ zum Toben.

Ray Charles, Roy Orbison und zwei Dutzend andere Songs: Daley übergoss das Publikum mit ihrer Stimme und die Leute tranken begierig. Versanken darin. Als sie John Denvers „Rocky Mountain High“ anstimmte, setzte die ganze Kneipe mit ein und brachte die Fenster zum Klappern. Daley legte „You’ve Lost That Loving Feeling“ der Righteous Brothers nach und krönte das Ganze mit „Unchained Melody“. Spätestens jetzt wollte jeder Mann im Rope Daley küssen. Mich eingeschlossen.

Daley war vom Singen regelrecht durchgeschwitzt und Frank brachte ihr ein Handtuch und öffnete eins der Tore, damit das Konzert sich auch nach draußen verlagerte. Daley trocknete sich Gesicht und Arme ab und scherzte noch, dass, während andere Frauen leicht transpirierten, sie nun mal richtig schwitze. Irgendwann, nach fast drei Stunden, ließ sie sich erschöpft auf ihren Hocker nieder. „Ich denke, wir haben genug für heute gespielt. Ihr wart ein fantastisches Publikum, aber zuerst“, und damit zeigte sie auf mich, „bitte ich um einen riesigen Applaus für den besten Gitarristen, den ich je gehört und mit dem ich je zusammen spielen durfte, Cooper O’Connor.“

Die Menge, die mittlerweile aus über hundertfünfzig Leuten bestehen mochte, war aber noch nicht bereit, Daley ziehen zu lassen. Sie stampften mit den Füßen, donnerten mit ihren Gläsern auf die Tische und verlangten nach einer Zugabe. Bereitwillig kam Daley ihrer Bitte nach und legte eine genüssliche Version von „Can’t Get Enough of Your Love“ hin. Das Einzige, was jetzt noch fehlte, war eine Discokugel und Barry White höchstpersönlich. Jetzt hast du alles gesehen, dachte ich im Stillen.

Als ich ihr so zusah, kam mir ein Gedanke. Ich spielte ein paar Töne und Daley drehte sich zu mir um. „Kennst du das hier noch?“, fragte ich sie und begann, Blitz und Donner zu imitieren.

Daley wandte sich ans Publikum. „Es ist schon eine Ewigkeit her, dass ich diesen Song gesungen habe. Ich habe die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gewartet.“

„Kennst du den Text noch?“, raunte ich ihr zu.

Daley stand auf, hob das Mikrofon und grinste mich an. „Kannst du die Akkorde noch?“

Das Publikum ging mit und einige holten ihre Handys heraus und filmten. Seit zwanzig Jahren hatte ich nicht mehr so viel Spaß gehabt. Als Daley den letzten, hohen Ton sang, bemerkte ich die pulsierende Vene, die an ihrem Hals hervortrat, und wusste, dass sie am Ende ihrer Kräfte war.

Das Publikum hielt es nicht mehr auf den Sitzen. Der Applaus dauerte fünf Minuten. „Wenn wir sowieso schon alle stehen“, sagte Daley irgendwann, „dann lasst uns den Abend mit einem alten Trinklied beschließen. Meine Stimme ist am Ende, und ihr werdet das auf euren Videos sehen. Deswegen brauche ich eure Hilfe. Kommt, wir singen alle zusammen.

Der Mann, der diesen Song geschrieben hat, verbrachte viel Zeit in Kneipen. Daher kommt auch die Melodie. Die Worte schrieb er im Bauch eines Sklavenschiffs, als ihm endlich bewusst wurde, wie sehr er sein Leben vergeudet hatte. Ich glaube, er schrieb diesen Text, weil er ihn brauchte, und wenn der heutige Abend etwas in mir ausgelöst hat, dann, dass ich ihn auch brauche. Vielleicht geht es euch genauso.“ Sie winkte mich heran und stellte das Mikrofon zwischen uns. Ihre Hand ging zu ihrem Hals, und sie schüttelte ganz leicht den Kopf. „Hilfe“, raunte sie mir zu.

Obwohl ich der Meinung war, dass wir den Höhepunkt an diesem Abend längst erreicht hatten, stellte ich erstaunt fest, wie Daley einen halb betrunkenen Chor aus bärtigen und tätowierten Söhnen von Bergarbeitern, Fernfahrern, Rafting-Guides, Skinarren und Sessellifthäschen dazu brachte, aus voller Kehle „Amazing Grace“ zu singen.

Irgendwann in der zweiten Strophe zupfte sie mich am Ärmel in Richtung Mikro, als ob sie sagen wollte: Warum singst du nicht mit?

Mein Vater war eins fünfundneunzig gewesen, hatte eine tiefe Stimme, die Spannweite eines Adlers, und wenn er Kirchenlieder sang, hob er immer die Arme. Egal, wo er war. Egal, was die anderen dachten. Und wenn er es tat, war er nicht zu übersehen, denn sein Körper und seine Stimme stachen heraus. Ich war höchstens vier, als wir zum ersten Mal nebeneinander dieses Lied sangen. Ich reichte ihm gerade mal bis zur Hüfte. Big-Big hatte damals das Vorspiel am Klavier gemacht, und als Dad das Wort A-ha-may-zing schmetterte, weiß ich noch, wie mein ganzer Brustkorb dröhnte. Ich war aufgeregt und verängstigt zugleich und klammerte mich an sein Bein. Auch daran, wie ich nach oben sah und ihm der Schweiß über das Gesicht und die Arme rann, erinnere ich mich noch.

Ich machte den Mund auf und schlängelte einige Töne an dem vernarbten Gewebe vorbei. Daley sah mich an, lehnte sich zurück und hörte auf zu singen. Im Augenwinkel sah ich eine Träne bei ihr. Auch die anderen schienen ergriffen zu sein, denn die zweite Hälfte der dritten Strophe sang ich ganz allein. Nur ich und die Gitarre.

Es war Ewigkeiten her.

Daley und das Publikum applaudierten und setzten wieder ein. Ich hatte das Gefühl, alle sangen jetzt doppelt so laut wie vorher. Der Abend hatte seine Melodie gefunden.

Als wir schließlich die Zeile „Bright shining as the sun“ erreichten, hoben alle ihre Gläser und ließen Bier und Schaum schwappen.

Der Abend schloss mit Applaus, begeisterten Pfiffen und tausend Wünschen um Fotos und Autogramme. Frank, der wohl zum Glauben gefunden hatte, spendierte eine Runde aufs Haus – was allen gut gefiel. Daley, die gerade einem Mann ein Autogramm mitten aufs T-Shirt gegeben und mit sechs Studenten für ein Foto posiert hatte, kam zu mir und umarmte mich. „Und mir haben alle gesagt, du singst nicht mehr?“

Ich legte Ella zurück in den Koffer und nickte. „Ja, das sagen sie.“

Daley hakte sich bei mir ein. „Da bin ich aber froh, dass sie unrecht hatten.“

Ich versuchte ihr erst gar nicht zu erklären, dass sie falschlag.

* * *

Zwanzig Jahre zuvor. Der Arzt saß auf einem Hocker, rollte an mein Bett und seufzte. Er sprach extra leise, als könnte das die Härte des Schlags abfedern. „Sie werden nie wieder singen können.“ Er zögerte und schüttelte den Kopf. „Vielleicht sogar nicht einmal sprechen.“ Sein Blick fiel auf meine bandagierte Hand. „Und wahrscheinlich auch kein Instrument mehr spielen, für das Sie die rechte Hand brauchen. Es kann auch passieren, dass Sie auf dem rechten Ohr nichts mehr hören. Und dann ist da noch Ihre Leber.“

Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Die Endgültigkeit seiner Worte war keine große Hilfe.

„Die Prognose ist leider nicht ...“

Während sein Mund sich bewegte und draußen im Flur Menschen hin und her liefen und ihrer täglichen Arbeit nachgingen, dachte ich nur: Er meint unmöglich mich. Meine Songs laufen im Radio. Ich nehme gerade ein neues Album auf. Ich werde heiraten. Ich habe Pläne.

Als er fertig war mit Reden, trat eine unangenehme Stille ein. Allmählich begriff ich, dass er tatsächlich mich meinte.

Meine Lippen waren aufgeplatzt und geschwollen. „Und bis dahin?“, flüsterte ich.

„Versuchen Sie zu leben.“

„Wie der Insasse einer Todeszelle.“

Er legte den Kopf schief. „Wenn Sie das so sehen wollen ...“

„Wie würden Sie es denn sehen, wenn Sie hier an meiner Stelle lägen?“

Darauf erwiderte er nichts.

Ich starrte aus dem Fenster in einen blauen Himmel über Nashville. „Wie viel Zeit habe ich noch?“

Er zuckte mit den Achseln. „Das weiß niemand.“

Kapitel 8

Es war lange nach Mitternacht, als wir Buena Vista verließen und uns an den Kreidefelsen vorbei auf die Schotterstraße vorarbeiteten, die zur Geisterstadt St. Elmo führte.

Die ehemalige Bergarbeitersiedlung St. Elmo liegt auf einer Höhe von über dreitausend Metern und hatte ihre Blütezeit während des Silberrauschs. Nachdem 1893 der Silver Act in Kraft getreten war, fiel der Silberpreis rapide und mit ihm auch die Einwohnerzahl von St. Elmo. Ganz ähnlich wie in Leadville. Quasi über Nacht packten neunzig Prozent der Einwohner ihre Sachen, vernagelten ihre Türen und Fenster und verließen die Stadt. Als aber jemand die Hauptgoldader in der Mary-Murphy-Mine traf, kehrten die Leute zurück und St. Elmo lebte wieder auf. Irgendjemand musste ja das ganze Gold fördern und die Mary-Murphy-Mine war weit und breit die ergiebigste. Angesichts ihrer Höhenlage waren beide Städte im Winter mehr oder weniger von der Außenwelt abgeschnitten. Ein paar Hartgesottene hielten es den ganzen Winter über aus, aber man musste schon ein besonderer Schlag Mensch sein, um dort zu überleben.

Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Daley sagte auf unserer Fahrt nur wenig; sie schien die Stille und die vom Mondlicht beschienene Landschaft zu genießen. Als wir die Kurve und den Parkplatz an den donnernden Chalk Creek Falls passierten, hatte sie sich zur Seite gedreht, die Beine angezogen und war eingenickt. Ich gab mir Mühe, die Schlaglöcher zu umfahren und Daley nicht ständig anzustarren. Das mit den Schlaglöchern gelang mir recht gut.

Das Wasserstoffblond gab mir Rätsel auf. Früher hatte sie immer seidiges braunes Haar gehabt. Die Haut an ihren Händen war rissig und ihre Nägel waren viel zu weit abgeknabbert. Trotz der Geräusche von Motor und Straße konnte ich ihr leises Schnarchen hören.

Wir arbeiteten uns durch die Espen nach St. Elmo hinauf. Ich bog auf die Schotterstraße, die an der Mary-Murphy-Mine vorbeiführt. Da die 295 hier sehr steil wird, hielt ich an, stellte das Allradgetriebe auf „Low“ und ließ langsam die Kupplung kommen.

Sie wachte auf, rieb sich das Gesicht und schnallte sich an. „Wohnst du hier oben?“

„Nicht mehr weit.“ Ich schaltete in den zweiten Gang. „Das hier war einer der Lieblingsorte meiner Mutter. Dad lachte früher oft und meinte, Gott hätte mich hier zwischen all den Espen geschaffen. Es dauerte ein paar Jahre, bis ich begriffen hatte. Jedenfalls waren sie dabei, sich hier oben eine Blockhütte zu bauen, als Mom krank wurde. Im Frühjahr haben wir sie zu Grabe getragen und Dad und ich sind hergezogen, als ich fünf war. Jedes Jahr wurde der Sommer irgendwie länger und wir blieben hier oben, bis der Schnee uns vertrieb. Nachdem ich ... nachdem ich Nashville verlassen hatte, bin ich nach Westen. Hab ein Jahr den Pazifik angestarrt und meinem Körper Gelegenheit gegeben, gesund zu werden. Als ich körperlich dazu in der Lage war, habe ich Gelegenheitsjobs angenommen. Egal was, Hauptsache ich war ein paar Wochen abgelenkt. Aber dann stieß ich auf irgendetwas, das mich an die Vergangenheit erinnerte, und ich machte mich auf und davon.“ Ich überlegte. „Ein paar solcher Aufbrüche später und ich merkte, wie ich immer näher um den einzigen Ort kreiste, den ich je Zuhause genannt hatte. Und seitdem bin ich hier.“

Daley legte eine Hand auf meinen Arm und versuchte, die Worte herauszubringen, die ihr auf der Zunge lagen, aber es waren zu viele und sie war zu müde. Ihre Müdigkeit war nichts, was eine gute Nachtruhe kurieren konnte. Sie brauchte sechs Wochen Schlaf, ein gutes Essen und noch einmal sechs bis acht Wochen Ruhe.

Eine Meile später erreichten wir die Kammlinie und überquerten den Bach, der unterhalb der Blockhütte floss. Moms Espen säumten die Straße. Die sanfte Nachtluft bewegte die Blätter an den Bäumen und ließ sie im Scheinwerferlicht mal weiß, mal grün leuchten.

Ich zeigte auf den Bach. „Hörst du das? Dad meinte immer, das sei der einzige Applaus, den er braucht.“

Daley betrachtete die Hütte, die am Hügel auftauchte. „Hat dein Vater die gebaut?“