Gregor Hasler

Resilienz: Der Wir-Faktor

Gemeinsam Stress und Ängste überwinden

Mit einem Geleitwort von Katharina Domschke

Prof. Dr. med. Gregor Hasler

Ordentlicher Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg

Chefarzt Freiburger Netzwerk für Psychische Gesundheit

Chemin du Cardinal-Journet 3

1752 Villars-sur-Glâne

gregor.hasler@unifr.ch

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-43225-1

E-Book: ISBN 978-3-608-19056-4

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-29055-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Geleitwort

Berichte über „Stress“, „Die gestresste Seele“, „Das erschöpfte Ich“, „Die Macht der Angst“ und „Depression – Krankheit oder Schicksal?“ sind omnipräsent in den Medien. In der Tat leiden in Europa über 20%, d.h. mehr als 100 Millionen Menschen, pro Jahr an Angsterkrankungen und Depressionen. Diese gehören zu den fünf beeinträchtigendsten Krankheiten überhaupt und sind zusammengenommen die bei Weitem kostenintensivsten neuropsychiatrischen Erkrankungen. Stress, Angst und Depression zählen damit zu den großen Herausforderungen unserer Zeit – für das Individuum, die Familien, die Gesellschaft und die Ökonomie.

Viel ist zur Therapie von Angst und Depression geschrieben worden, weniger zu ihrer Prävention. Dabei sagte bereits Benjamin Franklin: „An ounce of prevention is worth a pound of cure“ – also „Vorbeugen ist besser als Heilen“. Ein Faktor, der hierbei zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, ist die sogenannte Resilienz, d.h. die psychische Widerstandskraft, wörtlich die Fähigkeit, widrige Erfahrungen und Umstände an sich abprallen zu lassen. Das bessere Verständnis und die aktive Stärkung der Resilienz können ganz wesentlich dazu beitragen, die Entstehung von stressbedingten Erkrankungen und damit das individuelle Leid wie auch die gesamtgesellschaftliche Belastung durch Angst und Depression zu reduzieren.

Prof. Dr. Gregor Hasler – ein in der Fachwelt höchst renommierter Arzt, Psychotherapeut und Forscher auf dem Gebiet von Stress-assoziierten Erkrankungen wie Angststörungen und Depression – stellt diese Widerstandskraft in den Mittelpunkt seines Buches Resilienz: Der Wir-Faktor. Sein Fokus liegt damit nicht primär auf der Analyse der „Stressproblematik“ und ihrer Weiterentwicklung, Pathogenität und teilweise Pathologisierung in Richtung Angst und Depression. Vielmehr beschäftigt sich Prof. Hasler mit der „Resilienzkrise“, den vielfältigen Ursachen und soziologischen wie individualpsychologischen Auswirkungen der geschwächten psychischen Widerstandskraft in unserer Gesellschaft, mit der Resilienzkrise als Ursache und reziprok der Resilienzstärkung als Präventivum und Therapeutikum von Angst und Depression. Dabei werden der – trotz zunehmender Individualisierung und Zentrierung auf das Ich – erfahrene Bedeutungsverlust, das ungenügende Eingebundensein in sinnstiftende soziale und religiöse Kontexte, der Mangel an „gemeinsamem Sinn“ und „gemeinsamen Werten“ und der „Status-Dauerkampf“ als Ursachen für die schwindende Resilienz in unserer Gesellschaft identifiziert. Seine Thesen untermauert Prof. Hasler durch aktuelle neurobiologische, neuropsychologische und epidemiologische Forschungsergebnisse. Er spannt den Bogen vom „Resilienz-Helden Hiob“ über das Belohnungssystem der Berg- und Prärie-Wühlmäuse bis hin zur Interpersonellen Psychotherapie. Er kommt von „schlafenden Jüngern“ über die Resilienz-schwächenden Auswirkungen von Migration und moderner Mobilität hin zu Yoga, Botox und Cognitive Bias Modification Training. Er empfiehlt Opium Optimismus, Gegenwärtigkeit, Genuss und Glück sowie das „richtige Fürchten“ und langes Schlafen. Er kontrastiert „virtuelles Netzwerkrauschen“ mit realen sozialen Netzwerken, die Welle mit dem Meer, das Individuelle mit dem verbindenden großen Ganzen und bricht für das jeweils Letztere eine psychiatrisch-psychotherapeutische Lanze.

Der Wir-Faktor – eine neurowissenschaftlich fundierte Philippica gegen das heute allgegenwärtige Primat der „Selbstverwirklichung“, der „Abgrenzung“, des „Wir“ im Pluralis majestatis als maximale Steigerungsform der Egozentrik. Der Wir-Faktor – ein Plädoyer für Einfühlung, Altruismus und das einander Wohl-Wollen, ein Plädoyer für das „Wir“ als einen Pluralis benevolentiae, wenn man so will.

In diesem Sinne wünsche ich dem vorliegenden individualpsychologisch wie gesamtgesellschaftlich wichtigen Werk eine breite Leserschaft und Resilienz-stärkende Rezeption.

Freiburg, im Januar 2017

Univ.-Prof. Dr. Dr. Katharina Domschke, M.A. (USA)

Ärztliche Direktorin
der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Universitätsklinikum Freiburg

Vorwort des Herausgebers

Einsamkeit tut weh. Wenn in einem Experiment einer von drei Teilnehmern an einem virtuellen Ballspiel ausgeschlossen wird, weil sich absichtlich und ausschließlich immer nur die beiden anderen den Ball zuspielen, sieht man eine Aktivitätsanreicherung an genau den Stellen im Gehirn, an denen man sie auch bei körperlichem Schmerz findet. Und mehr noch: Einsamkeit ist auch ein ernstes Gesundheitsrisiko. Eindrucksvoll zeigt das eine Studie, die 2010 von einem amerikanischen Forscherteam in Utah an mehr als 300 000 Menschen durchgeführt wurde: Ohne Freunde leben wir so ungesund, als wären wir fettleibig oder rauchten täglich 15 Zigaretten. Wer allein lebt oder leben muss, stirbt früher.

Umgekehrt gilt, dass soziale Bindungen gut tun und Stress abbauen. Das mag trivial klingen, wer hätte das nicht schon erfahren, aber es lässt sich auch wissenschaftlich belegen: Die Anwesenheit von Freunden dämpfte die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol bei einer Gruppe von Probanden, die vor einem Publikum frei sprechen oder unter Druck knifflige Kopfrechenaufgaben lösen mussten. Und selbst unsere scheinbar objektive Wahrnehmung wird durch die Anwesenheit von Freunden positiver: Eine Gruppe von Studierenden aus England sollte in einem Experiment die Steilheit eines Berges abschätzen. Der Anstiegswinkel (und damit wohl implizit die vermuteten Strapazen beim Besteigen) wurde kleiner beurteilt, wenn bei dem Versuch ein Freund zugegen war. Ein Seilschaftsgeist im Sinne von „Gemeinsam sind wir stärker!“ oder „Wir schaffen das!“ mag bei dieser Einschätzung unbewusst im Spiel gewesen sein. Die Betonung liegt dabei auf dem „Wir“. Dieses „Wir“ kommt aber zunehmend abhanden. Wenn auf einer Party alle nebeneinander auf ihren Smartphones herumwischen, dann gibt es kein reales WIR mehr, sondern eine Ansammlung von dyadischen Mensch-Maschine Beziehungen. Es lässt hoffen, wenn meine 19-jährige Tochter berichtet, dass sie und ihre Freunde inzwischen zu Beginn einer Party oft alle ihre Handys auf einen Haufen legen und sie erst am Ende wieder auseinanderklauben.

In diesem Buch legt der Berner Psychiater Gregor Hasler überzeugend dar, dass ein Verlust von Gemeinsamkeitserfahrungen eine Ursache für die in unserer Gesellschaft gefühlte Zunahme von Stress ist und wie durch stärkere soziale Bindungen, sowohl im engsten Umfeld als auch gesamtgesellschaftlich, unsere Widerstandskraft gegen aufreibende Herausforderungen gestärkt werden kann. Wichtig ist allerdings, dass solche Bindungen sich analog, gewissermaßen „verkörpert“, abspielen, und nicht in erster Linie digital und virtuell in sozialen Netzwerken. Haslers Buch sprudelt nur so von Vorschlägen und Anregungen dazu, es ist ein engagiertes Plädoyer für die Unmittelbarkeit der persönlichen Begegnung. Er wird nicht müde, seine Empfehlungen mit empirisch gut belegten wissenschaftlichen Studien zu untermauern. Erfrischend dabei sein Mut, auch Heilige Kühe und wenig hinterfragte Dogmen der individualpsychologischen und psychotherapeutischen Forschung und Literatur aufs Korn zu nehmen und sie einem Realitätscheck zu unterziehen – vor allem, wenn es um die mittlerweile fast routinemäßige Zuschreibung einer Traumagenese bei psychischen Störungen geht oder um die Banalisierung des Stress-Konzepts. Er macht das auf unterhaltsame, gelegentlich mit dezentem Schweizer Humor gewürzte Weise und manchmal mit sympathischer Selbstironie.

Sie werden vielleicht nicht allen Gedanken, Folgerungen und Forderungen von Gregor Hasler zustimmen, das habe ich auch nicht immer, aber sein Buch macht etwas Besonderes: Es stiftet an zu einer persönlichen Stellungnahme, zu einem Abgleich mit den eigenen Werten und wissenschaftlichen Glaubenssätzen. Und hier wünsche ich mir, dass diese mentale Aktivierung – und so wie Hasler schreibt, wird eine emotionale dabei nicht ausbleiben – weit hinein in die medizinische wie die politische Diskussion und Dimension hineinwirkt.

Es ist zunächst einmal ganz individuell ein Buch für jedermann, der gesund leben will. Aber auch immer mehr Unternehmen, die die Firmenkultur Resilienz-orientiert gestalten wollen, kommen auf die Idee, Workshops anzubieten, in denen nicht nur achtsamkeitsbasierte Meditationstechniken vermittelt werden, sondern Übungen, die das „Beisammensein“ der Mitarbeiter und das gegenseitige Zuhören fördern, das WIR also. Und dass ein Buch, das helfen kann, Resilienz als eine unserer wichtigsten Fähigkeiten zu fördern, auch in die Hände von Eltern und Erziehern gehört, von Lehrern und Politikern, Gesundheitsexperten und Coaches, versteht sich von selbst, von Ärzten und Psychologen sowieso. Und Hasler ist es wichtig, dass das Buch über die gesundheitliche Dimension hinaus auch eine dezidiert politische hat: Es geht auch um Föderalismus, um die Aufwertung noch so begrenzter lokaler Netzwerke mit echter politischer Macht, ausgehend von den kleinsten Zellen des WIR. Es gibt bereits einige Beispiele, dass sich solche Zellen zu Organen verbunden haben, die zu einem sozialen Körper zusammenwuchsen und dann mit entsprechender „Körperkraft“ politische und ökonomische Entwicklungen verhindern konnten, die für die gesamte Gemeinschaft von Nachteil gewesen wären. Konkret fällt mir eine Gemeinde in Deutschland ein, der es so gelang, die Privatisierung ihres kommunalen Krankenhauses zu verhindern.

Oft fragt man sich bei einem so überzeugenden Buch, was man denn konkret machen kann, um die vielen guten Gedanken aufzugreifen und umzusetzen, und bei aller Plausibilität bleibt es dann doch manchmal im Unverbindlichen, weil man nicht weiß, wo man anfangen soll. Das Buch von Gregor Hasler zeigt, dass man ruhig erst einmal auch ganz klein, gewissermaßen bei den Organellen des WIR, anfangen kann, und dass Sie unmittelbar einiges für Ihre Gesundheit, Ihr Wohlbefinden und Ihre Stressresistenz tun können: Indem Sie sich mal wieder, am besten noch während der Lektüre dieses Buches, mit guten Freundinnen oder Freunden verabreden, zum Reden, Weintrinken, Wandern ... Das ist gesund! Sollte Ihnen dabei der Gesprächsstoff ausgehen, würde dieses Buch genug Material liefern, um Ihren Gedankenaustausch zu beflügeln. Und wenn sich dadurch die Verbreitung dieses besonderen Buches erweitern würde, käme das seinem Autor und seinem Verleger sicherlich auch nicht ungelegen.

Jedenfalls wünsche ich Ihnen erst einmal eine angenehme und anregende Lektüre!

Stuttgart, im Januar 2017

Wulf Bertram

Vorwort

Der gefühlte Stress nimmt zu, und ein Ende dieser Zunahme zeichnet sich nicht ab. Dies ist der Schluss einer Reihe von Studien aus westlichen Industriestaaten. Die meiner Meinung nach beste Studie dazu wurde an amerikanischen Studenten durchgeführt (Twenge, Gentile et al. 2010). Sie zeigt, dass das Erleben von Stresssymptomen in den letzten 70 Jahren deutlich zugenommen hat. Der Anstieg war linear, das heißt, jedes Jahr war die Zunahme ungefähr gleich groß, und zwar unabhängig von wirtschaftlichen Krisen oder anderen Großereignissen. Die wachsende Offenheit der Bevölkerung, psychische Symptome zuzugeben, erklärte nur ca. 5 % der Zunahme. In Deutschland klagen 40 % der Vollzeitbeschäftigten über einen stetig steigenden Druck. Das Stresserleben der arbeitenden Schweizer Bevölkerung nahm von 2000 bis 2010 um ein Drittel zu. Eine englische Studie an Jugendlichen belegt, dass sich die Häufigkeit psychischer Symptome zwischen 1986 und 2006 verdoppelte (Collishaw, Maughan et al. 2010). Vor allem bei Mädchen beginnt die Zunahme der gefühlten Belastung relativ früh, das heißt unmittelbar nach der Pubertät.

Unter Stresssymptomen versteht man leichte Angst und depressive Symptome wie innere Unruhe, Schlafstörungen, Schuldgefühle, Weinerlichkeit, Reizbarkeit, gedrückte Stimmung, geringes Selbstwertgefühl, Energiemangel, Erschöpfung und unklare Schmerzen. Zusätzlich zählt man zu den Stresssymptomen leichte intellektuelle Beeinträchtigungen wie Vergesslichkeit, Grübeln, Probleme beim Zuhören, Probleme beim Fokussieren der Gedanken, mentale Verlangsamung, Unschlüssigkeit, Probleme mit Multitasking, Unfähigkeit zu planen und Hinausschieben von Arbeiten. Diese intellektuellen Beeinträchtigungen sind hauptsächlich für die geminderte Arbeitsfähigkeit gestresster Menschen verantwortlich (Fried and Nesse 2014).

Haben die psychosozialen Belastungen in den letzten 70 Jahren linear zugenommen? Es mag für viele erschöpfte und abgekämpfte Leser zynisch klingen, aber es gibt kaum Hinweise, dass wir objektiv mehr Belastungen ausgesetzt sind als die Menschen in der Wirtschaftskrise zwischen den Weltkriegen oder während des deutschen Wirtschaftswunders in der Nachkriegszeit. Im Gegenteil, die gestiegene materielle Sicherheit, politischer Friede und Stabilität, die sich stetig verbessernde medizinische Versorgung, die zunehmenden Freizeit- und Karrieremöglichkeiten, Kranken- und Sozialversicherungen sollten eigentlich zu einer wesentlichen Abnahme objektiver Belastungen in den letzten Jahrzehnten beigetragen haben. Ein Hinweis auf die relative Stressfreiheit ist auch die Tatsache, dass sich Eltern in industrialisierten Ländern seit 1960 im Durchschnitt immer mehr Zeit nehmen können, ihre Kinder zu betreuen (Gauthier, Smeeding et al. 2004).

Die gestressten Arbeitnehmer in Westeuropa geben folgende Gründe für ihre Beschwerden an: Zeitdruck, unklare Anweisungen und soziale Diskriminierung. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass diese Faktoren objektiv zugenommen haben. Im Gegenteil: Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat die Freizeit zugenommen, Führungskräfte wurden besser ausgebildet und die soziale Diskriminierung, zum Beispiel von Frauen und Homosexuellen, hat sich abgeschwächt. In Deutschland nahm die Arbeitszeit zwischen 1950 und 2015 um über 40 % ab!

Bereits der schwedische Stressforscher Lennart Levi wies 1959 darauf hin, dass er keinen Zusammenhang zwischen objektivem Stress und Stressstörungen finden kann. Er kam in seinen Untersuchungen zum Schluss, dass die durch Kriege und Epidemien verursachten psychischen Belastungen in den Jahrzehnten und Jahrhunderten vor 1945 deutlich größer gewesen seien als die nach 1945, als der Stress zu einem wichtigen Begriff der psychologischen Forschung wurde (Levi 1959). Dieser Beurteilung entspricht auch die Beobachtung, dass der Vorläufer der modernen Stressstörungen, die Neurasthenie, in der Wirtschaftskrise nach 1918 in Europa außer Mode geriet. In den USA fiel der Niedergang des Neurasthenie-Konzepts mit der Rationalisierung von Arbeitsprozessen zusammen, die heutzutage als wichtige Ursache für die Erschöpfung von Arbeitnehmern betrachtet wird (Kury 2012).

Haben psychiatrische Krankheiten in den letzten Jahrzehnten zugenommen? Die Zunahme an Stresssymptomen geht nicht darauf zurück, dass mehr Menschen Depressionen haben. Die Häufigkeit von klinischen Depressionen ist weltweit vergleichbar und ziemlich stabil, vielleicht hat ihre Häufigkeit zwischen 1990 und 2010 eher etwas abgenommen. Auch andere psychische Störungen haben nicht zugenommen (Richter and Berger 2013). Dies alles weist darauf hin, dass die Zunahme von Stresssymptomen ein neues Phänomen darstellt, das mit der klinischen Depression nicht identisch ist.

Betroffene und Experten behaupten, dass neue Stressformen wie die Entgrenzung zwischen Arbeitswelt und Freizeit und die Benutzung des Internets die Zunahme von Stresssymptomen erkläre. Dieses Problem könnte man durch drastische Gesetze beheben, welche jegliche erwerbsmäßige Tätigkeit in der Freizeit verböten und den Gebrauch des Internets einschränkten. Offensichtlich glaubt aber nur eine kleine Minderheit an die Wirksamkeit solcher Maßnahmen. Andernfalls hätte man sie schon längst eingeführt, allein schon, weil Stressstörungen Milliarden-Löcher in die Budgets von Staaten und Sozialversicherungen reißen. Andere Experten behaupten, dass die Veränderung von Familienstrukturen zur Stress-Epidemie geführt hat. Die Scheidungsrate nahm zwar in den letzten Jahrzehnten tatsächlich zu und alleinerziehende Eltern werden immer häufiger. Doch dies scheint keinen Einfluss auf den gefühlten Stress von Jugendlichen zu haben (Collishaw, Maughan et al. 2010).

Sind leichte Stresssymptome womöglich gar nicht real, reine Vorstellungen, Phantasieprodukte? Nein. Die Zunahme des gefühlten Stresses ist durchaus objektiv messbar: Er geht mit einer erhöhten Aktivität des Stresssystems einher, das in Teilen des Stirnlappens, den Mandelkernen und der vorderen Inselrinde sitzt (Akdeniz, Tost et al. 2014).

Die Zunahme von Stresssymptomen ohne vergleichbare Zunahme objektiver Belastungen muss also Folgendes bedeuten: Unsere psychische Widerstandskraft, sprich Resilienz, wird Jahr für Jahr schwächer. Was wir mit ziemlicher Sicherheit wissen: Wenn dieser Trend anhält, werden wir aufgrund dieser Symptome irgendwann zunehmend vulnerabel werden; die Leistungsfähigkeit wird sogar sozioökonomisch spürbar einbrechen, und wir werden das heutige Niveau an materiellem Wohlstand und sozialem Status nicht mehr halten können.

In diesem Buch will ich zeigen, dass der Zusammenhang zwischen tatsächlicher Belastung, Stressstörungen und Resilienz viel rätselhafter ist, als wir gemeinhin annehmen. Dass der gefühlte Stress trotz dramatischer Zunahme von psychologischer Beratung und Psychotherapien zunimmt, weist darauf hin, dass wir die Ursachen unseres Stressproblems nur bruchstückhaft verstehen.

Dieses Buch beschreibt anhand neuer Befunde der Psychologie, Soziologie und Neurowissenschaften die wahrscheinlichen Gründe unserer Resilienzkrise. Der Hauptbefund ist, dass wir dieses Problem auf individualpsychologischer Ebene nicht verstehen können, d.h., dass es nicht reicht, den Blick auf den Einzelnen zu richten. Es ist vielmehr ein soziales Phänomen. Es ist der Wir-Faktor, der sich verändert hat. Die Einbindung in eine Sinn-Totalität, ein kulturelles Überlegenheitsgefühl und ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus waren einst wichtige Pfeiler unserer Resilienz, auf die wir zunehmend verzichten müssen. Heute ist geografische Mobilität zu einem wirtschaftlichen Imperativ geworden, der leider einen Flächenbrand des alten und Jahrtausende bewährten Urwaldes der sozialen Unterstützung entfachte. Zunehmende Karrierechancen, Vergleichbarkeit und Transparenz erlauben einen Dauerkampf um sozialen Status, für den unser Gehirn nicht geschaffen ist. Die Welt wird zwar objektiv immer sicherer, doch vermitteln uns die Medien, populistische Politiker und Versicherungsagenten gerade das Gegenteil. Dies führt zu einer nachhaltigen Störung des Furchtlernens. Der Individualismus führt auch zu tiefgreifenden Konflikten in der Eltern- Kind-Beziehung. Noch nie haben Mütter und Väter so viel Zeit damit verbracht, ihre Kinder zu beschützen, deren Autonomie-Ansprüche wiederum nie größer waren als jetzt. Verstädterung, Bewegungsmangel und Schlankheitsideale schwächen unsere Körpersicherheit und unseren Bezug zur Natur.

Obwohl die aktuelle Resilienzschwäche vorwiegend ein soziales, kulturelles und epigenetisches Phänomen ist, zeigt dieses Buch auf, was wir als Einzelne tun können, um dem Ansturm negativer Gefühle zu trotzen.

Wie kann man sich neurophysiologisch eine Zunahme der Stress-System-Aktivität ohne Zunahme der Belastung und ohne schwere Störung des Gehirns vorstellen? Der große Gegenspieler des Stresssystems ist das Hirnbelohnungssystem. Dieses System ist zuständig für die Verarbeitung von Belohnungen. Der Belohnungsbegriff ist in den Neurowissenschaften breit gefasst und beinhaltet sowohl gewonnene Punkte in einem Computerspiel als auch die Anerkennung durch einen Vorgesetzten und das Gefühl der kulturellen Zugehörigkeit. Menschen haben im Verhältnis zum Rest des Gehirns das größte Belohnungssystem aller Lebewesen. Ferner ist der Mensch das einzige Lebewesen, das im Verlauf des Lebens im Hirnbelohnungssystem neue Nervenzellen bilden kann (Ernst and Frisen 2015). Das weist darauf hin, dass der Mensch ein Bedeutungs-, Anerkennungs- und Belohnungswesen ist. Im Gegensatz dazu hat sich das Stresssystem während der Evolution deutlich verkleinert. Das relative Volumen und die Nervendichte des Mandelkerns, die Schaltstelle für Angst und Furcht, ist bei Ratten deutlich größer als bei Affen und bei Affen größer als beim Menschen (Chareyron, Banta Lavenex et al. 2011). In Bezug auf unsere Hirnstruktur gibt es also keinen Grund, dass wir uns als Stresswesen betrachten, auch wenn wir uns oft so fühlen. Die Lösung des Stressproblems wird deshalb auch nicht eine weitere Reduktion von Belastungen sein, sondern die Verstärkung sozialer, sinnstiftender und lustvoller Tätigkeiten.

Die Folgen einer Resilienzkrise sind nicht nur persönlich spürbar, sondern auch politisch bedeutsam. Politische, kulturelle und religiöse Resilienzangebote stehen im Wettkampf. Junge Deutsche und Amerikaner fühlen sich vom Islam angezogen, weil dieser klare soziale Strukturen und Rollen, Konstanz und religiöse Bedeutung anbietet. Totalitäre Staaten bieten jungen, labilen Männern an, ihr Leben als ehrenvoll und männlich zu sehen. Muslime werden aus vielen Gründen radikal, unter anderem, weil sie die westliche Konsumwelt als sinnlos erleben. Die Wahrnehmung einer Resilienzschwäche der westlichen Welt lockt Terroristen und Tyrannen, uns anzugreifen. Verletzlichkeit provoziert Aggression, das wissen wir aus der Mobbing- Forschung.

Gängige Psychotherapie-Verfahren sind Kinder des Individualismus. Sie stellen das Individuum und individuelle Faktoren wie persönliche Bedürfnisse und traumatische Erfahrungen in den Vordergrund. Als Psychiater und Psychotherapeut bin ich besorgt, dass wir mit diesen Verfahren keine gute Antwort auf die aktuelle Resilienzkrise geben können. Ein Zurück in die Resilienz ursprünglicher Gesellschaften und Stämme ist nicht möglich. Diese beruhte auf kleinen, ausschließenden Gruppen und lokalem Spiritualismus. Wir sollten uns aber mit den evolutionären und kulturellen Wurzeln der Resilienz beschäftigen. Ein besseres Verständnis sozialer und politscher Aspekte der psychischen Widerstandskraft wird uns helfen, eine gemeinsame Stärke zu finden, die mehr ist als eine individualistische Panzerung. Mit diesem Buch möchte ich einen Beitrag dazu leisten.

Bern, im Winter 2016/2017

Gregor Hasler

Dank

Dieses Buch basiert auf der therapeutischen Arbeit mit Patientinnen und Patienten, die mich lehrten, was Resilienz ausmacht. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Einsichten und Anregungen verschiedener klinischer und wissenschaftlicher Lehrer trugen ebenfalls zu diesem Buch bei. Dazu gehören Ulrich Schnyders kritische Einführung in die Psychotraumatologie, Jules Angsts Überlegungen zu leichtgradigen psychischen Störungen und zu den Problemen des populären Stress-Begriffs, und Dennis Charneys wissenschaftliche und praktische Einsichten zur Resilienz. Wayne Drevets und Christian Grillon lehrten mich, psychologische und neurowissenschaftliche Studien durchzuführen und deren Resultate nicht zu überschätzen. Werner Strik half mir, wissenschaftliche Interessen weiterzuentwickeln und ein selbstständiger Kliniker und Forscher zu werden.

Bedanken möchte ich mich bei Freunden und Kollegen, die mir wichtige Hinweise zu früheren Entwürfen des Manuskripts gegeben haben, insbesondere Emil Angehrn, Zeno Kupper, Martina Leiva, Barbara Lerch, Andreas Maercker und Verena Vedder. Nadja Urbani, Lektorin im Schattauer Verlag, hat den Text sprachlich verbessert und mich ermutigt, das Manuskript als Buch zu veröffentlichen.

Inhalt

1 Der Verlust der Bedeutung

2 Die Entfremdung der Gemeinschaft

3 Der Dauerkampf um sozialen Status

4 Die Faszination des Negativen

5 Optimismus als Opium für Nonnen und Soldaten

6 Fürchten falsch gelernt

7 Überbeschützte Kindheit, vernachlässigte Jugend

8 Wozu Komplexität?

9 Geborgen in der Gegenwart

10 Der Wir-Faktor

Referenzen

1 Der Verlust der Bedeutung

Stellen Sie sich vor, jemand droht Ihnen, Ihre Hand mit einem Messer zu durchstechen. Beurteilen Sie den vorgestellten Schmerz auf einer Skala von 0 bis 10. Null heißt schmerzfrei, 10 bedeutet der maximal vorstellbare Schmerz. In einer anderen Situation wissen Sie, dass Sie Ihre Tochter dann – und nur dann – retten können, wenn Sie es akzeptieren, dass jemand mit dem Messer Ihre Hand durchsticht. Beurteilen Sie nun diesen Schmerz auf einer Skala von 0 bis 10. Dieses einfache Gedankenexperiment zeigt, zumindest bei den Personen, die wie ich eine Tochter haben, dass die Bedeutung ein starker Resilienzfaktor ist. Sie ist vermutlich der wichtigste Resilienzfaktor überhaupt. Nietzsche sagt treffend: „Wer ein Warum hat, dem ist kein Wie zu schwer.“

Dies belegen auch epidemiologische Studien. Eine Analyse des Psychologen Martin Pinquart, die auf 70 Studien über die gesundheitliche Rolle des Sinns des Lebens basierte, zeigte klar, dass Stress-Resilienz stark von der Fähigkeit abhängt, seinem Leben Bedeutung zu geben (Pinquart 2002). Ein Buch über Resilienz zu schreiben heißt deshalb, ein Buch über Bedeutung zu schreiben, weshalb es nicht nur in diesem Kapitel, sondern auch in den folgenden um Bedeutung gehen wird. Die heutzutage für Resilienz entscheidende Bedeutung entsteht vorwiegend im Kontext sozialer Beziehungen. In diesem Kapitel werde ich aber zuerst den Verlust der Bedeutung beschreiben, die sich nicht auf Soziales reduzieren lässt, um in den nächsten zwei Kapiteln auf die sozialen Formen von Bedeutung einzugehen.

In den letzten Jahrtausenden haben vor allem Religionen und Monarchien umfassende Bedeutungssysteme gestiftet und aufrechterhalten, oft auch mittels Zwang. Dass diese Systeme für die individuelle Resilienz von großer Wichtigkeit waren, beschreibt Joseph Roth eindrücklich in seinem Roman Radetzkymarsch. Es geht um den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie. Roth zeigt, dass die Menschen Dank ihres Kaisers selbst im Krieg ein beneidenswert großes Sicherheitsgefühl hatten. Kaiser Franz Josef war allgegenwärtig unter seinen Untertanen, wie ein Gott in der Welt. Man war bereit, für diesen Kaiser einen wonnigen, warmen und süßen Tod dahinzusterben. Besonders angenehm habe es sich durch eine fremde Kugel beim Radetzkymarsch gestorben. Dem alten Trotta, dem Großvater des Romanhelden, konnte „gar nichts passieren“, allein wegen der überirdischen Macht seines Militär-Marie- Theresien-Ordens. Doch als er den einfachen Glauben an Gott und den Glanz der Majestät verlor, erlebte er schwere Stresssymptome: Verbitterung, Freudlosigkeit, vorzeitige Alterung. Aber auch die anderen Menschen im Regiment wurden ängstlicher, sie hatten nun Angst vor dem Leben, aber auch Angst vor dem Sterben.

Der Zerfall der Monarchie war für die Österreicher besonders schmerzhaft, weil ihr Kaiser eine apostolische Majestät war. Seine Macht war wie bei keinem anderen europäischen Monarchen an den christlichen Glauben und an die Macht der katholischen Kirche gebunden. Trottas Schachpartner, Doktor Skowronnek, beschreibt eindrücklich die Veränderung der Wahrnehmung während des Bedeutungszerfalls: „Nicht einmal der Kaiser trägt heute die Verantwortung für seine Monarchie. Ja, es scheint, dass Gott selbst die Verantwortung für die Welt nicht mehr tragen will. Es war damals leichter! Alles war gesichert. Jeder Stein lag auf seinem Platz. Die Straßen des Lebens waren wohl gepflastert. Die sicheren Dächer lagen über den Mauern der Häuser. Aber heute, Herr Bezirkshauptmann, heute liegen die Steine auf den Straßen quer und verworren und in gefährlichen Haufen, und die Dächer haben Löcher, und in die Häuser regnet es, und jeder muss selber wissen, welche Straße er geht und in was für ein Haus er zieht.“

Als der Bann der Religion gebrochen war, begannen die österreichischen Soldaten und Offiziere mit dem ganzen Bewusstsein wahrzunehmen, dass es noch andere Länder mit anderen Monarchen gab und dass die Erde nur einer von Millionen von Weltkörpern war. Dieses Bewusstsein führte dazu, dass sie sich so bedeutungslos wie ein kleines Häufchen Dreck fühlten. Gefühle der Gleichgültigkeit machten sich breit. Nachdem sie ihre Heimat verloren hatten, verloren sie auch ihr Heimweh. Sie begannen, sich bedrückt zu fühlen, und es gab nichts auf der Welt, das sie nicht bedrückt hätte. Sie litten unter der Lieblosigkeit der Ehepartner, aber auch unter ihrer Eifersucht, an der Not der Zeit, der Teuerung, unter den politischen Krisen, den Zeitungsabonnements der Gatten, der eigenen Beschäftigungslosigkeit, der Arbeit und unter der Treuelosigkeit der Liebhaber. So stellten sie dem Bedeutungsverlust eine Genusskultur entgegen: eine törichte Lust an jeder Bestätigung des Lebens, am Heurigen, an Mädchen, an Essen, Spazierfahrten, Tollheiten aller Art, sinnlosen Eskapaden, mörderischer Ironie, ungezähmter Kritik, am Prater, am Riesenrad, am Kasperle-Theater, an Maskeraden, am Ballett, an leichtsinnigen Liebesspielen und Krankheiten der Liebe.

Der Psychologe William James sagte 1902 in seinen berühmten Gifford-Vorlesungen über die Religion: „Wer den Satz ‚Gottes Wille geschehe‘ nicht nur sagt, sondern fühlt, ist gegen jede Schwäche gepanzert.“ Wie entsteht diese Panzerung?

Religiöse Bedeutungssysteme stärken die Resilienz auf vielfältige Art. Das Gehirn kann erstaunlich gut mit vorhersehbaren negativen Ereignissen umgehen. Geplante Belastung stärkt vermutlich sogar unsere Resilienz. Das Stresssystem wird vor allem durch unvorhersehbare negative Ereignisse aktiviert. Diese Beobachtung konnte ich in einer neurowissenschaftlichen Untersuchung bestätigen, die ich am National Institute of Mental Health in den USA durchgeführt habe (Hasler, Fromm et al. 2007): Die Verabreichung von unvorhersehbaren elektrischen Schlägen in der Stärke eines elektrischen Weidezauns aktivierte stärker und nachhaltiger das Stresssystem und löste mehr Angst aus als angekündigte elektrische Schläge der gleichen Intensität. Anschaulicher gesagt: An einem Ringkampf teilzunehmen, der immer am Sonntag um 14 Uhr auf dem Sportplatz stattfindet, ist meistens ein „guter“ Stress. Plötzlich in einer Parkgarage in einen Ringkampf verwickelt zu werden, ist viel problematischer.

Religionen behaupten, dass Überschwemmungen, Dürre, Hungersnöte und andere Schicksalsschläge nicht zufällig geschehen, sondern von Gott absichtlich als Prüfung oder Bestrafung angeordnet sind. Der Mensch und höhere Säugetiere haben die natürliche Neigung, anderen Menschen, aber auch Tieren und Dingen, Absichten zu unterstellen. Kinder mögen Animationsfilme, wo auch Bäume und sogar Werkzeuge und Steine Absichten haben. Religionspsychologen sprechen von einem überschießenden Akteur-Erkennungsapparat, der mit der Aktivität des Hirnbelohnungssystems zusammenhängt. Die Religionen unterstützen und systematisieren dieses Überschießen. Dabei sind Religionen mit einem persönlichen Gott, der alles sieht und immer präsent ist, besonders günstig für die Resilienz. Die Einsicht, dass alles, auch das unfairste und brutalste Ereignis, Resultat einer höheren Absicht ist, hat dem antiken Resilienz-Helden Hiob geholfen, eine Serie von schwersten Katastrophen schadlos zu überstehen.

In westlichen Religionen sind Ereignisse in ein zeitliches Kontinuum eingebettet, das einen Ursprung und eine Erlösung hat. In dieser Vorstellung gibt es immer, auch noch im größten Chaos, einen roten Faden, welcher das Vorherige mit dem Folgenden auf sinnvolle Weise verknüpft. Für den gläubigen Christen besteht kein Zweifel, dass Gottes Befehl an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, mit der viel späteren Kreuzigung Jesu Christi in einem bedeutsamen Zusammenhang steht. Die Annahme einer sinnvollen zeitlichen Kontinuität ist ein äußerst mächtiger Resilienzfaktor. Warum starb meine Mutter so früh an Krebs? Warum ist mein Sohn blind? All dieses Leid ist erträglicher, wenn es verknüpft ist mit einem kosmologischen Ursprung und einer endzeitlichen Erlösung. Fast unerträgliche Belastungen erhalten damit Bedeutung in einer sinnvollen Entwicklung. Ich werde später zu zeigen versuchen, dass der Erfolg der Stress-Psychologie, insbesondere der Psychotraumatologie, zu einem wichtigen Teil darauf beruht, dass sie unangenehme Gefühle kausal mit der Vergangenheit verknüpfen und dem Leidenden eine Wachstumsperspektive anbieten. Das Problem ist, dass die oft eher banalen und einseitigen Ursachen-Annahmen dieser Theorien die wirklichen Probleme mehr vertuschen als erklären.

Soziale Unterstützung ist ein mächtiger Resilienzfaktor. Stress allein auszuhalten ist ungemein schwieriger als Stress in Anwesenheit einer fürsorglichen Person zu verarbeiten. Religionen gewähren neben der sozialen Unterstützung durch die Gemeinschaft eine anhaltende, dauernde göttliche Unterstützung. Diese ist auch bei sozialer Isolation und realer Verlassenheit garantiert. Die göttliche Person, die uns hilft, ist nicht nur fürsorglich, sondern auch allmächtig. Sie weiß genau, wie viel Stress wir ertragen. Im Gebet tritt der Gläubige mit Gott in Verbindung. Eine neurowissenschaftliche Studie konnte nachweisen, dass bei betenden Christen das Hirnbelohnungssystem in einer Weise aktiviert wird, die der Hirnaktivität beim sozialen Austausch zwischen zwei Menschen sehr ähnlich ist (Schjodt, Stodkilde-Jorgensen et al. 2008). Karmeliter-Nonnen, die mittels funktioneller Bildgebung während einer mystischen Vereinigung mit Gott untersucht wurden, zeigten ein Funktionieren des Gehirns, das typischerweise bei Zuständen völliger Verliebtheit auftritt (Beauregard and Paquette 2006). Verliebtheit ist ein ausgezeichneter Schutz vor Stresssymptomen.

Ein großer Teil des Hirnbelohnungssystems befasst sich mit Belohnungserwartungen. Der Botenstoff Dopamin spielt dabei eine entscheidende Rolle. Positive Erwartungen machen das Hirnbelohnungssystem empfänglich für positive Ereignisse. Die Erwartung, dass selbst im Unglück das Glück verborgen liegt, stärkt die Resilienz. Religionen benutzen auf raffinierte Weise diese Eigenschaft unseres Gehirns. Götter haben keine Hemmungen, große Versprechungen zu machen. Abrahams Gott schwor, dass er ein eigenes Land und Reichtum erhalten wird. Jesus versprach ewiges Leben. Neurowissenschaftler untersuchen die positiven Erwartungen anhand der Wirkung von Placebo (Murray and Stoessl 2013). Diese Forschung zeigt, dass komplexe bewusste und unbewusste Lernprozesse notwendig sind, damit ein Placebo-Effekt zustande kommt. Placebo-Effekte sind besonders ausgeprägt bei Krankheiten und Symptomen, bei welchen Dopamin eine wichtige Rolle spielt. Dazu gehören Stresssymptome, die oft mit einem Dopamin-Mangel und einer entsprechenden Störung der Belohnungserwartung einhergehen. Interessanterweise nahm der Placebo-Effekt in den letzten Jahrzehnten zu, etwa in dem Maße, in dem die Resilienz abnahm. Die Zunahme des Placebo-Effekts hat viele Ursachen. Dass das verweltlichte Hirnbelohnungssystem der Spätmoderne zunehmend nach positiven Erwartungen lechzt, mag eine dieser Ursachen sein.

Obwohl sich heutzutage viele Menschen westlicher Länder einer Konfession zugehörig fühlen, hat der moderne Glaube kaum mehr eine Wirkung auf die Resilienz. Selbst in den USA mit einer starken religiösen Verwurzelung der Bevölkerung scheint die Religion nur noch dank der Förderung des Gemeinsinns die Resilienz zu stärken (Eichhorn 2012). Vermutlich schützen Religionen nur dann vor Belastungen, wenn sie als Sinn-Totalität verstanden werden, alle Lebensbereiche umfassen, und der Glaube von allen geteilt wird. Mit zunehmendem naturwissenschaftlichen Verständnis und zunehmender Bildung ist es für die meisten Menschen nicht mehr möglich, naiv an Religionen zu glauben. Die Gläubigen glauben nur noch an Teile der Religion. Gerade die für die Resilienz so wichtige Einmischung Gottes in alle Einzelheiten des Lebens und der Echtzeit-Kontakt zwischen Mensch und Gott wird nicht mehr geglaubt. Was oft übrigbleibt ist ein Glaube an den Glauben, das heißt, die Überzeugung, dass es besser ist, eine Religion zu haben als keine. Dieser Glaube ist aber viel zu abstrakt, um die Widerstandskraft zu stärken.

Dass die katholische Kirche die Evolution akzeptiert, zeigt eindrücklich, wie die Naturwissenschaften und die Idee des Zufalls auch unter Gläubigen an mentalem Terrain gewonnen haben. Noch schlimmer als der Zufall ist für die Resilienz aber die Selbstverantwortung. Ein wichtiger Effekt des göttlichen Handelns ist, dass die Entscheidungsverantwortung vermindert wird und damit die Bitterkeit, die man nach falschen Entscheidungen empfindet. Für ein Kind mit einer schweren geistigen Behinderung zu sorgen ist am einfachsten, wenn man überzeugt ist, dass Gott diese Behinderung gewollt hat. Es ist schon schwieriger, mit dieser Situation umzugehen, wenn man sich vorstellt, dass die Behinderung ein Zufall ist. Am schwierigsten ist es, wenn man das Gefühl hat, man sei an dieser Behinderung schuld.

Nach extremen Stresssituationen kommen Schuldgefühle häufig vor. So erzählte mir eine Frau, die in einer Tiefgarage vergewaltigt wurde: „Ich bin selber schuld. Ich hätte an diesem Abend den ÖV und nicht das Auto nehmen sollen.“ Solche Selbstbeschuldigungen sind für die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen nicht hilfreich. Sie werden aber von unserer Kultur gefördert, indem die Selbstverantwortung des Einzelnen im Vordergrund steht.

Die Manie ist der krankhafte Versuch der Psyche, ein überaktives Stresssystem zu dämpfen. In der Manie werden Unmengen von Dopamin ausgeschüttet. Dies führt dazu, dass die Welt mit Bedeutung ausgestattet wird. Ein Vogelgezwitscher teilt dem Maniker mit, dass alles gut wird, das Lächeln eines Passanten, dass alle mit ihm in liebender Verbindung stehen, ein Sonnenstrahl erscheint ihm als die Liebe selbst. Es erstaunt deshalb nicht, dass Maniker nur ungern antimanische Medikamente einnehmen, welche die Wirkung des Dopamins im Gehirn hemmen und damit die Bedeutsamkeit reduzieren. Auch nach manischen Phasen berichten Patienten darüber, wie angenehm die große Bedeutsamkeit der kleinsten Gesten und Geräusche war. Die meisten manischen Patienten spüren mit der Zeit, dass die Bedeutung, die sie erleben, von anderen nicht geteilt wird. Darauf reagieren sie gereizt, missionierend oder frustriert. Manien enden daher oft in einem Zusammenbruch der Resilienz.

Eine Antwort auf die spätmoderne Sinn- und Bedeutungskrise ist die Sinn-Explosion (Hörisch 2008). Spirituelle Angebote schießen wie Pilze aus dem Boden. Man kann heute an die Natur, außerirdisches Leben, Buddha, energetische Polaritäten, die Bedeutung der Vergänglichkeit oder an Cannabis glauben. Im Folgenden werde ich kurz auf zwei Bedeutungsquellen eingehen: die existenzielle Grenzerfahrung und die Natur, welche die Medizin und die psychotherapeutische Praxis zunehmend beeinflussen.

Existenzialphilosophen, allen voran Martin Heidegger, entwickelten Bedeutungssysteme, die ohne die zentrale Rolle eines Gotts auskommen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie Bedeutsamkeit aus der zeitlichen Begrenzung des menschlichen Lebens ableiten. Der Germanist Jochen Hörisch führt in seiner interessanten Untersuchung zur Bedeutsamkeit dieser philosophischen Systeme auf Hegel und die deutsche Literatur zurück (Goethe und Canetti ausgenommen). Weil Gott und Religion an Bedeutung verloren haben, sind das Schweigen und die Negativität des Todes zur entscheidenden Quelle von Bedeutsamkeit geworden, folgert Hörisch. Todesnahe Grenzerfahrungen sind das tragende Element der populären Varianten dieser Bedeutungskultur. Im Hinblick auf die Resilienz treibt sie Nietzsches berühmte Aussage wie folgt auf die Spitze: „Nur was mich nicht umbringt, macht mich stärker“. Ich habe Nietzsches ursprüngliche Aussage selber schon verwendet, z. B. um den Überfall eines Kokainsüchtigen zu verarbeiten, der mir einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht versetzte. Der Vorfall hätte durchaus zu meinem Tod führen können. Wissenschaftlich korrekt ist Nietzsches Aussage nicht. Hunderte, wenn nicht Tausende von Studien belegen, dass Erfahrungen, die einen fast umbringen, die Resilienz im Durchschnitt schwächen, nicht stärken. Der Faustschlag meines Patienten hat mich tatsächlich eher verunsichert als gestärkt. Im Nachhinein erlebe ich ihn auch nicht als besonders bedeutsam. Viele meiner psychotherapeutischen Kollegen würden diesem Ereignis aber mehr Bedeutung zumessen. Sie würden z. B. eine kausale Beziehung zwischen diesem Ereignis und meiner Beschäftigung mit dem Thema Resilienz vermuten. Sollte ich schwer depressiv werden, und das kann jedem jederzeit passieren, würden einige meiner Kollegen so weit gehen, meine psychische Krankheit auf die existenzielle Bedeutung dieses Faustschlags zurückzuführen. Die Beliebtheit von Nietzsches Aussage in psychologischen Ratgebern und der Erfolg der Psychotraumatologie zeigen klar, dass die Todesnähe und der Überlebenskampf in der populären Kultur zu wichtigen Bedeutungsproduzenten geworden sind. Dies ist bei der allgemeinen Zunahme der Lebensdauer und der existentiellen Sicherheit ein erstaunlicher Befund. Ob diese Art der Bedeutung die Resilienz stärkt, ist fraglich. Ohne Zweifel leben Krimiautoren gut davon.

Viele spätmoderne Menschen glauben an die Natur. Der Philosoph Spinoza hat im 17. Jahrhundert Gott und Natur gleichgesetzt. Wenn eine wissenschaftliche Zeitschrift ein Manuskript von mir ablehnt, das ich für sehr wichtig halte, und ich zugleich feststellen muss, dass ein Assistenzarzt, auf den ich große Stücke halte, eine völlig falsche Diagnose stellt, sage ich mir gerne ein Gedicht auf, das wie folgt endet:

Die Natur will ihre Kirschen machen,

selbst mit wenig Blüten im April

hält sie ihre Kernobstsachen

bis zu guten Jahren still.

Niemand weiß, wo sich die Keime nähren,

niemand, ob die Krone einmal blüht –

Halten, Harren, sich gewähren

Dunkeln, Altern, Aprèslude.

Gottfried Benn. Sämtliche Gedichte. Klett-Cotta, Stuttgart 1998

Dieses Gedicht stammt von Gottfried Benn, der als Pfarrersohn die „Auflösung der Kirche“ besonders schmerzlich erfuhr. Nach zwei Jahren Theologie-Studium begann er, Medizin zu studieren. „Rückblickend scheint mir meine Existenz ohne diese Wendung zur Medizin und Biologie völlig undenkbar“, schreibt er in seiner Biografie. Die Idee, dass die Natur die Absicht hat, meine Assistenzärzte und meine wissenschaftliche Tätigkeit zum Blühen zu bringen, es aber nicht immer im ersten Versuch schafft, finde ich hilfreich. Die Natur als positive Kraft kann es natürlich niemals mit einem Gott aufnehmen, der uns absichtlich in einen Abgrund führt, um uns dann zuzurufen: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“ Und uns schließlich mit absichtsvoll gewählter Verzögerung persönlich den Weg aus dem Abgrund weist.

Die Natur als Bedeutungslieferant kennt viele Formen. Naturheilverfahren, deren Erfolg mehr auf dem Glauben an die Natur als auf wissenschaftlicher Evidenz beruht, sind extrem beliebt. Über 70