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Marta Karlweis

Das Gastmahl auf Dubrowitza

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Literaturmuseum Altaussee,Bildarchiv

Marta Karlweis

Das Gastmahl
auf Dubrowitza

Mit einem Nachwort
herausgegeben von
Johann Sonnleitner

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Die Erstausgabe erschien 1921
im S. Fischer Verlag, Berlin.

1. Auflage 2017
Das vergessene Buch
DVB Verlag GmbH
www.dvb-verlag.at
© 2017 DVB Verlag GmbH, Wien
Umschlaggestaltung: Leandra Eibl, Eindhoven
ISBN 978-3-9504158-8-9

I

Jelena Wasiliewna Tschernitschewa zählte achtundzwanzig Jahre, als Alexei Orloff, ein ehemaliger Regimentskamerad ihres Gatten, des Grafen Ilja Zachariewitsch Tschernitscheff, den Kaiser Peter in Ropscha erwürgte unter Beistand etlicher halbverzweifelter Gesellen. Graf Tschernitscheff hatte die Revolution von 1762 mit inneren Vorbehalten mitgemacht; vor solcher Vergewaltigung heiliger Gesetze schauderte er zurück, seine Hoffnung auf die Kaiserin Katharina trübte sich, und der stille Wandel seiner Gesinnung wurde ruchbar. Alsbald wurde ihm ein höheres Kommando in Kiew übertragen und, obgleich gerade die Brüder Orloff auf seine Entfernung gedrungen, erschien Alexei im Augenblick der Abreise vor dem Hause Tschernitscheff, umarmte den widerstrebenden Grafen und zeigte unter tausend Tränen eine wilde und reuevolle Zerrüttung. Ilja Zachariewitsch schüttelte ihn leise ab und bestieg die Kutsche, in der Jelena Wasiliewna mit ihren Kindern saß. Den Kindern hatte sie unter irgendeinem Vorwand die Augen verdeckt, vielleicht damit sie den nicht sehen sollten, der ihrem Vater am Halse hing.

Graf Tschernitscheff focht mit Glück und Tapferkeit gegen die Türken. Er erhielt den Marschallstab, aber er verblieb fern von Petersburg, denn nunmehr waren seine Talente und sein Charakter der aufsteigenden Größe Grigorij Potemkins hinderlich im Wege. Die Marschallin hatte indessen ihre beiden Kinder an den Pocken verloren und strebte keineswegs nach dem Glanze höfischen Lebens. Dennoch berührte sie dieses sichtbare Bestreben, ihren Gatten fernzuhalten, tiefer, als sie ihrer schweigsamen Art nach verriet.

Nach dem frühen Tode des Feldmarschalls begab sie sich nach ihrem Gut Tschertschersk, neun Tagereisen nördlich von Kiew. Die Geistlichkeit des kleinen Städtchens zog ihr mit den Heiligenbildern der kleinen Kirche entgegen, die Leibeigenen empfingen sie mit Salz und Brot.

Nebst einiger Dienerschaft brachte die Marschallin zwei invalide Offiziere niederen Ranges nach Tschertschersk. Der eine, Anton Antonowitsch Müller, hatte das rechte Bein, der andere, Karl Stepanowitsch Adam, den linken Arm verloren. Beide waren Deutsche und hatten unter Tschernitscheffs Kommando gegen die Türken gekämpft. Dienstunfähig geworden, vermochten sie trotz schriftlicher Gesuche und mannigfacher Vorstellungen ihre Pensionen nicht zu erhalten. Sie wandten sich an den Feldmarschall. Dieser schrieb nach Petersburg, allein niemand fand sich persönlich daran interessiert, ihm zu dienen. Es erfolgten zwar schönfärberische Antworten und Beteuerungen, allein die Pensionen blieben hinterzogen. Der Marschall nahm die beiden Deutschen in sein Haus, und übertrug ihnen Aufsichtsämter. Wie bitter ihn der ganze Handel, so geringfügig er war, verdroß, erfuhr mit seinem Willen nicht einmal Jelena Wasiliewna, die gleichfalls keine Silbe darüber verlor.

Der Gutshof Tschertschersk, vier Werst vom Städtchen entfernt, sah aus wie ein Dorf, das vom Himmel auf eine weitläufige Waldlichtung gefallen wäre. Stallungen, Dienerhäuser, Bade- und Gästehäuser, Tennen und Scheunen scharten sich unregelmäßig um das weißgetünchte, niedere, breitflügelige Herrenhaus. Sämtliche Gebäude waren von Holz. Die Marschallin, als Tochter des russischen Gesandten am englischen Hof in London aufgezogen, machte sich sogleich daran, den Wald zu roden und einen Park nach englischem Muster anzulegen.

Das Herrenhaus, von außen beinahe dürftig anzusehen, enthielt Säle und Gemächer von halborientalischer, altrussischer Pracht. Raritäten vieler Jahrhunderte füllten die Räume. Nicht allzufern wölbte sich das ungeheuere Tor von Asien. Näher noch lagerte meerverriegelnd das alte Byzanz. Es gab einen Freskensaal in der alten einstöckigen Behausung, in dem die Geschichten des alten Testaments bis zur Geburt Christi faltenreich bewegt, finsteren Geistes die gewaltigen Wände umliefen. Im Teppichsaal hing, die Mittelwand bedeckend, ein Gewebe der köstlichsten Art: griechische Mönche hatten es vor nicht weniger als dreihundert Jahren nach Kiew gerettet, sein Alter aber wurde auf achthundert und mehr geschätzt. Mündliche Überlieferung bezeichnen es als jenen berühmten Teppich, den Danielis die Argiverin dem Basil von Mazedonien, Kaiser der Romäer, von ihren Teppichweberinnen im Peloponnes hatte anfertigen lassen. Dieser Teppich stellte den Besuch der Königin von Saba am Hofe König Salomos dar; Anlage, Faltenwurf, Gestalten, Antlitze und Landschaft waren umflossen von hellenischer Harmonie.

Diese Räume mit ihren aufgehäuften Kleinodien blieben versperrt. Das Rare liebte die Marschallin nicht. Sie war stolz auf ihren Besitz und Stolz war der zäheste Strang ihres Charakters. Allein ihre Sinne vertieften sich alljährlich inniger in das Gewohnte. Sie lebte in zwei Stuben mit halbbäurischem, halb aus England herübergebrachtem Hausrat. Ein riesiger russischer Kachelofen füllte die Mitte jedes Gemachs. Stühle aus der Zeit der englischen Elisabeth umstanden die Tische. Jeden dieser Stühle liebte sie, den Kachelofen liebte sie, das aufgetürmte Bett unter dem kattunen Himmel liebte sie. Das Haus im ganzen liebte sie mit all seinen versperrten Schätzen und Geheimnissen und seinen offen daliegenden, nicht immer ganz reinlichen Behaglichkeiten, wie man einen Gatten liebt, dessen erhabenes und reiches Herz keiner Prüfung mehr bedarf, während seine tägliche Art das engere Leben mit kleiner Wärme ausfüllt.

Wie der Flügel eines Schrankes knirschte und der innere Geruch des Schranks, das Klatschen nackter Dienersohlen auf der hölzernen Treppe, der dunkle Raum, der abends in einer leise geöffneten Tür entstand, wie harte junge Äpfel, dicht an belaubten Zweigen, im Juli rötliche Sprenkel zeigten, prall um den schwärzlichen Butzen schwellend, wie Korn zwischen gelb und grau hinwehte und Wiese malachitgrün im verregneten Abendschimmer geschoren dalag; das wehrhafte Aufschießen einer Distel im Wellengras der Steppe: an Dinge, denen die Marschallin stündlich begegnete, hängte sich ihr Herz. Ihr Gesicht war nicht nur außerordentlich scharf, sondern auch mit einer unmenschlichen Fähigkeit des inneren Tastens begabt, so daß, was ihr Auge erfaßte, zugleich rund als Form begriffen und genossen wurde. Auch vermochte sie zu sehen, wenn sie roch. Das Gehör, von Natur weniger entwickelt, verschlechterte sich mit jedem Jahr wohl auch aus Mangel an Übung: denn redete sie selbst nur das Nötigste und selten, so hörte sie fast nie darauf, was einer zu erwidern fand.

Menschen waren ihr zu beweglich. Sie hegte Mißtrauen gegen alle. Diener galten ihr als Diebe, Gleichgestellte als Betrüger. Zuweilen gefiel ihr ein Kind, wenn es still saß und auf eine Schnecke lauerte. An den Festen ihrer Leibeigenen nahm sie in einem Winkel teil, schnupperte den fetten Geruch der Kuchen und befühlte kräftige schöne junge Menschen mit ihren großen, ernsthaften Augen. Nie verkaufte sie Sklaven. Aber wenn die Aufseher einen zu Tode prügelten, scherte sie sich nicht mehr darum, als wenn die Küchenmädchen Teller zerbrachen.

Truhen, die sie niemals öffnete, lagen voll brokatener Gewänder, Zobelpelze, Hermelin und Geschmeide. Sommer und Winter trug sie eine alte Männerlitewka über einem wollenen Rock, abends in ihrer Stube zuweilen einen purpurseidenen Schlafrock, dessen Pelzbesatz schadhaft geworden war. Den Kopf umschloß eine Männernachtmütze von Batist, um die ein dünner türkischer Schal als Turban gewunden war, dessen Enden den Hals umwickelten und vorn geknotet herabhingen. Ihr Gang war steif, seit die Gicht sie hin und wieder packte. In und außer dem Hause bediente sie sich daher eines Stockes von Ebenholz, dessen Krücke glatt wurde wie lebendige Haut.

Im Winter erhob sie sich um fünf Uhr früh, kleidete sich an und begab sich mit der Laterne in den Kuhstall. Täglich besichtigte sie das Vieh, tätschelte das glänzende Fell der Kühe, schalt die jungen Mägde und zuweilen pfiff der schwarze Stock über einen geduckten Nacken. Dabei fühlte sie sich wohl und genoß den vanilleartigen Kuhgeruch. Sie sah die von den Eutern niederspritzende weiße Milch und schmeckte den fetten Schaum in den kupfernen Kübeln. Dazu gehörte das feste rote Fleisch der Mägde, ihr summendes Schwatzen und alle die nassen, dumpfen, klatschenden Geräusche von Mensch und Tier. Hernach biß die scharfe Morgenluft angenehm in das erhitzte Gesicht. Man blies die Laterne aus und das Unlicht der Winterfrühe gab eine fröhliche Empfindung von Geborgenheit. Sie freute sich des Reifs aus dem atmenden Mund, sie freute sich ihres alten Bärenpelzes und der Marderhaube über Mütze und Schal. Sie genoß im voraus das dampfende Frühstück und den täglichen Zank mit den beiden Invaliden, die sie des Morgens bedienen mußten.

Diesen gereichte ihre deutsche Herkunft zum Vorteil, denn die Marschallin verachtete besonders ihre Landsleute, die Russen. Zwar benutzte sie die beiden Hausgenossen meist nur als Vorwand zu unwirschen Monologen, doch geschah es, daß sie eine zornig geschriene Antwort Anton Antonowitschs, des Einbeinigen, zwar nicht etwa sogleich im Verlauf ihrer Rede berücksichtigte, wohl aber im Späteren als Abart ihrer eigenen Meinung vortrug und beurteilte. Karl Stepanowitsch, ein sanftmütiger Mensch von melancholisch ausgelaugtem Ansehen, war längst in Hörigkeit versunken und öffnete fast nie den Mund.

Anton Antonowitsch besaß einen trockenen, pedantischen Charakter, der mit einem unruhigen neuerungssüchtigen Temperament in unaufhörlicher Fehde lag. Sein Gesicht war daher gelblich von steter Galle, sein schwarzes Haar stand in klebrigen Büscheln auf. Emsig sammelte er Nachrichten im Städtchen, und da er wußte, daß die Marschallin ihnen keinen Glauben schenken würde, sammelte er seinen täglichen Vorrat an Ärger auf dem Heimweg.

Seine Leidenschaft war der Tabak, übrigens die einzige, die auch Karl Stepanowitsch begriff und teilte. Nichts war indessen der Marschallin so verhaßt als Geruch von Tabak, und da sie die beiden mit dem Gelde kurz hielt wie kleine Knaben, waren sie niemals imstande, sich auch nur heimlich dem verbotenen Genusse hinzugeben.

Auch Branntwein durften sie nicht trinken. Einmal im tiefen Winter kamen sie betrunken aus einer Kabake in das Haus. Da sperrte die Marschallin sie in ihre Bodenkammer und gab ihnen nichts zu essen, bis sie Besserung schwuren. Hernach gab es eine kleine Palastrevolution: Anton Antonowitsch beschloß auszubrechen und lieber in der Steppe zu sterben, als solche Sklaverei länger zu erdulden. Allein da öffnete Karl Stepanowitsch zum ersten Male den Mund und ergoß eine solche Fülle von Gegenargumenten über den innerlich ohnehin nicht ganz Entschlossenen, daß die Flucht nicht ausgeführt wurde und alles beim alten blieb. Eines Morgens im Dezember saßen die beiden Invaliden auf der Ofenbank, während die Marschallin ihre dampfende Grütze verzehrte. Mehrmals setzte Anton Antonowitsch zu einer Nachricht an, öffnete den Mund, schoß einen stechenden Blick auf die Marschallin, und klappte den Mund wieder zu. Endlich verkündete er gereizt: „Die Kaiserin reist in die Krim.“

„Larifari“, brummte die Marschallin.

„Ein Kurier ist bei Rumiantzoffs Beschließerin in der Stadt gewesen“, schrie Anton Antonowitsch.

„So eine Lügnerin!“

„Anna Petrowna ist eine höchst ehrbare, wahrheitsliebende Person!“ stritt der Invalide, und hierin hatte er recht, denn er beurteilte Menschen weit vernünftiger als die Marschallin. „Sie sagt, die Kaiserin werde mit ihrem ganzen Hofstaat und allen auswärtigen Gesandten hier durch die Gegend reisen, der Kiewer Generalgouverneur, nun eben Rumiantzoff, werde sie hier in Tschertschersk empfangen und bis Kiew geleiten, wo eine Galeerenflotte im Dnjepr – –“

„Im Eise, freilich“, höhnte Jelena Wasiliewna. „Im Frühling!“ schrie Anton Antonowitsch. „Ganz Rußland ist versperrt, denn niemand darf die neuen Straßen befahren, ehe die Kaiserin vorbeipassiert ist.“ Am Abend fuhr eine Kibitka in den Gutshof ein. Ein pelzvermummter Offizier stieg aus und begehrte, Ihre Exzellenz zu sprechen. Jelena Wasiliewna empfing ihn in ihrer Stube, im Beisein der beiden Deutschen. Der Offizier nannte sich Bauer und übergab ein gesiegeltes Schreiben. Die Gräfin Tschernitschewa wurde ersucht, Ihrer Majestät auf der Reise nach Taurien am 26. Januar des Jahres 1787 Nachtlager in ihrem Hause zu gewähren. Ihre Majestät würde von den Personen der engsten Suite und den auswärtigen Ministern samt Dienerschaft begleitet sein. Das übrige Gefolge würde Unterkünfte in der Stadt finden.

Die Marschallin fragte: „Wer schickt dich?“

„Ich stehe in Diensten Seiner Hoheit des Fürsten Grigorij Grigoriewitsch Potemkin“, antwortete der Kurier.

„Willst du Antwort haben?“

„Ich warte.“

„Anton, laß ihm zu essen geben“, befahl die Marschallin.

Der Kurier erklärte, dazu lasse ihm der Dienst des Fürsten keine Zeit. Er esse in der Kibitka.

Warum es denn so eilig gehen müsse, fragte die Marschallin höhnisch.

Rußland sei groß und die Befehle des Fürsten füllten mehr als ein einziges Menschenleben, war die achselzuckende Antwort. Er, Bauer, habe seit zehn Jahren kein Haus betreten, außer um Befehle zu überbringen oder zu empfangen. Seine Pferde liefen Tag und Nacht, selbst sein Leichnam würde fahren, fahren, fahren.

Die Marschallin setzte sich zurecht und schrieb ihre Einwilligung auf einen mächtigen Bogen Papier. Sie faltete ihn und siegelte mit dem Ring des Feldmarschalls.

Als sie sich erhob, erblickten ihre Augen etwas Kläglich-Sonderbares. Der Kurier des Fürsten Potemkin hatte den Kopf an den Türpfosten gelehnt und schlief stehend.

II

In der Stadt Tschertschersk erschien ein langer Mensch, um den sich allsogleich ein Kreis von Sagen und Gerüchten bildete. Daß er mit dem gewaltigen herannahenden Ereignis in Verbindung stünde, schien außer Zweifel. Er sollte dem Polizeimeister im geheimen weitgehende Vollmachten gewiesen haben. Die meisten hielten ihn für einen Spion, wenn er musternd durch die Straßen schlenderte, duckten sich Furchtsame in ihre Häuser. Daß er keinerlei Uniform, weder Orden noch Bänder trug, erschreckte die Superklugen. Er kleidete sich vielmehr höchst nachlässig, sah schmutzig aus und schien zu tiefsinnig, um sich das Haar gehörig zu kämmen. Übrigens trug er keinen Bart, und seine abgerissenen Kleider waren nach französischer Manier gearbeitet. Doch war er Russe, nannte sich ganz offen Phalajew, Gott mochte wissen, wie er aber in Wahrheit hieß, lag in den Schenken, trank Tee und Branntwein und fing mit jedermann Gespräche an.

Um einen Holzhandel für die Marschallin abzuschließen, kamen die beiden Invaliden in die Stadt und in einer Kabake machte Phalajew ihre Bekanntschaft. Sie bestellten Tee, Phalajew bot Branntwein an. Sie tranken. Phalajew fragte, in welchem Regiment sie gedient. Er selbst habe jene berühmte Brücke über den Dnjepr geschlagen, die dem damaligen General Potemkin den bekannten Überfall auf den Großwesir ermöglicht habe.

So großer Taten habe er sich nicht zu rühmen, meinte Anton Antonowitsch, wenngleich ihm sein bißchen Tapferkeit auch übel genug gelohnt worden sei. Und, vom lang entbehrten Branntwein erhitzt, gab er seine und seines Leidensgefährten Geschichte zum besten, schlug auf den Tisch und schwor, wenn die Kaiserin nach Tschertschersk käme, solle sie erfahren, wie man mit verdienten Offizieren ihrer siegreichen Armeen verführe.

Karl Adam trat ihm ängstlich auf den lebendigen Fuß. Allein Anton Antonowitsch war nun einmal im Zuge und so verschonte er auch die Feldmarschallin nicht. Sei sie auch eine ganz wackere Person, so vergönne sie ihm doch aus Weiberschrullenhaftigkeit seine einzige Freude, das Pfeifenrauchen, nicht. Sei die Pension, die ihm die Kaiserin werde bewilligen müssen, noch so gering, Tabak werde er sich kaufen können und lieber wolle er hungern, als auf Tabak verzichten.

Sie tranken und tauschten Erinnerungen an den Feldzug. Sie sangen Lieder und Karl Adam weinte. Phalajew sagte: „Ich bin selbst ein armer Teufel. Aber Tabak sollt ihr bekommen, meine Brüder. Denkt an mich, Tabak sollt ihr bekommen.“

Spät abends fuhren die beiden Deutschen heim, von Vertrauen auf ihren neuen Freund erfüllt.

Anton Antonowitsch aber erwog die Rede, die er der Kaiserin halten wollte.

Der Generalgouverneur von Kiew, Graf Rumiantzoff, ließ Befehle ergehen an die Bürger von Tschertschersk: Ihr müßt alle eure Häuser neu anstreichen. Ihr müßt dadurch zeigen, daß ihr im Wohlstand seid, erklärte Phalajew. Aber wir haben keinen Rubel im Hause, antworteten viele Bürger, und sollen zehn Rubel für das Anstreichen bezahlen! – So antworteten sie, und strichen ihre Häuser an.

Nun mit einem Mal erschien Phalajew da und dort, seine tiefsinnige Trägheit verwandelte sich in geschäftigen Eifer. Den Tünchern mischte er die Farben. Häßliche Straßenwinkel verkleidete er mit Bäumen. Soldaten tauchten auf und standen ihm zu Diensten. Über Nacht wurde eine Brücke über das Flüßchen Sors geschlagen. Aber die Kaiserin fährt ja gar nicht über den Sors! staunte der Schulze.

„Pinsel!“ brummte Phalajew. „Und der Verkehr?“

„Wie, der Verkehr?“

„Ach, ihr Bauernseelen! Handel und Wandel sollen wohl durchs Wasser schwimmen?“

Darüber staunte der Schulze noch viel mehr. Denn Tschertschersk hatte keinen Handel.

Abends wanderte Phalajew vors Tor, um die eben aufgerichtete Ehrenpforte zu besichtigen. Der Himmel leuchtete wie grünes Glas. Aus dem Walde, schwarz über bläulich weißen Feldern, kam es wie eine Familie von Bären, Bauern in dicken Pelzen. „Was wollt ihr, Brüder?“ Der Älteste erzählte bereitwillig. Sie kämen aus dem Tscherikoffschen Kreise. Militär mache die Gegend unsicher. Die schöne Anissa, Tochter des Pawel, sei betrügerisch zum kranken Weib des Pachom gerufen worden, abends, zu später Stunde. Sie sei hingegangen, aber auf freiem Felde habe ein Unteroffizier sie in den Schnee geworfen und genotzüchtigt. Hernach, damit kein Geschrei entstünde, habe man die schöne Anissa eingesperrt. Die Kaiserin solle helfen.

Phalajew nickte zustimmend. In einer Schenke trank er mit ihnen, bis ein Sergeant mit drei Soldaten erschien und sie in den Gemeindekotter warf.

Geld wurde verteilt, Gehälter wurden vorausbezahlt. Aber ihr müßt euch neue Kleider kaufen, hieß es. Phalajew riet hier und da, erschien in den Nähstuben, schäkerte mit den Dienstmädchen, die sich neue Bänder kauften. Auf den Straßen schrien die Kinder, die Gewerbsleute standen auf ihren Schwellen. Alles feierte, gaffte, wartete. Viele buken Kuchen wie in der heiligen Woche. Pechtonnen wurden vorauf geschafft, viele Werst weit, bis man die Pechtonnen des nächsten Städtchens traf, denn der Weg der Kaiserin strahlte jeden Abend von Petersburg bis Kiew wie eine irdische Milchstraße durch das unermeßliche Reich.

Phalajew gab ein Fest im Schulzenhause. Er erschien in goldgesticktem Rock, in Schnallenschuhen und Seidenstrümpfen, säuberlich gekämmt und gepudert.

Ein reichliches Mahl wurde aufgetragen, Kerzen strahlten, es bückten sich die Bärte, die dicken Bürgerinnen blähten sich. Die Luft dampfte von fieberischer Fröhlichkeit. Für alle war das Unerhörte nah, der Wendepunkt, die Entscheidung, das Füllhorn der Gnade. Phalajew ging mit dem Glase von einem zum andern. Was dumpfer Ehrgeiz in der bitteren Kammer der Einsamkeit oder im Dunst des Ehebettes ausgeheckt, tat sich redselig vor ihm auf. Phalajew kannte die geheimnisvollen Mienen, die falsche Würde des Zurückgesetzten, den Qualeifer des Strebers, die geduckten Augen des Profitsüchtigen, den schmalgekrümmten Mund des ehrsüchtigen Eheweibes. Er wußte, daß die Kaiserin keinen einzigen von ihnen zu Gesicht bekommen würde, aber er ging umher und baute jedem eine schwindelnde Brücke in das Land des Glanzes. Wie freute er sich, daß der Kaufmann Ssila seinen Sohn von den Soldaten freibekommen und sein Geschäft verdoppeln würde! Er schmeckte den Braten, den Ssilas Weib bereiten würde, er fühlte Ssila Ssiljitschs neue warme Kleider auf der Haut. Phalajew küßte Männer und Weiber, Männer und Weiber küßten ihn. Müde von all dem Glück, das er gebaut und auf seinen Schultern getragen, ging er lange nach Mitternacht erst schlafen. Was von dem Mahle übrig blieb, schickte er in den Kotter hinab. Dort waren nebst den Bauern aus der Tscherikoffer Gegend sämtliche Arme, Elende, Bresthafte und Obdachlose des Ortes zusammengepfercht, die die Soldaten ausgehoben und gesammelt hatten.

Am andern Morgen war Phalajew verschwunden.

Um die vierte Nachmittagsstunde des achtzehnten Januars rannten die Kinder der Tschernitscheffschen Leibeigenen erschrocken in ihre Hütten. Gestampf und schrilles Schreien kam den ausgeschaufelten Weg vom Städtchen herauf. Kleine gelbe Männer in zotteligen Fellen, denen die Augen schräg an den Seiten des Kopfes saßen, ritten auf gedrungenen Pferdchen bügellos in Haufen daher. Jeder führte zwei Handpferde am Lederhalfter.

Die Marschallin riß ein Fenster auf. „Anton Antonowitsch!“ schrie sie. „He, Kusma, Jefim, Wassili, Bogdan, jagt das Teufelspack in die Tenne hinter Jefims Haus. Und daß mir diese Heiden kein Feuer anzünden, achtet drauf! Wenn sie Feuer haben wollen, mögen sie im Hof nächtigen!“

Einer der Schirkasier reckte sich grinsend im Sattel, er verstand die Sprache. Wie Geier schreiend drängten die Kumpane herzu. Die Pferdchen legten wiehernd die Hälse übereinander und stampften. Reisig züngelte schwächlich in der roten Abendsonne. Die Marschallin ließ rohes Schweinefleisch in den Hof werfen, sie begossen es mit Branntwein und brieten es.

Tschernitscheffische Stallknechte schlugen sich zu ihnen, musterten die Pferdchen und bewerkstelligten eine Art stummes Gespräch, indem sie mannigfaches Gerät herbeizogen und mit dem der Halbwilden verglichen. Körperliche Liebe zum Ding, das den Tag ausfüllt, war allen gemeinsam. Die jüngern unter ihnen lachten einander bald aufmunternd an. Der schirkasische Führer vermochte sich russisch ein wenig verständlich zu machen und erzählte, wie seit Monaten Befehl bis in die äußersten Winkel des Kaukasus gedrungen sei, die Pferde hierhin und dorthin zu treiben und bereitzustellen. Tausende von Pferden würden so durch unendliche Schneewüsten getrieben, allenthalben finde man ihre Spuren. Auf den Landstraßen aber fände man nicht nur Pferde. Zahlloses Volk wandere daher und dahin: Männer, Weiber und Kinder. Zuweilen lägen sie auch im Schnee und stürben vor Ermattung.

Ja, warum wandert das Volk, fragten die Knechte.

Warten. Warum denn warten?

Das wissen wir nicht. Befehl kommt und sie brechen auf. Man sagt, sie würden auf den Straßen aufgestellt, und müßten warten.

Das wissen wir nicht. Können auch nicht viel reden. Von hinten kommen neue Pferdeherden und drängen nach. Da heißts die Halfter locker lassen und vorüber.

Sie tranken bis tief in die Nacht; hernach lagen sie betrunken und betteten die Köpfe hintenüber in die Bäuche ihrer hingestreckten Pferdchen.

Am nächsten Morgen fuhr der Generalgouverneur Rumiantzoff in sechsspänniger Kalesche an. Das Tor über der großen Freitreppe stand offen. In der großen Eingangshalle stürzten ihm zwanzig bis dreißig Bediente halb in kostbarer Livree, halb ungekämmt und barfüßig entgegen und zerrissen seinen Pelz in unbeholfenem Diensteifer. Saaltüren sperrten weite Rachen auf, Getose füllte das Haus. Rumiantzoff trat ein, wanderte wie Ali Baba in der goldenen Räuberhöhle. Ausgeschüttet lagen die Tschernitscheffschen Kleinodien und mitten unter ihnen stand die Marschallin auf einer Leiter, in Litefka und Turban, einen riesigen Staubwedel in der Hand. „Du bist schon da“, rief sie herab, „paß auf, tritt nicht in mein Porzellan. Ach, was für Kram in diesem gottverlassenen Hause!“

Sie stieg herab, ihr Gesicht glühte vor Stolz. Rumiantzoff blickte zu Boden. Seine Figur war schlank und jugendlich. Das Gesicht, wohlgebildet, aber bleich, zeigte eine erloschene Melancholie, als vermöge es gleich einem Tiergesicht weder zu lachen noch zu weinen.

„Du bist alt geworden“, stellte die Marschallin fest. „Ist dir der Dienst noch immer nicht leid?“

Rumiantzoff zuckte die Achseln. Während er mit der Marschallin den Saal verließ, schob er Schritt für Schritt ernsthaft beiseite, was im Wege lag.

„Anton! Karl!“ rief die Marschallin.

Es zeigte sich, daß die Invaliden weder im Hause noch in den Stallungen zu finden waren. Eine Anzahl Männer und Weiber stürzte auf die Suche. Plötzlich sagte Rumiantzoff: „Es handelt sich doch nicht um zwei Krüppel, die hier gesucht werden?“

„Doch!“ schrie die Marschallin. „Hast du die Schurken gesehen?“

„Ja. Sie saßen in einer Kibitka, die von Tschertschersk gegen Wawilowka fuhr. Ihr Deichselpferd lief gegen meinen Vorspann. Da fluchten sie laut. Sie waren pressiert.“

Die Marschallin stand starr.

Anton Antonowitsch war in den letzten Tagen tiefsinnig gewesen. Immerfort redete er von einer Stunde der Entscheidung. Aber je näher sie rückte, desto mehr ähnelte sie einem wandernden, unentrinnbaren Berg. Er träumte schwer, stöhnte atemlos. Das Essen widerte ihn, er fiel vom Fleisch. Karl Stepanowitsch betrachtete ihn mit feuchten Augen. Sie standen hinterm Kuhstall und Anton Antonowitsch war eben nahe daran, ein furchtbares Geständnis seiner Schwäche abzulegen. Da kam es mit pst, pst um die Ecke. Ein Kutscher brachte einen Brief. Einer der Hofknechte sah sie just noch weglos durch den Park davonsausen.

Der Tag wuchs eilig in den Abend. Majestätisch ging die Sonne unter. Lichter schwammen weißlich in den gelblila Tönen der Dämmerung. Je zahlreicher sie erschienen, desto kühner durchbohrten sie die Finsternis, die plötzlich da war, als hätte sie im Tag gelauert. Über die Stadt Tschertschersk ballte sich Dunst von Licht und Stimmen. Am Waldrand loderten die Pechtonnen. Soldaten marschierten unter Trommelwirbel, Kinder drängten sich wie Geflügel. Das Sträßchen zum Tschernitscheffschen Gut streckte sich schwarzgesäumt von Menschen.

Dann prasselten die Fanfaren, Geschrei lief von fernher und wuchs jubelnd an. Viele warfen sich in den Schnee, ein altes Weib betete laut. Bepelzte Reiter stoben vorüber, Schlittenglocken von Silber klingelten Freude. Es war Lust, auf die Knie zu fallen, Entzücken, die Arme zu breiten, Taumel, zu schreien, wo Licht und eiliges Flimmern von Gold vorüberjagte.

Ach, ach, wie schön sie ist und wie wunderbar gekleidet, jubelte das Volk. Kinderträume stiegen beseligend aus versunkener Tiefe. „Habt ihr die Krone gesehen?“ schrie der Pastetenbäcker. „Und den Purpurmantel von Hermelin?“

Für die Dauer eines Augenblicks war alles gewährt, die Rechtfertigung des Zurückgesetzten und der Profit des Geldgierigen, und während er schrie, küßte der Kaufmann Ssila seinen wiedergekehrten Sohn mit den Lippen des Herzens und dem Hauch der Phantasie.

Indessen entstieg vor der Rampe des Hauses Tschernitscheff ihrem zwölfspännigen goldumborteten Schlitten Katharina, eine stattliche Frau, gepflegt und rosig in ihrer matronenhaften Fülle, im grünen, russischen Kostüm.

III

Im Hause der Feldmarschallin nahmen außer Ihrer Majestät Quartier: Der Adjutant Alexander Matweitsch Mamonoff, die beiden Staatsdamen Branicka und Skawronska, Nichten des Fürsten Potemkin, die Hofmeisterin Fräulein Protassowa, die Hoffräulein Schkurina und Passekowa, letztere mit ihrem Vater, dem Gouverneur Peter Bogdanowitsch Passek, endlich die Prinzessin Schtscherbatowa, die von der Kaiserin erst während der Reise zum Hoffräulein ernannt worden war. Ferner die Fürsten Galitzyn und Besborodko, die Grafen Schuwalow und Suwalow, der Oberstallmeister Fürst Narischkin, der kaiserliche Gesandte Graf Kobentzl, der französische Graf Ségur, der englische Fitzherbert. Jede dieser fürstlichen und gräflichen Personen brachte ihre nächste Dienerschaft mit ins Haus, ungerechnet die Jungfern, Zofen, Lakaien und Bedienten der kaiserlichen Antichambre. Dazu kam der Generalgouverneur Graf Rumiantzoff und seine Räte Laenskowsky und Grapowicky. Zudem die zehn Postkavaliere der letzten Station, der Adelsmarschall, der Kreismarschall Lunin. Sämtliche mit Bedienten. Vierundachtzig Schlitten nahmen im Hofe Aufstellung. Fuhrleute und Fackelreiter wurden in die Bedientenhäuser aufgeteilt.

An hundert Personen nächtigten in der Stadt.

Als die Kaiserin die Eingangshalle betrat, erscholl eine Fanfare von dreißig Hörnern. Nicht allzufern wurden Kanonen gelöst. Die Leibeigenen der Marschallin brachen in Geschrei aus, sie selbst, prangend in Brokat und Diamanten, neigte sich bis zur Erde. „Meine Liebe“, sagte die Kaiserin, „wie geht es zu, daß ich Sie in zwanzig Jahren nicht zu Gesicht bekommen habe?“

Die ungeschminkten Wangen der Marschallin erröteten heftig, dann wurden sie weiß. Das Blut stürzte zum Herzen mit großer Botschaft. Bitterkeit schmolz wie graues Eis im April.

„Ich glaube, ich war eine große Sünderin“, antwortete sie innerlich aufbebend und: ich liebe dich, Kaiserin, weil ich dir Unrecht getan habe, sang es wie Orgeltöne in ihr.

Das Antlitz der Souveränin zeigte leichte Verwunderung. Es war ein blühendes, kräftig im Fleisch gefaßtes Angesicht von großen Flächen. Dieses weiträumige Fleisch gab ihm ein scheinbar nacktes Ansehen, nackt aber in einem Sinn von Freimut und Entschlossenheit. Katharina hielt sich sehr gerade, das Kinn gereckt, den Kopf ein wenig nach hinten drückend. Die hellen grauen Augen standen immer offen und geradeaus auf die Welt gerichtet, wie Wächter. Senkten sich aber die Lider, dann entlief das Gesicht der Wacht, und eine wollüstige, ja tödliche Verschlagenheit machte das Nackte entblößt.

Die Marschallin hatte in zwanzig Jahren so viel gehaßt, daß sie dieses helle Gesicht sogleich bis in seine geahnten Finsternisse lieben mußte. Sie kämpfte durchaus nicht um Erkenntnis. Sie ergab sich wie eine Jungfrau.

Die Halle füllte sich mit den Personen der Gefolgschaft.

Die Marschallin führte die Kaiserin in ihre Gemächer, auf dem Weg lobte die Kaiserin das Haus. Das stumpfe Gehör der Marschallin lockerte sich wie aufbrechender Ackerboden. Sie wandte sich um und sah hinter sich viele prächtige, vergnügte, geschmückte Menschen von unbedingter Daseinsfreude, wunderlich traumlos, Herren des Augenblicks. Die Marschallin verschenkte sich grenzenlos an diese glücklichen Menschen.

Zwanzig Becken und sieben silberne Trompeten verkündeten von der Galerie des Speisesaales den Eintritt der Kaiserin und des Gefolges. Drei Tafeln waren gedeckt. Nach Rang und Stand erhielt jedermann seinen Platz. Gold und Silber prunkte auf damastenen Tüchern.

Der Speisemeister hob den weißen Stab, in geordneten Reihen Tänzern gleich eilten die Lakaien mit den aufgetürmten Schüsseln in den Saal. Wie Automaten standen die fremden Heiducken hinter den Stühlen ihrer Gebieter.

Die kaiserlichen Köche waren mittags eingetroffen und mit verstecktem Hohn empfangen worden. Man lieferte ihrer Geschäftigkeit, was sie begehrten. Zugleich aber wurde zauberhaft, vor ihren Augen und dennoch undurchschaubar ein Mahl von fünfundvierzig Gängen zubereitet, wie sie sagten, derbe Bauernspeisen für Troß und Gesinde. Als aber Kusma Kusmitsch, der Haushofmeister der Marschallin, in höchst eigener Person in der Küche erschien und das vereinbarte Zeichen gab, bemächtigten sich die Aufwärter der vermeintlichen Bauernkost und das französische Souper der kaiserlichen Köche wanderte in den Gesindesaal.

Zweihundert Hühner waren geschlachtet worden, um den Bors, die Suppe des Landes, zu kochen. Drei Fäßchen eingelegter und gesalzener roter Rüben wurden aus den Kellern geholt und ihr Inhalt mit den reinlich tranchierten Hühnern viele Stunden in gewaltigen Kesseln eingedämpft. Die Küchenmädchen brachten Eimer rosigen dicken Rahms aus der Milchkammer. Feierlich goß ihn der Mundkoch aus kleinen Kellen in die duftende Brühe. Die Gewürzköchin wog Pfeffer, Muskatnuß und Nelken nach uralter Vorschrift zu. Die Küchenjungen drehten Puterhähne und runde Ferkel an den Spießen und Lämmer wurden auf griechische Art über offenem Feuer gebraten. Der Bratenkoch bestrich den Leib innenwärts mit Pfeffer und Salz, auch stach er am inneren Teile jedes Schenkels ein schiefes Loch tief ins Fleisch und schob Salz und Pfeffer und kleingehackte Zwiebeln hinein. Während des Bratens mußten die Küchenjungen das Lamm immerfort mit Speck bestreichen.

Einer von ihnen, er war auf Dubrowitza geboren, einem zweiten Landgut der Marschallin, das diese nie besuchte, weil es zu nahe an Moskau lag, war ein geschwätziger Bursch und vertrieb den andern die Zeit, indem er von den Gebräuchen seines Landstrichs erzählte. „Bei uns“, prahlte er, „sind die Bauern findig. Wenn die Schafe der Herrschaft auf der Weide sind, stechen sie ihnen in die Hinterschenkel gerade wie ihr hier, aber ihr tut was hinein, und jene saugen das Fett mit einem Strohhalm heraus.“

Zu den Lämmern wurde schwärzlicher venezianischer Wein gereicht, zur Suppe schenkten die Heiducken Kwas. Sterletts auf sechserlei Art schickte der Mundkoch in den Saal und die Zahl der süßen Grützen und Kompotte sollte kein Ende nehmen. Dazu spielte abwechselnd bald die Hornmusik feierliche Märsche und Choräle, bald trat ein junger Sänger an den Rand der Galerie und sang, von einer einzigen Balalaika und einer kleinen dumpfen Handtrommel begleitet, mit einer Sopranstimme von fremdartig knabenhaftem Metall.

Zu Beginn des Mahles hatten zwölf der schönsten leibeigenen Mädchen ein gewaltiges Brot auf goldene Schüssel in den Saal getragen und der Kaiserin kniend überreicht. Dazu sang der Knabe:

Ehre sei Gott in der Höhe!
Ehre, sangen die knienden Mädchen.
Ehre unsrer Kaiserin auf Erden!
Ehre! sangen die Mädchen.
Möge sie niemals alt werden!
Ehre!
Mögen ihre gestickten Kleider nie zerreißen!
Ehre!
Mögen ihre guten Pferde nie kraftlos werden!
Ehre!

Nun vereinten sich die engelhaft schwebende Einzelstimme und der irdische Chor zu kindlichem Jubel:

Wir haben auch um das Brot gesungen, Ehre!
Um das Brot haben wir gesungen und ihm Ehre getan, Ehre!

Da küßte die Kaiserin die Marschallin auf beide Wangen.

„Ehre!“ jauchzte der uralte hölzerne Saal. Holz ist voller Ton, wie eine purpurne Grotte ohne Ende.

Der Oberstallmeister Narischkin war ein Mensch, den der Eindruck eines Augenblicks so trunken machen konnte wie ein Fäßchen Branntwein. Seiner Ausnahmestellung als höherer Hofnarr sicher, wagte er diesem Kuß zu applaudieren. Anna Protassowa war in ihn verliebt, sie teilte augenblicklich seine Kühnheit. Was Anna Protassowa tat, ahmte der ganze Hofstaat nach mit Ausnahme des Adjutanten Mamonoff, der wiederum die Kühnheit besaß zu mißbilligen, was allgemein gefiel. Alexander Mamonoff war nüchtern, wenn Trunkene ihn umgaben, hingegen in Gesellschaft ernsthafter Philosophen spiegelte er gerne Trunkenheit vor, um sich desto gewagtere Ausfälle zu erlauben. In Wahrheit war er immer nüchtern wie Wasser. Die kleinen kohlschwarzen Augen rollten in dem farblosen, feinhäutigen Gesicht beunruhigend hin und her. Kautschukartig beweglich verriet der breite Mund mit zuviel Deutlichkeit beständig spöttische Beobachtung. Mamonoff gab sich lässig, allein seine verzärtelten Damenhände zerbrachen ein Hufeisen ohne Mühe, wenn er in Zorn geriet.