Inhaltsverzeichnis
Lieblingshöhle
Das andere Versteck
Pfauen
Haarsträhne
Badeschwamm
Foto
Umzug
Oparation
Kanonenfutter
Kameraden
Sprichwort
Schlachten
Deputatschwein
Klicker
Badezimmer
Nicht gehört
Wintereis
Das Mädchen
Streichhölzer
Graf Koks
Fast erwachsen
Inflation
ABC
Schienbein
Liebe
Markknochen
Steckdosenmaus
So oder so
Abortgrube
Halbgehenkt
Kurven
Kriechspielen
Fieber
Ehre
Gott
Feigling
Zaun
Vaters Leiter
Schnee
Einundalles
Hansi
Gagnes
Klopapier
Kohlen
Patengeschenk
Gastarbeiter
Neugier
Unerreichbar
Das schwarze Loch
M.
Prüfung
Dankbar
Hans
Hammelführer
Pferde
Frühling
Boskoop
Bonbons
Seitengewehr
Flintenweiber
Partisanen
Soldaten
Blasen
Preußens Gloria
Fastnacht
Gut Pfad
Eins, zwei, drei, vier
Wichse
Taschenlampe
Nestelknappe
Schmuggel
Krüppel
Hellseher
Der Tankwart
Plumpsklo
Märklineisenbahn
Bücher
Liegestütze
Durst
Teppichhändler
Die Kiste
Tag X
Straßenbahn
Nachtfahrt
Traum
Haushaltswaren
Taschentücher
Lieblingsschüler
Französisch
Hausmusik
Tierpräparator
Frisör
Hering
Freude
Wunder
Lesen
Urlaub
Hilfe
Waschmaschine
Frag sie, sag ihm
Werbung
Initialen
Geographie
Unsere Kolonien
Moskau
Erziehung
Angst
Seenot
Henrystutzen
08
Ameisengott
Lederstrumpf
Kranzkuchen
Nitroglyzerin
Rauschen
Laub
Blind schreiben
Schwimmbad
Dreimeterbrett
Leiche
Konfirmation
Kegeljunge
Ralph Schock beschreibt eine Kindheit in den 1950er Jahren. Es geht um Murmeln, Fieber, Hausschlachtungen, Medizinschränke, Kindertaschentücher, Gulaschkanonen, Radios und die Abstimmung von 1955 über die Wiedereingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik. Der Kern dieser Geschichten ist so präsent und zugleich so fern und fremd wie ein Insekt in einem Stück Bernstein: Erinnerungsbruchstücke, die eingeschlossen, aber noch sichtbar sind. Sandkörner, um die sich, wie in einer Muschel, allmählich Material anlagert, sie kapseln sich ein, wachsen zu.
Ralph Schock, geboren 1952 in Ottweiler (Saar), ist Autor, Herausgeber und Literaturredakteur. Er lebt und arbeitet in Saarbrücken. Bis Sommer 2017 leitete er die Literaturredaktion des Saarländischen Rundfunks. »Kaffeeschmuggler und Steckdosenmäuse« ist seine erste literarische Veröffentlichung.

Kegeljunge

Samstags abends stellte ich auf einer Scherenbahn Kegel auf. Die Eltern, einige Verwandte, Freunde oder Nachbarn spielten in zwei Mannschaften gegeneinander. Vor jedem Wurf trat ich hinter die Schutzwand, denn die Kugeln und herumfliegenden schweren Holzkegel krachten mit Wucht gegen das Prellpolster. Ich bekam für drei Stunden fünf, später sieben Mark und eine Flasche Joralimonade. Je nach Spiel musste ich die Formationen aufstellen und die Kugeln in der Laufrinne zurückrollen. War jemand, der an der Reihe gewesen wäre, auf der Toilette, durfte ich kegeln. Meine Spezialität waren die beiden Bauern, die ich fast immer sauber traf. Einmal jährlich wurde die Kasse vertrunken. An diesem Abend, es sollte mein letzter als Kegeljunge sein, gab es Streit. Wenn wir, rief mir einer aufgebracht zu, beim Barras nicht getan hätten, was uns befohlen war, wären auch wir erschossen worden. Auf der Stelle, rief ein anderer. Oder selbst ins KZ gekommen. Ich antwortete, dass, wie ich sie kenne, sie wohl nicht ungern gehorcht hätten. Ich sei doch, brüllte nun einer, noch nicht trocken hinter den Ohren. Und was mir überhaupt einfiele, eine andere. Als die Kellnerin die nächste Runde notierte, zögerte ich. Mit Bier oder Wein wäre ich als betrunken abgetan worden. Mit Sprudel oder Cola hätte ich gezeigt, dass ich es ernst meinte. Und bestellte ein Gespritztes, was ich nicht mochte.
Erste Auflage 
Verbrecher Verlag 2017
www.verbrecherei.de
Satz/Ebookherstellung: Christian Walter
ISBN Printausgabe: 978-3-95732-278-4
ISBN Epub: 9783957323019
ISBN Mobipocket: 9783957323026
Ralph Schock
Kaffeeschmuggler und Steckdosenmäuse
Eine Kindheit in den 50ern
signet
»Er wirft das Netz Erinnerung aus, wirft es über sich und zieht sich selbst, Erbeuter und Beute in einem, über die Zeitschwelle, die Ortsschwelle, um zu sehen, wer er war und wer er geworden war.«
Ingeborg Bachmann
»Eigenartigerweise weiß ich nicht, […] ob ich damals unglücklich oder glücklich oder was ich überhaupt gewesen bin.«
W. G. Sebald
»… daß Erinnern in gewissem Sinne Erfinden ist.«
Pascal Mercier
»… aber wer ist gerecht, wenn es um seine Kindheit geht?«
Irène Némirowsky

Lieblingshöhle

Meine Lieblingshöhle war ein Verschlag unter der Flurtreppe. Sogar ich musste mich bücken, um hineinzukommen. Mit zwei Magneten an der Sperrholztür und am Rahmen war sie zu verschließen. Nur direkt hinter der Tür konnte ich stehen, meist saß ich auf einer winzigen Fußbank. Es roch nach Bohnerwachs, Terpentin und Staub. Meine Spielsachen lagen auf einem von Vater zusammengenagelten kleinen Regal. Licht gab eine Glühbirne, ich konnte sie mit einem dicken braunen Bakelitschalter an- und ausdrehen. Manchmal zog ich die Tür von innen zu, löschte das Licht und rührte mich nicht. Ging jemand die Treppe hinauf oder herab, versuchte ich am Knarren zu erkennen, wer es war.

Das andere Versteck

Das andere Versteck war unter Omas Nähmaschine. Kroch ich auf den hinteren Teil des breiten Fußpedals, so senkte es sich nach unten. Auf der linken Seite schützte mich das Schwungrad mit dem runden Treibriemen aus Leder, rechts der gusseiserne Rahmen. Und hinter der Nähmaschine waren die Holzstäbe des Treppengeländers.

Pfauen

Vor dem Einschlafen fiel mein Blick aus dem Gitterbett im Schlafzimmer der Eltern zum Fenster. Davor hing eine weiße Tüllgardine mit zwei Rad schlagenden Pfauen. Strich der Wind hinein, bewegten sie ihre Schwanzfedern. Obwohl ich es nicht durfte, kletterte ich auf die Querstange am Fußende des Gitterbetts und warf mich auf die Bettdecke. Manchmal krachten Rost und Matratze herunter, dann schraubte Vater am nächsten Tag den Rahmen wieder an. Einmal blieb ich mit der Zehe im Rad eines Pfaus hängen und zerriss den Vorhang. Mutter nähte das Loch zu, doch im Rad war nun eine Delle.

Haarsträhne

Mit dem rechten Zeigefinger drehte ich beim Einschlafen meine Haare zu einem Büschel zusammen, unablässig und auf der immer gleichen Stelle des Kopfes. Das Kreisen erzeugte ein mahlendes Geräusch im Schädel, auf dem Weg nach unten hörte es sich dumpf an, nach oben hell. Eines Morgens war die Strähne so zusammengezwirbelt, dass weder mit Kamm noch Bürste durchzukommen war. Da nahm Mutter ihre große Stoffschere und schnitt sie ab.

Badeschwamm

Es gefiel mir nicht, das Spielen unterbrechen zu müssen, um zu pinkeln. Deshalb ging ich vorher aufs Klo. Und um möglichst alles loszuwerden, drückte ich auf den Hoden herum wie samstags in der Wanne auf dem Badeschwamm.

Foto

Als Vater ein Foto von mir aufnehmen wollte, nahm er mich bei der Hand und stellte mich auf die Straße. Mutter und eine Nachbarin schauten zu. Vater entfernte sich ein paar Schritte, blickte in eine schwarze Box, die er vor die Brust hielt, ging in die Hocke, schirmte mit der Hand die Augen ab, schwenkte den Apparat hin und her und winkte mich etwas zur Seite. Ich begann zu weinen. Die Nachbarin kam, streichelte mir über die Haare und versuchte, meinen Kopf in die Kamera zu drehen. Ich wollte nicht und drückte mein Gesicht in ihre Kittelschürze. Als meine Wangen den kühlen Stoff berührten, fühlte ich mich sicher.

Umzug

Eines Tages sagte Vater, ich hätte nun lange genug bei ihnen gewohnt, und stopfte einen Waschlappen, ein Handtuch und ein Stück Seife in meinen kleinen roten Koffer. Ab jetzt würde ich drei Häuser weiter bei Familie R. leben. Er nahm mich an der Hand und öffnete die Küchentür. Zur Not wäre ich überall hingegangen, aber niemals zur Familie R. Der alte Mann lag den ganzen Tag im Unterhemd am Fenster und schrie seiner Frau hinterher. Diese hatte am Kinn eine Warze, aus der schwarze Haare wuchsen. Am meisten fürchtete ich mich vor ihrem Hund, einem weißen Spitz, der mich ankläffte, wenn ich vorbeiging. Wir standen noch in der Küchentür, ich hielt den Koffer in der Hand, als Vater plötzlich loslachte. Mitsamt Koffer hob er mich hoch und drückte mich an sich.

Oparation