Lennart Malmkvist und der ganz und gar wunderliche Gast aus Trindemossen

Lars Simon

Lennart Malmkvist und der ganz und gar wunderliche Gast aus Trindemossen

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Lars Simon

Lars Simon, Jahrgang 1968, hat nach seinem Studium lange Jahre in der IT-Branche gearbeitet, bevor er mit seiner Familie nach Schweden zog, wo er als Handwerker tätig war. Heute lebt und schreibt der gebürtige Hesse wieder in der Nähe von Frankfurt am Main. Lars Simon ist ein Pseudonym.

Über das Buch

Vor tausend Jahren wurde die Magie des Schwarzmagiers Olav Krähenbein in eine Wolfshaut gebannt und diese zerrissen. So entstanden die vier Dunklen Pergamente. Lennart Malmkvist und sein sprechender Mops Bölthorn sind auf der Suche nach den verschollenen Pergamenten, um zu verhindern, dass Krähenbein seine Macht zurückerlangt. Dabei führt sie eine geheimnisvolle Namensliste zu Prof. Dr. Hellström, dem Direktor des Göteborger Naturhistorischen Museums. Doch der wirkt seltsam entrückt, und die Polizei ist vor Ort: Offenbar wurde Hellströms Frau entführt, die mit einer skrupellosen Sekte namens Tryggvasons Erben in Verbindung zu stehen scheint. Zu allem Überfluss verwüstet auch noch ein rätselhaftes Wesen Nacht für Nacht die Küche des Professors. Wie hängt das alles zusammen? Die Lösung scheint im Trindemossen verborgen zu liegen, einem Wald voller Magie am Rande Göteborgs …

 

Von Lars Simon sind bei dtv außerdem erschienen:

Elchscheiße

Kaimankacke

Rentierköttel

Lennart Malmkvist und der ziemlich seltsame Mops des Buri Bolmen

Lennart Malmkvist und der überraschend perfide Plan des Olav Tryggvason

Gustafssons Jul

Impressum

Originalausgabe 2017

3. Auflage 2020

© 2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky/dtv

 

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eBook-Herstellung im Verlag (03)

 

eBook ISBN 978-3-423-43269-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21704-0

 

ISBN (epub) 9783423432696

 

 

Für Uli,
ohne die es weit weniger wunderbare Wesen geben würde,
die Bölthorns und Lennarts Welt bevölkern.

Prolog

»Und wieder erwartet uns eine eiskalte Nacht mit überfrorener Nässe auf glatten Straßen«, ertönte es aus dem Radio. »Fahren Sie bitte äußerst vorsichtig. Die Polizei meldete heute bereits am frühen Abend mehrere teils schwere Unfälle auf den Straßen rund um Göteborg. Jetzt aber ein Song passend zur Helligkeit in dieser Jahreszeit: ›When The Lights Go Out‹ von Five. Aktuell auf Platz 38 in den US Billboard Charts.«

Sie streckte ihre Hand aus, ertastete das Radio und schaltete es aus. Fieberhaft versuchte sie sich zu erinnern … Richtig, sie war auf dem Heimweg gewesen von der Versammlung in Billdal. Sie hatte getrunken, und das nicht zu knapp. Viele Becher Glögg, den verführerisch süßen Glühwein, und dazwischen Aquavit. Sie war trotzdem noch gefahren, wie die meisten von ihnen. Und nun lag sie in ihrem Auto in einer unnatürlichen Schräglage. So viel konnte sie trotz der Finsternis erkennen.

Schon als die junge Frau aus ihrer Ohnmacht erwacht war, wusste sie, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Nur langsam waren ihre Sinne zurückgekehrt. Ein dumpfes Dröhnen in ihrem Kopf, Glassplitter, ein kalter Windhauch von irgendwoher. Ihre Schulter tat so weh, dass sie im ersten Moment nicht einmal den leisesten Gedanken daran verschwendete, sich bewegen zu wollen. Es war stockdunkel. In ihrem Mund schmeckte sie Blut. Der Schmerz an ihrer Stirn musste von einem Schnitt herrühren.

Sie wollte um Hilfe rufen, doch aus ihrer trockenen Kehle kam nur ein kraftloses Krächzen. Sie hustete. Es roch nach Benzin und verschmorten Kabeln.

»Ich muss hier raus«, sagte sie zu sich selbst.

Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihr, sich trotz des stechenden Schmerzes in der Schulter von dem Sicherheitsgurt zu befreien und die verbeulte Wagentür aufzustoßen. Sie kroch aus dem Fahrzeug hinaus in die Nacht. Mühevoll richtete sie sich auf und musste sich am Wagendach abstützen, um nicht zu stürzen. Der Asphalt war spiegelglatt, und ihr war schwindelig.

Hier würde um diese Uhrzeit wohl kaum jemand vorbeikommen, und bis zur nächsten größeren Straße in Richtung Göteborg waren es bestimmt noch sechs oder sieben Kilometer. Sie war allein. Und sie fror. Als sie losgefahren war, war ihr noch so heiß gewesen von all dem Glühwein …

Da fiel ihr Blick auf etwas, das am Boden lag. Vielleicht zwanzig Meter vor ihr. Mitten auf der Straße beleuchtete der fahle Mond etwas, das aussah wie … Nein, das konnte nicht sein. Vorsichtig und mit pochendem Herzen wankte sie dem dunklen Etwas entgegen. Als sie es erreicht hatte, blieb ihr fast das Herz stehen. Es war tatsächlich ein Mann, der da am Boden lag.

»Hallo? Hallo?«, rief sie. »Was ist mit Ihnen?«

Sie ging in die Hocke und rüttelte an dem leblosen Körper. Er reagierte nicht. Sie versuchte, ihn zu drehen, um das Gesicht zu erkennen. Doch er war zu schwer und ließ sich nicht bewegen. Sie tastete nach dem Kopf und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund, um ihren Schrei zu unterdrücken. Die Haut des Mannes war eiskalt, und an ihren Händen klebte Blut. Sie hatte ihn offenbar mit dem Wagen erwischt.

»Oh Gott, was habe ich getan!«, flüsterte sie fassungslos. Dann fiel sie auf die Knie und starrte auf die vor ihr liegende Gestalt, die durch ihren hastig ausgestoßenen Atem hinter einem Schleier aus Dunst verschwand.

Nichts wie weg hier!, schoss es ihr durch den Kopf. Aber wohin sollte sie fliehen? Und wie? Der Wagen lag im Graben, den würde sie ohne fremde Hilfe niemals da herausbekommen.

Ihr wurde plötzlich speiübel. Auf allen vieren kroch sie über die Straße an den Rand der Böschung und übergab sich. Der unverdaute Glögg brannte in ihrer Speiseröhre, Tränen trübten ihren Blick. Dann zuckte sie zusammen.

Ein Fahrzeug war zu hören.

Es war nicht mehr weit entfernt. Sie konnte schon die Scheinwerfer erkennen. Sollte sie weglaufen? Aber die Polizei würde schnell herausfinden, wem das Auto im Graben gehörte, und sie wahrscheinlich schon zu Hause erwarten, wenn sie dort ankäme. Trunkenheit am Steuer und Fahrerflucht – beides waren keine Kavaliersdelikte, und schon gar nicht in Verbindung mit einem Toten. Ihr Leben, ihr neuer Job … alles wäre dahin. Voller Verzweiflung schickte sie ein Stoßgebet gen Himmel.

Als sie die Augen wieder öffnete, blendete sie ein Paar Scheinwerfer. Das Auto kam wenige Meter vor der Unfallstelle zum Stehen. Das Licht und der Motor gingen aus. Sie hörte, wie die Tür geöffnet und wieder zugeworfen wurde, dann Schritte. Jemand ging um das Fahrzeug herum nach hinten. Er öffnete den Kofferraum und kramte darin herum. Dann kam er zu ihr. Eine Taschenlampe leuchtete ihr direkt ins Gesicht.

»Ich habe befürchtet, dass so etwas eines Tages passiert, Rōsa

»Hofuð? Bist du das?«, rief sie verwirrt und beschirmte ihre Augen mit der Hand.

»Du trinkst manchmal zu viel und wolltest ja nicht auf mich hören, als ich dir geraten habe, das Auto stehen zu lassen.«

Er warf ihr ein Abschleppseil zu. Der Metallhaken am Ende schlug vor ihr auf den glitzernden Asphalt.

»Mach das vorn an deinem Auto fest, dann ziehe ich dich raus. Kriegst du das hin? Wir müssen schauen, ob deine Karre überhaupt noch fährt. Besser, du beeilst dich. Was ist mit dem da?« Er leuchtete zu dem leblosen Körper hinüber, der mitten auf der Straße lag.

»Er ist tot.«

Der Mann nickte. »Besser so. Dann gibt es keinen Zeugen.«

Sie zuckte verzweifelt mit den Schultern und schluchzte. »Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Wahrscheinlich ist er mir vors Auto gelaufen. Ich kann mich nicht erinnern.«

»Hast du einen Schaden am Auto?«

»Die Karre ist so alt und verbeult … Ich weiß es nicht …«, antwortete sie.

Der Lichtkegel fiel erneut auf den Toten. Dunkle Flecken waren auf seiner Kleidung zu erkennen, und eine Blutlache verbreitete sich rund um seinen Kopf. Das Licht huschte weiter, durchschnitt den Dunst der Nacht. Der Mann suchte den Fahrbahnrand ab.

»War er zu Fuß unterwegs oder mit dem Fahrrad?«

»Ich habe kein Fahrrad gesehen …«

»Er muss verschwinden. Hilf mir, den Kerl ins Feld zu schleppen, zum Waldrand hin. Glotz nicht so. Ich kann mir vorstellen, dass dir die Knochen wehtun. Es muss aber sein. Es dürfte ein paar Tage dauern, bis man ihn dort findet.« Er sah sie durchdringend an. »Wir sind uns gegenseitig verpflichtet, Rōsa. So verlangt es unser Bund. Ich hoffe, du erinnerst dich daran, falls ich mal deine Hilfe benötigen sollte.«

Etwa zwanzig Jahre später …

1. Kapitel

Eine Krähe flog in wenigen Metern Höhe zwischen den unbeleuchteten Häusern die Västra Hamngata entlang. Sie krächzte ein Mal, zwei Mal, dann verschwand sie in der Dunkelheit des eiskalten Göteborger Dezembermorgens. Der Sturm von gestern Abend war vorüber. Doch das Unwetter hatte noch mehr Kälte und über zwanzig Zentimeter Neuschnee mit sich gebracht. Lennart Malmkvist brauchte einige Zeit, die Scheiben seines Autos davon zu befreien. Bevor er einstieg, hievte er Bölthorn auf die Rückbank. Obwohl der übergewichtige Hund selbst kaum dabei mithalf, klang er, als wäre er kurz davor zu verenden.

Lennart hatte diesen Mops von seinem Nachbarn Buri Bolmen geerbt, der unlängst auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen war. Auch wenn Lennart erst seit Kurzem Bölthorns Herrchen war, wusste er mittlerweile, dass es sich bei seinem röchelnden Gluckern um reguläre Mopsatemgeräusche handelte, die weder Sorgen noch einen Arztbesuch notwendig machten.

Lennart startete den Motor, drehte die Heizung hoch und zog den Brief, den er gestern Abend von Advokat Cornelius Isaksson erhalten hatte, aus der Innentasche seines Mantels, um ihn noch einmal genau zu studieren. Das Gebläse atmete zunehmend warme Luft aus und versetzte das gelbliche Büttenpapier in zarte Schwingungen. Angestrengt versuchte Lennart, die ausschweifende und altertümlich anmutende Schrift im Schein der Innenraumbeleuchtung zu lesen:

 

Lennart Malmkvist,

 

diese Namensliste habe ich in Buri Bolmens Unterlagen gefunden. Er hatte sie gut verborgen, sie muss also äußerst wichtig für ihn gewesen sein. Nutzen Sie diese Liste – vielleicht hilft sie Ihnen dabei, die Dunklen Pergamente noch vor Olav Krähenbein zu finden und die Welt vor einem großen Unheil zu bewahren.

Viel Erfolg und noch mehr Glück, denn das werden Sie gewiss sehr nötig haben. Ich hoffe, dass wir uns nach meinem Skiurlaub wohlbehalten wiedersehen werden.

 

Hochachtungsvoll,

Cornelius Isaksson

 

Lennart musste unwillkürlich grinsen. Er konnte sich kaum vorstellen, wie der untersetzte, beinahe halslose Advokat mit uralten gewachsten Holzbrettern an den Füßen über eine Loipe zischte.

Diese Zeilen machten aber auch deutlich, dass Cornelius Isaksson weit mehr über die Existenz von Zauberei und der magischen Bedrohung wusste, als Lennart bisher angenommen hatte. Der Notizzettel, den Isaksson zusätzlich in den Briefumschlag gesteckt hatte, enthielt eine Namensliste, offenbar von Buri Bolmen verfasst, dem Mann, der in seinem eigenen Zauber- und Scherzartikelladen ermordet worden war.

Dunkle Zeiten waren angebrochen, von denen die meisten Menschen nicht einmal etwas ahnten. Genau wie Lennart selbst es noch bis vor Kurzem nicht hatte fassen können, als er aufgrund der verrückten Vorkommnisse ernsthaft an seinem Verstand gezweifelt hatte. Diese Phase war allerdings vorüber. Mittlerweile zweifelte er ernsthaft an der Wirklichkeit. Wenn beinahe alles möglich war, an was durfte man dann noch glauben? An Wunder? Oder die Liebe? Das Unwahrscheinlichste von allem?

Er betrachtete nachdenklich die Namensliste, über die Buri Bolmen in Druckbuchstaben die Überschrift »Tryggvasons Erben« gesetzt hatte. Sechs Personen waren darauf verzeichnet. Keine Frage, das mussten alles Mitglieder dieser okkulten Sekte sein, mit denen man besser nichts zu tun haben sollte. Diese Irren sehnten sich das herbei, was Lennart unbedingt verhindern wollte: dass der Schwarzmagier Olav Tryggvason, genannt Krähenbein, der vor über tausend Jahren unter Mühen besiegt worden war, in die Gegenwart zurückkam und zu alter Macht gelangte. Er durfte auf keinen Fall die vier magischen Dunklen Pergamente in seinen Besitz bekommen, in die seine Magie gebannt worden war, sonst würden seine Zauberkräfte wieder erstarken. Man konnte nur erahnen, was das für die Welt bedeuten würde – nicht nur für die magische … Und Lennart war laut Buri Bolmens Testament dazu auserwählt, dieses Unheil abzuwenden, obwohl er erst vor lachhaft kurzer Zeit angefangen hatte, das Zaubern zu erlernen.

Einen Namen auf dieser Liste kannte Lennart. Es war der von Hendrik Nilsson, Exkommissar mit kriminellen Ambitionen. Nilsson hatte Lennart in Buri Bolmens Laden überfallen, um ihm das Dunkle Pergament abzunehmen, das Lennart von Buri geerbt hatte. Dabei hätte er Lennart und Bölthorn um ein Haar umgebracht … Zum Glück saß dieser Verbrecher mittlerweile in Haft. Und Lennarts Dunkles Pergament verbarg sich nach wie vor in der Werkstatt des Ladens, in einem unscheinbaren Aktenordner. Ärgerlicherweise fehlte von den restlichen drei Pergamenten jede Spur.

Buri Bolmen hatte Nilssons Namen auf der Liste rot markiert und durch einen Pfeil mit einem anderen verbunden, der ebenfalls rot eingekringelt war. Er lautete »Henrietta Hellström«. Lennart hatte gestern Nacht schon im Internet recherchiert und herausgefunden, dass es in ganz Schweden nur eine einzige Frau mit diesem Namen gab. Sie lebte in Göteborg. Und wenn er Genaueres über diese okkulte Sekte und ihre Aktivitäten herausfinden wollte – und vielleicht sogar etwas über den Verbleib der Dunklen Pergamente –, dann lag es mehr als nahe, ihr als erste einen Besuch abzustatten, bevor er sich um die anderen auf der Liste kümmerte.

Lennart faltete die Namensliste und den Brief des Anwalts sorgsam wieder zusammen und steckte sie in die Innentasche seiner Jacke. Dann gab er Henrietta Hellströms Adresse in sein Navi ein und fuhr los, die Västra Hamngata hinunter – denselben Weg, den vor wenigen Minuten die Krähe genommen hatte …

 

Lennart war die Anschrift von Henrietta Hellström gleich bekannt vorgekommen, und ein Blick auf den Kartendienst im Internet hatte seine Vermutung bestätigt: Es war die des Naturhistorischen Museums von Göteborg. Lennart selbst wohnte nur wenige Kilometer davon entfernt. Wenn es das Wetter zuließ, ging er oft in der Nähe des Museivägen im Schlosspark, dem Slottskogen, oder in dem angrenzenden Waldgebiet, dem Trindemossen, eine Runde joggen. Oder er ging mit Bölthorn dort Gassi. Doch ihm war nicht bewusst gewesen, dass es jemanden gab, der an diesem Ort seinen festen Wohnsitz hatte. Er parkte seinen Wagen am Linnéplatsen unweit des Museums.

Wer war diese ominöse Henrietta Hellström? Kannte sie Hendrik Nilsson tatsächlich, oder weshalb hatte Buri Bolmen beide Namen in Verbindung gebracht? Wusste diese Frau vielleicht etwas über Krähenbein? Immerhin war diese Sekte namens Tryggvasons Erben bereits einige Hundert Jahre alt. Lennart hoffte, bald Antworten auf seine Fragen zu erhalten.

Es röchelte und schmatzte auf der Rückbank des Wagens. Dann bellte Bölthorn stumpf.

»Ja, du hast recht. Wir sollten uns beeilen.« Lennart knipste die Innenraumbeleuchtung seines Volvos aus und öffnete die Tür.

Eisige Böen trugen kleine, unsichtbare Kristalle mit sich, die ins Gesicht stachen wie kalte Metallsplitter. Lennart schlug den Kragen hoch, setzte seine Strickmütze auf und begab sich mit Bölthorn im Schlepptau auf den verschlungenen, verschneiten Weg, der durch die Parkanlage hinüber zum Naturhistorischen Museum führte.

Nach etwa einhundert Metern tauchte das beeindruckende Gebäude vor ihm auf, dessen Dächer so steil abfielen, dass der Schnee sichtlich Mühe hatte, sich an den Ziegeln festzuhalten. Dahinter reckten sich zwei grünspanbesetzte Rundtürme in die Höhe. Der eine war lang und spitz und fast doppelt so hoch wie der andere, der rund und kugelig wirkte. Das ganze Ensemble war aus blutrotem Backstein erbaut. Es hatte eine beinahe klösterliche Anmutung.

Am Eingang angelangt, schaute Lennart auf seine Uhr. Es war kurz vor zehn, das Museum öffnete jedoch erst in einer Stunde. Neben einem Plakat, das eine abendliche Veranstaltung ankündigte, stand auf der Glastür:

 

Göteborgs Naturhistorisches Museum,
Museivägen 10

Öffnungszeiten:

Dienstag bis Sonntag 11:0017:00

Donnerstag 11:0020:00

Montag geschlossen

 

Aber da stand auch, dass das Museum die Hausnummer 10 trug und nicht die 10a, die Lennart herausgefunden hatte. War er hier überhaupt richtig?

Schneefall setzte ein. Durch die eisigen Böen drang das weit entfernte Klingeln der Straßenbahn vom Linnéplatsen zu ihm herüber.

Ratlos sah er sich um. Da entdeckte er einen schmalen Weg, der um das Museum herumzuführen schien.

»Versuchen wir mal unser Glück«, sagte Lennart.

Bölthorn erhob sich und schüttelte sich mit einem kurzen Röcheln und fliegenden Lefzen den Schnee aus dem Fell. Dann trottete er hinterher.

Als sie den hinteren Teil des Museums erreicht hatten, konnte Lennart erkennen, dass sich in dem modernen Anbau auf der Rückseite des Gebäudes nicht nur weitere Ausstellungflächen verbargen, sondern auch der Zugang zum Haus mit der Nummer 10a.

 

Prof. Dr. Titus Hellström, Direktor

&

Dr. Henrietta Hellström

 

war auf dem leicht verwitterten Messingschild neben einem vollgestopften Briefkasten zu lesen, aus dem ein ganzer Stoß Zeitungen sowie einige durchweichte Briefumschläge heraushingen.

Eine kleine Windhose wirbelte wie ein Miniaturtornado am Gebäude vorüber und warf mit kalten Flocken um sich. Lennart zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. Er drückte das schiefe, kniehohe Gartentor auf und durchschritt das Vorgärtchen. Vor der Eingangstür machte er Halt und betätigte den mächtigen und recht eigenartig anmutenden Türklopfer in der Form einer menschlichen Faust. Es hallte dumpf durch das ganze Haus. Sekunden verstrichen – nichts regte sich.

Bölthorn grunzte und röchelte, dann legte er sich gelangweilt auf die Fußmatte. Lennart ließ den Türklopfer noch einmal gegen das Holz donnern. Selbst wenn die Hellströms schwerhörig gewesen wären, hätten sie diesen Schlag nicht ignorieren können.

Noch immer regte sich nichts.

Plötzlich hob Bölthorn den Kopf und spitzte die Ohren, so gut es einem Mops möglich war. Aus den Augenwinkeln bemerkte Lennart, dass sich der Vorhang hinter einem der Fenster kurz bewegte. Dann wurde die Tür etwas geöffnet, und ein zierlicher Kopf kam zum Vorschein.

»Professor Titus Hellström?«

»Hejhej, ja, ja, der bin ich wohl.«

»Hej und guten Morgen! Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung. Ich heiße Lennart Malmkvist und würde gerne mit Ihrer …«

»Was macht dieses Tier auf meiner Fußmatte?« Ein langer dünner Finger erschien im Türspalt und deutete wippend nach unten.

»Oh, das ist Bölthorn«, sagte Lennart entschuldigend.

Der Finger wippte weiter. »Es soll sich von meiner Fußmatte entfernen. Es ist meine Fußmatte und nicht die des Tieres.«

Bölthorn hatte verstanden. Mit einem angestrengten Schnauben erhob er sich, setzte sich vor den Treppenabsatz und betrachtete Professor Titus Hellström regungslos, aber durchaus interessiert.

»Das Tier ist dick und hässlich. Aber es hat schöne Augen. Das spricht für einen klaren Geist. Wussten Sie das?«

»Also, Herr Professor Hellström …«, begann Lennart von Neuem. »Wie ich schon sagte, mein Name ist Lennart Malmkvist, und ich würde furchtbar gerne mit Ihrer …«

»Malmkvist, wie die gleichnamige Sängerin? Hihi!« Unvermittelt trat Professor Hellström einen Schritt vor die Tür und begann, leise zu singen: »La, la, la … underbart spännande ställen … la, la, la …« Dabei schaukelte er mit dem Oberkörper im Takt dieses alten schwedischen Schlagers.

Lennart stand mit offenem Mund da und betrachtete staunend diesen sonderbaren Mann, dessen eigener Geist anscheinend alles andere als klar war. Hatte seine Psyche den Druck nicht ertragen, weil ihm irgendein Unglück widerfahren war, oder war Professor Hellström schon vorher Opfer einer mittelschweren mentalen Unwucht gewesen? Die Leitung eines Museums in diesem Zustand schien beinahe unmöglich. War das überhaupt der Mann von Henrietta Hellström? War Lennart hier richtig? Dieser Herr jedenfalls wirkte nicht, als könnte er Lennart mitteilen, wo sich Frau Hellström aufhielt. Ja, es wirkte im Moment sogar so, als wüsste er nicht einmal, dass er je eine Frau gehabt hatte. Ein Eindruck, der durch seine auffällige Kleiderwahl noch verstärkt wurde. Der Professor trug eine braune Flanellhose und Hausschuhe mit Pelzbesatz. Dazu ein viel zu großes weißes Hemd mit feinen Streifen und einen karminroten Pullunder, der das ganze Männchen zusammenzuhalten schien.

Dabei war die Kleidung noch längst nicht das Skurrilste an seiner Erscheinung. Noch exzentrischer wirkten die volle, weißgraue und etwas aus der Form geratene Tolle eines Siebzigerjahre-Elvis sowie die ungezügelt sprießenden Augenbrauen. Seine Augen lugten hinter einer monströsen altmodischen Brille mit Goldrand hervor. Professor Dr. Titus Hellström war eine Art Gesamtkunstwerk, und er schien dringend Hilfe zu benötigen. Lennart überlegte jedoch, ob es nicht ratsamer wäre, den armen Mann besser gleich in die treuen Hände eines Spezialisten aus dem medizinisch-therapeutischen Bereich zu übergeben. Aber er musste es versuchen.

»Herr Professor, ich würde jetzt gerne auf den Grund meines Besuches …«

»Wer, sagten Sie gleich, habe Sie geschickt?«

»Niemand. Ich ermittle nur in einer bestimmten Sache …«

»Was für eine?«

»Eine alte Geschichte.«

Professor Hellström krempelte sich hektisch beide Ärmel seines Hemdes über die dünnen Ärmchen und sagte: »Alte Geschichten sind mein Fachgebiet, müssen Sie wissen. Ich bin Historiker. Wie kann ich dienlich sein?«

»Na ja, Sie nicht direkt. Ich wollte eigentlich mit Ihrer Frau Henrietta …«, hob Lennart an, doch da verfinsterte sich urplötzlich das Gesicht des Professors. Er streckte seine Arme in die Höhe und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Verschwinden Sie, verschwinden Sie!« Dann huschte er wieselflink in sein Haus zurück und schlug die Tür hinter sich zu.

Lennart war fassungslos. Und auch Bölthorn schaute, von Professor Hellströms Stimmungswechsel scheinbar vollkommen überrascht, perplex aus der Mopswäsche. Lennart hatte mit vielem gerechnet, aber mit einer solchen Reaktion? Nein, das sicher nicht. Doch da war noch etwas … Der Professor mochte seltsam sein, vielleicht sogar ein wenig verrückt, aber das erklärte beileibe nicht alles. Denn Lennart spürte etwas seltsam Bekanntes, etwas, das er erst ein oder zwei Mal derart intensiv außerhalb seines Ladens gefühlt hatte.

Magie.

Konnte das wirklich sein? Hier an diesem Ort?

Lennart nutzte die Gelegenheit, mit Bölthorn eine kleine Runde Gassi zu gehen. Er machte sich mit ihm auf den Weg durch Professor Hellströms Garten und weiter zum angrenzenden Park.

»Hast du es auch bemerkt?«, fragte er dann leise, an Bölthorn gerichtet. »Von diesem Haus geht ein starkes magisches Feld aus.«

Der Mops nickte und legte sein Gesicht in sorgenvolle Falten.

»Professor Hellström ist verwirrt, das ist offensichtlich«, fuhr Lennart fort. »Aber kaum dass ich den Namen seiner Frau erwähne, dreht er völlig durch … Er verschweigt uns etwas, und er hat Angst. Gleichzeitig steht Henrietta Hellström auf Buri Bolmens Liste. Das stinkt zum Himmel. Wir werden wohl noch einmal wiederkommen müssen. Am besten, wenn niemand zu Hause ist.«

Plötzlich gab Bölthorn warnend Laut.

»Na, sieh mal einer an …«, rief eine Stimme wie aus dem Nichts.

Lennart schaute auf. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Vor ihm stand Kommissarin Maja Tysja mit türkisblau funkelnden Augen.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Lennart verwundert.

»Das frage ich Sie«, antwortete Tysja unwirsch.

Ihr Begleiter, ein groß gewachsener, breitschultriger Mann mit modernem Hipster-Rauschebart, baute sich neben ihr auf. Er schwieg, schien aber bereit zu sein, seiner Kollegin sofort beizustehen, sobald er auch nur ansatzweise Gefahr witterte. Vermutlich war ihm nicht bekannt, dass Maja Tysja keinen Beistand nötig hatte. Lennart wusste das nur zu gut, denn er hatte die junge Frau bei der Verhaftung von Hendrik Nilsson in Bolmens Skämt- & Förtrollningsgrotta in Aktion erlebt.

»Guten Morgen, Bölthorn«, begrüßte sie den Mops, der sich neben seinem Herrchen in den Schnee gesetzt hatte. Lächeln konnte sie auch, und es sah süß aus. Maja Tysja hatte zwei Gesichter. »Das ist mein neuer Mitarbeiter, Kommissar Svensson«, stellte sie ihren Kollegen vor. »Und das ist Lennart Malmkvist.«

Svenssons Miene nahm einen eigenartigen Ausdruck an, der irgendwo zwischen Misstrauen und Bewunderung lag.

»Sie interessieren sich wohl neuerdings für Naturgeschichte?«, fragte Kommissarin Tysja an Lennart gewandt und deutete zum Museumsgebäude hinüber. »Bestimmt ein schönes Hobby. Das Museum ist allerdings noch geschlossen.«

»Das mag sein«, antwortete Lennart, »aber ich wollte auch gar nicht in die Ausstellung, sondern nur mit meinem Hund spazieren gehen.«

»In der Nähe des Museums?« Tysja legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen.

»Ist das verboten?«

»Es ist wirklich seltsam …«, sagte die Kommissarin und überging damit Lennarts Frage. »Wann immer mysteriöse Dinge geschehen, tauchen Sie plötzlich auf, als hätten Sie einen siebten Sinn dafür …«

»Ich habe keinen siebten Sinn – ich war nur mit Bölthorn Gassi, wie ich schon sagte«, verteidigte sich Lennart. »Das ist alles.«

Der stumme, breitschultrige Hipster-Kollege, der Lennart die ganze Zeit fixierte, stieß seine Kollegin an und machte einen Schritt auf Lennart zu. Er hatte sich wohl fest vorgenommen, seiner Polizeikarriere durch offensichtlich zur Schau getragene Motivation auf die Sprünge zu helfen.

»Besser, Sie versuchen uns nicht für dumm zu verkaufen«, sagte er grimmig. »Ich mag es nicht, wenn man mich belügt. Also, raus mit der Sprache: Was wollten Sie hier?«

»Wird das jetzt ein Verhör, oder was?«, fragte Lennart. »Was soll der ganze Wirbel? Warum ist die Polizei überhaupt hier?« Er sah fragend zwischen Svensson und Tysja hin und her.

»Sie werden es nicht glauben, aber wir waren gerade auf dem Weg zu Ihnen, als uns die Zentrale darüber informierte, dass sich der Direktor des Göteborger Naturhistorischen Museums, Herr Professor Hellström, bei der Polizei gemeldet hat, weil er sich durch einen gewissen Lennart Malmkvist bedroht fühle.«

»Bedroht? Durch mich?«, fragte Lennart erstaunt. Der Professor musste, nachdem er Lennart die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, sofort bei der Polizei angerufen haben.

»Ja, das ist wirklich kaum vorstellbar«, stichelte Svensson. »Aber damit geben Sie indirekt zu, dass Sie doch bei ihm gewesen sind. Nicht sehr gewieft, Herr Malmkvist.«

Lennart hätte dem vorlauten Junior-Kommissar am liebsten eine behaarte Warze auf die Nase gezaubert – er nahm sich insgeheim vor, im magischen Lehrbuch in der Werkstatt des Ladens nach einem solchen Zauber zu suchen.

Lennart ging nicht weiter auf Svensson ein, sondern fragte Maja Tysja: »Und warum wollten Sie zu mir?«

»Wir wollten Sie darüber informieren, dass Hendrik Nilsson aus seiner Haft entkommen ist«, antwortete sie knapp.

»Wie bitte? Hendrik Nilsson?«, rief Lennart entsetzt. »Wie ist das möglich?«

»Sie werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass er sich in Ihrem Laden durch herabstürzende Aktenordner Schnittverletzungen, Prellungen und eine Platzwunde zugezogen hat, oder? Nachdem er vor drei Tagen abends über starke Kopfschmerzen geklagt hat, wurde er aus der Untersuchungshaft in die neurologische Abteilung des Krankenhauses gebracht. Ich vermute, dass er alles nur vorgetäuscht hat. Im Krankenhaus hat er nämlich zuerst zwei unserer Kollegen überwältigt, eine Geisel genommen und dann auch noch ein Auto geklaut. Damit konnte er trotz Straßensperren und Großfahndung bedauerlicherweise verschwinden. Ich glaube, das alles war geplant, und er hatte mit Sicherheit einen Komplizen.«

»Oder eine Komplizin«, warf Svensson vorlaut ein, wofür er einen strengen Blick seiner Vorgesetzten kassierte.

Lennarts Schmunzeln anlässlich dieser nonverbalen Zurechtweisung verging ihm schnell, als er sich an seine eigene, äußerst unschöne Begegnung mit Hendrik Nilsson erinnerte. Und wäre der geheimnisvolle Leierkastenmann damals nicht aufgetaucht, was den bewaffneten Schurken ziemlich verwirrt hatte, dann stünde er jetzt wahrscheinlich nicht unversehrt hier. Jetzt erinnerte er sich auch an die Radiomeldungen über den Polizeieinsatz vor drei Tagen. Hatte der Leierkastenmann vielleicht auch damit zu tun gehabt? Es war angeblich zu Behinderungen wegen einer groß angelegten Verkehrskontrolle gekommen.

»Das heißt, unser Freund Nilsson ist im Augenblick vermutlich bewaffnet? Mit einer Pistole Ihrer Kollegen, nicht wahr?«

Die Kommissarin schwieg.

Es begann wieder heftiger zu schneien. Flocken, dicht an dicht.

»Sagen Sie mir wenigstens, ob Sie einen Verdacht haben, wer ihm geholfen haben könnte. Stecken vielleicht Tryggvasons Erben dahinter?«, fragte Lennart und hoffte, eine Bestätigung dafür zu bekommen, dass er sich auf der richtigen Fährte befand. »Nilsson war lange Mitglied bei diesen skrupellosen und militanten Spinnern mit ihren Fantasien zur Weltherrschaft.«

Kommissarin Tysja sah Lennart stumm an.

Stattdessen wandte sich Kommissar Svensson an ihn. »Warum verkaufen Sie nicht einfach ein paar Scherzartikel oder ein bisschen Zauberquatsch und lassen die Erwachsenen ihren Job machen, hm? Wir schnappen Nilsson schon. Dazu brauchen wir weder Hilfe noch Ermittlungstipps von Möchtegerndetektiven. Außerdem würde ich Ihnen dringend empfehlen, Herrn Professor Hellström nicht weiter zu belästigen, sonst haben Sie ruck, zuck eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs und Nötigung am Hals. Kapiert? Wenn es sein muss, besorgen wir innerhalb einer halben Stunde eine richterliche Anordnung. Professor Hellström steht als Zeuge unter unserem Schutz.«

»Zeuge wofür? Hat Nilsson wieder was verbrochen, oder …?«

»Das genügt, Malmkvist«, unterbrach ihn Kommissarin Tysja scharf. »Kollege Svensson hat recht. Lassen Sie Professor Hellström einfach in Frieden und uns unsere Arbeit machen. Und falls Sie etwas von Nilsson hören, melden Sie uns das unverzüglich. Klar?«

»Klar«, sagte Lennart.

»Hej då, Herr Malmkvist«, verabschiedete sie sich, doch dann drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Ach, und noch etwas …«

»Ja?«

»Schauen Sie mal, dass Sie früher ins Bett kommen. Sie sehen nicht gerade aus wie das blühende Leben … eher, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.« Damit ging sie auf dem schmalen Weg in Richtung Professor Hellströms Haus davon.

Svensson warf Lennart noch einen letzten strengen Kommissarblick zu, der aus einem zweitklassigen Kriminalfilm hätte stammen können. Dann folgte er seiner Vorgesetzten durch das mittlerweile dichte Schneetreiben.

Lennart sah beiden nach, bis sie hinter dem Museumsgebäude verschwunden waren. Dann beugte er sich zu Bölthorn hinab, der noch immer stoisch neben ihm im Schnee hockte, den Mopskopf voller frischer Schneeflocken. Es war bedauerlich, dass Lennart nicht wusste, was der Hund im Moment dachte. Allerdings hatte Bölthorn einen Gesichtsausdruck aufgesetzt, den man als besorgt interpretieren konnte. Kleine nachdenkliche Fellwellen schoben sich hinter der platt gedrückten Schnauze zusammen, wo sein Unterkiefer den Blick auf ein paar schräg herausstehende, gelbliche Zähne freigab.

Nein, es gab keinen optischen Grund, dieses Tier zu mögen. Im fahlen Licht des Morgens wirkte der Mops wie eine lange Zeit im hintersten Eck des Kühlschranks ignorierte Fleischwurst, an die ein wenig kreativer Schöpfer Stummelbeine, ein kurzes Schwänzchen und einen zerknautschten Kopf mit viel zu großen Waschlappenohren montiert hatte. Dennoch musste Lennart sich eingestehen, dass ihm dieser ziemlich seltsame Mops inzwischen sehr ans Herz gewachsen war. Er ging in die Hocke und streichelte ihm über den Kopf.

»Wir sollten dringend mit dieser Henrietta Hellström ein Wörtchen wechseln. Vielleicht kann sie uns auf Nilssons Spur führen, wenn sie angeblich bei Tryggvasons Erben mitmischt. Und dann bewohnt sie mit ihrem verrückten Ehemann auch noch ein magisches Haus, wo Kommissarin Tysja zufällig auftaucht … Bölli, hier stimmt irgendetwas nicht, und das alles scheint mir irgendwie zusammenzuhängen. Nilsson ist abgehauen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er jetzt weiter versuchen wird, die Dunklen Pergamente zu finden und in seinen Besitz zu bringen. Das müssen wir unbedingt verhindern, und zwar noch bevor Olav Krähenbein uns zuvorkommt.«

2. Kapitel

Lennart stellte sein Auto in der Drottninggata ab und besorgte sich bei seinem Lieblingskiosk noch zwei Kanelbullar, die leckeren Zimtkringel, die ihm jeden noch so trüben Tag versüßen konnten, sowie die aktuelle Ausgabe des Göteborgs Spegeln. Er blätterte sofort darin herum, um zu sehen, ob die Presse den Fall Nilsson mittlerweile aufgegriffen hatte. Und tatsächlich fand er im Lokalteil einen halbseitigen Artikel mit der Überschrift »Häftling gelingt Flucht aus der Universitätsklinik«. Er überflog den Text und stellte fest, dass sich die Journalisten ausnahmsweise an die Bitte gehalten hatten, die Namen der Opfer nicht zu veröffentlichen, oder dass die Polizei tatsächlich keine undichten Stellen hatte. In dem Artikel stand außer einer Beschreibung des Fluchtwagens kaum etwas, das Lennart nicht schon wusste. Er faltete die Zeitung zusammen und machte sich mit Bölthorn auf den Heimweg.

Vor dem Eingang zu seinem Laden blieb er einen Moment lang nachdenklich stehen. Ein Wagen der Stadtverwaltung parkte mit Warnblinklicht an einer Straßenlaterne und beförderte soeben zwei Arbeiter mit einem Hubarm in die Höhe. Sie führten eine mit Kunstgrün bekränzte Neonröhre in Form eines Rentieres mit sich im Käfig. Es waren nur noch zwei Wochen bis Weihnachten.

Etwas weiter entfernt parkte ein dunkelblauer Volvo mit zwei Personen. Wahrscheinlich Tysjas Leute, die das Haus beobachteten und darauf warteten, dass Hendrik Nilsson dumm genug wäre, nochmals hierherzukommen. Wäre die Sache nicht so tragisch, hätte Lennart darüber schmunzeln können. Hendrik Nilsson war der ehemalige Leiter der Abteilung für Kapitaldelikte und Kommissarin Tysjas Vorgesetzter gewesen. Wenn jemand wusste, wie die Polizei arbeitete, dann er. Und an einen Tatort würde er mit Sicherheit nicht zurückkehren. Aber sollten sie ruhig beobachten. Immerhin besser, als von dem bewaffneten und zu allem bereiten Hendrik Nilsson vielleicht doch überrascht zu werden.

Lennart wandte sich wieder dem Laden zu. Wäre es angebracht, Buri Bolmens altes Schild zu ändern? Die Fassade des Gebäudes war eine Augenweide – hohe Fenster, Stuck und sandfarbener Putz. Dazu eine wunderschöne Holztür mit schmiedeeisernen Beschlägen. Das alte Schild passte hier überhaupt nicht, und es war so klein, dass es kaum auffiel, wenn man daran vorbeifuhr. War das in Anbetracht der Umstände, wie er zu diesem Zauberladen gekommen war und worum es in seinem Inneren in Wirklichkeit ging, am Ende gar kein Nachteil? Schwer zu sagen … Er hatte ja noch nicht einmal einen Bruchteil der magischen Stücke gefunden, die sich zwischen all dem Plunder und Nippes verbargen, den Buri Bolmen darin angehäuft hatte. Ganz zu schweigen davon, dass er deren Wirkung begriffen hatte.

 

Auch wenn sich vieles seit Lennarts Geschäftsübernahme bereits geändert hatte, Buri Bolmens batteriebetriebene Türglocke war immer noch dieselbe. Sie klang nach dem Kichern einer mit psychischen Problemen schwer belasteten Hexe. Ein Anflug von Trauer befiel Lennart und klammerte sich an ihn wie ein boshafter Troll.

Buri Bolmen war tot.

Nie wieder würde er mit seinem langen weißen Bart und seiner unmöglichen Kleidung im Laden stehen und ungefragt Weisheiten zum Besten geben. Nie wieder würde er den Kopf schief auf den Schwalbenkragen seines Sternschnuppenhemdes legen und Lennart freundlich zuzwinkern. Und Lennart würde ihm auch nie wieder Essen von seiner Nachbarin Maria Calvino hinunterbringen. Wie oft hatte ihn das genervt, aber was würde Lennart jetzt dafür geben, es noch ein einziges Mal tun zu dürfen …

Buri Bolmen fehlte ihm. Es blieben nur Erinnerungen an ihn und sein Vermächtnis. Lennart schloss die Tür hinter sich. Die Hexe kicherte wieder. Sein Blick ging nach oben, wo sich in pinselbreiten, kaum sichtbaren Linien ein Kreis mit vielen kleinen Symbolen über die gesamte Zimmerdecke erstreckte. Er atmete entspannt aus. Das Schutzmandala der Wächter würde Krähenbein davon abhalten, das Dunkle Pergament zu finden, das Lennart hier im Laden versteckt hatte.

»Hej, Lennart!«

Frederik riss ihn aus seinen Gedanken. Lennart sah, wie Bölthorn zwischen den hohen Regalen durch den halbdunklen Raum schoss und seinen Freund freudig schwanzwedelnd begrüßte.

»Hejsan«, erwiderte Lennart und ging Frederik entgegen.

Frederik lachte, dass seine Sommersprossen mit den wilden Locken um die Wette wackelten. Die Brille rutschte ihm dabei fast von der Nase. Frederik trug seine übliche Nerduniform: eine viel zu große, mehrfach umgeschlagene Jeans sowie einen verwaschenen bordeauxroten Kapuzenpulli mit dem Aufdruck: Friends don’t let friends use Windows. Darüber saß ein grinsender Comic-Pinguin, das Logo eines UNIX-Betriebssystemderivats. Frederik sah aus wie ein Studienanfänger, keinesfalls wie das Genie, das er zweifelsohne war.

»Wie war dein Ausflug?«, fragte Frederik. »Warst du erfolgreich?«

»Nicht wirklich«, antwortete Lennart. »Ich hab nur herausgefunden, dass der Direktor des Naturhistorischen Museums sich – untertrieben gesagt – recht eigenartig aufführt. Eigentlich wollte ich ja zu seiner Frau, um sie etwas zu fragen. Aber kaum hatte ich ihren Namen erwähnt, hat er mir die Tür vor der Nase zugeschmissen. Und dann kam auch noch die Polizei, und ich hatte mit Kommissarin Tysja und ihrem neuen Kollegen ein unerfreuliches Gespräch.«

»Die Polizei?«, fragte Frederik und stellte einen halb vollen Müllsack auf den Boden. »Jetzt mal von Anfang an«, forderte er Lennart auf.

Daraufhin erzählte Lennart seinem Freund, was genau geschehen war. Als er geendet hatte, sagte Frederik: »Aus der Sache soll einer schlau werden. Dieser Hellström scheint echt eine Macke zu haben.« Frederik lachte. »Trotzdem, sieh dich vor! Mit Nilsson ist nicht zu spaßen. Wer weiß, was der im Schilde führt. Er hat dich schließlich schon mal hier im Laden überfallen. Vielleicht überlässt du die ganze Sache wirklich besser der Polizei.« Dann hob er den Müllsack vom Boden auf und stellte ihn neben die Eingangstür. »Ich habe übrigens schon damit angefangen, hier ein wenig zu entrümpeln und auszusortieren, damit für die Wiedereröffnung im neuen Jahr nur die besten Waren zum Verkauf stehen. Komm, ich zeig’s dir. Steht alles in der Werkstatt.« Damit eilte Frederik in den hinteren Teil des Ladens, und Bölthorn lief ihm schnaufend und röchelnd hinterher.

Lennart folgte seinem Freund durch die engen Gänge aus deckenhohen Regalen, die mit Kleinartikeln, Kistchen und Kästchen vollgestopft waren. Am Eingang zur Werkstatt blieb er stehen und schob den schweren Samtvorhang zur Seite, der als Sichtschutz zwischen dem Laden und der kleinen Werkstatt diente. Bölthorn saß bereits vor der Werkbank neben dem durchgesessenen Drehstuhl. Auf dem Boden mit den schwarzen und weißen Fliesenquadraten hatten damals Buri Bolmens Überreste gelegen, oder vielmehr die Asche, die der Leierkastenmann von ihm übrig gelassen hatte. Lennart schluckte. Buris Geist war noch immer präsent, und er würde wahrscheinlich nie vergehen.

»Dieser ganze Laden ist eine einzige Wundertüte«, sagte Frederik und holte Lennart damit aus seinen Gedanken. »Ich habe noch lange nicht alles durchsehen können, aber ich habe beim Aufräumen einen ganz seltsamen Stein entdeckt. Er lag unter einem der Regale. Und diesen Krempel hier habe ich schon mal für die Tonne aussortiert.« Er zog einen Stapel von vier vollen Umzugskartons geräuschvoll über den Boden in die Mitte der Werkstatt.

Zu seinem Entsetzen entdeckte Lennart darin sofort etwas, das alles andere als Abfall war. »Oh … also diese Keksdose bitte auf keinen Fall entsorgen. Sie ist … sie ist … wertvoll. Antik.«

»Dieses Ding da?« Frederik nahm die Dose in die Hand. »Das ist doch bloß ein hässliches Teil aus rostigem Weißblech. Ich bin zwar ein IT-Spezialist und kein Antiquitätenhändler – aber kannst du mir erklären, was daran wertvoll sein soll?«

»Eine Rarität … hat Buri Bolmen mir einmal erzählt. Die kann man bestimmt noch gut verkaufen.«

Frederik blickte Lennart entgeistert an. Schließlich stellte er die Keksdose auf die Werkbank. »Okay, deine Entscheidung, du bist der Boss.«

Lennart trat näher zu den Umzugskisten und konzentrierte sich, um weitere magische Artefakte aufzuspüren, die sich möglicherweise in den Kisten befanden. War da etwas? Konnte er etwas fühlen? Nein, keine weitere Magie.

»Okay, der Rest kann weg«, sagte er erleichtert.

»Na, da bin ich aber froh, dass darin nicht noch weitere Kleinode oder Schätze verborgen sind«, sagte Frederik grinsend.

»Ich auch«, sagte Lennart. »Aber wo ist der seltsame Stein, von dem du gesprochen hast?«

Frederik fummelte in seiner Hosentasche herum und zog einen kleinen, kieselsteinartigen Gegenstand hervor, den er Lennart hinstreckte.

»Cool, was? Sieht teuer aus, kein China-Krempel, schätze ich. Wir könnten ihn als supermagischen Stein verkaufen oder so.«