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Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main

Herausgeber: Krzysztof Michalski (Wien/Boston)

Redaktion: Klaus Nellen (Wien)

Redaktionsassistenz: Nora Landkammer

Redaktionskomitee: Jan Blonski (Krakau), Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Jacqueline Hénard (Paris), Tony Judt (New York), Cornelia Klinger (Wien), Janos Matyas Kovacs (Budapest/Wien), Claus Leggewie (Gießen), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Josef Wais (Wien, Photographie)

Beirat: Lord Dahrendorf (London), Bronislaw Geremek (Warschau), Elemer Hankiss (Budapest), Petr Pithart (Prag), Fritz Stern (New York)

Redaktionsanschrift: Transit, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30, E-mail: transit@iwm.at

Website Transit und Tr@nsit online: www.iwm.at/transit

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt/Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: verlag@neuekritik.de

 

Das vorliegende Heft erscheint mit freundlicher Unterstützung durch das Bundeskanzleramt, Republik Österreich. Wir danken auch der Kunstsektion des Bundeskanzleramts, die den photographischen Beitrag in diesem Heft gefördert hat.

 

ISSN 0938-2062 / ISBN 978-3-8015-0623-0 (epub) / 978-3-8015-0624-7 (mobi)

Transit ist Partner von Eurozine – the netmagazine (www.eurozine.com), einem Zusammenschluss europäischer Kulturzeitschriften im Internet, sowie von La République des Idées (www.repid.com). Transit is regularly listed in the International Current Awareness Services. Selected material is indexed in the International Bibliography of the Social Sciences.

Textnachweis: Der Beitrag von Ivan Krastev erschien zuerst unter dem Titel »The Crisis of the Post-Cold War European Order: What to do about Russia’s newly found taste for confrontation with the West. A Report to the German Marshall Fund of the United States«, März 2008, www.gmfus.org/publications/index.cfm.

© 2008 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWM

 

Transit 35 (Sommer 2008)

 

Editorial

 

Europäische Gedächtnispolitik

 

Heidemarie Uhl

Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren

Thesen zur europäischen Erinnerungskultur

 

Burkhard Olschowsky

Erinnerungslandschaft mit Brüchen

Das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität«
und die Traumata des alten Kontinents

 

Aleksander Smolar

Geschichtspolitik in Polen

 

Dirk Rupnow

Transformationen des Holocaust

Anmerkungen nach dem Beginn des 21. Jahrhunderts

 

Timothy Snyder

Der vergessene Holocaust

 

Eine Exekution in Mariupol

Brief von Samuil Aronovich Belous

 

Alexander J. Motyl

Warum ist die KGB-Bar möglich?

Binäre Moral und ihre Konsequenzen

 

Kommentar: Timothy Snyder

 

Věra Koubová

GedächtnisGesichte. Photographien nach Seite

 

Mai 1968 – Ost/West

 

Jacques Rupnik

Zweierlei Frühling: Paris und Prag 1968

 

Das Missverständnis von 1968

Interview mit Rudi Dutschke (1978)

 

Aleksander Smolar

1968 – Zwischen März und Mai

 

Mykola Riabchuk

Wie ich zum Tschechen und Slowaken wurde

 

Russland

 

Ivan Krastev

Die Krise der europäischen Ordnung und Russlands
neuer Konfrontationskurs mit dem Westen

 

Henrike Schmidt

Virtual Vova und Präsident Medved

Kunst, Literatur und Politik im russischen Internet

 

Zu den Autorinnen und Autoren

Editorial

»Die Zukunft der europäischen Solidarität hängt von der Neubewertung und -erzählung der jüngeren Vergangenheit Europas ab«, schrieb Timothy Snyder vor einiger Zeit in dieser Zeitschrift.1 Die Artikel im vorliegenden Heft wollen zu dieser Neubewertung und -erzählung beitragen.

Den ersten Teil leitet Heidemarie Uhl mit einer kritischen Reflexion über die europäische Erinnerungskultur ein. Burkhard Olschowsky kartographiert die Brüche in der Erinnerungslandschaft des alten Kontinents. Die Erweiterung der Europäischen Union hat die Brisanz der geteilten europäischen Erinnerung sichtbar gemacht. Auf diese Herausforderung versucht das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität« zu antworten. Es soll die traumatischen Erfahrungen auf beiden Seiten aufnehmen und die damit befassten Initiativen und Institutionen miteinander verbinden, um so eine übergreifende »dialogische Erinnerungskultur« zu fördern.

Der von der der Regierung Kaczyński praktizierte Umgang mit der Geschichte hat die Welt in Staunen versetzt. Aleksander Smolar zieht eine kritische Bilanz der Erinnerungspolitik in Polen seit 1989 und entwickelt Perspektiven für die Zukunft, auch im Hinblick auf ein europäisches Geschichtsbewusstsein. Er ermutigt die neuen Mitgliedsstaaten, die eigenen Erfahrungen, den eigenen Blick einzubringen in das Geschichtsbild des neuen Europa und so die historisch bedingte Fremdheit zwischen alten und neuen Mitgliedern überwinden zu helfen.

Dirk Rupnow diagnostiziert einen tiefgreifenden Wandel in der Erinnerung an den Holocaust. Diesem kommt heute eine zentrale Bedeutung für die Konstitution der europäischen Identität zu. »Zusammen mit dem Zweiten Weltkrieg ist ›Auschwitz‹ zum negativen Gründungsereignis Europas avanciert.« Der Holocaust hat mittlerweile den Status einer negativen politischen und kulturellen Norm erlangt. Seit 1989 gilt diese Norm auch in Osteuropa, wo die stalinistischen Verbrechen und die kommunistische Herrschaft mit dem Holocaust konkurrieren und ihre Opfer um politische Anerkennung kämpfen. Zugleich ist die Erinnerung an den Holocaust bei uns in einer Weise rationalisiert und ritualisiert worden, die seinem Vergessen gleichkommt. Ein Korrektiv dagegen sind die zahlreichen Zeugnisse aus dem – in der westlichen Erinnerung nach wie vor unterbelichteten – Vernichtungskrieg im Osten. Solche Quellen, die noch etwas von der Schockhaftigkeit der damaligen Erfahrung vermitteln, versammelt das hier von Timothy Snyder vorgestellte Unbekannte Schwarzbuch, aus dem wir ein Zeugnis abdrucken.

Den ersten Teil schließt ein Essay von Alexander J. Motyl ab, in dem er der irritierenden Frage nachgeht, wie es, nach Terror und Gulag, möglich ist, mitten in New York eine KGB-Bar zu führen, die zu einem beliebten literarischen Treffpunkt geworden ist. Auch in Motyls Erklärungsmodell kommt dem Holocaust die Rolle einer universalen Norm zu – eine Argumentation, die Timothy Snyder in seinem Kommentar in Frage stellt.

Das Schlüsseljahr 1968 ist, wenn man so will, ein wahrhaft gesamteuropäischer lieu de mémoire, insofern es Ereignisse umschließt, die die Ost-West-Teilung unterlaufen. Zugleich illustriert »’68« die damaligen Fehlwahrnehmungen und Missverständnisse zwischen West und Ost, und in den Erinnerungen von heute stellt das Jahr sich, gleich wo, als zutiefst widersprüchlich dar.

Jacques Rupnik zitiert Milan Kundera, der 1978 im Rückblick schrieb: »Der Pariser Mai war ein Ausbruch des revolutionären Lyrismus. Der Prager Frühling war der Ausbruch des post-revolutionären Skeptizismus. Daher blickte der Pariser Student voller Misstrauen (oder eher gleichgültig) nach Prag, während der Prager für die Pariser Illusionen, die er (zu Recht oder zu Unrecht) für diskreditiert, komisch und gefährlich hielt, nur ein müdes Lächeln übrig hatte (…).« Das im selben Jahr geführte Interview mit Rudi Dutschke bestätigt diese Diagnose aus der Perspektive eines westlichen 68er.

Und heute? In den obsessiven Debatten des Gedenkjahrs 2008 wurde in Frankreich, aber auch in Deutschland, ein neuer, zweideutiger Gründungsmythos für die postmodernen westlichen Gesellschaften sichtbar: Für die einen ist ’68 die Quelle aller Gebrechen und Laster unserer Zeit, für die anderen das Geburtsjahr einer neuen, emanzipierten politischen Kultur – wobei das 68er-Pantheon genügend Helden und Schurken für beide Überzeugungen anbietet, manchmal in Gestalt ein und derselben Person.

Auch der Prager Frühling und sein Scheitern hat ein doppeldeutiges Erbe: den ›klinischen Tod des Marxismus in Europa‹ (Leszek Kola-kowski) und die um 20 Jahre verspätete Perestroika Gorbatschows, aber auch die auf den Westen ausstrahlende Renaissance der Zivilgesellschaft in Ostmitteleuropa.

In Polen reiht sich das 2008 offiziell begangene Gedenken an die Proteste gegen das kommunistische Regime im März 1968 ein in die Anstrengungen zu einer Neuformierung der nationalen Identität. Warum die Erinnerung an die März-Ereignisse zugleich eben diese Identität untergräbt und gekennzeichnet ist von einer Mischung aus Irritation, Gewissensbissen und Widerwillen, versucht Aleksander Smolar zu erklären. Er sieht den März (und die Folgen – die Vertreibung vor allem der jüdischen Intelligenz) im Kontext eines »virtuellen polnisch-jüdischen Bürgerkriegs«, ausgelöst durch die Kontroverse um Jedwabne, die »ein Fragezeichen (setzt) hinter das in der Romantik verwurzelte kanonische Polenbild: Polen, der Christus der Völker, das leidende, heroische Polen, das stets auf der Seite des Guten ist und für Freiheit und Würde streitet«.

Mykola Riabchuk schließlich erinnert sich an das ferne, aber nachhaltige Echo des Prager Frühlings in der Ukraine.

Das Heft beschließen zwei Beiträge über Russland. Ivan Krastev fordert, die brüchig gewordene europäische Ordnung neu zu begründen und Russ-land in diesen Prozess einzubeziehen. Es gehe darum, die gegenwärtig eskalierende Konfrontation zwischen der erweiterten Europäischen Union und dem wiederaufstrebenden postimperiale Russland zu zähmen, ohne die Werte der EU zu opfern. Nachdem Martin Hala im letzten Heft untersucht hat, wie Bürger in China versuchen, sich das Internet von unten als Raum freier Meinungsäußerung anzueignen, demonstriert Henrike Schmidt, wie in Russland die neuen Technologien nicht weniger kreativ von oben zur Imagebildung des Präsidenten eingesetzt werden.

Wien, im Juni 2008


1 1 »Vereintes Europa – geteilte Geschichte«, in: Transit 28 (Winter 2004/2005), S. 171. Vgl. dazu auch den Schwerpunkt Europäische Geschichten. Auf dem Weg zur Meistererzählung?, in: Eurozine, www.eurozine.com/articles/2005-05-03-eurozine-de.html.

Heidemarie Uhl

SCHULDGEDÄCHTNIS UND ERINNERUNGSBEGEHREN

Thesen zur europäischen Erinnerungskultur

Paradoxien: das Verschwinden der Erinnerung im Gedenken

Der Historiker Tony Judt beschließt seine monumentale Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart1mit einem Appell, das europäische Erinnerungsprojekt an die Barbarei des Holocaust vor dem Vergessen zu bewahren: »Wenn wir uns in kommenden Jahren erinnern möchten, warum es so wichtig war, ein bestimmtes Europa aus den Krematorien von Auschwitz zu bauen, kann uns nur die Geschichte helfen. (…) wenn Europas Vergangenheit seiner Gegenwart auch weiterhin als Mahnung und moralische Zielvorgabe dienen soll, muss sie jeder Generation erneut vermittelt werden.«2

Bereits 2001 hatten Natan Sznaider und Daniel Levy das Gedenken an den Holocaust emphatisch als den kosmopolitischen Erinnerungsort des »globalen Zeitalters« beschrieben: als universalisierbaren, nicht mehr allein auf den »nationalen Container« begrenzten historischen Bezugspunkt für zivilgesellschaftliche Werte und die Berufung auf universale Menschen- und Bürgerrechte.3 Dass die Parole »Nie wieder Auschwitz« zum Credo humanitärer und militärischer Interventionen im Kampf gegen Völkermord und Genozid wurde, zeigt die Wirkungsmächtigkeit ebenso wie die Globalisierungsfähigkeit dieses Gedächtnisortes, der symbolisch auch im Herzen der Vereinten Nationen verankert wurde: Im Januar 2008 wurde im Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York die Ausstellung The Holocaust and the United Nations eröffnet.4

Umso überraschender ist Natan Sznaiders kürzlich veröffentlichter Befund über den »Gedächtnisraum Europa«: »jüdische Stimmen« würden nicht wahrgenommen, das jüdische Gedächtnis sei »ausgelöscht«. »Das jüdische Gedächtnis ist aus dem europäischen Diskurs verschwunden. Und das trotz aller Rituale und Gedenktage! Oder vielleicht auch deswegen.«5

Diese These ist ein neues Argument in der Debatte um die »Aporien des Gedenkens«.6 Die moralisch aufgeladene Gegenüberstellung von Erinnerung und Amnesie, das Vertrauen in die kathartische Wirkung des Erinnerns an eine »verdrängte« Vergangenheit hat allerdings bereits seit längerem Risse bekommen, und es ist gerade die von Sznaider angesprochene Paradoxie des Verschwindens von Erinnerung durch das Gedenken, die dazu den Anstoß gab.

Denn der Gedächtnisraum Europa ist mittlerweile durchdrungen von Zeichen der Erinnerung an den Holocaust – zugleich stellen aber die seit den 1980er Jahren errichteten Denkmäler, die neuen Museen und Gedenktage die Schlusssteine des jeweils im nationalen Rahmen ausgetragenen Kampfs um die Durchsetzung einer neuen Erinnerungskultur dar.7 Und dieses Gedenken kann sich offenkundig der Logik des kulturellen Gedächtnisses nicht entziehen: Durch ihre materielle Präsenz wird die Erinnerung an den »Zivilisationsbruch Auschwitz« (Dan Diner) »normalisiert«, zum Bestandteil eines seit dem 19. Jahrhundert geläufigen Formenrepertoires historischer Identitätsstiftung im öffentlichen Raum.

Die Hoffnung auf neue Denkmals-Formen, von denen eine nachhaltige Irritation ausgehen könnte und die »die tiefste Wunde der westlichen Zivilisation« 8 offen zu halten vermögen, hat sich nicht erfüllt. Das Scheitern dieser Erwartungen geht bereits aus der alltäglichen Selbstverständlichkeit hervor, mit der diese Zeichen im öffentlichen Raum präsent sind. Offenkundig wirkt eher die Leerstelle, das Fehlen eines Erinnerungssymbols als »Messer in der Wunde« (Jochen Gertz).9 Die realisierten Denkmäler hingegen fügen sich harmonisch in das Weichbild der Metropolen ein, werden zu Tourismus-Attraktionen,10 zu einem »Ort, an den man gerne geht«.11 Es sind tröstliche Orte, denn sie symbolisieren die Möglichkeit der »Überwindung der Verbrechen im Gedenken an deren Opfer«.12 Nicht zuletzt erinnert ein Denkmal an den geschichtspolitischen Erfolg seiner Durchsetzung und wird so zum Symbol für die Erinnerungsfähigkeit eines Kollektivs an seine schuldhaften Verstrickungen – ein Ort, auf den man stolz sein kann.

Nur selten werden diese Gefühlswerte durchbrochen. Der »Audioweg Gusen« des österreichischen Künstlers Christoph Mayer schafft durch das Begehen der nicht mehr vorhandenen, durch Wohnhäuser überbauten Topographie des KZ Gusen eine soziale Versuchsanordnung, die Wohlfühlen im Gedenken nicht zulässt. Eine sanfte, weibliche Stimme führt den Besucher durch die Dorfstraßen, fordert ihn auf, einen Blick auf ein bestimmtes Haus zu werfen, die Stimme einer Zeitzeugin berichtet von den Grausamkeiten, die hier, an genau dieser Stelle, begangen worden waren. Der fremde Besucher, mit einem Kopfhörer versehen, Häuser und Landschaften mit den Augen von Opfern, Tätern und Zuschauern betrachtend, erzeugt eine Situation, die außerhalb der Regeln der face to face-Kommunikation in einem Dorf steht. Man ist sich der zugewiesenen Rolle als Störfaktor ständig peinvoll bewusst – hier atmet man auf, wenn man den Ort des Gedenkens verlässt. Aber auch diese Irritation ist womöglich nur temporär erfahrbar, die verstörende Wirkung auf beiden Seiten – bei den BesucherInnen wie bei den OrtsbewohnerInnen – kann verblassen oder durch neue Rituale an Spannung verlieren.13

Als »soziales Vergessen« beschreibt Elena Esposito das Paradox des Verschwindens von Erinnerung im Gedenken: »Die beste Art, Erinnerung auszulöschen, besteht nicht im Löschen von Informationen (dies ist ja auch nicht möglich), sondern in der Produktion eines Überschusses an Information – nicht durch die Erzeugung einer Abwesenheit, sondern in der Vervielfältigung der Präsenzen. Das Vergessen wird nicht durch eine Hemmung, sondern geradezu durch die Förderung des Gedächtnisses durchgesetzt.«14 Konkret bezogen auf das Holocaust-Gedenken vermu-tete James E. Young bereits in einem 1992 publizierten Aufsatz, dass Denkmäler Instanzen des Vergessens sind, die dem Betrachter die »Last der Erinnerung« abnehmen sollen: »Mag sein, daß der Impuls, Ereignisse wie den Holocaust zu monumentalisieren, im Grunde dem gegensätzlichen und gleichermaßen starken Wunsch entspricht, sie zu vergessen.«15

Post-mémoire: Gedächtnis jenseits von
Erinnerungskultur und Geschichtspolitik

Erinnerungsboom und Vergessensangst sind signifikant für das Bedürfnis nach Bezugspunkten in der Vergangenheit, von dem die Gesellschaften der Spätmoderne durchdrungen sind und der in den Formaten einer neuen Erinnerungskultur zum Ausdruck gebracht wird. Insofern kann das Konzept des kulturellen Gedächtnisses auch als eine Theorie sozialen Handelns gelesen werden: Im agonalen Handlungsfeld Gedächtnis beziehen sich die Konflikte nicht allein auf die Ebene der Deutungen und Interpretationen, also auf die Diskurse über die Vergangenheit, sondern vor allem auch auf die materiellen Repräsentationen. Denn gerade auf der Ebene der Institutionalisierung von Gedächtnis kommen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ins Spiel: Es geht nicht allein darum, eine neue Haltung zur Vergangenheit einzunehmen, sondern diese auch sichtbar im öffentlichen Raum zu manifestieren und damit ihre gesellschaftliche Relevanz zu demonstrieren. Insofern sind Denkmäler auch Siegeszeichen im Kampf um die Erinnerung: welcher Gruppe gelingt es, sich in welcher Form in den öffentlichen Raum einzuschreiben, welche Position nimmt ein Erinnerungszeichen in den Hierarchien eines Gedächtnisraumes ein?

Erinnerungskultur und Geschichtspolitik sind mithin jene Kategorien, die das Feld der Praktiken des Gedenkens strukturieren, darauf richtet sich auch der analytische Blick der mittlerweile etablierten kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Das Gedächtnis einer Gesellschaft erscheint dabei als »Arena«16, die von der Logik des Ausverhandelns divergierender Standpunkte bestimmt ist. Diese permanenten Verhandlungen können in Phasen verdichteter Kommunikation über die Vergangenheit durchaus die Form leidenschaftlich ausgetragener gesellschaftlicher Grundsatzdebatten annehmen. Gedächtnis wird dabei als Handlungsfeld verstanden, das von rational-funktionalen Logiken und Strategien bestimmt ist, als planbar und kontrollierbar konzipiert. Selbst unvorhergesehene Skandale und Interventionen – etwa Kurt Waldheims Bekenntnis zur »Pflichterfüllung« in der Wehrmacht, der Auslöser für die Implosion des österreichischen Nachkriegsmythos vom »ersten Opfer« – werden als letztlich notwendiger Anstoß zur Veränderung von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur gesehen – Waldheim gilt heute als »Aufklärer wider Willen«.

Die folgenden Überlegungen gehen demgegenüber von der These aus, dass die Relevanz, die Gedächtnis im ausgehenden 20. Jahrhundert gewonnen hat, mit den Kategorien Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nicht hinreichend zu erklären ist. Jenseits dieser Oberflächen-Phänomene stellt sich die Frage, warum am Ende des 20. Jahrhunderts eine bestimmte, neue Form von Gedächtnis – gerichtet auf die »guilt of nations«17, auf »politics of regret«18, das »negative Gedenken« an die historische Schuld einer Nation – zu einem zentralen Bezugspunkt gesellschaftlicher Imagination, kollektiver Emotionalisierung und »moralischer Empfindsamkeit« (Sighard Neckel) wurde. Welche Sehnsüchte, welches Erinnerungsbegehren liegen diesem Schuldgedächtnis zugrunde? Wie lassen sich die Zusammenhänge zwischen den Erinnerungsbedürfnissen jener Generation, die nunmehr die Deutungsmacht über die Vergangenheit innehat, und dem Gedenken an den Holocaust als einem zentralen Bezugspunkt historischer Sinnstiftung in den ehemaligen »Tätergesellschaften« beschreiben? Anzumerken ist dabei, dass naturgemäß der hier eingenommene Beobachterinnenstandpunkt mit zu reflektieren wäre: Auch die Zeitgeschichtsforschung ist von den gesellschaftlichen und epistemologischen Rahmenbedingungen ihrer jeweiligen generationsspezifischen Erfahrung geprägt – gerade für die ZeithistorikerInnen der 68er Generation und ihre SchülerInnen ist das Engagement in geschichtspolitischen Konflikten und erinnerungskulturellen Projekten Teil ihres Selbstverständnisses als AkteurInnen historisch-politischer Aufklärung. Ein Engagement, das vor dem Hintergrund familiärer Prägungen zu sehen ist – ein Großteil der ZeithistorikerInnen dieser Generation kam aus einem nationalsozialistischen Elternhaus.

Gedächtnis scheint aber nunmehr in die Phase des post-mémoire eingetreten zu sein: Die symbolischen Schlachten um die Erinnerung sind in vielen europäischen Ländern geschlagen, die Verfechter der Nachkriegsmythen haben an Einfluss verloren, mit dem Verblassen des Gegenstandpunktes haben die Konflikte an Streitwert eingebüßt. Die Abkühlung der geschichtspolitischen Leidenschaften, das fading out der emotionalen Aufladung, von der die »Kriege um die Erinnerung« 19gespeist waren, eröffnet die Möglichkeit eines analytischen Blicks auf das, was auf das Zerbrechen der Nachkriegsmythen, das Neuverhandeln der historischen Identität, das »Aufarbeiten« einer belasteten Vergangenheit gefolgt ist: auf das Schuldgedächtnis als transnationale Signatur der Erinnerungskulturen in Europa.

Von den Opfer-Mythen zum Schuldgedächtnis – Transformationen
europäischer Erinnerungskultur

Die Erosion der Opfermythen des Nachkriegs-Gedächtnisses lässt sich auch am Beispiel Österreichs verdeutlichen, obwohl – oder gerade weil – das Land seit der Waldheim-Debatte 1986 und dem politischen Aufstieg der FPÖ unter Jörg Haider als paradigmatisches Fallbeispiel für die Verdrängung historischer Schuld gilt. Vor allem die Bildung einer Koalitionsregierung mit der Haider-FPÖ im Februar 2000 wurde auf europäischer Ebene als Tabubruch empfunden, in Österreich selbst stießen die symbolischen »Sanktionen« der EU-Staaten allerdings weitgehend auf Unverständnis. Dennoch wurde in diesem Konfliktszenario klar, dass die Haltung zum Nationalsozialismus zu den Kernelementen eines europäischen Wertekonsenses zählt. Das offizielle Österreich reagierte entsprechend: Auf Betreiben von Bundespräsident Thomas Klestil wurde die Regierungserklärung der ÖVP-FPÖ Koalition mit einer Präambel versehen, die zum Umgang mit der NS-Vergangenheit eine klare Position bezieht: »Österreich stellt sich seiner Verantwortung aus der verhängnisvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts und den ungeheuerlichen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes: Unser Land nimmt die hellen und die dunklen Seiten seiner Vergangenheit und die Taten aller Österreicher, gute wie böse, als seine Verantwortung an. Nationalismus, Diktatur und Intoleranz brachten Krieg, Fremdenhass, Unfreiheit, Rassismus und Massenmord. Die Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit des Verbrechens des Holocaust sind Mahnung zu ständiger Wachsamkeit gegen alle Formen von Diktatur und Totalitarismus.«20 Dieser Passus drückt programmatisch jenen normativen Wertebezug auf den Nationalsozialismus als negativen historischen Bezugspunkt aus, von dem die gegenwärtige Haltung des offiziellen Österreich bestimmt ist.

Nicht nur in Deutschland und Österreich, den »Nachfolgestaaten« des Dritten Reiches21, auch in den Ländern, die als Okkupations- oder Kollaborations-Regime Teil des nationalsozialistischen Macht- und Einflussbereichs waren, wurden die geschichtspolitischen Mythen der Nachkriegszeit seit den 80er Jahren brüchig. Die Darstellung der eigenen Nation als schuldloses Opfer eines brutalen Besatzungs-Regimes und die Narrative über den heroischen Widerstand des Volkes, die Projektion der Schuld an den NS-Verbrechen auf Deutschland waren den Bemühungen um gesellschaftliche Befriedung der politisch gespalteten Gesellschaften nach Kriegsende 1945 geschuldet. Der Widerstand gegen das NS-Regime wurde dabei im Rahmen nationaler und (partei-)politischer Sinnstiftung gedeutet und funktionalisiert. Von dieser Nachkriegs-Semantik ist das Gedenken an den Widerstand nach wie vor durchdrungen – seine Rhetorik und die Ästhetik seiner kulturellen Formen sind damit kaum noch anschlussfähig für gegenwärtige Erinnerungsbedürfnisse, die mit dem heroischen Pathos nationaler Sinnstiftung nur noch wenig anfangen können.

Nicht mehr der Stolz auf den Widerstand und das Beharren auf der Unschuld des Volkes bestimmt nunmehr das Interesse, sondern es ist gerade die schuldhafte Involvierung der eigenen Gesellschaft in die Strukturen der NS-Machtherrschaft, in die Verbrechen des NS-Regimes, insbesondere in den Holocaust, die zum historischen Bezugspunkt gegenwärtiger Erinnerungsbedürfnisse wird.

Zukünftige HistorikerInnen werden ihr Forschungsinteresse womöglich darauf richten, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die Denkfigur Gedächtnis im Symbolhaushalt spätmoderner Gesellschaften verankert hat, über die rasche Akzeptanz, die dieses Paradigma gewonnen und die Intensität, mit der das Erinnerungsgebot der Postmoderne das gesellschaftlich Imaginäre22 durchdrungen hat. Die Vorstellung, dass eine Gesellschaft nicht durch ihre Zukunftsentwürfe, sondern durch ihren Bezug zur Vergangenheit sichtbar macht, »was sie ist und worauf sie hinauswill«,23 korrespondiert offenkundig mit der »Erschöpfung der utopischen Energien« (Jürgen Habermas) der Moderne.

Nach einer Phase der Entlegitimierung der Selbstvergewisserung aus der Geschichte durch das gegenwarts- und zukunftsorientierte Reformprojekt der 1960er und 1970er Jahre ist bereits am Beginn der 1980er Jahre ein neues Interesse für Sinnstiftung aus der Vergangenheit zu beobachten. Dem Bedürfnis nach Verankerung in einem positiven Traditionszusammenhang entspringen großangelegte historische Ausstellungsprojekte wie die Wittelsbacher-Ausstellung (München 1980), die Preußen-Ausstellung (Berlin 1981), »Traum und Wirklichkeit. Wien um 1900« (1985). Während diese Ausstellungen ein hohes Besucherinteresse und eine überwältigende Resonanz in den Medien erfuhren, stieß die von der Regierung Kohl in Angriff genommene Gründung eines deutschen Geschichtsmuseums in Berlin auf vehemente Kritik: Das Projekt galt als Versuch, ein konservatives Geschichtsbild als universale Erzählung der Nation festzuschreiben. Ausstellungen über die Arbeiterkultur der Zwischenkriegszeit in Wien (»Mit uns zieht die neue Zeit«, Wien 1981) und den Februaraufstand 1934 (»Die Kälte des Februar«, Wien 1984) zeigen allerdings, dass sich das Interesse an der »eigenen« Geschichte nicht auf ein konservatives Traditionsverständnis reduzieren lässt. Und Grassroot-Initiativen wie die links-alternativen Berliner Geschichtswerkstätten mit ihrer Suche nach revolutionären Traditionen in der Arbeiterbewegung und im antifaschistischen Widerstand oder die Aneignung von Alltags- und Lokalgeschichte in Projekten wie »Grabe, wo du stehst« – von der österreichischen Sozialdemokratie anlässlich des 100-jährigen Jubiläums 1988/89 aufgegriffen – beleuchten die Breite des Spektrums, in dem Vergangenheitsbezug als Ressource für gegenwärtige Identitätsstiftung fruchtbar gemacht werden konnte. Gemeinsam ist diesen Projekten die Suche nach positiv besetzten historischen Bezugspunkten – dies konnte »Wien um 1900« als neue Ikone urban-großstädtischer Identität ebenso sein wie die »Wiederentdeckung« des Roten Wedding.

Mitte der 80er Jahre machen sich jedoch neue Ansätze in den gesellschaftlichen Erinnernskulturen bemerkbar. So können in der Initiative zur Markierung der »Topographie des Terrors« in unmittelbarer Nähe zur Ausstellung zum Berliner Stadtjubiläum 1987 im Martin Gropius-Bau jene Intentionen beobachtet werden, für die Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, den Begriff des »negativen Gedenkens« geprägt hat: die Erinnerung an das, was »wir« anderen angetan haben, und nicht – wie in der nationalen Gedächtnispolitik üblich – an das, was andere »uns« angetan haben, die »öffentliche Erinnerung an begangene, nicht an erlittene Untaten«.24

Im Zentrum dieses negativen Gedächtnisses steht die Frage der Schuld – aber nicht mehr verhandelt mit dem Ziel, das eigenen Kollektiv als unschuldig darzustellen und die Schuld auf andere zu projizieren, sondern als Übernahme der Verantwortung für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Namen eines Kollektivs begangen wurden.

Die neue Schuldfrage – Entpolitisierung und
Anthropologisierung von Schuld

Das negative Gedenken ist, wie Norbert Frei und Volkhard Knigge in der Einleitung des Bandes »Verbrechen erinnern« erklären, etwas »historisch Neues« in der Erinnerungskultur.25 Allerdings: Nicht die Frage der Schuld ist neu, sondern sie erfährt eine neue Rahmung, neue Bedeutungszuschreibungen, die mit dem politisch Imaginären der Gegenwartsgesellschaften kompatibel sind.

Das österreichische Beispiel kann diese Transformation der Schuldfrage verdeutlichen: Das Gedenken an den »Anschluss« vom März 1938 war in den Nachkriegsjahrzehnten immer auch mit der Frage verbunden, wer Schuld am Untergang des österreichischen Staates trägt, d.h. welches der großen politischen Lager ein höheres Maß an Schuld für die Preisgabe Österreichs an die NS-Machthaber hat. Mit der Formel von der geteilten Schuld der christlich-konservativen ÖVP und der sozialdemokratischen SPÖ wurde eine Konsens-Antwort formuliert, welche den historischen Kompromiss und gewissermaßen die austarierte geschichtspolitische Basis der Koalitionsregierungen beider Parteien bildete. Dieser Konsens wurde allerdings durch die 68er Generation – insbesondere auch durch VertreterInnen der jungen österreichischen Zeitgeschichte – aufgekündigt: Die Ausschaltung des Parlaments und die Etablierung der »austrofaschistischen« Ständestaat-Diktatur durch die christlich-soziale Partei im März 1933 und die Niederschlagung des sozialdemokratischen Aufstandes im Februar 1934 galten nun als der erste, entscheidende Schritt für den Untergang Österreichs im März 1938. Diese Sichtweise war naturgemäß kompatibel mit den Sinnstiftungsbedürfnissen des sozialdemokratischen Lagers. Die ÖVP konnte sich allerdings nicht zu einer klaren Abgrenzung zur Ständestaat-Diktatur durchringen und brachte demgegenüber die Ermordung des »Märtyrerkanzlers« Engelbert Dollfuß im Juli 1934 bei einem Putschversuch der Nationalsozialisten in Anschlag.

Aber auch in der BRD wurde die Frage der Verantwortung für die Machtergreifung der NSDAP in Deutschland im Jahr 1933 bis in die 1980er Jahre vornehmlich als Versagen der politischen Kräfte diskutiert, Hitlers Weg zur Macht zu verhindern.

Bis zum Paradigmenwechsel in den 80er Jahren richtete sich die Frage nach Schuld, Verantwortung und Versagen somit auf die Dimension des Politischen, vor allem auf die Parteien als Instanzen demokratischer Machtausübung. Entsprechend den unterschiedlichen Logiken universal-staatlicher und partikular-gruppenbezogener Sinnstiftung standen auf der Ebene der nationalen Wir-Gemeinschaft die Narrative von Ausgleich und Konsens im Vordergrund, während auf der Ebene der Geschichtspolitik der Parteien die positive Selbstdarstellung der eigenen Vergangenheit und die Schuldzuschreibung an den politischen Gegner im Vordergrund stand.

Die Nation selbst wurde dabei zwar als unschuldiges Opfer imaginiert, welches politische Lager sie den deutschen Okkupanten ausgeliefert oder zumindest ihren Untergang nicht verhindert hatte, war Gegenstand einer gerade zu den »runden« Jahrestagen immer wieder geführten Schuld-Debatte, die sich auf die Vorgeschichte der Machtergreifung bzw. auf die Okkupation eines Landes bezog.26 Mit der Etablierung des diktatorischen Regimes waren die Parteien als politische Akteure nicht mehr existent bzw. nicht handlungsfähig. Die historische Bezugnahme richtete sich nun auf den Widerstand – den Mythos vom heroischen Freiheitskampf des eigenen Volkes gegen die fremden Machthaber –, wobei sich ebenfalls universale Konsensformeln und partikulare Konkurrenz-Narrative überlagern: Während in der Gedenk-Rhetorik der Nation der heroische Opfermut des »Volkes« gewürdigt wird, geht es auf parteipolitischer Ebene darum, den eigenen Anteil am Widerstand hervorzuheben und jenen der anderen Parteien zu relativieren oder in Abrede zu stellen.

Das negative Gedenken stellt nun die Schuldfrage neu – nicht mehr primär an Staat und Politik, sondern an die Gesellschaft, also an jene Strukturen, die das »Zustandekommen und Funktionieren des Nationalsozialismus«27 und insbesondere den Holocaust ermöglicht haben. Der österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky hat dies mit seinem Bekenntnis zur »Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben«, zum Ausdruck gebracht.28

Die neue Schuldfrage adressiert aber nicht allein das Abstraktum Gesellschaft: das »Wir«, das hier angesprochen wird, richtet sich in einem anthropologischen Sinn an das Individuum selbst, allerdings nicht primär als Angehörige/r einer Nation, einer Partei, einer sozialen Schicht bzw. Klasse gedacht, sondern als handlungsfähiges menschliches Wesen. Rex Bloomstein hat dies bei einer Einführung zu seinem Film »KZ« über die Gedenkstätte und den Ort Mauthausen zum Ausdruck gebracht: »This is a film about us – about you and about me«.29 Es ist dieses »Wir« in einem humanistischen Sinn, das die neue moralisch-ethische Bedeutung des Schuld-Gedächtnis umschreibt: Das Erinnerungsgebot an das, was »wir« den »anderen« angetan haben, stellt an jeden von uns die Frage nach dem eigenen Verhalten, nach einer imaginierten potentiellen Täterschaft eines jeden, der nicht von vorneherein, durch die rassistischen Kategorien des NS-Staates, als Opfer definiert war und damit keinen Handlungsspielraum hatte.

Das Neue am Schuldgedächtnis ist die Entpolitisierung und Anthropologisierung der Kategorie Schuld. Damit verbinden sich auch neue Imaginationen über die Gesellschaft, die jenseits von nationalen, politisch-ideologischen und sozialen Kategorien angesiedelt sind, also jenseits von jenen Denkfiguren der Moderne, die das historisch Imaginäre der Nachkriegsmythen bestimmen.

Täter und Opfer – der Blick auf die nationalsozialistische Gesellschaft

Die Entwicklung des europäischen Gedächtnisses lässt sich – mit der Terminologie des Soziologen M. Rainer Lepsius – als Kampf um die Durchsetzung der Internalisierung des Nationalsozialismus als normativem Bezugspunkt der politischen Kultur beschreiben. Diese Auseinandersetzungen verliefen jeweils im nationalen Rahmen, allerdings mit hoher Aufmerksamkeit des europäischen Auslandes – die Debatten um die Schuldgeschichte einer Nation zählen nicht nur im Fall von Österreich zu den Leitthemen einer transnationalen europäischen Medienkommunikation.30

Im Verlauf dieser Debatten und durch die von ihnen angestoßenen wissenschaftlichen und erinnerungskulturellen Initiativen haben sich in jedem Land spezifische Bezugspunkte und visuelle Ikonen des nationalen Schuldgedächtnisses herauskristallisiert. In Österreich wurden beispielsweise die Bilder des »Anschluss«-Pogroms zu Symbolen für die Mitverantwortung der österreichischen Gesellschaft an der Radikalisierung der rassistisch-antisemitischen NS-Politik. Diese Bilder waren im Bildgedächtnis bereits präsent, sie wurden nun allerdings mit einem neuen interpretativen Rahmen versehen: Unter dem Vorzeichen der Opferthese bezeugten die fotografischen Dokumente der pogromartigen Ausschreitungen in Wien im März 1938 die Exzesse der antisemitischen Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten. Aus der Perspektive des Schuldgedächtnisses waren die Täter – Männer, die Juden öffentlich demütigten und zum Beschmieren jüdischer Geschäfte mit antisemitischen Parolen zwangen – Repräsentanten der österreichischen, »unserer« Gesellschaft. Was nun zu sehen war, war der österreichische Beitrag zum Holocaust.

Die neuen Rahmungen durch das Schuldgedächtnis verleihen visuellen und materiellen Zeugnissen eine Bedeutungszuschreibung als Symbole der Verwerfungen »unserer« Geschichte – und nicht mehr der Untaten der Nazi-Barbarei: Die »Judenkartei«, eine von der Vichy-Administration, vornehmlich der Polizeipräfektur angelegte Kartei zur Erfassung der jüdischen Bevölkerung bzw. von nach Frankreich geflüchteten Juden, ist nun eines der zentralen Objekte der Ausstellung im Mémorial de la Shoah in Paris, das 2005 eröffnet wurde. Die Karteikarten werden in der Krypta des Mémorial gezeigt, in unmittelbarer Nähe zur 1953 errichteten Gedenkstätte für den unbekannten jüdischen Märtyrer (»Tombeau du martyr juif inconnu«), sie legen Zeugnis ab für die Involvierung der französischen Behörden in die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und sind Angelpunkt des pädagogischen Programms für Beamte und Polizeischüler.31

Die Ikonen und Narrative des nationalen Schuldgedächtnisses sind naturgemäß national gerahmt – was zur Debatte steht, ist ja die Involvierung der eigenen Gesellschaft in das NS-System. Was die unterschiedlichen nationalen Varianten des europäischen Schuldgedächtnisses tendenziell gemeinsam haben, sind die mit ihnen verbundenen Vorstellungen über die Gesellschaft im Nationalsozialismus. Das Konzept von Gesellschaft, das den Nachkriegsmythen zugrunde lag, war vom Dispositiv der Moderne geprägt: Gesellschaft – thematisiert in der Darstellung des Widerstandes gegen das NS-Regime – erscheint darin politisch-ideologisch und sozial bzw. klassenspezifisch differenziert. Um wiederum ein österreichisches Fallbeispiel anzuführen: In den Publikationsreihen zu »Widerstand und Verfolgung«, die seit den 70er Jahren vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes herausgegeben werden, wird Widerstand primär nach politisch-ideologischen Kategorien strukturiert – »Die Arbeiterbewegung«, » Sozialisten«, »Kommunisten«, »Widerstand in den Betrieben«, »Das katholisch-konservative Lager« usw.32

In einer post-ideologischen Gesellschaft vermögen politische Überzeugungen offenkundig nicht mehr in diesem Maß zu berühren. Die Kategorie der Betroffenheit, der emphatischen Einfühlung bezieht sich weniger auf den Widerstand als auf die »unschuldigen« Opfer rassistischer Verfolgung, denen keine Wahlmöglichkeit in ihrem Verhalten zum NS-Regime gdie wegen der Herstellung von Flugblättern in das Visier der NS-Schergen geriet, eignet sich weniger als historischer Bezugspunkt gegenwärtiger Erinnerungsbedürfnisse als die beiden Ostarbeiterinnen, die wegen Milchdiebstahls kurz vor Kriegsende in Linz standrechtlich erhängt wurden.33

Parallel zum Verblassen des historisch Imaginären der Moderne, der Denkfigur einer politisch und sozial differenzierten Gesellschaft, hat die Differenzierung der Gesellschaft in Täter und Opfer an Raum gewonnen. Diese bipolare Herstellung von Eindeutigkeit wird zwar der historischen Komplexität auch nicht hinreichend gerecht, aber das ist nicht die Aufgabe des Gedächtnisses, das sich – wie bereits Maurice Halbwachs konstatiert hat – aus den Erinnerungsbedürfnissen der Gegenwart speist. Was den Blick in die Vergangenheit rahmt, sind nunmehr jene Kategorien, die Raul Hilberg mit seinem Buchtitel »Täter, Opfer, Zuschauer« geprägt hat.34 Wie selbstverständlich diese Terminologie mittlerweile geworden ist, zeigt sich etwa am Titel der Ausstellung der Wiener Staatsoper zum Gedenkjahr 2008: »70 Jahre danach: Die Wiener Staatsoper und der ›Anschluss‹ 1938. Opfer, Täter, Zuschauer.« Begriffe wie »Tätergesellschaft« zählen mittlerweile zum geläufigen Wortschatz des Vergangenheitsdiskurses, vielfach bereits ohne Anführungszeichen verwendet.

Die Latenz religiöser Vorstellungen im Gedächtnis der Schuld

Die Semantik von Täter, Opfer und historischer Schuld operiert in einem Kommunikationsraum, der keineswegs neutral und »leer« ist , in dem vielschichtige Bedeutungen zirkulieren. Neben juridischen Kategorien der Sühne durch Bestrafung und Wiedergutmachung sind vor allem religiöse Vorstellungen zu nennen – ein latentes, zumindest vages Wissen um den religiösen Umgang mit Schuld, das auch in säkularen Gesellschaften vorhanden ist. Liegt dem negativen Gedenken – das sich selbst unter den Kategorien der politisch-historischen Aufklärung, eines »Nie wieder Auschwitz!« verhandelt – auch die Dimension eines Schuldbegehrens zugrunde, in dem religiöse Kategorien und Sehnsüchte wirksam werden? Ein Bedürfnis nach quasi sakralen, ethisch-moralisch hoch aufgeladenen Inseln in einer säkularisierten Gesellschaft? Die Bedeutung, die die »authentischen« Orte der NS-Verbrechen, aber auch die Orte des kulturellen Gedächtnisses – Holocaust-Denkmäler und Museen – in den letzten Jahren gewonnen haben, legt dies nahe. KZ-Gedenkstätten und Holocaust-Denkmäler wurden gewissermaßen zu »heiligen Orten«, zum Ort emphatischer Einfühlung in das Leid, das die Opfer erduldet haben. In den Konzepten der Politischen Bildung sind sie jene Orte, an denen die heranwachsenden Generationen durch die Einfühlung, das Nachvollziehen des Leidens der Opfer jene moralische Empfindsamkeit entwickeln sollen, die gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit »imprägniert«. Vom Besuch einer KZ-Gedenkstätte wird, in den Worten österreichischer Politiker, eine »Schutzimpfung gegen Rechtsextremismus« erwartet.

Der Blick auf subkutan wirksame religiöse Vorstellungen und Sehnsüchte, die mit dem Gedächtnis der Schuld verbunden sind, würde die Frage eröffnen, welche unterschiedlichen religiösen Konzepte für den Umgang mit Schuld – namentlich der Reinigung und Befreiung von Schuld – nun in die Formen und Rituale des negativen Gedenkens einfließen, ob sich Differenzen zwischen jüdisch und christlich, zwischen evangelisch und katholisch festmachen lassen oder ob hier die unterschiedlichen Konzepte im Umgang mit Schuld amalgamiert werden.

Das Einbekennen von Schuld an den Verbrechen des NS-Regimes erfolgt jedenfalls in den »Tätergesellschaften« vor dem Hintergrund eines christlich geprägten kulturellen Codes, in dem Bekenntnis und Befreiung von Schuld eng verknüpft sind. Vor allem die katholische Beichte verbindet das Einbekennen und Bereuen von Schuld mit der Erwartung, oder vielmehr: dem Anspruch auf Vergebung. In der Rhetorik des politischen »Bekenntnisdiskurses« 35 wird das Erlösungsversprechen allerdings aus der jüdischen Tradition abgeleitet. Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede zum 8. Mai 1945 den Satz eines chassidischen Mystikers verwendet, der zu einem vielzitierten Leitmotiv für die mit dem negativen Gedenken verbundene Erlösungserwartung geworden ist: »Erinnern ist das Geheimnis der Erlösung, und Vergessen verlängert das Exil.«36

Conclusio

Der Zerfall der Nachkriegsmythen ist vor dem Hintergrund des Verblassens des politisch Imaginären der Moderne zu sehen – insofern entsprechen der Perspektivenwechsel auf die NS-Vergangenheit und das Geschichtsbild des negativen Gedächtnisses dem, was eine post-ideologische, post-soziale Gesellschaft »mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann«. Die mit dem Schuldgedächtnis verbundene Vorstellung der NS-Herrschaft als Dichotomie von Tätergesellschaft und Opfer-Kollektiv löst das historische Bezugsereignis Nationalsozialismus nicht allein aus dem nationalen Kontext, sondern auch aus dem Rahmen von Ideologie, Politik und Gesellschaft (»Klasse«), den zentralen Denkfiguren der Selbstthematisierung der Moderne. Das Herauslösen aus den nationalen und aus den politisch-ideologischen Rahmungen und letztlich aus dem konkret historischen Ereigniszusammenhang, die Anthropologisierung der Geschichtserzählung im Sinne einer »human story« ist die Voraussetzung für die Universalisierung der Holocaust-Erinnerung. Allerdings stellt sich mit Blick auf die Wirksamkeit latenter religiöser Vorstellungen die Frage, ob nicht gerade in den »Tätergesellschaften« mit ihren katholisch bzw. evangelisch geprägten kulturellen Codes subkutane religiöse Motive einfließen, die eine neue, diesmal religiöse Differenz in der universalen Holocaust-Erinnerung eröffnen.


1 München / Wien 2006. Die englische Originalausgabe Postwar. A History of Europe since 1945, erschien 2005 in London.

2 Tony Judt, »Epilog: Erinnerungen aus dem Totenhaus. Ein Versuch über das moderne europäische Gedächtnis«, in: Geschichte Europas, a.a.O., S. 966.

3 Daniel Levy, Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001 (Edition Zweite Moderne, hg. von Ulrich Beck).

4 Vgl. www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=25471&Cr=holocaust&Cr1; www.un.org/holocaustremembrance/emainpage.shtml.

5 Natan Sznaider, Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive, Bielefeld 2008, S. 7.

6 Dirk Rupnow, Aporien des Gedenkens. Reflexionen über »Holocaust« und Erinnerung, Freiburg im Breisgau / Berlin 2006.

7Die dunkle Seite der Geschichte – Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen