Lautstark verliebt

Inhaltsverzeichnis

 

1. Teil 1: K&C

1.1 Korbinian

1.2 Korbinian

1.3 Korbinian

1.4 Charles

1.5 Kor

1.6 Charles

1.7 Kor

1.8 Kor

1.9 Kor

1.10 Charles

1.11 Kor

1.12 Kor

1.13 Charles

1.14 Kor

1.15 Charles

1.16 Kor

1.17 Kor

1.18 Charles

1.19 Kor

1.20 Kor

1.21 Charles

2. Teil 2: J & N

2.1 Jan

2.2 Nathan

2.3 Jan

2.4 Nathan

2.5 Jan

2.6 Nathan

2.7 Jan

2.8 Nathan

2.9 Jan

2.10 Nathan

2.11 Jan

2.12 Nathan

2.13 Jan

2.14 Nathan

2.15 Jan

2.16 Nathan

2.17 Jan

2.18 Nathan

2.19 Jan

2.20 Nathan

2.21 Jan

2.22 Nathan

2.23 Jan

2.24 Nathan

2.25 Jan

2.26 Nathan

Impressum

 

Lautstark verliebt

Text Copyright © 2017 Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

c/o

Papyrus Autoren-Club,

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

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Alle Rechte vorbehalten

 

Umschlagbild und Umschlaggestaltung: Regina Haselhorst

Illustration Copyright © Regina Haselhorst

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Reale Personen wären außerdem hoffentlich klug genug, Safer Sex zu praktizieren, im Gegensatz zu den Fantasiegestalten in diesem Roman. Die müssen sich darum keine Sorgen machen, da es sie nicht gibt.

1. Teil 1: K&C

 

1.1 Korbinian

 

Ich habe keine Angst, dachte Korbinian. Natürlich war das eine Lüge.

Er stand seit mindestens drei Minuten vor dem Laden und starrte auf das abblätternde Schild. Das Schild blätterte nicht, weil es alt und ranzig war. Sondern weil es cool war. Der ganze Laden war cool.

Die handgemalten Lettern im Schaufenster (Bellas Gitarren & Reparatur), die das Geschäft wirken ließen, als würde es irgendwo in L.A. stehen. Das dunkle Innere, die abgenutzten Gitarren hinter der Glasscheibe, die unzähligen Bandplakate, mit denen die Tür vollgeklebt war …

Korbinian schluckte. In seinem Rücken tuckerte ein Auto vorbei. Die kleine Seitenstraße, in der der Laden sich versteckte, war schmal, kalt und roch nach Benzin. Dreckiger Schnee schmolz in den Ecken und vorhin wäre er auf dem glatten Kopfsteinpflaster fast ausgerutscht.

Korbinian schluckte erneut. Dieser Laden war so cool. Und er? Überhaupt nicht. Nie gewesen. Von seiner grünen Outdoorjacke über die billige, schlecht sitzende Jeans bis zu den orthopädischen Schuhen und dem Schlimmsten, seinem Namen … war er diesem Ort nicht gewachsen. Zum ersten Mal wünschte er sich, dass er selbst seine Klamotten aussuchen würde, und nicht seine Mutter. Schließlich war er schon neunzehn.

Er sollte wirklich … Er sollte eine ganze Menge. Das sagten sie ihm immer wieder. Mama, Papa und Mina. Aber er kriegte nichts davon hin.

Wenigstens das musst du schaffen, dachte er. Jetzt reiß dich mal zusammen. Du hast das Geld, und … und du weißt, was du willst. Bestimmt.

Er spürte Cherrys Gewicht in seiner Hand. Sie schlummerte in dem Gitarrenkoffer, den er heute erst zum zweiten Mal benutzte. Seit er sie vor vier Jahren gekauft hatte, hatte sie sein Zimmer nicht verlassen. Bis heute.

Cherry. Seine Harley Benton CST-24T Black Cherry Flame. Sein Ein und Alles. Für sie musste er verdammt noch mal den Arsch in der Hose haben, einen viel zu coolen Laden zu betreten.

Du kannst das, sagte er sich und atmete tief ein. Er strich eine lange Haarsträhne hinter sein Ohr und überprüfte, ob sein Haargummi noch da war. Dann machte er die paar Schritte bis zur Ladentür und drückte sie auf.

Zumindest versuchte er es. Sie bewegte sich kein Stück.

»Ziehen!« kam eine Stimme von innen und Korbinians Ohren wurden heiß. Verdammt.

Er öffnete die Tür, hörte das blecherne Scheppern einer Glocke und trat ein. Das Geschäft war klein und langgezogen wie ein Schlauch. Hinten lehnte ein gelangweiltes Mädchen in schwarzen Klamotten an der Ladentheke. Ihre Stimme hatte er gerade gehört.

Es roch nach altem Rauch und Leder, vermutlich, weil drei Typen in Lederjacken vor der Wand mit den Gitarren saßen und reihum eine davon ausprobierten. Sie sahen nicht einmal auf, als Korbinian vorbeischlich. Alle Drei waren mindestens vierzig, was ihn ein wenig beruhigte. Bei Jugendlichen hatte er immer Angst, dass sie ihm hässliche Dinge nachrufen würden. Ein Erfahrungswert.

Er gab sich Mühe, mit dem Gitarrenkoffer nichts umzuwerfen und schaffte es bis zur Kasse. Das Mädchen schaute nicht auf, selbst, als er direkt vor ihr stand. Sie blätterte durch einen dicken Katalog, der auf der mit verblassten Stickern übersäten Theke lag. Korbinian sah E-Gitarren auf den Seiten, an denen irgendetwas anders war … Ah, das mussten Linkshänder-Gitarren sein.

»Hallo«, krächzte er. Seine Kehle war staubtrocken. Seine Hände dafür so schweißfeucht, dass ihm der Koffergriff fast aus der Hand rutschte.

Das Mädchen sah auf. Mit einem Blick scannte sie seine peinliche Erscheinung.

»Hi.« Ihre Stimme war hell. Wohlklingend. Er räusperte sich.

»Ich möchte … Ich hab meine Gitarre dabei«, stotterte er.

»Und?« Sie zog die Augenbrauen zusammen. In jeder steckten mindestens fünf Piercings. So cool. »Was willst du damit? Verkaufen?«

»Nein!« Instinktiv zog Korbinian den Koffer vor seine Brust. »Ich will … Sie ist kaputt. Die Bundstäbchen, äh …«

»Also willst du sie reparieren lassen?« Sie klang leicht genervt.

»Ja«, murmelte er und nickte dazu, falls er mal wieder zu leise gesprochen hatte.

»Da runter«, schnarrte sie und deutete mit einem schwarz glänzenden Fingernagel neben sich. Oh. Ja, da ging eine winzige Wendeltreppe hinab. Das Geländer sah aus, als ob man sich pro Zentimeter hundert Splitter holen konnte.

»Danke«, sagte er leise. Sie antwortete nicht, da sie ihre Aufmerksamkeit längst wieder dem Katalog zugewandt hatte.

Vorsichtig tapste er die Stufen hinunter. Er stieß sich den Schädel an einem Balken und stolperte schließlich in eine Höhle, die roch wie ein Meerschweinchenkäfig. Die Wände bestanden aus unverputztem Mauerwerk, nur geschmückt von unzähligen Holzregalen, auf denen Gitarrenteile lagen. Rechts von ihm schraubte eine ältere Frau in einem Metallica-Shirt gerade an einer rotbraunen Fender Standard Strat herum. Musik dröhnte aus einem scheppernden Lautsprecher. Irgendein Sänger brüllte Worte, die Korbinian nicht verstand und … Er schrak zurück.

Ein schwarzgekleideter Junge, nein, Mann, drehte sich um und sah ihn an.

Und Korbinian wäre am liebsten weggelaufen. Dieser Kerl war cooler als alles andere in diesem gesamten Laden. Das wusste er, selbst, als der ihm noch den Rücken zugedreht hatte. Groß, blond, sportlich. Attraktiv. Schwarzes Langarmshirt, aus dessen Halsausschnitt ein Tattoo schaute. Schwarze Lederhose. Kalte, graue Augen hinter hellen Strähnen, die ihm verwegen in die Stirn fielen. Geschmeidige Bewegungen. Und ein Gesicht, so unfreundlich, als würde er Korbinian gleich die Hose runterziehen und ihn auf die Straße jagen. So, wie es Benjamin Meier damals in der siebten Klasse gemacht hatte.

Korbinians Handflächen waren klatschnass. Aber er blieb stehen, selbst, als der Typ sich komplett umgedreht hatte und ihn verächtlich musterte. Nur das Gewicht in seiner Hand ließ ihn stehenbleiben. Der Typ sah aus wie ein Löwe, in dessen Revier er unbefugt eingedrungen war.

»Ja?«, brummte der Blonde.

Er schien nicht viel älter als Korbinian zu sein. Aber einen ganzen, nein, nur einen halben Kopf größer. Schlimm genug. Korbinian ballte die Faust. Dann hielt er dem Blonden den Koffer hin.

»Die Bundstäbchen sind abgenutzt«, murmelte er und sah zu Boden. Alte Holzdielen, aber blitzblank geputzt. Er spürte, wie ihm das Gewicht abgenommen wurde.

»Lass mal sehen«, sagte der Blonde, ein wenig freundlicher. Erstaunlich sanft legte er den Koffer auf die nächstbeste freie Fläche und klappte ihn auf.

Cherry glänzte im Licht der Deckenlampe. Blutroter Körper, grauer Hals, etwas abgenutzt, aber immer noch wunderschön. Der Typ pfiff durch die Zähne.

»Gut gepflegt«, sagte er anerkennend und Korbinian entspannte sich ein wenig. Der Kerl nahm Cherry aus dem Koffer und betrachtete sie prüfend.

»Wie alt?«, fragte er.

»Vier Jahre«, sagte Korbinian, leise.

»Hm.« Der Blonde besah die Bundstäbchen, die von den Saiten tief eingekerbt worden waren. »Und da ist die schon so abgenutzt?«

Seine Stimme kam Korbinian bekannt vor, aber er wusste nicht, woher. Es war eine schöne Stimme. Warm und voll.

»Ich … ich spiel halt jeden Tag.«

Der Kerl musterte ihn, so ausführlich, wie er gerade noch Cherry betrachtet hatte. Korbinian versuchte, kraft seiner Gedanken im Boden zu versinken. Warum hatte er nichts Schwarzes angezogen? Nun, weil er nichts Schwarzes besaß. Seine Mutter meinte immer, er sollte fröhliche Farben tragen.

»Jeden Tag«, wiederholte der Kerl. Korbinian hatte das Gefühl, vor Gericht zu stehen. Einem Gericht, in dem ihm niemand glauben würde, egal, was er tat. Er nickte.

»Wie lange?«

»Ein … paar Stunden.«

Wann immer er konnte. Sobald er heimkam, sobald das Abendessen vorbei war. Und, seit er das Abi geschafft hatte, fast den ganzen Tag über, nur unterbrochen von der Arbeit im Lager und dem Steuerkram, den er für seine Eltern erledigte. Das war die Bedingung gewesen. Dafür, dass er ein Jahr Zeit bekam, um zu überlegen, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Bisher wusste er nicht viel, außer, dass er weiter Gitarre spielen wollte.

Zum Glück trat die alte Frau plötzlich neben den Blonden. Sie nahm ihm Cherry aus der Hand.

»Hm. Bundstäbchen? Macht achtzig Euro«, sagte sie. Ihre Stimme war so rau, als hätte sie statt Mandeln Schleifsteine. Korbinian zuckte zusammen und begann, in den Taschen seiner grünen Jacke zu wühlen. Wo war sein Weihnachtsgeld?

»Lass stecken«, brummte sie. »Du zahlst erst, wenn du sie abholst.«

»Oh.« Mist, seine Ohren wurden schon wieder heiß. »Ach so.«

»Charles.« Sie wandte sich an den Blonden, der Korbinian immer noch anschaute. »Das kannst du machen. Denke, du bist so weit.«

»Na endlich.« Der Typ nickte.

Was? Nein! Korbinian wollte nicht, dass der Kerl an Cherry herumdokterte, wenn der das offensichtlich noch nie getan hatte!

»K-kannst du das denn?«, fragte er. Eine Falte erschien zwischen den Augenbrauen des Blonden. Charles.

»Klar kann ich das.« Er wirkte verärgert. Oh nein. »Weißt du, wie lang ich schon lerne? Die Alte lässt mich alles hundertmal an irgendwelchem Schrott üben, bevor ich an die echten Dinger ran darf.«

»S-so habe ich das nicht gemeint«, stotterte Korbinian, obwohl er es genau so gemeint hatte. Panisch sah er zu der Alten, die Cherry einfach wegtrug. Er sah ihren blutroten Leib blitzen und hätte am liebsten geheult. »Ich meine, wenn du … äh. Ach, egal.«

Er ließ die Schultern sinken. Hoffentlich behandelten sie Cherry gut. Hoffentlich … Ein furchtbarer Gedanke kam ihm: Was, wenn sie sie klauten? Wenn er wiederkäme und sie sie ihm nicht wiedergeben würden? Behaupten würden, dass sie Cherry nie gesehen hätten, und … er zu schwach wäre, um sich zu wehren? Er würde sich das gar nicht trauen, schließlich stand ihm »Opfer« auf die Stirn geschrieben und … Korbinian schluckte die Tränen hinunter.

Reiß dich zusammen, dachte er. Du bist erwachsen.

Ein rosafarbener Zettel erschien vor seinem Gesicht. Etwas Unleserliches war darauf gekritzelt.

»Hier«, schnarrte die Alte. »In 'ner Woche ist sie fertig.«

Eine Woche?, wollte Korbinian rufen. Geht das nicht schneller?

Aber natürlich tat er das nicht, Opfer, das er war.

Damit schien alles geklärt zu sein. Die Alte drehte sich um und watschelte zurück zu ihrer Werkbank. Charles drückte Korbinian den leeren Koffer in die Hände und wandte sich wieder zu seinem Regal um.

Korbinian spürte kalten Schweiß in seinem Nacken. Cherry, dachte er. Sehnsuchtsvoll sah er zu der Wand, an der sie nun hing, zwischen einer blauen und einer mahagonifarbenen Gitarre. Sah auf Charles' muskulösen Rücken, das schwarze Langarmshirt, aus dessen Kragen ein Tattoo schaute, das er nicht identifizieren konnte. Etwas Beiges, Verästeltes. Ein … Geweih?

»Äh, also …«, begann er. Charles drehte sich um.

»War noch was?«, fragte er.

Korbinian atmete tief ein.

»Äh, ich …« Er straffte sich. »Pass auf sie auf, ja? Bitte.«

Er sah Charles an, vermutlich so flehend wie ein hungriger Welpe, aber das war ihm egal. Er brauchte keinen Stolz, er brauchte nur Cherry. Etwas Erstaunliches geschah in Charles' selbstbewusstem, absolut coolem Gesicht. Ein Lächeln erschien. Eins, das bestimmt jedes Mädchenherz zum Schmelzen gebracht hätte, so warm und freundlich und verständnisvoll, wie Korbinian es nie erwartet hätte.

»Mach ich«, sagte Charles. Seine Stimme war weich wie Karamell. »Versprochen.«

Korbinian nickte, sprachlos. Einen Moment lang konnte er nur starren, dann kroch ein Lächeln in sein Gesicht. Ein bestimmt saudummes Lächeln, aber das war egal.

»Danke«, flüsterte er. Und dann machte er, dass er aus dem Geschäft kam.

Erst, als er wieder auf dem Kopfsteinpflaster stand, merkte er, dass sein Puls raste und sein Atem stoßweise ging. Er hatte es geschafft. Er hatte diesen coolen Laden überlebt und war auf halbem Weg, Cherry heil zurückzubekommen.

Jetzt musste er nur noch eine Woche ohne sie überstehen.

 

1.2 Korbinian

 

Okay. Dieser Charles würde auf Cherry aufpassen. Er hatte es versprochen. Und irgendwie vertraute Korbinian ihm. Keine Ahnung, warum.

Aber dieses Vertrauen machte die Zeit bis zum nächsten Montag erträglicher. Eine Woche … Er hatte keine Woche mehr ohne Gitarre überleben müssen, seit sie ihm damals die Affinity gestohlen hatten. Cherry hatte er nie nach draußen mitgenommen. Er selbst ging nicht gern raus. Wenn ihre Saiten kaputt gewesen waren, hatte er neue aus dem Internet bestellen können. Nur den Bund konnte er nicht allein …

»Korbinian. Salat«, sagte seine Mutter und unterbrach seinen Gedankenstrom.

»Hier«, murmelte er und reichte die glattpolierte Olivenholzschüssel über den Tisch.

Seine Mutter schenkte ihm ein Nicken, dann hörte sie Mina weiter zu. Korbinian war froh, dass seine Schwester da war. Sie lenkte die Aufmerksamkeit seiner Eltern von ihm ab. Er schaute durch den Vorhang seiner Haare auf die Szene vor sich.

Sie saßen um den blankpolierten, reich gefüllten Tisch wie eine Familie aus der Werbung: sein Vater, imposant und gütig, mit graumeliertem Schopf. Seine Mutter, selbstbewusst, streng und frisch erblondet. Seine Schwester Mina, die so herzlich lachte, dass Grübchen in ihren Wangen erschienen. Schwungvoll warf sie ihre honigfarbene Mähne zurück.

Als wäre er in eine Sparkassenwerbung geraten. Nur er passte nicht ins Bild. Mager, schmächtig, zusammengesunken und schüchtern, die dunklen Haare vorm Gesicht, als wollte er sich dahinter verstecken. Wollte er auch. Immerhin, seine Akne war besser geworden.

»Oh mein Gott, der Prof ist so lustig!«, sagte Mina. Wilhelmina Schuster, Vorzeigestudentin und -tochter, dachte Korbinian, ein wenig neidisch. »Ich habe schon so viel gelernt, viel mehr als bei allen anderen. Im Vergleich zu ihm sind die pädagogische Nieten.«

»Ja, unterrichten will gelernt sein«, sagte ihre Mutter. »Das kann halt nicht jeder. Und nicht jeder will das lernen. Wir hatten im Studium so eine Nase …«

»Professor Mylius?«, fragte sein Vater. Seine Mutter nickte.

»Diese Pfeife. Hat immer nur vorn gestanden, auf seine Schuhspitzen geschaut und vor sich hingemurmelt. Kein Wort verstanden hat man.«

Korbinian zuckte zusammen. Dieser Professor Mylius tat ihm leid.

»Nian, komm doch mal mit!« Oh nein. Mina hatte ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. »Das würde dir guttun. Dann kannst du den Uni-Alltag schon mal kennenlernen. Wir könnten in der Mensa essen, wenn du magst. Dienstags gibt es 'nen superguten Hackbraten.«

»Vielleicht«, murmelte er. »Mal schauen.«

»Korbinian, das ist wirklich eine gute Idee.« Seine Mutter sah ihn ernst an. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Korbinian versuchte, sich so klein wie möglich zu machen.

»Ich schau mal«, flüsterte er.

»Komm schon, Nian.« Mina setzte ihr bestes Große-Schwester-Lächeln auf. Als wollte sie ein verschüchtertes Kätzchen unter einem Auto hervorlocken.

»Muss noch die Vorsteuer machen«, behauptete er.

»Das hat doch Zeit«, sagte sein Vater entschieden. »Du schaust dir die Uni an, verstanden?«

»Ich … Na gut.«

Korbinian verstand ihre Frustration. Neunzehn Jahre mit einem Feigling, der sich nichts traute, mussten hart für sie sein. Für seine Eltern, mit ihrem erfolgreichen Laden für orthopädische Schuhe und den vielen Nebenprojekten. Dem Radfahren und dem Klettern und dem Fallschirmsprung im letzten Mai. Und seine Schwester, die eine Klasse übersprungen hatte, nie um eine Antwort verlegen war und jetzt als Beste ihr Studium meisterte … Ein Gedanke kam ihm.

»Können wir … Kann ich am Montag mitkommen? Dann bin ich eh in Stuttgart.«

»Bist du das?« Seine Eltern sahen ihn erstaunt an.

»Ich habe die Gitarre weggebracht«, sagte er. »Musste repariert werden. Die Bundstäbchen waren …«

»Ah.« Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich habe mich schon gewundert. Klar, für das Ding wagst du dich aus dem Haus.«

Korbinian sah auf seine schlanken Hände mit den rauen Fingerspitzen. Seine Eltern mochten Cherry nicht. Sie hatten sich geweigert, ihm eine Gitarre zu schenken, also hatte er all seine Weihnachtsgeschenke auf eBay verkauft und mit dem Geld Cherry erstanden. Seine Mutter hatte eine Woche lang nicht mit ihm geredet.

»Ich … Sie ist mir wichtig«, murmelte er.

»Das wissen wir.« Seine Mutter verdrehte die Augen. Dann wurden ihre Züge weicher. »Das wissen wir doch, Schatz. Ich würde mir nur wünschen, dass du bei den Dingen, die dir wichtig sind, das richtige Maß finden würdest.«

Korbinian brummte etwas Unbestimmtes.

»Ach, lass ihn doch.« Mina zwinkerte ihm zu. »Das ist halt Liebe. Ich war damals doch dabei, als er beim Musik-Mischmasch seine erste Gitarre gefunden hat. Ich habe dich vorher nie wütend gesehen, Nian. Erst, als sie dir das Ding wegnehmen wollten, damit du mal was Anderes probierst.«

»Ich wollte nichts Anderes probieren.«

»Nein.« Sein Vater führte seine Gabel zum Mund. »Willst du ja nie. All das Geld für diese Musikschule und du hast die Geige nicht mal angerührt.«

»Das war aber auch die Schuld der Musikschule«, sagte seine Mutter. »Immer diese Kuschelpädagogik. Die hätten ihn zwingen sollen.«

»Den konnte man nicht zwingen.« Mina schüttelte den Kopf. »Und überreden auch nicht.«

Der Musik-Mischmasch war, trotz des Namens, eine renommierte Kinder-Musikschule. Spezialisiert auf Frühförderung. Und Förderung war seinen Eltern sehr wichtig gewesen. Mit sieben und acht Jahren hatten sie Mina und ihn da reingesteckt. Jahrelang hatte er sich durch Blockflöte, Klavier, Schlagzeug und alles Mögliche gekämpft.

Mina war besser als er gewesen, wie immer. Die hatte jedes neue Instrument gelernt und ohne Zögern wieder abgegeben. Die hatte die Synapsen im Gehirn, die nur durch künstlerische Betätigung entstanden, ausgebildet, und dann was Vernünftiges damit gemacht. Korbinian? War ein mittelmäßiger Schüler und zunächst auch ein mittelmäßiger Musikschüler gewesen.

Erst nach zwei Jahren Musik-Mischmasch hatte sein Tutor ihm eine E-Gitarre in die Hand gedrückt. Eine grellblaue Fender Affinity, das Modell, das er sich direkt darauf zu Weihnachten gewünscht hatte. Und er hatte … Es war gewesen, als würde sich die Welt endlich öffnen. Als hätte er in einem vollkommen chaotischen Universum die eine Sache gefunden, die Sinn machte.

Plötzlich war er der Beste im Kurs gewesen, hatte jeden Tag Griffe geübt, bis seine Fingerspitzen bluteten. Da hatte seine Mutter begonnen, sich Sorgen zu machen. Wenn er sich morgens mit zugepflasterten Händen hastig ein Brot schmierte, um noch vor der Schule zehn Minuten spielen zu können.

Und nach vier Wochen, als er die Gitarre eigentlich hätte abgeben müssen, um mit der Geige anzufangen, hatte er sich geweigert. Er war nicht zur Musikschule gegangen und hatte sich im Zimmer verschanzt, um sie behalten zu können.

Das hatte Ärger gegeben. Aber irgendwie hatte er seine Eltern überzeugen können, dass er den Musik-Mischmasch durch Gitarrenunterricht ersetzen durfte. Er hatte bis heute keine Ahnung, wie.

»Korbinian! Deine Schwester hat dich etwas gefragt«, unterbrach seine Mutter seine Gedanken.

»Was?«

»Weißt du schon, ob du nach Stuttgart an die Uni kommst, wenn das Jahr vorbei ist?«

Mina lächelte ermunternd. Korbinian schüttelte den Kopf, hörte das leise Seufzen seiner Mutter und wurde für den Rest des Abendessens in Ruhe gelassen.

Dieser Charles kam ihm plötzlich in den Sinn.

Er fragte sich, ob der auch gerade mit seiner Familie zu Abend aß. Vermutlich nicht. Der war zu cool dafür. Er konnte sich nicht mal vorstellen, wer dessen Eltern waren. Die ältere Dame im Metallica-Shirt hatte nicht gewirkt, als ob sie seine Mutter wäre, aber … hm. Er wirkte, als sei er mit Tattoos und diesem spöttischen Blick auf die Welt gekommen.

Wahrscheinlich war er gerade bei seiner Freundin. Oder auf einem Konzert. Was Leute eben so taten, die wirkten, als würden sie in diesen Gitarrenladen gehören. Korbinian war ein wenig neidisch. Und ein wenig … Hm. Er konnte das nicht erklären. Wenn er an Charles' verständnisvolles Lächeln dachte, stob ein winziges Gefühl in ihm auf. Wie eine Biene, die aus dem Winterschlaf erwachte.

Falls Bienen überhaupt Winterschlaf hielten. Vermutlich nicht.

 

1.3 Korbinian

 

Bellas Gitarren & Reparatur war geschlossen, als Korbinian am Montagmorgen dort ankam. So ein Mist. Aber auf der Tür stand doch, dass sie ab 10 Uhr aufhatten. Nur … hatten weder das Mädchen an der Kasse, noch Charles, noch die Alte (Bella?) gewirkt, als würden sie sich an Regeln halten. Oder an Ladenöffnungszeiten.

Korbinian zitterte trotz seiner dicken Jacke. Die Gasse war so klein, schäbig und kalt wie vor einer Woche. Vielleicht noch kälter. Er konnte sich nicht an eisigen Wind erinnern, der über seine geröteten Wangen gestrichen war. Es roch nach Mülleimer und Winter, und …

Was sollte er nun tun? Er musste warten, bis ihm jemand aufmachte. Sollte er in ein Café gehen? Er kannte kein Café und er traute sich nicht, Geld auszugeben, falls die Reparatur doch teurer sein würde, aber …

Er schluckte. Er hätte wissen müssen, dass sie nicht gleich um zehn öffneten. Außerdem … Was tat er schon hier? Er war erst um eins mit Mina verabredet. Selbst wenn die hier um zehn geöffnet hätten (und er war schon um fünf vor da gewesen), hätte er fast drei Stunden Zeit totschlagen müssen. Aber er vermisste Cherry so sehr, als wäre sie sein linkes Bein, mindestens, und er konnte es kaum erwarten, sie wiederzuhaben. Er …

»Hey!«

Er kannte die Stimme. Korbinian fuhr herum. Charles schlenderte die Gasse entlang, sicher und elegant wie ein Tiger. Ein Tiger mit dunklen Augenringen, was seiner Attraktivität keinen Abbruch tat. Natürlich trug er eine abgewetzte Lederjacke mit irgendwelchen Bandabzeichen auf den Armen. Er gähnte.

»Du warst der Typ mit der Black Cherry Flame, oder?«, fragte er und gähnte nochmal.

Korbinian nickte. Irgendetwas an Charles' Anwesenheit hatte ihm die Sprache verschlagen. Als er direkt vor ihm stand, konnte er ihn sogar riechen. Bier und alter Rauch und … irgendetwas Würziges, Gutes.

»Sorry«, brummte Charles und streckte sich. »War spät gestern.«

Er kramte in den Taschen seiner enganliegenden Jeans und förderte einen Schlüssel zutage, den er in das Schloss der Ladentür steckte. Korbinian wurde bewusst, dass er noch nichts gesagt hatte. Er sollte etwas sagen, oder?

»Äh … Wie spät war's denn gestern?«, stammelte er. War das eine dumme Frage?

»Hm.« Ein schwaches Lächeln zuckte über Charles' Lippen. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und schien nachzudenken. »Halb drei? Gaia Gepardo haben gespielt und danach gab's noch 'ne kleine Party …«

»Gaia GepardoSei ruhig und tu so, als wüsstest du, wovon er redet, schaltete sich sein Gehirn ein. Einen Moment zu spät. Charles öffnete die Tür. Die Luft war abgestanden und roch nach altem Öl und Sägespänen.

»Speed Metal mit Melodic-Einflüssen. Die kommen aus Offenbach.«

»Ach so.« Korbinian zögerte vor der Türschwelle. »Äh … ich kann mit reinkommen, oder?«

Die grauen Augen musterten ihn belustigt und er kam sich wieder wie ein Idiot vor.

»Sicher«, sagte Charles.

»D-danke.«

Korbinian zuckte zusammen, als Charles hinter ihm abschloss. Warum … Leider bemerkte der seinen Blick.

»Ich kann die Tür nur offen lassen, wenn oben einer ist«, erklärte er. »Und ich habe in der Werkstatt zu tun.«

»Ah.« Korbinian nickte unsicher.

»Aber deine Cherry ist fertig. Ich kann sie abkassieren.« Charles drehte sich um und ging an den schwarzen Wänden entlang.

»W-woher weißt du, dass sie Cherry heißt?«, fragte Korbinian und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Was für dämliche Fragen stellte er hier? Aber Charles zuckte nur mit den breiten Schultern.

»Wusste ich nicht. Ich habe sie so genannt, als ich an ihr gearbeitet habe. Macht ja auch Sinn.«

»Ja.« Korbinian entspannte sich ein wenig.

Zögernd folgte er Charles durch den Laden und die Treppe hinunter. Hier war es deutlich wärmer als draußen. Viel besser.

»Ich habe eine Les Paul«, sagte Charles, zog seine Jacke aus und warf sie über den nächstbesten Stuhl. Selbst im Dunklen traf er. Sein Mädchenschwarmlächeln blitzte auf. »Lesley.«

Korbinian lachte. Er entspannte sich zusehends, obwohl er mit einem Fremden in einem dunklen Raum stand, eingeschlossen in einem Laden … Okay, toll war das nicht.

Charles haute schwungvoll auf einen Schalter. Licht flammte auf. Regale, Bänke und Stühle schälten sich aus der Finsternis. Die Reihe der fertigen Gitarren an der Wand. Cherrys blutroter Leib funkelte und Korbinian hatte das Gefühl, nach einer Woche endlich wieder atmen zu können.

Charles fuhr sich durch die Haare, und Korbinian fiel erneut auf, wie attraktiv er war. Die wölfischen Augen, die scharfgeschnittene Nase, der kräftige Kiefer, der breite Mund … Doch, der hatte bestimmt eine Freundin.

Er beobachtete Charles' sichere Schritte, mit denen er zur Wand ging. Mühelos nahm er Cherry herunter. Aber statt sie Korbinian zu geben, der bereits die Hände nach ihr ausstreckte, trug er sie zu einem Verstärker und steckte sie ein.

»Hier, probier sie aus«, sagte er. »Damit du weißt, dass sie in Ordnung ist.«

»Was?« Kalter Schweiß bedeckte mit einem Mal Korbinians Nacken.

»Na, du hattest doch Zweifel.« Charles' Stimme klang ein wenig kühler. »An meinen Fähigkeiten.«

»Hatte ich nicht!«, stieß Korbinian hervor. »Ich hab nur … Cherry ist alles, was ich habe, und …« Peinlich, peinlich, peinlich. »Ich hatte nur Angst um sie.«

»Mann, das versteh ich doch.« Das Mädchenschwarmlächeln verjagte alle Frostigkeit aus Charles' Antlitz. »Würde mir doch genauso gehen. Aber ich habe gute Arbeit geleistet, wie du gleich merken wirst«

»Okay.« Korbinian räusperte sich. »Ich …«

»Was?«

»Ich habe noch nie vor jemandem gespielt«, brachte er heraus. Schweiß benetzte seine Handflächen. »Nur vor meiner Familie. Und die interessiert das eh nicht, also macht es mich auch nicht nervös …«

»Aha.« Charles' Augenbraue wanderte nach oben. Aber ihn konnte wohl keine Absonderlichkeit aus der Ruhe bringen. »Ich kann so tun, als ob du gar nicht da wärst. Kein Problem.«

»Ach, echt?«

»Wenn's dir hilft.« Charles zuckte mit den Schultern. »Ab jetzt bist du Luft für mich.«

Nein, rief etwas in Korbinians Hinterkopf. Das will ich doch gar nicht!

»Danke«, murmelte er.

Charles antwortete nicht. Er ging, ein Lied pfeifend, um die Werkbank herum und schaltete den kleinen Laptop ein. Dann setzte er sich und begann, den einzelnen Bund zu bearbeiten, der auf der Bank lag. Kurz darauf erklang wieder die Stimme aus den scheppernden Lautsprechern. Die schreiende, gruselige. Die, die dröhnte, als sei sie direkt aus der Hölle entsprungen. Leiser als das letzte Mal.

Korbinian wurde also ignoriert. Gut.

Mit klammen Fingern setzte er sich auf den Holzboden, so, wie er das zuhause tat. Er lehnte sich gegen die Wand, wie er sich normalerweise gegen sein Bett lehnte. Und legte Cherry quer über seine Brust.

Es tat so gut, sie wieder zu halten. Seine Fingerspitzen tasteten über die Saiten und eine tiefe Ruhe überkam ihn. Die Bundstäbchen unter seiner linken Hand waren anders, neuer und standen weiter heraus. Aber sie waren gut eingearbeitet. Charles hatte sie eingearbeitet. Irgendwie machte ihn das glücklich.

Versuchsweise griff er ein G und strich über die Saiten. Cherrys unverwechselbarer Klang drang aus dem Verstärker und mit einem Mal war er vollkommen entspannt. Als wäre er zuhause, griff er in die Saiten, spielte ein paar Riffs, dann eine simple Melodie. Ein Lied, das er aus einem YouTube-Video gelernt hatte. Eins, das er sich selbst ausgedacht hatte. Noch eins.

Er versank in einem Zustand, den seine Mutter »Koma« nannte. Korbinian war einfach weg, wenn er spielte. In einer anderen Welt, sagte Mina. In einer besseren Welt, dachte er, aber das sagte er keinem.

Er hielt inne und lauschte auf die ungewöhnliche Musik, die aus den Lautsprechern drang. Vielleicht war das Speed Metal? Probeweise versuchte er, der Melodie zu folgen, die der Gitarrist spielte. Er schaffte es fast, hinkte immer nur zwei Töne hinterher. Und als der Refrain zum zweiten Mal gebrüllt wurde, konnte er ihn taktgenau mitspielen. Je länger er es hörte, desto mehr gefiel es ihm. Er probierte, den Sänger anders zu begleiten, zu …

Er schrak hoch, als jemand die Treppenstufen herunterpolterte.

Die alte Frau, diesmal in einem anderen Metallica-Shirt.

»Ach was, du kümmerst dich schon um den ersten Kunden?«, fragte sie. »Sehr gut … Was ist?«

Hä? Aber sie sah nicht ihn an, sondern Charles. Und der … starrte auf Korbinian. Fassungslos. Die Hände auf die Werkbank gestützt, den Mund halb offen, mit riesigen grauen Augen … Korbinian hatte das Gefühl, hintenüber zu kippen. Zu fallen, obwohl sein Rücken sicher an der Wand lehnte. Warum schaute Charles ihn so an? Hatte er ihn … die ganze Zeit über so angesehen? Er spürte eine Gänsehaut, die seinen gesamten Rücken überzog.

»Wie … lange spielst du schon?«, fragte Charles.

»Ich … äh … zehn Jahre. Hab ich was falsch gemacht?« Korbinian hörte das Zittern in seiner Stimme. Charles schüttelte den Kopf, gottseidank.

»Zehn Jahre? So? Und da hast du immer nur vor deiner Familie gespielt?« Der Blonde schaute ihn an, als wäre Korbinian ein Rätsel, das er unbedingt lösen musste.

»Ja.« Korbinians Arm juckte. Er kratzte sich dort, dann juckte seine Kopfhaut. Alles juckte und kribbelte. Konnte dieser Charles aufhören, ihn anzusehen?

Die Alte lenkte endlich seine Aufmerksamkeit ab, als sie scheppernd lachte.

»Was, echt?« Sie grinste breit. »Die meisten gründen 'ne Band, bevor sie drei gerade Noten spielen können. Charles hier zum Beispiel. In der wievielten Band bist du jetzt, seit ich dich kenne? Der zehnten?«

»Der elften.« Charles schien verstimmt. »Na und?«

»Ich sag ja nur«, kicherte sie. »Ein bisschen von seinem Durchhaltevermögen würde dir nicht schaden. Und von seiner Bescheidenheit.«

Was? Nein. Er wollte nicht … Würde Charles jetzt sauer auf ihn sein? Korbinian hatte gerade begonnen, sich in seiner Gegenwart wohlzufühlen, was erstaunlich war, da er sich bei Fremden sonst nie wohlfühlte, und der Blonde ihm einfach in jeder Hinsicht überlegen war …

Zum Glück schien Charles kein bisschen verärgert zu sein. Er zwinkerte Korbinian zu, was wieder so eine Biene in seinem Magen abheben ließ.

»Vielleicht kannst du mir ja was beibringen. Wie heißt du eigentlich?«

Oh nein.

»Äh. Korbinian Schuster.«

»Kor-was?!« Die Alte schien entsetzt. Aber Charles nickte bedächtig.

»Korbinian. Hast du 'nen Spitznamen? Kor?«

Nian, dachte Korbinian. Aber Kor klingt soviel besser. Fast … cool.

»Ja«, behauptete Korbinian. »Kor. So nennen mich alle.«

»Deine ganze Familie?« Die Alte grinste spöttisch und Korbinian hätte sich gern hinter seiner Gitarre verkrochen.

Sah man ihm an, dass er keine Freunde hatte? Er hatte mal welche gehabt, na ja, zumindest Bekannte, aber die waren alle weggezogen, um irgendwo zu studieren …

»Ärger ihn nicht«, sagte Charles und … lächelte. Noch viel mädchenschwarmiger als sonst. Wenn er nicht so ein schwarz gekleideter, tätowierter Band-Typ gewesen wäre, hätte er auch in irgendeiner Boygroup sein können. Oder ein Schauspieler. Alle schönen Menschen sahen sich irgendwie ähnlich.

Korbinian war plötzlich furchtbar nervös. Ein Bienenschwarm schien durch seinen ganzen Körper zu rasen und er rappelte sich auf.

»Ich … äh, sorry, dass ich so lange geblieben bin. Ich … zahl dann, und …«

»Nein!« Charles sprang auf.

Einen Moment lang wirkte er gar nicht mehr entspannt und cool. Einen sehr kurzen Moment lang. Dann war er wieder die Ruhe selbst. Er lehnte die Arme auf die Bank, als hätte er alle Zeit der Welt.

»Ich meine … wenn du magst, kannst du noch ein wenig bleiben. Spielen. Mir gefällt's. Und Bella bestimmt auch, oder?«

»Macht dieses Gejaule erträglicher«, brummte die und deutete auf die Lautsprecher.

»Witzig.« Charles gähnte.

»Mir gefällt's«, sagte Korbinian. »Die Musik da. Echt. Ich habe sowas noch nie gehört, aber … ich mag es.«

»Grausig ist das«, sagte die Alte. Höhnisch. Und dann kapierte Korbinian etwas, das ihn schon die ganze Zeit unbewusst beschäftigt hatte. Diese Stimme aus der Hölle …

»Das bist du, oder?« Er deutete auf Charles. »Du bist der Sänger. Ich hab deine Stimme nicht erkannt, weil die so anders ist, aber … krass.«

»Das bin ich.« Charles verneigte sich und Korbinian stockte der Atem. Hammer! »Schön, dass es dir gefällt.«

»Total!« Korbinian strahlte. »Du, ich meine … wow. Ist das deine Band? Und die Gitarre, bist das auch du?«

Charles wollte etwas sagen, aber Bella unterbrach ihn.

»Das ist seine Ex-Band. Sie haben sich aufgelöst. Wie immer.«

»Na und?«, knurrte Charles. »Bands lösen sich halt auf, das ist ganz normal.«

»Die meisten schaffen mehr als ein paar Wochen«, sagte Bella.

»Wir sind nicht die meisten.« Charles schien leicht verstimmt. »Und es war 'ne gute Zeit, aber … dann hat es halt nicht mehr gepasst.«

»Nicht mehr gepasst. Da habe ich aber eine andere Version gehört.«

»Blödsinn.« Charles' Blick flackerte zu Korbinian hinüber und er verstand gar nichts mehr.

»Echt? Es lag also nicht an deinen«, sie machte eine flatternde Handbewegung, »romantischen Verwicklungen? Oder an denen von deinem besten Freund? Du weißt schon, der, der alles pudert, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist? Der, mit dem du aus allen Bands fliegst?«

Charles verdrehte die Augen.

»Meistens fliegen wir wegen ihm raus. Ich bin ganz harmlos.«

Die Alte lachte dröhnend.

»Sicher. Kam letztens nicht dieser Kerl vorbei und wollte alles kurz und klein schlagen, weil du seine Freundin gepimpert hast?«

»Ich wusste nicht, dass sie seine Freundin war. Ich wusste nicht mal, dass sie überhaupt einen Freund hatte.« Zwischen Charles' Augenbrauen erschien eine Falte. »Und die mochte mich halt. Ich konnte nichts dafür.«

Eine kalte Klaue packte Korbinians Herz. Er kapierte nicht, warum. Aber natürlich hatte einer wie Charles … Sex. Affären. Der konnte sich vor Angeboten bestimmt kaum retten, attraktiv und selbstbewusst, wie er war. Korbinian wäre schon vollkommen glücklich damit gewesen, mal jemanden zu küssen. Irgendwann …

Irritiert merkte er, dass er auf Charles' Lippen sah. Starrte. Er schaute schnell zu Boden und spürte, dass seine Wangen heiß wurden. Hoffentlich hatte das niemand gemerkt …

»B-bist du jetzt in einer neuen Band?«, fragte er.

»Noch nicht.« Charles wiegte den Kopf. »Bald hoffentlich. Ich treff heute Abend jemanden, der 'nen Gitarristen sucht. Was ist mit dir?«

»Mit … mir?«

»Ja, bist du auf der Suche? Willst du in eine Band?«

»Ich?!« Wie konnte Charles … Hatte der Korbinian nicht angeschaut? So, wie er aussah, konnte er auf keinen Fall … Und überhaupt, allein der Gedanke, auf eine Bühne zu treten, verursachte ihm Übelkeit. »Nein, das … kann ich nicht. Glaub ich. Nein.«

»Schade.« Charles zuckte mit den Achseln. »Du bist gut.«

Korbinian wusste, dass er knallrot anlief. Er spürte die Hitze in seinen Wangen prickeln.

»D-d-danke«, brachte er heraus. »Aber ich weiß eh nichts darüber und … ich war noch nie auf einem Konzert.«

»Nicht?« Begeisterung erhellte Charles' Züge. Seltsam. »Willst du? Morgen Abend spielen Orkus Orbus und deren Gitarrist hat eh einen Stil, der ein bisschen wie deiner ist … Komm doch mit.«

Korbinian hätte nicht entsetzter sein können, wenn Charles ihm vorgeschlagen hätte, mit auf die Drachenjagd zu gehen.

»Ich?«

»Wer sonst?«

»Äh.« Korbinian sah an sich herunter. Ja, er trug immer noch die Jacke, die seine Mutter ausgesucht hatte und orthopädische Schuhe. »Ich … seh nicht richtig aus.«

»Ist doch egal, wie du aussiehst«, sagte Charles. Bella warf ihm einen Blick zu, den Korbinian nicht deuten konnte.

»Aber … Danke, aber ich würd mich da nicht wohl fühlen, glaub ich«, stotterte Korbinian.

»Weil du meinst, dass du nicht richtig angezogen bist?«

Er nickte, mit heißen Wangen. Nicht nur deshalb, dachte er. Auch wegen ungefähr tausend anderen Dingen. Charles kratzte sich am Kinn.

»Hast du hundert Euro?«

»J-ja.« Schließlich war vor kurzem erst Weihnachten gewesen. Selbst nach Cherrys Reparatur war noch Geld übrig.

»Perfekt.« Charles fuhr sich durch die Haare. »Wann hast du heute Zeit?«

»Äh, ich …« Was? »Ich treff meine Schwester um eins, an ihrer Uni, also, so um … halb drei. Was willst du …«

»Wir besorgen dir was Passendes«, sagte Charles. »Ist das die Uni Stuttgart? Ich hol dich ab. Muss heute eh nur halbtags arbeiten.«

»O…kay.«

Wilde Freude summte in Korbinian, plötzlich, wie ein Vogelschwarm, der aus dem Nichts auftauchte. Er wollte … Charles wollte ihm helfen? Und mit ihm auf ein Konzert und … Er brachte kaum die Lippen auseinander, um sich zu bedanken. Sie tauschten ihre Nummern aus (er hatte Charles' Nummer!).

Dann packte er Cherry und schwebte praktisch aus dem Laden, nicht, ohne vorher an der Kasse bezahlt zu haben. Irgendwie war das Mädchen dort heute freundlicher. War die ganze Welt freundlicher. War …

 

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Mina ihn, sobald sie in der lärmenden Unimensa Platz nahmen. Essensdüfte vermischten sich mit dem Geruch von schmutzigen Winterstiefeln. Sie saßen inmitten einer lautstarken Menschenmenge auf Plastikstühlen und aßen Tortellini von Plastiktabletts. Immerhin die Teller waren echt. Die Tortellini auch. Ganz gut eigentlich … Oh, Mina hatte etwas gefragt.

»Nichts.« Er lächelte. »War nur ein schöner Morgen. Ich habe jemanden getroffen.«

Minas Augen wurden groß.

»Du hast was? Du …« Sie stockte. »Ein Mädchen etwa?«

»Was? Nein!« Er zuckte zusammen. Sah sich panisch um, aber niemand schien sich für ihn zu interessieren. »Einen Jungen. Mann. Der spielt auch Gitarre und … der will mich nachher treffen und morgen gehen wir auf ein Konzert.«

Minas Kopf legte sich langsam seitwärts. Ihre glatten Haare flossen über ihren hellen Pullover.

»Ist das ein Date oder so?«, fragte sie und Korbinian hätte sich fast verschluckt.

»Nein! Ich … äh. Ich glaube nicht?« Scheiße. An die Möglichkeit hatte er nicht mal gedacht. Er hatte sich nur gefreut, dass Charles etwas mit ihm machen wollte, egal, was. »Ich hoffe nicht? Er … Der war nur so nett und … ich …«

»Was ist das für ein Typ?« Die Augen seiner Schwester wurden schmal. »Kann man dem vertrauen? Woher kennst du den?«

»Aus dem Gitarrenladen. Er hat Che… meine Gitarre repariert.« Korbinian warf einen liebevollen Blick auf den schwarzen Kasten, der auf dem Stuhl neben ihm lag. »Er ist … total cool. Und nett. Er hat mich überhaupt nicht verarscht.«

»Das ist nicht nett, das ist selbstverständlich«, knurrte Mina. »Warum denkst du immer, dass du verarscht wirst?«

»Weil das dauernd passiert«, murmelte er. Sofort fühlte er sich wieder wie ein Versager. Zuletzt war eine Gruppe Zwölfjähriger neben ihm hergelaufen und hatte ihn als Loser und Jungfrau beschimpft.

»Das würde nicht passieren, wenn du dich ein bisschen aufrechter halten würdest.« Mina seufzte. »Und nicht immer so schauen würdest, als würdest du dich vor deinem eigenen Schatten fürchten. Mensch, Nian, gib dir doch mal ein bisschen Mühe …«

»Ich versuch's«, flüsterte er und machte sich so klein er konnte. Seltsam. Vorhin, im Laden hatte er sich gut gefühlt. Als wäre … Als wäre es okay, er zu sein, so trottelig, schüchtern und jungfräulich, wie er war. Selbst seine komischen Klamotten schienen Charles nicht zu stören.

»Nian, du musst mich nachher anrufen, ja?« Mina sah ihn durchdringend an. »Nur, falls was passiert. Es ist gefährlich, einfach so fremde Männer zu …«

»Mina!«, rief ein Kerl hinter Korbinian. Schon hatte er sich neben ihn gesetzt, zum Glück nicht auf Cherrys Kasten. »Wie läuft's? Hast du VFL schon nachgeholt?«

»Klar.« Mina lächelte entzückend. Oh, der dunkelhaarige Mann sah gut aus. Ohne Korbinian weiter zu beachten, verwickelte er Mina in ein Gespräch über … ihr Studium. Mehr verstand Korbinian davon nicht. Sie warfen mit Fachbegriffen um sich und seine Gedanken schweiften ab.

Das mit Charles … Das war kein Date, oder? Nein. Nein, ganz bestimmt nicht. Bella hatte was von einem Mädchen erzählt, mit dem Charles geschlafen hatte …

Aber was, wenn der bi war? Wie … wäre es, ein Date mit Charles zu haben? Allein der Gedanke verursachte ihm einen halben Herzinfarkt. Wenn der ihn küssen wollte? Oder gar …

Äh.

Irgendwie gefiel ihm der Gedanke.

Sein ganzer Körper wurde ungefähr hundert Grad heißer. Und tausend Prozent kribbliger. Mindestens. Wenn Charles … Wie es sich wohl anfühlen würde, ihn zu küssen? Wie weich waren diese Lippen, die so nett lächeln konnten?

Korbinian zuckte zusammen. Konnte man ihm seine Gedanken ansehen? Hektisch schaute er sich um. Immer noch beachtete ihn niemand. Wie immer. Gut.

Nur langsam beruhigte sich sein Atem. Eine Viertelstunde später, als Mina ihn wieder bemerkte, hatte er sich endlich normalisiert.

 

»Wo triffst du diesen Kerl denn?«, fragte Mina, als sie aus der Mensa traten. Eiskalter Wind schlug ihnen entgegen. Die stickigen Essensdüfte wurden durch dünne Stadtluft ersetzt.

»Hier«, sagte Korbinian. »Er wollte mich abholen …«

Da war er auch schon. Zwischen vorbeihastenden Studenten und Studentinnen stand Charles auf einem runden Betonblock, der im Sommer wohl als Sitzgelegenheit diente. Viele Studentinnen warfen ihm bewundernde Blicke zu. Er wirkte anders als die meisten. Selbstsicherer und gefährlicher, wie ein Raubtier in einer Herde Gnus. Elegant sprang er von dem Block und marschierte auf Mina und Korbinian zu.

»Kor!«, rief er und grinste. Graue Augen blitzten hinter blonden Haarsträhnen und Korbinians Herz setzte einen Schlag aus.

Nein, dachte er. Das kann kein Date sein. So viel Glück habe ich einfach nie.

»Hallo, Charles«, sagte er.

Mina starrte Charles mit offenem Mund an. Der nickte ihr zu.

»Hi«, sagte er. Sie schwieg weiter. Und als sie sprach, redete sie mit Korbinian.

»Das ist dein Kumpel?«, fragte sie.

»Ja. Das ist Charles.« Korbinians Stimme war voll Stolz. »Charles, das ist meine Schwester Mina. Sie studiert hier. Charles hat meine Gitarre repariert.«

»Das … weiß ich.« Verschiedene Gesichtsausdrücke huschten über Minas Gesicht, so schnell, dass Korbinian sie nicht deuten konnte. »Na dann, äh … Viel Spaß euch beiden. Ich muss los. Nian, du passt auf dich auf, klar?«

»Klar.«

Sie drückte Korbinian, behielt Charles aber immer im Auge. Der beobachtete sie interessiert. Oh nein. Was, wenn Charles Mina mochte? Lieber als Korbinian? Alle mochten Mina lieber als Korbinian, weil sie viel hübscher, klüger und lustiger war.

 

Als er Seite an Seite mit Charles losging, versuchte er, den Gedanken zu verdrängen. Sie mussten seltsam aussehen, zu zweit. Gar nicht, als würden sie zusammenpassen …

»War das deine große Schwester?«, fragte Charles. Jetzt, wo er sich bewegte, sahen ihn noch mehr Leute an. Bewundernd. Oder bildete Korbinian sich das nur ein?

»Ja«, sagte er. »Sie ist ein Jahr älter. Ich weiß, das sieht nach mehr aus.«

Ein leichtes Lächeln erschien auf Charles' Lippen und sofort zuckte ein verbotenes Bild durch Korbinians Kopf. Was, wenn er ihn wirklich küssen wollte?

»Wirkt fast, als wäre sie deine Mutter. Als wollte sie auf dich aufpassen.«

»Was?«

»Na, sie hat mich so angeschaut … als ob sie dich verteidigen müsste.«

»Meinst du?« Korbinian sah ihn fragend an.

»Ja.«

»Das …« Das kommt daher, dass ich keine Freunde habe und schon gar keine wie dich und sie sich fragt, was du von mir willst, wollte er sagen. Tat er aber nicht. Er fürchtete sich vor dem, was Charles davon halten würde.

»Wo gehen wir hin?«, fragte er stattdessen.

»Zu einem Freund. Ins Mephistos

»Wohin?«

»Den Laden, in dem ich meine Klamotten kaufe«, sagte Charles leichthin. »Ich krieg da Rabatt.«

»Oh. Oh, gut.« Rabatt, das würde seiner Mutter gefallen, wenn er … Würde er wirklich mit einer neuen Garderobe heimkommen? Was würden seine Eltern dazu sagen? Aber daran wollte er gerade nicht denken. Außerdem war er erwachsen. Und … Nun, Charles würde sich bestimmt bald mit ihm langweilen, also musste er die Zeit nutzen.

»Kann ich dich was fragen?«

»Klar, was denn?« Felsgraue Augen betrachteten ihn. Schritte hallten dumpf über den Asphalt.

»Heißt du wirklich Charles?«, platzte Korbinian heraus. »Oder ist das ein Spitzname?«

»Ne, so heiße ich wirklich.« Ein Schatten flog über Charles' Gesicht. Oder bildete er sich das ein? »Meine Mutter kommt aus England.«

»Oh. Ach so.«

»Was hast du denn gedacht?«

»Äh …« Korbinian kratzte sich mit der linken Hand an der Nase. »Dass du in Wahrheit Karl heißt oder so.«

Charles lachte, voll und dröhnend. Passanten sahen sich nach ihm um. So lustig war das doch gar nicht gewesen, oder? Aber Korbinian mochte dieses Lachen. Er mochte es auch, Seite an Seite mit Charles durch die grauen Straßen zwischen den noch graueren Hochhäusern zu schlendern. Der Großteil des Schnees war schon weggeschmolzen und es sah ziemlich trostlos aus.

»Ne, zum Glück ist das mein richtiger Name.« Charles schüttelte den Kopf.

»Ja, das ist wohl besser als Karl«, murmelte Korbinian in seinen Kragen. Hm. »Kann ich dich noch was fragen?«

»Okay, wenn ich danach dich was fragen kann.« Charles schenkte ihm ein Lächeln, das ihm den Atem verschlug. Er … Nein, das konnte kein Date sein. Bestimmt nicht. Aber er traute sich auch nicht, danach zu fragen. Stattdessen sagte er:

»Warum bist du so nett zu mir? Ich … also … Warum willst du, dass ich morgen mitkomme?«

Charles schaute ihn an. Etwas flackerte in seinem Blick, aber Korbinian war heute furchtbar darin, Leute zu lesen. Eigentlich war er das immer.

»Das klingt bestimmt komisch«, sagte Charles schließlich. Er wirkte ernster. »Aber ich habe dich mit deiner Cherry gesehen und … ich versteh dich. Sie hat dich gerettet, oder?«

Korbinian starrte ihn an. Schluckte hart.

»Ja.« Ja, so könnte man das ausdrücken. »Ja. Ich …«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wie viel er von seinem traurigen Leben verraten sollte, dessen absoluter Höhepunkt es jeden Tag war, sich in seinem Zimmer einzuschließen und stundenlang zu spielen? Meistens mit Kopfhörern, weil der Sound seinen Vater in den Wahnsinn trieb.

»Was immer du denkst, ich kenn das«, sagte Charles.

»Meinst du?«, sagte Korbinian und dachte: Nein, tust du nicht. Du weißt nicht, wie sich das anfühlt, wenn man ein totaler Versager ist. Wenn alle ständig enttäuscht von dir sind.

Sie redeten über unverfängliche Dinge, während sie weiterliefen. Irgendwie fiel es ihm leicht, mit Charles zu reden. Vielleicht, weil er sonst niemanden kannte, der sich so für Musik interessierte wie er. Vielleicht, weil Charles' Lächeln ihm Sätze entlockte, von denen er selbst nicht gewusst hatte, dass sie in ihm steckten.

Charles erzählte von dem Konzert gestern, mit Worten, von denen Korbinian nicht jedes kannte, die aber toll klangen. Er mochte die Begeisterung in Charles' Blick. Seinen tigerhaften Gang und die Tatsache, dass sich bestimmt niemand trauen würde, Korbinian ein Weichei zu nennen, während er mit einem Kerl in einer Lederjacke und schweren Stiefeln unterwegs war.

Mephistos lag in einem riesigen Kellergewölbe. Nur wenig Licht drang hinein und die Beleuchtung war … ungewöhnlich. Ungewöhnlich rot. Man konnte kaum erkennen, welche Farben die Kampfstiefel, Lederjacken und unzähligen Bandshirts in den Regalen hatten. Na ja, vermutlich waren die schwarz.

Die Mädchen, an denen sie vorbeiliefen, hatten so bunte Haare, dass sie ihn an Einhörner erinnerten. Harte Musik dröhnte aus den Lautsprechern, so ähnliche wie eben in Bellas Laden.

»Ist das auch deine Ex-Band?«, fragte Korbinian Charles.

Der schüttelte grinsend den Kopf und Korbinian wusste, dass er etwas Blödes gesagt hatte. Aber da war keine Bosheit in Charles' Lächeln. Nur sanfter Spott und Unglaube.

Er leitete Korbinian an Kleiderständern und leuchtenden Totenköpfen vorbei, als wäre er sein Führer durch den Dschungel. Bis zur Kasse.