3Hans Joas

Die Macht des Heiligen

Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung

Suhrkamp

7Vorwort

Es ist eine gute Tradition, im Vorwort eines Buches kurz Auskunft zu geben über die Institutionen und Personen, die zu seinem Gelingen beigetragen haben, und auf diesem Wege ein wenig von der angehäuften Dankesschuld abzutragen. Auch einige Angaben zur Entstehungsgeschichte sind damit leicht zu verbinden und hoffentlich nützlich für ein besseres Verständnis des Buches.

Institutionell läßt sich der Ausgangspunkt für dieses Buch eindeutig identifizieren. Er liegt in den Vorlesungen, die ich im Sommersemester 2012 an der Universität Regensburg unter dem Titel »Sakralisierung und Säkularisierung« gehalten habe. Den Rahmen für diese Vorlesungen bot die Gastprofessur der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung, deren erster Inhaber ich war. Mein Dank gilt der Stiftung und der Fakultät für Katholische Theologie an der Universität Regensburg für die Einladung und den Kollegen Bernhard Laux und Erwin Dirscherl sowie Florian Schuller, dem Direktor der Katholischen Akademie in Bayern, für Gastfreundschaft und Betreuung während meines Aufenthalts. Einen der Vorträge hielt ich unmittelbar vor den Regensburger Vorlesungen auf Einladung des Leiters der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Heinrich Meier, in München. Ihm und dem Mitorganisator der dortigen Vortragsreihe über »Religion und Politik«, Friedrich Wilhelm Graf, gilt ebenfalls mein herzlicher Dank.

Eine weiterentwickelte Version der Vorlesungsreihe konnte ich, damals noch am FRIAS, dem Institute for Advanced Study der Universität Freiburg, tätig, im Herbst 2013 im Rahmen des Lehrprogramms der Theologischen Fakultät der Universität Ba8sel vortragen. Hier gilt mein Dank neben den Studierenden vor allem meinem Gastgeber, dem evangelischen Theologen Georg Pfleiderer. Einzelne Teile habe ich bei verschiedenen weiteren Gelegenheiten öffentlich vorgetragen. Deren Zahl ist aber zu groß, um sie hier im einzelnen aufzuführen. Ich nenne deshalb nur noch zwei weitere institutionelle Zusammenhänge, in denen ich jeweils mehrere Kapitel in vorläufiger Form vorstellen und erörtern durfte. Im Winter 2012 hatte ich die Gelegenheit dazu als William James Scholar an der Universität Potsdam dank einer Einladung von Logi Gunnarsson und Hans Peter Krüger vom dortigen Institut für Philosophie. Im März 2016 und im März 2017 schließlich folgte ich einer Einladung der Radboud-Universität Nijmegen in den Niederlanden zur Vorstellung des ganzen Gedankengangs im Rahmen von Seminaren, die die Thomas-More-Stiftung veranstaltete. Mein Dank gilt hier dem Direktor der Stiftung, Joost van der Net, und stellvertretend für alle weiteren Beteiligten Jean-Pierre Wils (Nijmegen).

Bei der Nennung meiner Regensburger Gastprofessur habe ich durchaus ein leichtes Zögern empfunden. Mir ist natürlich bewußt, daß im intellektuellen Leben in Deutschland, aber nicht allein dort, bei vielen große Skepsis herrscht gegenüber dem Christentum oder aller Religion, gegenüber der Wissenschaft Theologie, dem institutionellen Rahmen der Kirchen – insbesondere der katholischen – und dem Denken und Wirken von Papst Benedikt XVI. Mein Zögern entspringt der Sorge, daß manche die Lektüre des vorliegenden Buches bereits an dieser Stelle, im Vorwort also, abbrechen könnten oder doch zumindest allen folgenden Ausführungen nicht vorurteilsfrei gegenübertreten. Meine Angaben machen es leicht, dieses Buch, das sich sehr kritisch mit Max Webers Konzeption der Entzauberung auseinandersetzt und den Grundriß einer Alternative vorzulegen versucht, von vornherein auf religiöse Motive zurückzuführen und damit abzustempeln. Auch aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen und in den ersten Kapiteln das Verhältnis zwischen der wis9senschaftlichen Beschäftigung mit Religion und dem religiösen Glauben grundsätzlich und ausführlich zu erörtern.

Der Zusammenhang dieses Buches mit einigen meiner vorausgehenden Publikationen ist eng und offensichtlich. In dem Buch Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums von 2012 habe ich mich unter anderem mit einer Kritik der sogenannten Säkularisierungstheorie und mit den Konsequenzen einer solchen Kritik für unser Verständnis von Moderne und Modernisierung beschäftigt. Dabei leugnet meine Kritik in keiner Weise die Phänomene von Säkularisierung; sie stellt allerdings deren historische Notwendigkeit oder Unvermeidlichkeit radikal in Frage. Mein Buch Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte von 2011 zielte im Gegenzug auf eine seit dem späten achtzehnten Jahrhundert an Stärke gewinnende Sakralisierung – die der »Person«, wie sie in der Geschichte der Menschenrechte erkennbar wird. In weiteren Arbeiten, vor allem zur sogenannten Achsenzeit, die in das fünfte Kapitel dieses Buches eingegangen sind, habe ich mich mit einer fundamentalen historischen Transformation im Charakter des Sakralen auseinandergesetzt. Auf diesen Grundlagen fühlte ich mich herausgefordert, aber auch gerüstet zur Auseinandersetzung mit den einschlägigen, außerordentlich einflußreichen Vorstellungen Max Webers über die religionsgeschichtliche Vorbereitung von Säkularisierung und moderner Rationalisierung. Dabei stelle ich mich in meinem Vorgehen auf die Schultern der großen Denker des amerikanischen Pragmatismus, des Begründers der französischen Soziologie Émile Durkheim und von Webers langjährigem Freund und Rivalen Ernst Troeltsch. Näher an unserer Gegenwart liegen die Einflüsse von drei bedeutenden, zutiefst von Max Weber geprägten, aber in ihren konkreten Darstellungen und Schlußfolgerungen oft weit von ihm abweichenden Soziologen auf mich: Robert Bellah, Shmuel Eisenstadt und David Martin. Ihnen fühle ich mich eng verbunden und zu Dank verpflichtet. Auch meine seit Jahrzehnten anhaltende Auseinandersetzung mit den Schriften Charles Tay10lors ist in diesem Buch erneut zu spüren, wenngleich ich in Hinsicht auf die Entzauberungskonzeption von ihm deutlich abweiche.

Ganz besonderen Dank schulde ich den Freunden und Kollegen, die mir zum ganzen Manuskript oder zu Teilen von ihm wertvolle Hinweise gegeben haben. Es handelt sich um den Theologen (und früheren evangelischen Bischof) Wolfgang Huber (Berlin), den Philosophen Matthias Jung (Koblenz) und den Soziologen Wolfgang Knöbl (Hamburg). Der Weber-Experte Johannes Weiß (Kassel) hat die auf Weber bezogenen Teile der Kapitel 4 und 6 gelesen und hilfreich kommentiert. Der Philosoph Dieter Thomä (St. Gallen) gab vor Jahren einen Anstoß, der für Kapitel 6 wichtig wurde; er meinte nämlich, daß meine im Buch Die Entstehung der Werte von 1997 vorgelegte Theorie geradezu danach rufe, zur Folie einer neuen Deutung von Max Webers »Zwischenbetrachtung« gemacht zu werden. Für diese Anregung und die kritische Lektüre meines entsprechenden Versuchs bin ich ihm sehr dankbar. In der Schlußphase der Arbeit bot mir das südafrikanische Institute for Advanced Study (STIAS) in Stellenbosch erneut wie schon einmal 2011 ausgezeichnete Arbeitsbedingungen; auch dafür an dieser Stelle meinen Dank. Seit 2014 wird meine Arbeit durch die Porticus-Stiftung, seit 1. Januar 2016 zudem durch die Mittel des Max-Planck-Forschungspreises großzügig unterstützt, was ich an dieser Stelle dankend hervorheben will. Meiner Mitarbeiterin Mechthild Bock danke ich für die stets zuverlässige und sorgfältige Erledigung aller anfallenden Arbeiten, Eva Gilmer vom Suhrkamp Verlag für die hervorragende Lektorierung und Christian Scherer – wie oft schon in der Vergangenheit – für vorzügliche Unterstützung beim Korrekturlesen und die Anfertigung der Register.

Schließlich gilt mein Dank meiner Frau Heidrun, mit der das Leben in Freud und Leid gemeinsam verbringen zu dürfen die größte aller Gaben ist.

Berlin, April 2017

11Einleitung

Dieses Buch stellt einen Versuch dar, einen der Schlüsselbegriffe des Selbstverständnisses der Moderne zu entzaubern: den der Entzauberung. Dieser Begriff ist, wie sich zeigen wird, von einer tiefen Mehrdeutigkeit, welche auch noch den Gegenbegriffen wie Verzauberung und Wiederverzauberung anhaftet, die seit seiner Prägung zusätzlich in Umlauf geraten sind. Solche Mehrdeutigkeit kann zu Verwirrungen führen und hat in diesem Fall in der Tat vielfach zu solchen geführt. Sie kann auch, da sie ja mit dem Begriff unerkannt transportiert wird, ein Mittel zur Herstellung einer falschen Eindeutigkeit sein. Für die Geschichte von einem sich über Jahrtausende erstreckenden fortschreitenden Prozeß der Entzauberung trifft dies zu; sie kann, wenn meine Argumentation zutrifft, heute nicht einfach fortgeschrieben werden. Wir brauchen deshalb eine Alternative zu ihr oder vielleicht mehrere – neue Narrative der Religionsgeschichte in ihrer Verknüpfung mit der Geschichte der Macht, die an die Stelle des Entzauberungsnarrativs treten können.

Mit dem Namen keines anderen Denkers und Wissenschaftlers ist der Begriff der Entzauberung so eng verbunden wie mit dem Max Webers. In einem strategisch zentralen Teil dieses Buches werde ich mich mit seiner Verwendung dieses Begriffs und ihrer Problematik ausführlich und textnah auseinandersetzen. Für die Skizzierung einer Alternative genügt eine kritische Auseinandersetzung mit Weber aber keineswegs. Für sie sind neben vielfältigen empirischen Befunden auch andere denkerische Versuche der Vergangenheit als der Max Webers heranzuziehen. Bei allem Übergewicht der Narrative von Säkularisierung und Entzauberung – die natürlich nicht miteinander gleichge12setzt werden dürfen, aber auch nicht völlig unabhängig voneinander sind – blieben diese nie ohne Widerspruch und Gegnerschaft. An die berechtigten Motive in den Äußerungen dieser Denker muß deshalb heute anknüpfen, wer eine solche Alternative zusammenhängend entwickeln will.

Das ist auch deshalb nötig, weil eine Kritik an Weber in diesem Punkt, zumindest meiner persönlichen Erfahrung nach, nur allzu leicht auf unterstellte religiöse Motive des Kritikers zurückgeführt wird. Weber erscheint dann als der Inbegriff eines nüchternen und illusionslosen Denkers, dem nur die widersprechen, die eben nicht zum selben Maß an Nüchternheit und heroischer Illusionslosigkeit imstande sind. Ihre hilflosen oder schwärmerischen Versuche fallen, so gesehen, immer nur auf sie selbst zurück. Aber stehen sich hier wirklich Wissenschaft und Glaube, Realitätstüchtigkeit und Illusionismus, Rationalität und Bereitschaft zum Opfer des Intellekts gegenüber? Oder spielen auch auf der Seite Webers und anderer Vertreter der Geschichte von der Entzauberung spezifische religiöse oder antireligiöse Motive eine wichtige Rolle? Können Narrative solcher Größenordnung einfach von den Tatsachen abgelesen und an diesen eindeutig bestätigt oder widerlegt werden? Hätte Max Weber selbst sich jemals so verteidigt? Inwiefern gibt es überhaupt die Möglichkeit einer Wissenschaft von der Religion, wenn unbestreitbar sein sollte, daß religiöse oder antireligiöse Motive in ihr notwendig eine konstitutive Rolle spielen?

Um dieser Fragen willen und um zugleich dem Potential geistesgeschichtlicher Anregungen für eine mögliche Alternative zur Geschichte von der Entzauberung gerecht zu werden, setzt dieses Buch sehr grundsätzlich an. Die ersten drei Kapitel beschäftigen sich auf den Gebieten dreier Disziplinen mit den Problemen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion überhaupt. Im ersten Kapitel geht es um die Geschichtswissenschaft, im zweiten um die Psychologie und im dritten um die Soziologie. Um enzyklopädische Ansprüche zu umgehen, beschränken sich alle drei Kapitel im wesentlichen auf je eine in13tellektuelle Konstellation, die mir im Rückblick auf die Wissenschaftsgeschichte besonders instruktiv zu sein scheint. Konkret geht es zunächst um den frühesten dieser Fälle, nämlich den Versuch des großen schottischen Philosophen und Historikers David Hume in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, eine von allen theologischen Vorannahmen absehende, empirisch fundierte Universalgeschichte der Religion zu konzipieren. Dann wird das unbestritten klassische Gründungsdokument einer empirischen Religionspsychologie zum Thema, die bis heute in vielen Hinsichten inspirierende reichhaltige Phänomenologie individueller religiöser Erfahrungen, die der amerikanische pragmatistische Philosoph und Psychologe William James in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vorgelegt hat. Für die Entstehung einer spezifisch soziologischen (und auch ethnologisch-anthropologischen) Religionsforschung ist die Lage, was die zu erörternde Konstellation betrifft, nicht ganz so eindeutig wie in den beiden anderen Fällen. Ich habe mich für den vornehmlich in Frankreich geführten Diskurs über die Bedeutung kollektiver Rituale entschieden, der von dem Historiker Numa Denis Fustel de Coulanges zu seinem Studenten, dem Klassiker der französischen Soziologie, Émile Durkheim, und dessen für die Religionssoziologie zentralem Meisterwerk von 1912 zur Religion australischer Aborigines und nordamerikanischer Indianer führt.

Es versteht sich von selbst, daß damit alle drei behandelten Fälle den Gründungsphasen moderner wissenschaftlicher Disziplinen entstammen und noch keine fest etablierten Abgrenzungen der Disziplinen voneinander zu erwarten sind. David Humes Programm für eine Geschichtsschreibung etwa beruht stark auf einer (bestimmten) psychologischen Theorie. Um disziplinhistorische Fragen, auch die der Herausbildung eines eigenständigen Faches namens Religionswissenschaft oder Comparative Religion, geht es im Folgenden nicht eigentlich. Es geht vielmehr um drei exemplarische Fälle, an denen sich die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit wissenschaftlicher Aussa14gen über Religion in sehr verschiedenen Kontexten erörtern läßt und zugleich Elemente einer umfassenderen Theorie gesammelt werden können. Für diese beiden Zwecke ist es nötig, über den jeweils zentralen Autor und sein Werk hinauszugehen und implizite oder explizite Gegner, Vorläufer und Nachfolger wenigstens ansatzweise in den Blick zu nehmen; aus diesem Grund habe ich von »Konstellationen« gesprochen. Im Fall der Geschichtswissenschaft gehe ich deshalb auch auf die Rezeption Humes bei Johann Gottfried Herder ein, da dieser als Christ in höchst aufschlußreicher Weise an das religionsskeptisch motivierte Projekt Humes produktiv anknüpfte und es weitertrieb. Im Fall der Psychologie ist von William James aus sowohl zurück wie nach vorne zu blicken. Zurückzublicken ist, weil in theologischen Kreisen die methodische Innovation von James gerne einhundert Jahre früher datiert und Friedrich Schleiermachers Reden über die Religion »an die Gebildeten unter ihren Verächtern« aus dem Jahr 1799 zugeschrieben wird. Nach vorne zu blicken ist, weil James' Psychologie schon von den Zeitgenossen als einseitig und mangelhaft in Hinsicht auf die Deutung intensivster menschlicher Erfahrungen durch die Subjekte selbst empfunden wurde. Ein Kollege und Freund von James an der Harvard University, der in Europa bis heute fast unbekannte Philosoph Josiah Royce, unternahm in seinem Spätwerk einen im Rückblick geradezu sensationell erscheinenden Versuch, diese Mängel mit Mitteln einer Theorie der Zeichen, der Semiotik also, zu überwinden. Im dritten Fall, der Soziologie, geht es ohnehin um die schrittweise Entwicklung eines methodischen Ansatzes in einem neu entstehenden Fach. Ich stelle diesen Ansatz in einer Weise vor, die sich von der konventionellen Deutung Durkheims weit entfernt; der Ansatz wird zudem durch den Vergleich mit späteren Versuchen der Ritualtheorie in seiner unüberholten Bedeutung für eine Anthropologie der Idealbildung profiliert.

Aus diesen drei Kapiteln soll ein erstes Bild erwachsen, das Religion auf historisch situierte menschliche Erfahrungen von 15etwas, das als heilig empfunden wird, zurückführt – Erfahrungen, die wir nur dann richtig verstehen, wenn wir sie in einer semiotisch transformierten Psychologie des Selbst verankern, in Praktiken verkörpert denken und nicht individualistisch verengen. An dieser Stelle kann diese verdichtete Formel zwar noch nicht voll verständlich sein. Der Vorgriff auf sie signalisiert aber schon, daß sich bereits früh Alternativen zu den Denkformen einer naturalistischen Religionskritik herausgebildet haben und die Geschichte dieser Kritik in Wechselwirkung steht mit anderen Denkformen, die der Wissenschaft und der Religion zugleich gerecht zu werden versuchen.

Erst im vierten Kapitel wende ich mich dann Max Weber und der Geschichte von der Entzauberung zu, aber auch in diesem Kapitel geht es nicht nur darum. Nachdem sich nämlich die Wissenschaften von der Religion in historischer, psychologischer und soziologisch-ethnologischer Forschung durch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch breit entwickelt und eine große Fülle von Wissen zur Verfügung gestellt hatten, mußte auch das Bedürfnis zunehmen, dieses akkumulierte, aber auch fragmentierte Wissen neu zusammenzufügen, und dies sowohl in historischer wie in zeitdiagnostischer Hinsicht. Ich behaupte, daß die beiden kraftvollsten solchen Syntheseversuche von zwei Gelehrten vorgenommen wurden, die in engstem intellektuellen Austausch miteinander standen, ja sogar einige entscheidende Jahre lang im selben Haus in Heidelberg wohnten: Max Weber und Ernst Troeltsch. Für beide gilt, daß ihre genialischen Syntheseversuche die Dynamiken der Religionsgeschichte einbetten in eine umfassendere, selbst differenziert reflektierte Geschichte politischer, wirtschaftlicher, sozialer und militärischer Entwicklungen. Für diese umfassendere Geschichte verwende ich in diesem Buch das Kürzel einer Geschichte der Macht, angelehnt an Michael Manns mehrbändige soziologische Universalgeschichte am Leitfaden von vier Quellen sozialer Macht.[1] 16Während heute von vielen diese beiden Gelehrten (Weber und Troeltsch) in jeder Hinsicht sehr nahe aneinandergerückt werden, sehe ich unter dem Gesichtspunkt der Religionsgeschichte und noch mehr dem einer religionsbezogenen Zeitdiagnose und Zukunftserwartung gravierende Differenzen zwischen ihnen. Man kann von zwei alternativen Synthesen sprechen. Bevor auf Weber eingegangen wird, soll deshalb anhand von Troeltschs historischer Soziologie des Christentums ein Geschichtsbild entwickelt werden, das vom empirischen Faktum der Neuentstehung von Idealen aus die Geschichte des Christentums als Wechsel von Sakralisierungs- und Entsakralisierungsprozessen darstellt und Charakter und Gegenstand dieser Prozesse wesentlich aus der Geschichte des Staates heraus erklärt. Damit – und mit den in den ersten drei Kapiteln gesammelten Elementen – ist dann auch eine Folie gegeben, von der sich die Besonderheiten von Webers Gedankengängen abheben und durch die sie sich kritisch beurteilen lassen.

Sowohl in Max Webers universalgeschichtlich angelegter und theologisch wohlinformierter Soziologie wie in Ernst Troeltschs historischer Theologie, die sich zunehmend um psychologische und soziologische Fundamente bemühte, konnte es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts so aussehen, als kämen religiös-theologische und säkular-wissenschaftliche Betrachtungsweisen in fruchtbarsten Austausch. Dies änderte sich jedoch bald wieder, und insofern fanden die Impulse von Weber und Troeltsch nicht den Nachhall, den sie verdienen. Zwar ist Max Weber zum unbestritten größten Klassiker der Soziologie aufgestiegen; mit der zunehmenden Abwendung dieses Faches von der Geschichte aber tat sich eine Kluft auf zwischen dem 17hohen Respekt vor Weber und der Zahl der Arbeiten, die tatsächlich ein ähnliches Programm verfolgten. Eine Erklärung für diesen Sachverhalt entwickle ich im sechsten Kapitel. Durch die zahlreichen Arbeiten, die sich eng an Webers Forschungen anlehnen, ohne den seither veränderten Forschungsstand hinreichend zu berücksichtigen, oder die gar seine Behauptungen schlicht kanonisieren, wird diese Kluft im übrigen nicht ernsthaft überbrückt. Noch krasser ist die Situation, was Ernst Troeltsch betrifft. Als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg kam es in der deutschen protestantischen Theologie zu einer weitgehenden, später noch verstärkten Umorientierung, für die der Begriff »antihistoristische Revolution«[2] in Umlauf geraten ist. Damit wurde die Weiterarbeit an Troeltschs Programm in seiner Mutterdisziplin erschwert und außerhalb dieser unterlassen, weil sich der nur oberflächlich plausible Eindruck festsetzte, man habe es bei ihm mit einer bloßen inkonsequenten Variante von Max Webers scharf konturiertem Programm zu tun.

Dies ist hier zu erwähnen, weil die argumentative Stellung 18des folgenden (fünften) Kapitels von einem Verständnis dieser komplizierten Lage abhängt. Durch die genannte Entwicklung konnte sich ein Bedenken verstärken, das viele religiöse Denker schon vorher gehabt hatten. Es lautet, daß empirische Forschung historischer, psychologischer und soziologisch-ethnologischer Art zwar am Platze sei, wo es um »primitive« oder »archaische« Religionen gehe, aber zum Verständnis der auf wirklicher göttlicher Offenbarung beruhenden, wahren Religion – der jüdischen oder christlichen – nichts beizutragen habe. Für viele säkulare Denker ist ein solcher Einwand selbstverständlich absurd; die scharfe Grenze zwischen Offenbarungsreligionen und anderen wird von ihnen häufig gar nicht gezogen, da die Vorstellung einer göttlichen Offenbarung für sie nicht qualitativ von den »Illusionen« anderer Religionen differiert. Bei Troeltsch und Weber (und einigen anderen) war das anders gewesen; mit einem Konzept wie dem der »Erlösungsreligionen« versuchten sie, dem tiefreichenden empirischen Unterschied zwischen diesen und anderen Religionen gerecht zu werden. Meine Behauptung lautet nun, daß sich aus ganz verschiedenen religiösen oder antireligiösen Motiven heraus im zwanzigsten Jahrhundert ein Diskurs zu genau dieser Frage entwickelt hat, und zwar unter dem Stichwort »Achsenzeit«. Dieser Diskurs behandelt die Frage, wann und wo in der Geschichte der Menschheit unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen sich eine fundamentale Transformation im Verständnis des Heiligen abspielte, als deren Resultat im Zusammenhang mit einer grundsätzlichen Steigerung von Reflexivität ein Begriff von Transzendenz entstand im Sinne einer tiefen Kluft zu allem Irdischen. Entscheidend für diese fundamentale Transformation sind die politisch-sozialen Konsequenzen einer Desakralisierung der Strukturen politischer Macht und sozialer Ungleichheit. Das fünfte Kapitel stellt die Vielzahl solcher Denkversuche dar, faßt den empirischen Wissensstand auf diesem Gebiet zusammen und entwickelt daraus einen Begriff der Transzendenz als reflexiv gewordener Sakralität. Diese Überlegungen liefern zu19dem eine weitere wichtige Komponente für eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung.

Schon mit dem knappen Verweis auf entsakralisierende Wirkungen einer moralisch anspruchsvoll gewordenen Religion kommt ein Bruch mit allen Vorstellungen von einem linearen Verlauf der Geschichte zur Sprache. Teils von Max Weber, teils von Émile Durkheim ausgehend, manchmal freilich um deren eigentliche Gedankenführung recht unbesorgt, sind viele Zeitdiagnosen aber genau von der Unterstellung solcher Verläufe geprägt. Das sechste Kapitel geht auf die drei einflußreichsten solcher »gefährlichen Prozeßbegriffe« ein: den Max Weber entlehnten Begriff der Rationalisierung, den an Herbert Spencer, Georg Simmel und Émile Durkheim angelehnten Begriff fortschreitender funktionaler Differenzierung und den heute alles dominierenden Begriff der Modernisierung, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA aufkam. Die Reflexion auf die meist unreflektierten Konsequenzen der Verwendung dieser Begriffe ermöglicht eine Neuinterpretation von Webers berühmter »Zwischenbetrachtung«, die diese von der Tradition einer differenzierungstheoretischen Lesart befreit. Es zeigt sich, daß Weber von einer Vielzahl fundamental unterschiedlicher Spannungsverhältnisse spricht, die sich nicht auf die Nenner »Rationalisierung« und »Differenzierung« bringen lassen. Damit wird endgültig das Feld frei für die Skizzierung einer Alternative zur Geschichte von der Entzauberung.

Diese Skizze liefert das siebte Kapitel. Es setzt noch einmal elementar an und führt die zentralen Gedanken einer Theorie des Heiligen beziehungsweise der Sakralisierungsprozesse, die ich in anderen Büchern vorgelegt habe, kurz zusammenhängend an, fügt diesen aber noch einen weiteren hinzu: den der Selbstsakralisierung als einer mit jeder Sakralisierung verbundenen Gefahr. Aus der Spannung zwischen den Forderungen der Transzendenz als einer reflexiv gewordenen Sakralität und den Tendenzen zur Selbstsakralisierung läßt sich ein Bild der Religionsgeschichte entwickeln, das sowohl dem machtkritischen wie 20dem machtstützenden Potential der Religionen gerecht wird. Die Macht des Heiligen zeigt sich bei der Rechtfertigung wie bei der Infragestellung politischer und sozialer Macht, weil die Bindung der Menschen an das von ihnen erfahrene Heilige eine ihrer stärksten Motivationsquellen darstellt. In solcher abstrakter Allgemeinheit klingt diese Behauptung vielleicht trivial. Sie muß ihre gegenstandserschließende Kraft natürlich im einzelnen bewähren. Das siebte Kapitel liefert nicht mehr, aber auch nicht weniger als den Grundriß einer solchen Geschichte.

So weit ein kurzer Vorblick auf den Gang der Argumentation. Auf zwei weitere Aspekte dieser Thematik soll in dieser Einleitung noch kurz eingegangen werden. Es handelt sich zum einen um die Gründe, warum mir gerade heute ein Bild der Religionsgeschichte wichtig scheint, das nicht am Leitfaden der »Entzauberung« orientiert ist, zum anderen um das Verhältnis der Frage einer Wissenschaft von der Religion zur Frage nach einer zeitgenössisch angemessenen Sprache für den Glauben.

Die Diskussionen über Religion sind – so habe ich in meinem Buch Glaube als Option[3] argumentiert – heute davon gekennzeichnet, daß zwei Pseudogewißheiten, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert größten Einfluß hatten, beide ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Gläubige können nicht länger davor warnen, daß Säkularisierungsprozesse zum Verlust aller Moral führten, weil die Wirklichkeit stark säkularisierter Gesellschaften diese Befürchtungen nicht bestätigt hat. Nichtgläubige können ihren Abstand von aller Religion nicht länger als avantgardistischen Schritt in eine Zukunft, auf die die Menschheitsgeschichte von sich aus hinstrebt, interpretieren. Wenn meine Diagnose zutrifft, dann öffnen sich damit neue Dialogmöglichkeiten zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, aber auch ganz neue Fragestellungen. Zu diesen gehört an erster Stelle die Frage nach den Ursachen von Säkularisierungs21prozessen, da diese ja nicht mehr als selbstverständliche Folge von Modernisierungsprozessen aufgefaßt und damit immer schon für erklärt gehalten werden können. Mit dem Versuch einer rechten Erklärung aber kommen notwendig Individuen und Organisationen als Akteure mit Zielen und Vorstellungen in den Blick – Säkularisierung als Projekt.[4] In diesem Projekt spielte Wissenschaft immer eine zentrale Rolle, sei es im Sinn der wissenschaftlichen Widerlegung einzelner religiöser Lehren, sei es im Sinn einer wissenschaftlichen Erklärung der Existenz des als mysteriös empfundenen Phänomens Religion überhaupt. Heute ist der Punkt erreicht, an dem die beiden lange Zeit dominierenden Vorstellungen selbst historisiert werden müssen, die anthropologische Unentbehrlichkeitsthese, was den Zusammenhang von Religion und Moral betrifft, ebenso wie die selbstbewußten Vorstellungen, Religion wissenschaftlich erklären und dadurch auch wirkungslos und überflüssig machen zu können. Jenseits dieser notwendig gewordenen neuen Historisierung liegt dann die in diesem Buch verfolgte Frage nach einer Wissenschaft von der Religion, die nicht von der unfruchtbaren Dichotomie zwischen einer angeblich voraussetzungsfreien wissenschaftlichen und einer angeblich von unbewiesenen und unbeweisbaren Voraussetzungen ausgehenden theologischen Beschäftigung mit Religion geprägt ist. An die Stelle dieser Dichotomie tritt ein Bewußtsein von der Basiertheit aller menschlichen Wertbindungen und identitätskonstitutiven Überzeugungen in historisch situierten Erfahrungen. Doch das genügt natürlich nicht; dieses Bewußtsein erspart niemandem die Last argumentativer Rechtfertigung jeder einzelnen wertenden Stellungnahme. Aber es verändert unsere Haltung in solchen argumentativen Diskursen, unsere Erwartungen an 22sie und unsere Bereitschaft, auch die Grenzen argumentativer Rechtfertigbarkeit zu erkennen und über Möglichkeiten vernünftiger Verständigung nachzudenken, die nicht den strikten Anforderungen rationaler Argumentation entsprechen.

In dieser veränderten Diskussionssituation, in der die Erwartung einer fortschreitenden Säkularisierung nur noch von wenigen gehegt wird, kann die Geschichte von der Entzauberung zwar weiterhin als Vorgeschichte der höchst kontingenten Geschichte der Säkularisierung einiger europäischer Länder gedacht werden, aber nicht mehr als Vorspiel von etwas, das weltweite Geltung erlangen wird. Die Reaktionen auf Entzauberung und Säkularisierung müssen dann in globalen Machtkonstellationen höchst vielfältig und können nicht einfach und ausschließlich nachahmend oder nachholend sein. Es ist meine Hoffnung, daß der hier unternommene Versuch, sowohl auf die Geschichte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion als auch auf die Geschichte der Religion selbst in einer Weise zu blicken, die nicht schon vom Entzauberungsnarrativ geprägt ist, selbst für die von Interesse ist, die letztlich an Weber und seinem Narrativ festhalten.[5]

Schließlich – und an dieser Stelle äußerst knapp – zur Frage nach einer angemessenen Sprache für den Glauben, angemessen im Licht der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion. Eine neu aufkommende Wissenschaft wie die Soziologie konnte ebenso wie die Psychologie oder eine mythenzerstörende Geschichtswissenschaft als große Gefahr für den Glauben wahrgenommen werden. Im selben Jahr, in dem William James sein großes Werk einer nichtreduktionistischen Religionspsychologie veröffentlichte, schrieb Leo Tolstoi eine Erzählung mit 23dem Titel »Die Wiederherstellung der Hölle«. In dieser rühmt sich ein Teufel, daß er auf den Einfall gekommen sei, um die Menschen von der Orientierung an den Lehren Jesu abzuhalten, ihnen einzuflüstern, »daß jede religiöse Lehre, auch die christliche, eine Irrlehre und ein Aberglauben sei, während sie sich über die richtige Art zu leben nur mit Hilfe einer Wissenschaft orientieren können, die ich für sie ersonnen habe, die Soziologie genannt wird und in der Erforschung dessen besteht, auf wie verschiedene Art die Menschen in früheren Zeiten ihr Leben verunstalteten«.[6] Eine Wissenschaft, die sich als Überwinderin des Glaubens versteht, und ein Glaube, der sich von der Wissenschaft nur bedroht fühlt – das waren zwei Seiten derselben Medaille. Ähnlich ist es, wenn sich in der politischen Theorie säkulare Denker anmaßen, über die »Zulässigkeit« religiös motivierter oder auch religiös begründeter Stellungnahmen in öffentlichen Debatten zu befinden, und umgekehrt Gläubige sich der Rechtfertigung ihrer politischen Vorstellungen in einer Weise, die auch Nichtgläubige überzeugen kann, entziehen und statt dessen auf bloße Machtmittel setzen, um ihre Ziele zu erreichen. Bei allen Gefahren, die der wechselseitigen verzerrten Wahrnehmung von Gläubigen verschiedener Religionen oder von Gläubigen und Nichtgläubigen weiterhin entspringen, sehe ich in der veränderten intellektuellen Lage eine beträchtliche Chance dafür, daß sich eine Sphäre öffnet, in der alle ihre Erfahrungen und Annahmen artikulieren und aufeinander beziehen können.[7] Dies meine ich nicht im Sinne einer naiven Unterschätzung der Konflikte und Risiken solcher Versuche. Gerade denjenigen religiös Gläubigen etwa in den christlichen Traditionen wird viel zugemutet, die ihren Glau24ben bisher im Sinne einer Zustimmung zu einem Lehrgebäude auffassen wollten. Das hier entwickelte Religionsverständnis mutet ihnen zu, ihren Glauben in neuer Weise zu artikulieren und dabei doch die Kontinuität mit den tradierten Formen nicht zu verlieren. Den säkularen Geistern mutet der folgende Gedankengang den Abschied von einem Geschichtsbild zu, das bei vielen, nicht allen, in tiefe Schichten ihres Selbstverständnisses eingegangen ist – dem Geschichtsbild eines unaufhaltsamen und fortschreitenden Prozesses der Entzauberung.