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ISBN 978-3-492-97633-6
August 2017
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: Steve Lewis/Getty Images
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

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Vorwort

Die Attribute »verrückt« und »bekloppt« liegen für Fußballfans nahe. Ich bin in diesem Buch der Frage nachgegangen, ob Fans wirklich verrückt sind. Menschen gehen zum Therapeuten, weil sie Depressionen haben, Angstzustände, unter Neurosen leiden, hysterische Anfälle haben. Alles das kennt jeder Fan. Hysterische Anfälle nach Toren, tagelange Depressionen nach Niederlagen. Jeder Fan spürt die Notwendigkeit, den Zwang, ins Stadion zu gehen, gleichzeitig steht er während des Spiels unter unerträglichem Stress, weil er Angst hat, das Spiel zu verlieren. Was steckt hinter diesen Gefühlen? Ich habe mit vielen Fans in Deutschland gesprochen, die Fans auf die Couch gelegt.

Ich habe natürlich auch Fachmeinungen eingeholt, von meinem Psychologen. »Meinen« Psychologen gibt es als einzelnen Menschen gar nicht. Mein Psychologe ist eine Kunstfigur, ich bedanke mich aber bei zwei befreundeten Psychologen, die mir bei der Recherche zu diesem Buch sehr geholfen haben. Der Vorteil der beiden: Ich musste ihnen sogar die Abseitsregel erklären, die beiden haben gar nichts mit Fußball am Hut. Sie konnten sich, das ist der Vorteil, dem Phänomen Fußballfan mit einem gesunden persönlichen Abstand nähern.

Ich möchte keinesfalls die Fußballfans pathologisieren. Fan zu sein ist etwas sehr Schönes, etwas sehr Wichtiges. Für den Fan ist sein Verein eine Herzenssache, es geht um Leidenschaft und Treue. Fußball ist nicht die schönste Nebensache der Welt, es ist die schönste Hauptsache der Welt. Der Fan kann ein tolles Familienleben haben (oder auch nicht), einen Superjob (oder auch nicht), aber sein Verein ist sein Verein. Ganz wichtig: Man ist nicht nur Fan, wenn man zu jedem Heimspiel geht, auf dem Zaun hängt, Auswärtsfahrten liebt und jeden Fan-Gesang mitgrölen kann.

Es gibt ganz andere Anzeichen für die Diagnose Fan: Wenn dein Puls kurz vor dem Anpfiff hochgeht, wenn du panisch zum Smartphone greifst, um den Live-Ticker zu aktualisieren, wenn du dich zwei Tage vergraben möchtest, weil dein Verein verloren hat, wenn du dich bei jeder Chance deiner Mannschaft verkrampfst (weil das Ding reingehen MUSS) und wenn du bei einer Chance der anderen Mannschaft auch verkrampfst (vor Angst, dass er reingehen KÖNNTE), dann, ja, dann bist du Fan. Und dann ist dieses Buch für dich. Damit du endlich weißt, was mit dir los ist. Dieses Buch ist für alle Fans da, die sich selbst ein wenig besser verstehen wollen. Aber egal, wie fan-verrückt du bist, lass dir nichts einreden: Du bist okay, so wie du bist. Bleib so.

Dieses Buch wurde auch für mich zu einer Art Therapie. Nicht nur, dass ich viel über mich als Fan gelernt habe. Ich habe bei den Gesprächen mit den Fans anderer Vereine über deren teilweise unterschiedliche, teilweise gleiche Emotionen etwas gelernt. Durch die Gespräche mit anderen Fans habe ich vor allem eines entwickelt: Sympathie für die Fans anderer Vereine. Ich bin aus meinem alten »Wir sind super, und die anderen sind doof«-Schema ausgebrochen.

Prinzipiell bin ich der Ansicht, dass der Faktor Fan in der Fußballberichterstattung sträflich vernachlässigt wird. Kreative Gesänge, Unterstützung oder auch Liebesentzug der Fans werden so gut wie nicht thematisiert. Ausnahme: Randale. Das ergibt ein verzerrtes Bild des Fans. Im kicker zum Beispiel wird wirklich alles bewertet und gezählt. Wie viele Chancen, wie viele Ecken, es gibt eine Benotung der Spieler, des Schiedsrichters, der Gesamtspieldramaturgie. Überspielte Gegner, Ballbesitz, Teamlaufleistung, Durchschnittsalter der Spieler. Alles, aber eine Fan-Support-Bewertung fehlt. Man könnte den Fansupport mit A-Note (Dezibel) und B-Note (Kreativität) messen. Das ist doch wichtig, auch die Fans wollen womöglich ihren Support verbessern.

Das Thema Gewalt lasse ich bewusst außen vor. Idioten gibt es überall, aber nachgewiesene 99,9 Prozent der Fans gehen nicht ins Stadion, um anderen aufs Maul zu hauen. Trotzdem nehmen die größtenteils kriminellen Taten der 0,1 Prozent gewaltbereiten Fans einen sehr großen medialen Raum ein. In diesem Buch bekommen sie diesen Raum nicht. Die komplette Fachliteratur zum Thema Fußballfans und Psychologie beschäftigt sich mit dem Gewaltaspekt der Fans. Ich interessiere mich für die 99,9 Prozent der Fußballfans, für die Gewalt nie ein Thema war oder ist. Diese 99,9 Prozent denken, fühlen, jubeln und leiden genauso wie ich.

–1–
Lebenslänglich Fußballfan

Sommerfest in der KiTa meiner jüngsten Tochter. Mit einem Kaltgetränk in der Hand unterhalte ich mich mit den Vätern von Joshua und Lena über Fußball. Und über mein Buch über den Fan-Wahnsinn. Und da kommen die beiden ins Erzählen.

Seit ihrer Kindheit sind sie Fans des FC Saarbrücken. Sie haben eine Dauerkarte gehabt, haben mit dem FCS gewonnen, verloren, gejubelt, gelitten. Sie haben im Stadion die Vereinshymne gesungen und sind 2006 mit fünftausend Saarländern zum entscheidenden Abstiegsfinale gegen 1860 München gefahren. Verloren, nun ja, aber es war trotzdem eine geile Auswärtsfahrt.

»Der schönste Abstieg aller Zeiten«, sagt Pascal. Trotzdem sei die Leidenschaft für den FC Saarbrücken seit Jahren abgekühlt. Nach zu vielen Enttäuschungen und Abstiegen brenne kein Fan-Feuer mehr in ihnen. Aus und vorbei.

Interessant, denke ich. Man kann sich also auch vom Verein entlieben, ent-fanen sozusagen, einen noch nicht einmal freiwilligen Fan-Entzug machen.

Ich verabrede mich mit Pascal und Lars zu einem Mittwochabendspiel des FC Saarbrücken. Man muss wissen, dass der FC Saarbrücken Glanz und Niedergang einer ganzen Region versinnbildlicht. Bis 1956 war es ja gar nicht ausgemachte Sache, ob das Saarland wieder zu Deutschland gehören würde. Und alle Fußballfans des Saarlands kennen die Geschichte der WM-Qualifikation zur WM 1954. Der spätere Weltmeister Deutschland musste sich in der Quali-Gruppe gegen Norwegen behaupten – und gegen das Saarland. Nach einem sensationellen Auswärtserfolg in Norwegen und einer Auswärtsniederlage in Deutschland hätten sich die Saarländer durch einen Erfolg im Saarbrücker Ludwigspark für die WM qualifizieren können. Und wäre das gelungen, dann wäre beim Wunder von Bern das Saarland Fußballweltmeister geworden, und Deutschland hätte sich dem Saarland angeschlossen und nicht umgekehrt. Eine Geschichte mit vielen Konjunktiven.

In den 1950er-Jahren hat der FC Saarbrücken einige internationale Spiele in den Vorläuferwettbewerben von UEFA-Cup und Champions League gespielt. Und unter anderem die spanische Wundertruppe von Real Madrid besiegt, doch dazu später mehr. In den folgenden Jahrzehnten war Saarbrücken eine klassische Fahrstuhlmannschaft. Die Kulttrainer der Saarbrücker damals hießen Peter Neururer, Klaus Toppmöller, Otto Rehhagel. Nach 2006 dann eine unglaubliche Abstiegsserie, man stürzte von der 2. Liga in die 5. Liga, inzwischen hat man sich als feste Größe in der Regionalliga Südwest etabliert. Damit teilt man ein Schicksal mit anderen Fußballtraditionsvereinen und ihren leidenden Fans: Waldhof Mannheim, Kickers Offenbach, Hessen Kassel, Eintracht Trier.

Liebe kennt keine Liga, behauptet die Marketingabteilung des FC Saarbrücken. Lars und Pascal scheinen das anders zu sehen.

Den beiden ist es unangenehm, dass ich die Karten für das Spiel gegen Offenbach besorgt habe.

Pascal sagt: »Ich fühle mich verantwortlich, für dich und für den Verein.«

Das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht so richtig. Ich bin schon groß und kann selbst entscheiden, wen ich zu einem Fußballspiel einlade und wen nicht. Aber es kostet Pascal inzwischen ein bisschen Überwindung, zu einem Spiel von Saarbrücken zu gehen. Ein Selbstbewusstsein à la »Ich bin Schalker« ist ihm fremd. Und er leidet, wenn er aufgezogen wird: »Ah, hat der FCS wieder verloren!«

Aber warum leidet er denn noch? Ich dachte, Pascal und Lars wären keine Fans mehr? Es könnte ihnen doch piepegal sein, wie der FCS dasteht? Mir kommt der Verdacht, dass die beiden doch ein bisschen mehr Fan sind, als sie sich eingestehen möchten.

Vor dem Spiel erzählen sie von früher. Lars hat beim Aufräumen seine alte Kutte wiedergefunden. In der linken Tasche ein Haufen handbeschriebener Zettel. Auf jedem einzelnen steht: »Scheiß FC Homburg.« Da hat sich noch jemand mit echter Handarbeit so richtig Mühe gemacht. In der rechten Kuttentasche findet Lars zu seiner eigenen Überraschung einen riesengroßen Chinaböller, eher eine Handgranate als ein Silvesterspaß.

Er sagt: »Ich kann mich echt nicht erinnern, je einen Böller im Stadion geworfen zu haben.«

Sein sechsjähriger Sohn, der zugehört hat, fragt nach: »Was hast du nie geworfen?«

Äh, also, so ein zusammengerolltes Stück, äh, Papier. Wie soll man einem Sechsjährigen die Stadionunsitten der späten Achtzigerjahre erklären? Pascal schwärmt davon, wie man früher die Tropfenfänger der Pilsgläser und Bierdeckel in den Saarbrücker Kneipen eingesammelt habe, um sie dann im Stadion als eine Art Konfetti XXL in die Luft zu werfen. Bei Auswärtsfahrten habe man im Zug die Klopapierrollen mitgehen lassen und die aufs Spielfeld geworfen. Was eine wirkliche leichtathletische Meisterleistung war, bedenkt man, dass in den »guten alten Zeiten« das reine Fußballstadion eher die Ausnahme gewesen ist. Vom Stehplatzblock über die Laufbahn das grüne Rechteck oder gar den Eckenschützen zu treffen, das war ein echtes Kunststück.

Die richtig legendären Spiele haben Lars und Pascal gar nicht mitbekommen, können die Daten aber auswendig herunterbeten. 1951 ein 4:0 bei Real Madrid, 1977 ein 6:1 im Heimspiel gegen Bayern München, der Triumph gegen den VfB Stuttgart im Viertelfinale des Pokals 1985. Die guten alten Zeiten eben, das, was die meisten Fußballfans umtreibt.

Lars sagt: »Früher haben wir gedacht, wir gehören wieder in die erste Liga, das ist inzwischen aber unvorstellbar. Da existiert eine ganz andere Sportart vier Ligen über uns.«

Pascal ergänzt: »Das ist keine Referenz mehr.«

Allerdings, so Pascal, einen Traum hat man noch, und der orientiert sich am Wunder vom Böllenfalltor: »Das Darmstadt-Ding. Das ist mal ein Verein mit vergleichbarer Historie, wobei Saarbrücken natürlich wesentlich attraktiver ist. Darmstadt war lediglich von der Fallhöhe vergleichbar, und die haben Unglaubliches geschafft.«

Zwischen den Zeilen höre ich heraus: Ganz vielleicht, wenn uns die Fußballfee küsst und der Fußballgott zwei Augen zudrückt, dann kann ein ähnliches Wunder an der Saar geschehen.

Wahrscheinlich fühlen sich die Fans des FC Saarbrücken, wenn sie sich die Erfolgsstorys der Bundesligavereine anschauen, vom Schicksal extrem gebeutelt. Ach was! Schaut euch doch bei den Leidensgenossen in den vierten Ligen der Republik um. Fragt nach bei Fans aus Essen, Wuppertal, Mannheim. Hört und seht die Tränen der Fans von Aachen, Jena, Unterhaching. Lauscht den Klageweibern von Ulm, Oberhausen, Cottbus oder des Gegners, gegen den der FCS heute antritt: die Kickers Offenbach. Alles Mannschaften mit Erstliga-Vergangenheit, die bejubelt werden von in ihrer Fan-Liebe tief verletzten Seelen.

Ich muss den beiden Jungs also noch einmal auf den Zahn fühlen, ob sie denn wirklich nichts mehr für ihren Verein empfinden. Ob sie wirklich Ehemalige sind oder ob da noch ein Fan-Flämmchen glüht.

Wenn die Saarbrücker verloren haben, liest Pascal keine Zeitung. Das hört sich doch eher nach Fan an. »Ich will nur Positives lesen«, sagt er.

Das kenne ich sehr gut, dieses Verhalten ist ganz eindeutig eine posttraumatische Fan-Depression, das Nicht-Zeitung-Lesen ein klassischer Fall von Fan-Verdrängung.

»Die Zeitdauer, die das blöde Gefühl nach einer Niederlage anhält, ist aber wesentlich kürzer als früher«, meint Pascal.

Wobei das natürlich auch eine Altersfrage sein könnte.

»Wenn es ein richtig fieses Spielergebnis war, dann macht einem das durchaus noch am nächsten Morgen zu schaffen.«

Immerhin! Bei mir persönlich kann es im schlechtesten Fall mehr als achtundvierzig Stunden dauern, bis ich mein fußballerisches Gleichgewicht wiederhergestellt habe. Dass auch bei Pascal die Nacht nach dem Spiel noch keine Linderung bringt, scheint mir außergewöhnlich für jemanden, der sich als Nicht-mehr-Fan bezeichnet.

Nach vielen Jahren der Frustration ist die Schwelle des Erträglichen stark gesunken.

Lars findet: »Jetzt gerade geht’s. Aber wenn die dreimal schlecht spielen, gehen sie mir richtig auf den Sack. Früher ist man auch nach zehn Niederlagen hingegangen. Aber natürlich mit dem Spruch: ›Ich geh se nimmeh gugge.‹ Inzwischen ordne ich dem Fußball nichts mehr unter. Familie, Freunde, die Gartenmauer ausbessern, das geht vor. Es gab Phasen, da wusste ich gar nicht, wann die spielen.«

Und Pascal ergänzt: »Ich muss nicht mehr unbedingt ins Stadion gehen. Das ist natürlich auch so ein Familien- und Zeitding.«

Lars hat zehn Jahre in der Saarbrücker Szenekneipe »Karateklub Meier« gearbeitet und dort immer Bundesliga geguckt. Saarbrücken war im Bezahlfernsehangebot beim besten Willen nicht vertreten, deswegen hat er sich einem Zweitverein verschrieben, den er sympathisch findet: Werder Bremen. Das scheint aber keine wirkliche Herzenssache geworden zu sein. Als beim Pokalspiel 2013 Bremen in Saarbrücken spielte, war er vor dem Spiel davon ausgegangen, er könnte eine relativ neutrale Haltung einnehmen.

»Ich dachte erst, bei dem Spiel kannst du ja nur gewinnen. Aber als ich im Stadion war, war relativ schnell klar: Wenn Bremen gewinnt, bin ich schlecht drauf.«

Natürlich hat er für Saarbrücken geschrien und gejubelt. Und er musste nicht schlecht drauf kommen, denn der blau-schwarze Viertligist besiegte den grün-weißen Bundesligisten.

Leider blieb der Pokalerfolg nur eine Eintagsfliege. Für Lars und Pascal ist das Fan-Sein nicht mehr alltäglich, sie hinterfragen sich und ihre Motive. »Man überlegt natürlich, warum man überhaupt noch den FCS guckt.« Es folgt eine Litanei über die dilettantische Führungsarbeit – »seit Jahren eine Katastrophe!«. Dann bemängeln die beiden fehlende Trainerkonstanz und -kompetenz. Und die Spieler kennt doch keine Sau mehr. Vorletzte Saison hat nur ein Spieler dem Verein die Treue gehalten. Ein einziger Spieler! Eine Entwicklung wie in Darmstadt wird man so niemals hinbekommen.

Und dann gibt es ein paar Sachen, die wirklich schmerzhaft waren.

»Wo es wirklich einen Bruch gab«, gibt Lars zu, »das war, als Saarbrücken in der fünften Liga gegen die Sportfreunde Köllerbach gespielt hat. Andere Gegner wie Gau-Waldalgesheim waren uns als Gegner egal. Okay, Gau-Waldalgesheim, lustiger Vereinsname, aber wo liegt das? Für die Jugend von Köllerbach hingegen habe ich selbst gespielt, und jetzt muss mein FC Saarbrücken gegen meinen Kinderverein spielen. Das hat wirklich wehgetan.«

Und dann das Stadion. Pascal spricht das Wort »Stadion« aus, als wäre er gerade in Hundescheiße getreten. Zur Erklärung: Saarbrücken spielt seit einiger Zeit in einem Ausweichstadion in Völklingen, weil der traditionelle Ludwigspark umgebaut wird, voraussichtliche Baudauer siehe Großflughafen Berlin.

»In dem Stadion in Völklingen haben wir als Schüler Bundesjugendspiele gemacht, da habe ich die Siegerurkunde mit der Originalunterschrift des Bundespräsidenten bekommen, zur Ehrenurkunde hat es nie gereicht. Und da spielen wir jetzt Fußball, in diesem Stadion!«

Auch die Spielstätte wird als Niedergang betrachtet. Vom Ludwigspark ins Bundesjugendspielstadion, von der Stätte der legendären Fußballschlachten zur Weitsprunggrube des Grauens. Und die emotionale Bedeutung des Stadions ist natürlich nicht zu unterschätzen. Schon beim Anblick der Flutlichtmasten steigt der Adrenalinspiegel des Fans.

Mein Psychologe sagt: »Die Idealisierungsmöglichkeit geht verloren. Die Möglichkeit, einen Ort mit vielen Fantasien aufzuladen (Hier möchte ich noch mal ein 6:1 gegen die Bayern sehen!), die geht verloren. (Es bleibt die Erinnerung an den eigenen missglückten Versuch im Weitsprung.) Der Weg zum Stadion ist schon emotional aufgeladen. Das ist eine Kultstätte, an der Rituale vollzogen werden. Das Individuum wird in den Fanprozessen aufgehoben und wird Teil des Kollektivs.«

Und Teil eines Kollektivs zu sein oder zu werden ist eigentlich ja ein Traum – nicht nur für die Verfechter der reinen kommunistischen Lehre.

Das Übergangsstadion in Völklingen ist wirklich sehr speziell. Zur Waldseite hin stehen die beiden Trainerbänke, dahinter sieht man keine Tribüne, sondern nur sehr viele Bäume. Auch die Kurven sind nicht wirklich vorhanden, im Grunde existiert das Stadion nur als eine Art Halbmond auf einer Seite der Laufbahn. Mit einer kleinen Tribüne und einer Menge Stehplatzblöcken. Und welche Fangruppe in welchem Stehplatzblock steht, das ist beim 1. FC Saarbrücken schon lange eine Geheimwissenschaft.

»Die moderne Fankultur fuckt uns richtig ab«, sagt Pascal.

Es gibt verfeindete Fangruppen und Ultragruppierungen. Es gibt den Rentner-Stehplatzblock im A-Block (»Geht gar nicht!«). Und die Ultraszene sei ganz schlimm: »Denen ist doch Fußball egal, die wollen sich nur selbst feiern, kein situationsbedingter Jubel.«

Mir scheint die Abneigung gegen die Ultras in Saarbrücken noch größer als bei anderen Vereinen. Es könnte mit der größeren Diskrepanz zwischen gezeigter Fußballleistung und dem neunzigminütigen übertriebenen Dauer-Support inklusive buntem Fahnenmeer zu tun haben.

Wir stehen in der Schlange vor der Wurstbude, es gibt eine saarländische Spezialität: Merguez-Frikadellen, wahrscheinlich extra scharf. In der Schlange neben uns an der Bierbude steht der gewichtige Präsident des 1. FC Saarbrücken. Ich finde das sehr volksnah, dass der Präsident selbst für ein Bier ansteht und nicht extra einen Bierholassistenten hat.

Beim Warten auf die Merguez-Frikadelle verrät mir Pascal: »Ganz emotional wird es bei mir, wenn der Stadionsong gespielt wird: ›Wir sind vom FCS, blau-schwarz ist unser Dress.‹ Da sing ich immer noch mit. Das ist für mich Heimat, da fühle ich mich zu Hause. Ich hätte gedacht, dieses Gefühl würde sich im Bundesjugendspielstadion von Völklingen niemals einstellen. Aber es funktioniert.«

Als kurz vor dem Spiel gegen Offenbach die Hymne gespielt wird, singt Pascal dann doch nicht mit. Vielleicht schämt er sich, weil ich danebenstehe. Das Spiel beginnt, Offenbach führt schnell, Saarbrücken hat mehrere Großchancen zum Ausgleich. Und man kann Pascal an seiner Körpersprache ansehen, dass er immer noch ein großer Fan ist. Er hüpft vor Aufregung, wenn ein Erfolg versprechender Angriff eingeleitet wird. Lars schreit: »Abseits, abseits!« Schuss, knapp daneben – Pascal biegt den Rücken ins Hohlkreuz.

Mein Psychologe sagt: »Mit dem Körper mitzugehen, den Kopfball im Stadion mitzuvollziehen, vor dem Fernseher zu schießen, das sind identifikatorische Bewegungen. Der Fan ist in gewisser Weise in den Spielern drin. Man erlebt sich so, als würde man selbst auf dem Platz stehen.«

Wie ein Nicht-Fan sich verhält, habe ich vor einigen Jahren aus nächster Nähe erleben können. Ich bin mit Harald Schmidt nach Stuttgart zum Spiel des VfB gegen den FC Köln gefahren. Ich bin FC-Fan, klar, Harald ist Schwabe, in seiner Jugend war er oft im Neckarstadion.

Aber ist er auch ein Fan? Wir sitzen auf der VIP-Tribüne, es läuft die 87. Minute. Kevin Kuranyi haut frei stehend drei Meter vor dem Tor über die Latte und versemmelt damit den möglichen Sieg gegen Köln. Ich schnaufe gaaanz tief durch, neben mir raufen sich erwachsene Männer die Haare, unter ihnen Gerhard Meyer-Vorfelder, sie sacken in sich zusammen, schreien verzweifelt auf. Zu sehen ist der körperliche Schmerz eines Fans angesichts einer vergebenen hundertprozentigen Chance. Diesen Schmerz kann man auch auf einer VIP-Tribüne mit Händen greifen. Und was macht Harald Schmidt? Er lacht und lacht und lacht, als hätte er gerade den besten Witz des Jahrhunderts gehört. Harald Schmidt mag ein Fußball-Connaisseur sein, ein Fußballfreund, aber er ist kein Fan.

In der Halbzeitpause holen wir mehr Bier. Noch in der ersten Halbzeit hat Saarbrücken den Ausgleich geschafft, sofort nach dem Wiederanpfiff drängt die Mannschaft auf den Siegtreffer. Im Völklinger Stadion der ewigen Bundesjugendspiele sind nur noch wenige Minuten zu spielen, es steht immer noch 1:1, die Fans blasen zur letzten Attacke.

»Sahr-brüh-cken«, skandieren Lars und Pascal.

Wie hat Pascal bei unserem Gespräch vor dem Spiel gesagt? »Das ist ja eine richtige Therapiesitzung hier!«

Kann schon sein, auch wenn ich nicht der Psychologe bin. Aber vielleicht habe ich dazu beigetragen, die beiden erkennen zu lassen, dass sie hinter all der enttäuschten Liebe zum Verein immer noch am FC Saarbrücken hängen. Sie sind mit Leib und Seele Fans.

Ein paar Monate später treffen wir uns noch einmal im Stadion und schauen die Partie gegen den FC Astoria Walldorf. Pascal würde sich zwar immer noch nicht als Hardcorefan bezeichnen, Hardcorefans sind für ihn nur die, die (fast) alle Spiele gucken. Aber er geht wieder ins Stadion, und er ist emotional voll dabei und bejubelt die drei Tore gegen den Verein, der heißt wie ein berühmtes Hotel in New York. Lars hat nach unserem ersten Treffen kein Heimspiel mehr verpasst, es ist eine Art emotionaler Knoten bei ihm geplatzt. Er hat seinen Frieden mit dem Stadion und seinem Verein gemacht. Und auch ich denke in der wärmenden Spätfebruarsonne, dass es genau der richtige Platz ist, um dort drei Stunden an einem Samstagnachmittag zu verbringen. Es sind diese Glücksmomente, für die man doch eigentlich lebt.

Der Verein lässt Pascal und Lars einfach nicht los, auch wenn sie an der Vereinsführung verzweifeln. Auch wenn das Ausweichstadion scheiße ist. Auch wenn es wehtut, gegen den FC Nöttingen und Teutonia Watzenborn-Steinberg spielen zu müssen. Sie gehen die Saarbrücker doch immer wieder gugge.

Lebenslänglich Fußball eben.

–2–
Der König der Mecker-Opas

Auswärtsspiel in Freiburg. Der FC liegt 1:0 zurück, die Mannschaft spielt nicht berauschend, aber auch nicht übermäßig schrecklich. Ich stehe mit Gereon und Christoph im FC-Fan-Block. Wir warten alle auf den Ausgleich, unterstützen die Mannschaft mit zaghaften Anfeuerungsrufen. Die Ultras sind nicht dabei, die sind wegen irgendetwas beleidigt und deshalb zu Hause geblieben. Christoph rastet aus, seine Halsschlagader schwillt rot an. Er schimpft auf einzelne Spieler, auf den Trainer, er schimpft über das Engagement der Mannschaft. Die Fans um uns herum werden sauer, schimpfen über Christoph, weil er nicht aufhört zu schimpfen. Christoph wird sauer. Die zweite Halbzeit verbringt er im Fan-Bus. Schmollend. Nach dem Spiel wird er sagen: »Zwischen mir und dem Verein stehen meistens die Spieler und der Trainer.«

Aber warum muss er das immer so rauslassen?

»Ich bin eben der Vorsitzende im Verein der Mecker-Opas.«

Den Typ Mecker-Opa kennt jeder Fußballfan, der regelmäßig ins Stadion oder auf den örtlichen Fußballplatz geht. Der Mecker-Opa findet sich genauso in der Kreisliga wie in der Bundesliga. Aus meinen frühen Fan-Tagen bei Viktoria Köln verbinde ich mit dem Bild des Mecker-Opas einen Menschen, der sich, Zigarre rauchend, am Wellenbrecher festhält. Der Gegner ist meistens uninteressant. Ziel seiner Wut sind die eigenen Spieler, die teilweise persönlich beleidigt werden und die das, je nach Größe des Stadions, auch hören können.

Gestern wieder zu viel gesoffen?

Den hätte ja meine Oma reingemacht!

Wer dir das Fußballspielen beigebracht hat, gehört erschossen!

Viele Mecker-Opas der Siebziger- und Achtzigerjahre hatten eben noch im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Für die waren die eigenen Spieler so eine Art Wehrkraftzersetzer, Deserteure, Volksfeinde.

Vergleichsweise normal ist es für einen Fußballfan, seine negativen Emotionen auf den Gegner oder (auch sehr beliebt) auf den Schiedsrichter zu beziehen. Woher aber kommt diese Wut auf die eigene Mannschaft, auf die eigenen Spieler? Ich habe mich mit Christoph und seinem Im-Stadion-Danebensitzer Gereon getroffen. Gereon muss dabei sein, denn niemand hat so viele Spiele mit Christoph zusammen gesehen, er ist also durchaus betroffen von den Meckereien seines Kumpels.

Der Einstieg unseres Gesprächs überrascht mich sehr. Christoph nämlich sagt: »Eigentlich bin ich immer richtig glücklich im Stadion.«

Aha. Diese Selbstwahrnehmung ist interessanterweise total konträr zu Christophs Verhalten, so wie ich das in der Vergangenheit mitbekommen habe, und das sage ich ihm auch. Ich erinnere ihn zum Beispiel an seinen Auftritt in Freiburg: »Weißt du das denn nicht mehr, du wurdest von den eigenen Fans, und ich muss sagen, ich habe das voll und ganz unterstützt, aus dem Stadion geschmissen …«

Christoph ergänzt ganz cool: »… wegen widerwärtiger Schimpferei.«

Gereon legt noch eine Schippe drauf: »Es gibt die Leute, die man gernhat, und es gibt Christoph.«

Aber Gereon kennt seinen Kumpel nun einmal sehr gut und versucht zu erklären, warum Christoph zum Mecker-Opa wurde. »Wir sind Anfang der Neunzigerjahre zu einem Zeitpunkt Fans geworden, als es bergab ging – der FC wurde von einem ordentlichen Verein zu einer richtigen Kack-Truppe.«

Das ist die Basis vieler Fußballfans. In Zeiten des Erfolgs wurden sie Fan. Der Erfolg steckt ihnen in den Genen. Er ist die Normalität, in die sie hineingewachsen sind. Deswegen kann Christoph die Erfolge des FC zwar genießen, aber er gerät nie in Euphorie. »Über einen Sieg freue mich manchmal nur, weil ich nicht das Gefühl der Niederlage erleiden muss. Ich sage mir dann, das ist doch auch was, ich muss nicht vier Tage nach einer Niederlage abgefuckt sein.«

Aber im Hinterkopf, sagt Christoph, nagt da noch etwas anderes. »Wir werden – trotz des Sieges – nicht Deutscher Meister, wir spielen nicht im Europapokal, wir erfüllen nicht die Ansprüche, die ich an den FC habe.«

Allerdings können die aktuelle Mannschaft und auch der Trainer nichts dafür, dass der FC kein Meisterschaftskandidat ist. Vielleicht ist der DFB schuld oder Donald Trump oder aber der Fußballgott, wer weiß das schon.

Das ist das Schlimme bei fast jedem Fußballfan. Es gibt diesen einen Referenzpunkt, die glorreichen Zeiten, in denen dein Club groß und fabelhaft war. Das können die 1950er-Jahre sein, die UEFA-Cup-Teilnahme des VFL Bochum oder die Meisterschaften des FC Kaiserslautern. Davon ist übrigens auch ein durchschnittlicher Bayern-Fan nicht ausgeschlossen. Warum liegt ein leicht getrübter Schleier über der Pep-Guardiola-Ära des FC Bayern? Weil es dieser Trainer doch wirklich kein einziges Mal geschafft hat, das Triple zu holen. Was für ein Versager! Immer wird die jeweils beste Zeit der Vereinsgeschichte als Maßstab genommen, darunter macht es keiner. Und so liegt die Sehnsuchtslatte immer äußerst hoch, meistens viel zu hoch.

Am Versagen der FC-Spieler auf einem ganz anderen Level verzweifelt Christoph. »Das ist ein Gefühl, wie man es aus der Dienstleistungsbranche kennt. Du magst vielleicht eine bestimmte Automarke sehr gern, aber der Mietwagenservicemitarbeiter ist unfreundlich und verleiht dir ein völlig untaugliches Fahrzeug. So ist das auch beim FC. Es macht mich wütend, wenn diese großartige Marke FC – zumindest in früheren Jahren – von völligen Schwachmaten präsentiert wird. Das erzeugt eine Aggression, die sich dann Bahn bricht.«

Christoph identifiziert sich enorm mit seinem Verein, das ist banal, das tut eigentlich jeder Fan, sonst wäre er kein Fan.

Mein Psychologe sagt: »Bei Christoph könnte eine leichte narzisstische Störung vorliegen. Da er nicht mit den ständigen narzisstischen Verletzungen durch die Niederlagen seines Vereins zurechtkommt, steigert er sich hinein in seine Wut gegenüber den eigenen Spielern.«

Christoph nervt die Leute in seinem Umfeld, das stimmt natürlich, andererseits macht er seine narzisstische Wut nicht publik. Das ist ihm wichtig, er möchte seinem geliebten Verein nicht schaden.

»Ich habe kein Megafon in der Hand und blase das alles in die Öffentlichkeit, meine Aggression ist meine Privatsache. Ich bewege mich mit meiner Pöbelei in einem Bereich, der nicht hörbar ist für die Mannschaft. Ich kann im nächsten Moment die Mannschaft anfeuern.«

Gereon sagt: »Eigentlich bist du gar nicht so scheiße.«

Man könnte sagen, dass Christophs Pöbeleien dem Selbstzweck dienen. Er hat sozusagen keinen pädagogischen Auftrag, er will nicht die Mannschaft verbessern. Er hat nur diese Wut in sich, und die muss raus.

Ich kenne Christoph schon eine Weile, habe ihn persönlich aber erst zweimal als Mr Hyde erlebt. Beim furiosen Pokal-Aus in Augsburg mit drei Roten Karten für den FC und eben bei dem Spiel in Freiburg, bei dem Christoph selbst die Rote Karte bekam. Ganz ehrlich, Christoph ist ein guter Kumpel von mir, aber ich könnte dieses Gemotze neben mir nicht bei jedem Spiel ertragen. Sein Freund Gereon muss eine Art Mutter Teresa der Fußballfans sein, um das Gezeter auszuhalten. Erstaunlicherweise sagt Gereon sogar gut gelaunt: »Ich mag ihn eigentlich!«

Vielleicht ist es der Gewöhnungseffekt, vielleicht eine Art Duldsamkeit gegenüber der großen Schwäche des Freundes. Oder vielleicht gibt es auch eine gewisse Verlässlichkeit, um nicht zu sagen Pöbel-Vertrautheit zwischen den beiden.

Christoph sagt: »Ich raste zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Saison aus. Wenn ich von Spieltag eins bis zweiundzwanzig durchgemotzt habe und dann eine Pause mache, kann es sein, dass Gereon am dreiundzwanzigsten Spieltag komplett ausrastet.«

Hoppla, was sagt mein Psychologe denn dazu? Macht Gereon das, um Christoph zuvorzukommen, oder will er ihn imitieren?

Mein Psychologe sagt: »Es gibt den Effekt der sozialen Adaption. Das Miterleben eines solchen Verhaltens bleibt natürlich nicht ohne Folgen. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder man wendet sich ab (Das ertrage ich nicht!), oder man assimiliert auf gewisse Weise das Verhalten des anderen.«

Sage ich doch, Gereon ist die Mutter Teresa des FC. Er wendet sich nicht vom Elend ab, er umarmt es geradezu. Ich fordere den Friedensnobelpreis oder zumindest die Heiligsprechung für Gereon.

Inzwischen sind wir beim, äh, keine Ahnung wievielten, Kölsch angekommen, diese Gläser sind so klein, da kommt man irgendwann mit dem Zählen nicht mehr hinterher. Der Vorteil der unzählbaren Biere: Das Therapiegespräch entspannt sich, das Bier lockert die Zunge. Denn Christoph weiß ja, dass ich ihn in meinem Fan-Buch auf die Couch lege. Und er möchte selbst wissen, »was mit mir los ist«.

Nun denn, dann geht es jetzt ans Eingemachte. Denn die Frage ist doch, was die ganze Meckerei im Stadion mit Christoph macht. Seine Antwort ist überraschend: »Ich bin in meiner Frustration glücklich.«

Kann das sein? Hat Christoph tatsächlich den Weg zu seiner persönlichen Zufriedenheit gefunden?

Mein Psychologe sagt: »Er muss gewinnen, er muss der Bessere sein. Das heißt auch, er braucht die Fantasie, dass er es besser weiß, es einfach besser könnte als die Mannschaft. Unter den gegebenen Umständen ist Christoph glücklich. Es stimmt ja, dass ihn nicht der Verein aggressiv macht, sondern er die Aggression bereits mit sich herumträgt. Was ihn glücklich macht, ist, dass er diese Aggression an den Mann beziehungsweise an den Verein bringen kann. Und das Entscheidende ist: Er schadet niemandem.«

Fünf Bier später. Oder sechs oder sieben Bier, wer kann das so genau wissen. Christoph ist sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er in seiner Frustration wirklich sooo glücklich ist. Er sagt: »Ich bin in diesen Situationen manchmal einfach ein widerlicher, cholerischer, jähzorniger Idiot.«

Das finde ich nun wiederum genial. Christoph ist offensichtlich zur Selbstreflexion in der Lage, was viele aggressive Menschen nicht sind. Insoweit: Hut ab! Christoph hat wohl, ohne es zu wissen, wirklich den wunden Punkt seiner Seele gefunden. Und er selbst ergänzt: »Ich bin jähzornig und kann nicht verlieren. Jede Minderleistung auf dem Rasen ist eine persönliche Beleidigung für mich, dann raste ich aus. Die Mannschaft macht einfach nicht das, was ich will.«

Sein Nicht-verlieren-Können beschränkt sich nicht auf den Fußball. Kurz vor unserem Interview zum Beispiel hatte Christoph eine Partie Minigolf im Kollegenkreis gespielt. Mit einem aus seiner Sicht perfekten Ergebnis: »Mein Chef hat gewonnen, ich bin Zweiter geworden, dahinter meine Kollegen.«

Der Chef ist zufrieden, das kann Christoph akzeptieren. Aber gegen die Kollegen zu verlieren, das hätte er nicht gekonnt.

Mein Psychologe sagt: »Er möchte es vermeiden, das Verlieren zu erleben, denn dann würde er selbst verlieren, nicht nur der Verein. Er möchte nicht mit dem Objekt, mit dem er sich identifiziert, verlieren, also muss er sich davon distanzieren und für sich eine Fantasie entwickeln, wie es eigentlich richtig gewesen wäre.«

Christoph muss jedem und sich selbst zeigen, dass er zwar den Verein liebt, aber mit den Losern auf dem Platz und auf der Trainerbank hat er nichts zu tun, sonst müsste er ja seine eigene Niederlage eingestehen.

Christoph braucht den Fußball. Und ich finde, der Fußball braucht auch Fans wie Christoph, die am Ende dann doch alles tun, damit ihr Verein gewinnt. Wirklich alles.

Im Laufe des Interviews wetten wir um die Platzierung des FC am Ende der Saison 2016/2017. Eine Platzierung unter den ersten fünf hält Christoph für völlig ausgeschlossen. »Wenn das eintritt, komme ich zu dir ins Saarland und putze dir jeden Raum deines Hauses und hänge ein Schildchen dran: Geputzt von Christoph.«

Mein Wetteinsatz: »Ich passe drei Tage auf deine Kinder auf.«

Aber das wird sowieso nicht nötig sein.

Christoph wird auf blutigen Knien und mit einem Lächeln im Gesicht meine Fußböden im Saarland schrubben, nachdem der FC doch noch den fünften Platz erreicht hat.