FORTSETZUNG FOLGT in: Nick Band 8 - Gefährliches Experiment

 

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Originalausgabe Januar 2017

Charakter und Zeichnung: Tibor © Hansrudi Wäscher / becker-illustrators

Text © Hubert Haensel

Copyright © 2017 der eBook-Ausgabe Verlag Peter Hopf, Petershagen

 

Lektorat: Katja Kollig

Umschlaggestaltung: etageeins, Jörg Jaroschewitz

E-Book-Konvertierung: Thomas Knip | Die Autoren-Manufaktur

 

ISBN ePub 978-3-86305-253-9

 

www.verlag-peter-hopf.de

 

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Hansrudi Wäscher wird vertreten von Becker-Illustrators,

Eduardstraße 48, 20257 Hamburg

www.hansrudi-waescher.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

 

 

 

Inhalt

 

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

 

 

 

HUBERT HAENSEL

Unendliches All

 

Nick Band 7

 

 

 

EINS

 

Der Weltraum hatte keine Sterne mehr und keine farbenprächtigen Nebel. Die Projektion auf dem großen Bildschirm zeigte eine unheimliche Schwärze – als hätte der Hyperraum das Sternenschiff vor wenigen Augenblicken an einen Ort jenseits von Raum und Zeit ausgespien.

»Großer Gott!«, stöhnte einer der Techniker im Kommandobereich der Zentrale. »Wo sind wir? Wir werden unsere Erde nicht wiederfinden. Niemals hätten wir den Sprung ohne Berechnung wagen dürfen …«

»Dann wären wir in Proxima Centauri verbrannt wie Motten in einer Kerzenflamme! Nur Nicks schnelle Entscheidung hat uns der tödlichen Anziehungskraft der Sonne entkommen lassen.«

»Aber wohin …?«

Nick, der Weltraumfahrer, wandte sich in seinem Sessel zu den Technikern um. Beschwichtigend hob er beide Hände. Sogar das letzte unwillige Murmeln verstummte daraufhin.

»Ich bin sicher, dass wir unsere Dimension wieder erreicht haben«, sagte er. »Diese absolute Schwärze kann nicht real sein; vermutlich gibt es Fehler in der optischen Übertragung. Ein Reparaturteam wird sich umgehend darum kümmern.«

Minuten vergingen, bis endlich ein vager Lichtschimmer auf dem Schirm entstand. Eine mächtige Spirale aus Licht wurde sichtbar. Doch das war keine der fernen Galaxien, wie die Raumfahrer sie von hochaufgelösten Fotografien kannten. Tom Brucks fingerte unruhig an seiner Brille. Der Biologe stand neben Nicks Kommandoplatz. Er räusperte sich. »Ist das wirklich …?« Seine Stimme klang kratzig, er brachte die Frage nicht zu Ende.

Nick bestätigte die Vermutung seines Freundes. »Wir sind außerhalb der Milchstraße im intergalaktischen Leerraum in unsere Dimension zurückgefallen.«

Er wandte sich an den leitenden Kontrolltechniker, der an einem der Überwachungsinstrumente hantierte: »Schalten Sie den mittleren Schirmbereich auf Vergrößerung, Ricardo!«

Die Bildprojektion schien allen in der Zentrale entgegenzuspringen.

»Kein Zweifel, das ist unsere Galaxis!«, stellte der Marsianer Xutl fest. »Ich erkenne den Orionarm, außerdem einige markante Kugelsternhaufen.«

»Dann kann der schwächere Nebelfleck im Hintergrund nur Andromeda sein«, vermutete Nick. »Von unserer Position aus dürfte die Entfernung an die drei Millionen Lichtjahre betragen.«

In der optischen Vergrößerung wuchs die Milchstraße zur funkelnden Lichtflut an. Einige Hundert Milliarden Sonnen, dicht gedrängt, waren ein atemberaubender Anblick.

Die erste interstellare Expedition hatte ins nahe Umfeld des eigenen Sonnensystems führen sollen. Die Wissenschaftler, Techniker und Raumsoldaten hätten nie erwartet, so weit hinaus ins Nichts verschlagen zu werden. Jeder in der Zentrale des Sternenschiffs blickte gebannt auf das überwältigende Panorama.

Im äußeren Bereich der Galaxis blinkte ein Markierungspunkt. Xutl hielt die Fernsteuerung dafür in der Hand. »Ungefähr an diesem Punkt steht unser Sonnensystem«, stellte er fest.

»Proxima Centauri ebenfalls«, fügte Nick hinzu. »Aus der aktuellen Perspektive schrumpfen die gewaltigen Distanzen zu einem Nichts. Wir haben uns weit entfernt – viel zu weit. Offenbar bedurfte es erst der lebensbedrohlichen Nähe zu Proxima Centauri, damit wir erkennen, was das Sternenschiff leisten kann. Unüberwindbare Distanzen schrumpfen für uns zum Katzensprung.«

»Die Beinahekatastrophe deckt leider auch die Mängel des Schiffes auf«, mahnte der Marsianer. »Unsere Elektronenrechner sind zu ungenau.«

Nick musterte seinen Gefährten. Xutls zartgrüne Hautfarbe schimmerte dunkler als zuvor. Also beschäftigte sich der Marsianer intensiv mit dem Problem.

»An Bord des Sternenschiffs sind die besten Elektronengehirne installiert, die je auf der Erde entwickelt wurden«, widersprach Nick. »Bevor du ihre Leistungsfähigkeit anzweifelst, frag Professor Raskin nach den Besonderheiten.«

Xutl tippte sich mit zwei Fingern ans Kinn. »Es hat nichts mit den Computern und ihrer Kapazität zu tun, sondern mit den Werten, die unseren Flugberechnungen zugrunde liegen. Wir nutzen die astronomischen Entfernungsmessungen als Grundlage für jeden Hyperraumsprung. Dabei sind sie nur annähernd genau. Ich gebe zu, dass für die Lokalisierung von Sonnen und Planeten einige Millionen Kilometer Abweichung keine Rolle spielen; trotzdem können sie über Leben und Tod entscheiden.«

»So ist es«, pflichtete Tom bei, der bislang schweigend zugehört hatte. »Dass wir um ein Haar in der Gluthitze Proxima Centauris gebraten worden wären, steckt mir gewaltig in den Knochen.«

»Selbstverständlich müssen wir alle Unsicherheitsfaktoren in die Berechnungen einbeziehen.« Nick lächelte säuerlich. »Im Notfall bleibt uns dennoch keine andere Wahl, als schnell zu handeln.«

»Mir genügt es vollauf, dass wir einmal fast geröstet worden wären«, sagte der Marsianer. »Ich brauche keinen weiteren Zwischenfall dieser Art.«

»Nachdem das nun geklärt ist: Kannst du unsere exakte Position bestimmen, Xutl?«

»Das wird nicht einfach, Nick. Irgendwo im Leerraum zwischen den Galaxien, das ist unser Standort.«

 

*

Über Rundruf hatte Nick die technischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter der Freischichten in die Zentrale gebeten. Da verharrten sie nun und blickten ihm, Tom Brucks und dem Marsianer angespannt und erwartungsvoll entgegen. Sie alle an Bord bildeten eine eherne Gemeinschaft. Vor ihnen lag das bislang größte Abenteuer der Menschheit – und das Schicksal hatte einen beachtlichen Anteil daran.

»Unsere interstellare Forschungsreise verläuft bereits zu Beginn anders als erwartet«, eröffnete Nick seinen Zuhörern. Keine ihrer Regungen entging ihm. Hinter dem Raumfahrer erstreckte sich der große, dem Rund der Zentrale angepasste Bildschirm. Der Anblick der Milchstraße aus der Unendlichkeit heraus war phantastisch und überwältigend zugleich.

»Die Expedition zu unserer Nachbarsonne Proxima Centauri hat uns in Bereiche entführt, an die wir nicht einmal zu denken wagten. Wir haben die eigene Galaxis verlassen. Aus den wenigen Lichtjahren, die es zu überwinden galt, sind Hunderttausende geworden.«

»Eine Ewigkeit!«, ächzte jemand.

Nick lächelte. »So können wir es nennen, ja. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass unser Sternenschiff diese ›Ewigkeit‹ innerhalb weniger Augenblicke überwinden konnte.«

»Demnach werden wir ebenso schnell zum Ausgangspunkt zurückkehren?«

»Wir könnten es, sobald die entsprechenden Berechnungen vorliegen. Nur: Wollen wir das? Ich schlage vor, dass wir unsere Forschungen nicht wie geplant auf Proxima Centauri konzentrieren. Der Zufall bietet ein weit größeres Betätigungsfeld.«

»Die Milchstraße erscheint uns wie eine Insel im Ozean der Ewigkeit«, bemerkte einer der Wissenschaftler. »Und außer ihr sehen wir eine Fülle weiterer Inseln. Wenn das nicht unser Fernweh weckt …«

Der Mann hatte einige Lacher auf seiner Seite. Aber auch Besorgnis drückte sich in dieser aufgesetzten Heiterkeit aus.

Nick reagierte mit einer moderat abwehrenden Geste. »Die fremden Galaxien sind Millionen Lichtjahre entfernt. Wir werden das Risiko nicht eingehen, irgendwo da draußen zu stranden. Das Randgebiet der Milchstraße bietet genügend Neuland für unsere Expedition – mit dem Vorteil, dass wir wohl immer zur Erde zurückfinden werden, egal wie ungenau die nächsten Sprünge durch den Hyperraum auch ausfallen sollten.«

»Das wollte ich ebenfalls vorschlagen«, wandte Xutl ein. »Nach meinen Berechnungen befinden wir uns rund 684.000 Lichtjahre von der Galaxis entfernt. Wenn das Sternenschiff beim Rückflug nur ein Prozent vom Kurs abweicht, bedeutet das schon mehrere Tausend Lichtjahre. Es ist gar nicht lange her, da hätte keiner von uns gewagt, solche Entfernungen überhaupt in Erwägung zu ziehen.«

»Sie haben recht, Xutl!«, bestätigte der Geologe James Simpson, der sich mit einigen Wissenschaftskollegen im Flüsterton ausgetauscht hatte. »Außerdem denke ich, dass jeder mit Nicks Vorschlag einverstanden ist.«

Niemand widersprach.

»Also pirschen wir uns langsam wieder an die Milchstraße heran.« Mit einem knappen Dank an alle löste Nick die Versammlung auf. »Vorher prüfen wir sämtliche Systeme!«, ordnete er an. »Die erste Etappe auf dem Weg zurück wird in acht bis zehn Stunden erfolgen.«

 

*

Bis zum übernächsten Tag war die halbe Strecke zur Milchstraße überwunden. Jeder in der Zentrale genoss den Anblick der stetig größer werdenden Galaxis.

Mit mehreren Sprüngen durch den Hyperraum hatte das Sternenschiff problemlos über dreihunderttausend Lichtjahre zurückgelegt. Der Blickwinkel auf die Milchstraße hatte sich währenddessen deutlich verändert. War sie anfangs aus einer Position hoch über der Ekliptik zu sehen gewesen, zeigte sie sich mittlerweile in einer schmal gewordenen Seitenansicht.

Nick hatte der Mannschaft des Sternenschiffs und sich selbst zuletzt eine ausgiebige Schlafpause gegönnt. Er war erst vor zehn Minuten in die Zentrale zurückgekehrt. Tom schlief wohl noch. Auch von Xutl, der wieder den Platz des Piloten einnehmen sollte, gab es keine Meldung.

Nick überflog die Aufzeichnungen der Instrumente, fand aber nichts, was von Belang gewesen wäre. Er sah auf, als sich Schritte seinem Platz näherten. »Wir setzen den Flug heute mit drei weiteren Etappen fort«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ich nehme an, Xutl, du hast die nächsten Berechnungen …«

Die Schritte verstummten. Jemand räusperte sich vernehmlich. »Entschuldigen Sie die Störung, Kommandant!«

Das war nicht der Marsianer. Nick wandte sich im Sessel um. Sein Blick fiel auf einen untersetzten Mann, dessen Uniform wie eine zweite Haut über dem Körper spannte. Das galt ebenso für die Kappe, die das Gesicht einrahmte. So wie sie ins Fleisch drückte, verlieh sie Wangen und Kinn den Eindruck üppiger Fülle.

»Was wollen Sie in der Zentrale, Smutje?«, fragte Nick. »Haben Sie in der Kombüse nichts zu tun?«

»Ich muss erneut Meldung machen, Kommandant. Über weitere Diebstähle aus dem Vorratsraum.«

»Schon wieder? Ich bin sicher, dass niemand an Bord Lebensmittel klaut. Weshalb auch? Aber wenn Sie es ausdrücklich wünschen, Smutje: Ich nehme den Vorfall zur Kenntnis. Und nun gehen Sie zurück zu Ihren Töpfen.«

Der Koch dachte nicht daran. »Vor Tagen haben Sie mir Nachlässigkeit bei der Führung der Bücher vorgeworfen, Kommandant«, protestierte er. »Das kann ich keinesfalls auf mir sitzen lassen. Sie brauchen einen Beweis? Genau deshalb habe ich eine Infrarotkamera installiert.«

Mit beiden Händen tastete er über seine Kombination. Er fand nicht sofort, wonach er suchte, doch schließlich zog er aus einer Seitentasche ein bedrucktes Glanzpapier hervor.

»Sehen Sie sich das an, Kommandant!« Der Smutje reichte Nick die Fotografie und blieb abwartend stehen.

Nick betrachtete die Aufnahme. Sie war in der Düsternis der schwachen Notbeleuchtung gemacht worden, zeigte aber trotzdem deutlich, worauf es ankam: zwei mit unterschiedlichsten Behältnissen vollgestopfte Regalreihen und in dem engen Gang dazwischen einen Mann, der Vorräte entnahm.

»Wir haben wirklich einen Dieb unter uns?«, fragte Nick verblüfft. »Aber warum stiehlt er Lebensmittel? Die Verpflegung ist gut und reichlich, keiner an Bord muss hungern.«

»Schade, dass der Kerl nur von hinten zu sehen ist«, bemerkte der Smutje.

Nick musterte das Bild eingehender. »Er trägt eine Waffe an der Hüfte. Das ist merkwürdig. Niemand läuft bewaffnet im Schiff umher. Sämtliche Energiestrahler sind unter Verschluss.«

Der Weltraumfahrer drehte das Bild, doch es gab sein Geheimnis nicht preis.

»Ich behalte die Aufnahme und werde mit Tom und Xutl darüber sprechen«, entschied er. »Stellen Sie eine oder zwei weitere Kameras auf, Smutje. Es wäre gelacht, wenn wir dem Dieb nicht auf die Spur kämen!«

 

*

Im Laufe des Tages näherte sich das kugelförmige Sternenschiff weiter der Milchstraße. Am Abend stand es nahezu auf Höhe der galaktischen Ebene. Das Sternenmeer füllte den großen Bildschirm fast vollständig aus.

»Ein äußerst imposanter Anblick!« Die Tierfängerin Jane Lee war vor wenigen Minuten in die Zentrale gekommen und blickte seitdem sichtlich bewegt auf die optische Wiedergabe. »Ich weiß nicht, ob ich Furcht oder Ehrfurcht empfinden soll.«

»Beides, Miss Lee«, kommentierte Tom Brucks. »Vor allem die Überlegung ist angesagt, wie viel unterschiedliches Leben diese Sonnen hervorgebracht haben mögen.«

Mit einer fahrigen Handbewegung streifte die Tierfängerin ihr schulterlanges blondes Haar zurück. »Ich versuche mir vorzustellen, dass unsere Erde nur ein winziges Staubkorn ist. Trotzdem haben wir Menschen es geschafft …« Sie schwieg für einen Moment. »Dieser Schatten, Nick, der die Galaxis scheinbar in zwei Hälften teilt …?«

»Wir sehen die Milchstraße von der Seite. Gas- und Staubwolken bilden den düsteren Gürtel um die Äquatorebene. Vielleicht liegen außen besonders viele alte und schon erloschene Sonnen.«

 

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»Der Anblick erinnert mich an den Saturn mit seinem Ringsystem. Nur steht hier kein riesiger Planet im Mittelpunkt …«

»… sondern eine Ballung aus Milliarden von Sonnen«, vollendete der Weltraumfahrer den Satz. »Der nächste Sprung durch den Hyperraum wird unser Schiff so nahe an die Galaxis heranbringen, dass wir nur noch einen kleinen Ausschnitt sehen.«

»Unsere Sonne …?«

Nick schüttelte den Kopf. »Es wird geraume Zeit dauern, bis wir sie als winzigen Punkt in dieser Fülle aufspüren.«

 

 

 

ZWEI

 

Das Sternenschiff beendete den vorerst letzten Sprung im Randbereich der Milchstraße.

»Das Teleskop zeigt einen merkwürdigen Stern in Flugrichtung, Nick!«, rief Xutl über die Visiphonverbindung der einzelnen Arbeitsplätze. »Es ist ein Doppelstern. Fliegen wir ihn an?«

»Auf jeden Fall! Warum sollte die Expedition eine interessante Konstellation ignorieren?«

»Gut. Ich berechne das erforderliche Überlichtmanöver. Nur mit dem R3-Antrieb würde der Anflug mehrere Tage in Anspruch nehmen.«

Dreißig Minuten lang raste das Sternenschiff den fremden Sternbildern entgegen, dann leitete Xutl den Hypersprung ein.

Beinahe schlagartig veränderte sich die Wiedergabe auf dem Bildschirm. Nick stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Donnerwetter!«, entfuhr es Tom Brucks. Der Marsianer schnalzte anerkennend mit der Zunge.

Im Zentrum der optischen Wiedergabe standen zwei Sonnen nahe beieinander: ein riesiger, bläulich lodernder Glutball und ein kleinerer gelber Stern ähnlich dem irdischen Zentralgestirn.

Beide Sonnen umkreisten einander in geringem Abstand, wobei der größere gewaltige Partikelschleier ausstieß, weit mehr als die üblichen Protuberanzen. Die Schwerkraft des kleinen Begleiters provozierte diese steten Eruptionen, dennoch fing sie lediglich einen Bruchteil der verwehenden Glut selbst ein. Der weitaus größte Teil der brodelnden Gasschwaden wurde von den Zentrifugalkräften weit in den Raum hinausgeschleudert: Eine glühende Spirale nahm bei den beiden Sonnen ihren Anfang, dehnte sich aus und verlor sich als immer fahler werdender Schleier im Raum.

»Ein phantastischer Anblick«, seufzte Tom. »Und das ist wohl erst der Anfang dessen, was die Milchstraße an Wundern für uns bereithält.«

Xutl räusperte sich. »Dieses Sonnengespann hat Planeten«, stellte er fest.

»Wirklich?«, fragte Nick.

»Die Instrumente zeigen es deutlich«, bestätigte der Marsianer. »Offenbar sogar mehrere. Einer von ihnen kommt uns auf seiner Umlaufbahn um beide Sonnen entgegen. Seine Größe …« Xutl überzeugte sich mit schnellen Kontrollschaltungen davon, dass die Skalen ihm korrekte Werte lieferten. »Die Größe entspricht ungefähr der unseres Jupiters.«

»Also ist er für uns ungeeignet.« Tom klang hörbar enttäuscht. »Seine Schwerkraft würde uns erdrücken. Für den Besuch solcher Welten sind wir Menschen nicht geschaffen.«

 

*

Wenig später zog das Sternenschiff an dem Planetenriesen vorüber. Es blieb eine kurze Begegnung. Die von dichten Wolkenfeldern verhüllte Welt weigerte sich geradezu, ihr Antlitz zu zeigen. Nicht einmal die Radarmessungen ermöglichten Rückschlüsse.

Mit dem R3-Antrieb raste das Sternenschiff tiefer in das System hinein. Die Spirale glühender Gasschleier mutete an wie ein enger werdender Tunnel. An seinem Ende warteten die beiden Sonnen. Es wirkte, als starrten sie dem Schiff entgegen – wie eine Spinne, die inmitten ihres Netzes auf Beute lauerte.

»Dieses System verfügt über mehr Planeten, als wir zunächst erkennen konnten«, stellte Xutl fest. »Die kleineren kreisen auf sonnennahen Umlaufbahnen. Sobald wir einen finden, der dem Mars oder der Erde ähnelt …«

»… fliegen wir ihn an!«, bestätigte Nick.

Die Zeit verrann schnell. Der gewohnte Rhythmus von vierundzwanzig Stunden und die Aufteilung in Tag- und Nachtphasen waren an Bord des Schiffes beibehalten worden. »Wir Menschen sind Gewohnheitstiere«, hatte der Biologe Tom Brucks bald nach dem Aufbruch der Expedition festgestellt. »Es gibt keinen Grund, solche Dinge zu verändern.«

»Zwei Planeten sind so nahe, dass wir sie innerhalb der nächsten dreißig Minuten erreichen können!«, meldete der Astronom Will Heines. »Beide scheinen für eine Landung geeignet zu sein.«

Nick sichtete die Messdaten, die Heines ihm übermittelte, und nickte zustimmend.

Kurze Zeit später zeigte der Hauptbildschirm beide Planeten. Der weiter entfernte wurde nur wenig größer wiedergegeben als die vielen Sterne im Randbereich der Milchstraße, der andere schimmerte im Licht der beiden Sonnen als rötlich-blaue Kugel.

»Simpson hier!«, meldete sich einer der Wissenschaftler über Visiphon. »Ich registriere ungewöhnlich starke Radioaktivität.«

»Ist die Ursache erkennbar?«, wollte Nick wissen.

»Vermutlich die starken Protuberanzen. Je näher wir dem Sonnenduo kommen, desto intensiver werden die Partikelschauer. Extrem harte Strahlung, dagegen bietet die Isolierung der Schiffszelle nur geringen Schutz. Die Geigerzähler zeigen schon schwache Radioaktivität im Schiffsinnern an.«

»Das sind ungewöhnliche Bedingungen«, wandte Tom ein. »Unter diesen Voraussetzungen kann sich auf den inneren Planeten kaum Leben entwickelt haben. Da ist bestimmt kein Blumentopf zu gewinnen. Und wenn, dann wäre die Blume womöglich so exotisch, dass wir sie nicht einmal als solche erkennen könnten.«

»Wir drehen ab und fliegen einen freundlicheren Stern an!«, entschied Nick.

 

*

Der Smutje hatte auf Nicks Geheiß zwei weitere Infrarotkameras im Vorratslager installiert. Die Unruhe des korpulenten Mannes wuchs. Je länger er darüber nachdachte, wie Nick ihn angesehen hatte – ungläubig, amüsiert, fast schon spöttisch –, desto deutlicher wurde ihm bewusst, dass der Weltraumfahrer ihm nicht glaubte. Nick argwöhnte, dass er die Diebstähle nur vortäuschte, um die eigene Ration verdoppeln zu können.

Dieser Gedanke ließ dem Koch keine Ruhe. Er hatte das Abendessen abgewartet, die Schiffsmesse danach leidlich aufgeräumt und für die Männer der Spätwache das Essen bereitgestellt. Nun verließ er die Kombüse durch das rückwärtige Schott.

Zögernd sah er sich um, als er den fahl beleuchteten Verbindungsgang betrat. Kurzzeitig fühlte er sich unwohl dabei. Falls jemand nach ihm suchte oder er gar selbst beobachtet wurde, würde Nick ihn endgültig als Lügner ansehen.

Er huschte den Gang entlang. Es waren fünfzehn Meter bis zum Lagerraum. Unnatürlich laut klangen seine Schritte auf dem nackten Stahlboden.

Einbildung?

Sein Herz hämmerte wild gegen die Rippen, während er den Zugang öffnete. Viel zu langsam schwang die Tür vor ihm auf.

Der Smutje zögerte, dann stürmte er vorwärts. Ein Streifen fahler Helligkeit fiel sekundenlang von draußen herein, dann schloss sich die Tür hinter ihm mit sattem Schmatzen. Er hielt inne und lauschte. Es fiel ihm schwer, die eigene Aufregung zu dämpfen. Erst nach Minuten, in denen zum Glück alles ruhig blieb, war er sicher, dass er alleine in dem Lager war.

Wohin er sich wenden musste, hatte er in seinen Überlegungen oft genug durchgespielt. Wenige Meter hinter dem Eingang, zwischen den Kühlaggregaten und den ersten Regalen, gab es eine Nische, in der er einigermaßen bequem warten konnte.

Am Vortag war der Dieb nicht gekommen. Der Smutje war sicher, dass er deshalb nicht lange würde warten müssen. Hunger war schwer zu unterdrücken, Durst noch viel weniger.

Es war unangenehm kühl in der Halle. Er kauerte sich zusammen, zog die Arme an den Oberkörper und rieb schließlich mit den Händen über seine Schultern. Bei ein wenig mehr Helligkeit als der trüben Notbeleuchtung hätte er den Atem vor seinem Gesicht als fahlen Hauch sehen können.

Irgendwann fielen ihm die Augen zu und sein Kopf sackte nach vorne. Er kippte gegen die Wand des Kühlaggregats, nahm das aber kaum wahr.

Erst ein Geräusch schreckte ihn auf.

Im ersten Moment wusste der Smutje nicht, wo er sich befand und was geschehen war. Er blinzelte verwirrt in die Düsternis.

Das leise Summen der aufgleitenden Stahltür hatte ihn geweckt. Jemand betrat die Lagerhalle. Kurz zeichnete sich eine menschliche Silhouette im geöffneten Durchgang ab, danach war alles wie zuvor.

Das ist der Bursche!, dröhnte es in den Überlegungen des Kochs. Der Fremde bewegte sich leise und kam näher.

Der Smutje wagte kaum zu atmen. Er spannte die Muskeln an, denn der Eindringling musste an ihm vorbei. Er bedauerte, dass er nichts mitgenommen hatte, mit dem ihm das Zuschlagen leichter gefallen wäre, einen Fleischklopfer oder etwas Ähnliches.

Ein Schatten wuchs neben ihm auf. Der Smutje sah nur einen bleichen Schimmer, das Gesicht des Fremden. Ein dichter schwarzer Oberlippenbart und ein Kinnbart – das war keiner, der zur Schiffsbesatzung gehörte.

Die Anspannung wurde unerträglich. Der Smutje zog den Bauch ein, aber es half nichts; mit leisem Gurgeln meldete sich der Hunger aus seinen Eingeweiden.

Der Fremde verharrte.

Der Zorn auf ihn selbst wegen seiner Ungeschicklichkeit, aber mehr noch auf den Dieb, ließ den Smutje in die Höhe fahren.

»Dir werde ich das Stehlen austreiben!« Mit beiden Fäusten schlug er gegen den Oberkörper des Gegners. »Wer bist du und wieso konntest du an Bord gel…?« Etwas rammte in seine Magengrube. Der Hieb trieb ihm die Luft aus der Lunge und zwang ihn, sich zusammenzukrümmen.

»Du merkst aber auch alles, Dicker«, spottete der Fremde. Gleichzeitig landete er den zweiten Schlag – punktgenau unters Kinn.

Härter konnte ein auskeilender Ackergaul nicht zutreten. Der Smutje breitete noch die Arme aus, konnte den Sturz rückwärts aber nicht abfangen. Schwer krachte er gegen die Wand und stürzte zu Boden. Den Aufprall spürte er schon nicht mehr.

 

*

Der Mann rieb sich die schmerzende Faust. Der Dicke, den er eben niedergeschlagen hatte, sah zwar nicht danach aus, hatte aber verdammt harte Knochen.

»Schade, dass es so ausgehen musste«, raunte er im Selbstgespräch. »Doch früher oder später hätte man mich sowieso aufgespürt.«

Er hatte gehofft, sich an Bord des Sternenschiffs verbergen zu können, bis ein bewohnter Planet mit erdähnlichen Bedingungen entdeckt wurde. Dass es nun anders gekommen war, hatte er in Kauf nehmen müssen. Er konnte nur die Flucht nach vorne ergreifen.

»Jedenfalls werden sie meinetwegen die Expedition nicht abbrechen. Am besten, ich stelle mich. Bis wir die Erde wieder erreichen, in einigen Monaten oder gar erst in Jahren, finde ich bestimmt eine Möglichkeit, der Bestrafung zu entgehen.«

Er überzeugte sich davon, dass der Koch eine Weile bewusstlos bleiben würde. Danach wandte er sich den Regalen zu, wie er es vorgehabt hatte. Diesmal nahm er nur eine Packung mit vorgefertigtem Gebäck heraus. Der Inhalt erhitzte sich, kaum dass er die Verpackung aufriss. Ein köstliches Aroma breitete sich aus.

In aller Ruhe aß er die beiden Gebäckstücke, drückte dem am Boden liegenden Dicken die leere Folie in die Hand und verließ das Lager.

Er legte es nicht länger darauf an, ungesehen zu bleiben. Trotzdem begegnete er in den Korridoren des Sternenschiffs nicht einem einzigen Besatzungsmitglied.

Längst hatte er herausgefunden, wo die Zentrale des großen Kugelraumschiffs lag. Er zögerte nur kurz, als er sie erreichte, und ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Ohne zu zögern, trat er ein und ging langsam auf den Kommandobereich zu. Die Daumen hakte er im Gürtel ein.

»Hallo!«, sagte er. »Wir haben uns eine Weile nicht gesehen. Wie geht es euch?«

Seine Stimme, das amüsierte ihn, hatte die Wirkung einer kleinen Explosion. Nick und der Marsianer Xutl zuckten in ihren Sesseln förmlich zusammen und fuhren herum.

Xutl brachte nur ein klägliches »Oh!« über die Lippen.

Nick stemmte sich mit beiden Händen auf die Armlehnen, als wollte er aufspringen, doch er tat es nicht.

»Jack?!«, sagte der Weltraumfahrer, um Fassung bemüht. »Jack Hunter! Ich hatte nicht erwartet, Sie jemals wiederzusehen.«

»Seltsam.« Jack lächelte. »Mir erging es kein bisschen anders.«

 

 

 

DREI

 

»Bei allen Teufeln der Galaxis!«, platzte Xutl heraus. »Wie kommt der Bursche ausgerechnet in unser Schiff?«

Jack Hunter, der verbrecherische Großwildjäger, breitete die Arme aus und zeigte Nick und dem Marsianer die leeren Handflächen. Ich bin friedfertig und will keinen Ärger machen, sollte die Geste bedeuten. Jedem hätte Nick diese Aussage abgenommen, nicht jedoch Hunter. Von einer Sekunde zur nächsten war vor seinem inneren Auge alles wieder präsent. Diese Erinnerungen würde er nie verlieren. Hunter war in seinen Augen ein Psychopath – extrem freundlich, aber zugleich tödlich, sobald er sich davon einen Vorteil versprach. Vor allem war er hinter seinem Vorteil her wie der Teufel hinter der armen Seele.

»Not macht erfinderisch, meine Herren«, antwortete der Großwildjäger, als sei er sich absolut keiner Schuld bewusst. »Ich wollte immer schon am ersten interstellaren Raumflug teilnehmen. Etwas anderes kam für mich nicht infrage. Wie Sie sehen, habe ich es geschafft.«

Nick ballte die Rechte zur Faust. Er war drauf und dran, sich auf den Jäger zu stürzen und zuzuschlagen. Auge um Auge, Zahn um Zahn!, dröhnte es in seinen Gedanken. Trotzdem ließ er sich nicht verleiten. Wahrscheinlich wollte Hunter genau das provozieren. Der Schwarzhaarige mit dem markanten Bart intrigierte womöglich schon wieder. Warum sonst hätte er ausgerechnet jetzt sein Versteckspiel aufgegeben?

»Ihre Unverschämtheit ist nicht zu überbieten«, hörte Nick sich sagen. »Ich sollte Sie in Ketten legen lassen, damit Sie kein neues Unheil anrichten können, und Sie bei Wasser und Brot einsperren. An unseren Vorräten haben Sie sich ohnehin schon vergriffen.«

»Das wissen Sie?«, fragte Hunter mit der unschuldigen Stimme eines Engels.

Nick schwieg dazu. Im Nachhinein gesehen hätte er den richtigen Schluss schon bei der ersten Diebstahlsmeldung des Smutjes ziehen müssen. Doch er hatte jeden Gedanken an Jack Hunter weit von sich geschoben.

Wie ein Orkan war der Großwildjäger in sein Leben eingebrochen. Nick dachte an den Tigerangriff auf der Südseeinsel Molokai, mit dem Hunter seine Reaktionen hatte testen wollen. Dann der Plan, gemeinsam nach Rom zu fliegen, die eindeutig auf Sabotage zurückzuführende Explosion im Seitenleitwerk des Flugzeugs. Geschickt hatte der Jäger es verstanden, den vermeintlichen Anschlag seiner Konkurrentin Jane Lee unterzuschieben. Die Wahrheit war erst auf der Venus offenbar geworden, als Hunter Nicks Raumschiff entführt hatte. Ein Todesmarsch quer durch den Dschungel der Venus hatte sich angeschlossen. Nick brauchte nur die Augen zu schließen, dann war alles wieder da: seine Verzweiflung, die Schmerzen, die Fieberphantasien – und über ihm die Schatten und die schrillen Schreie der Venusgeier. Er war dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen.

»… und es war leicht, mit einer Ladung von Ersatzteilen an Bord des Sternenschiffs zu gelangen. Während die Wachen der Venusstation das Schiff durchsuchten, hielt ich mich in einem der Hydroponiktanks verborgen. Keiner hat mich dort vermutet.«

Hunter hatte knapp berichtet, ohne mehr zu verraten, als sich ohnehin jeder zusammenreimen konnte. Wo er sich seitdem an Bord des Sternenschiffs verborgen hatte, würde er kaum preisgeben.

»Was versprechen Sie sich eigentlich von Ihrem Vorgehen?«, wollte Nick wissen. »Sie können Ihrer gerechten Strafe nicht entrinnen.« Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass zwei Raumsoldaten aufmerksam geworden waren und sich geschickt postierten.

»Wenigstens habe ich einen Aufschub erreicht.« Hunter lachte zuversichtlich. »Ich nehme nicht an, dass Sie meinetwegen die Expedition abbrechen und zur Erde zurückkehren werden. So ist es doch, Nick, oder? Egal, was Ihnen meine Bestrafung wert sein mag – dieser Flug in unbekannte Gefilde hat für Sie einen sehr viel höheren Stellenwert. Wir sind uns ähnlicher, als Sie es wahrhaben wollen.«

»Ich könnte den Kerl zu Boden schicken!«, fuhr Xutl auf. »Wenn ich nur daran denke, was er dir und den anderen auf der Venus angetan hat.«

In einer schnellen Drehung winkelte der Marsianer den rechten Arm an und holte zum Schlag aus. Nick reagierte gerade noch und hielt den Freund am Handgelenk zurück.

»Ruhig bleiben, Xutl!«, mahnte er. »Hunter ist es nicht wert, dass du gegen die Regeln der Expedition verstößt. Er wird seine Strafe bekommen, sobald wir zur Erde zurückkehren.«

Im Bereich des Zugangsschotts entstand Unruhe. Nick sah auf. Ein Mann im grünen Overall der Stammbesatzung stürmte heran. Er hielt den Kopf gesenkt und zwischen die Schultern gezogen, als wollte er sich von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Es war der Smutje. Die füllige Gestalt war unverkennbar.

»Kommandant!«, stieß er schwer atmend hervor und versuchte, Haltung anzunehmen. »Ich …« Sein Blick fiel auf den Großwildjäger, der ihm überrascht entgegensah. »Da ist er ja, dieser elende Halunke!«, fuhr er auf.

Hunter lächelte leicht amüsiert. Es schien, als ahnte er die Schimpftirade, mit der der Koch sich gleich beschweren würde.

 

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