Pekárková, Iva Truck Stop Rainbows

PIPER

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Übersetzt aus dem Tschechischen von Natascha Drubek-Meyer und Ladislav Drubek

ISBN 978-3-492-97908-5

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Iva Pekárková 1989

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Péra a perutě«, Sixty Eight Publishers, Toronto 1989

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 1995

Die von der Autorin durchgesehene englische Erstausgabe, deren Textveränderungen teilweise auch in der vorliegenden deutschen Übersetzung berückischtigt wurden, erschien 1992 unter dem Titel »Truck Stop Rainbows« bei Farrar, Straus & Giroux in New York

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Meinem Vater und
dem Andenken meiner Mutter

1

Das Leben ist eine Sackgasse, eine Einbahnstraße mit Halteverbot, fiel mir an dem Tag ein. Ich fuhr mit dem Bus und wälzte diesen Gedanken in meinem Kopf hin und her. Er gefiel mir – schon der unersättlichen Tramperin in mir gefiel er. Er würde mir als Anfang einer Geschichte gefallen (die sich dann zu einem Happy-End entwickeln müßte), aber ich war mir nicht sicher, ob er nicht zu vordergründig und ohne Tiefgang war.

Ich dachte an Patrik. Er würde es wissen.

Der Bus, der zwischen der Gartenstadt und meinem Zuhause pendelte, bremste immer mal wieder schnaubend, warf mich in den Kurven in die Arme meines verschwitzten Sitznachbarn und vibrierte leicht. Ich brachte das Zittern mit dem angenehmen Gefühl zwischen meinen Oberschenkeln in Verbindung und dachte an Freud. Jeder dieser raffinierten Stöße glich der treffsicheren Berührung einer zögernden, aber geübten Hand. Wenn man es in Worte und Vorstellungen kleidete, war es wirklich erregend – nur konnte ich mich nicht erinnern, ob und wie stark ich dieses Angenehme auch schon früher gefühlt hatte, bevor ich Freud gelesen hatte. (Ein Vorteil der professionellen Beschäftigung mit Psychologie.) Durch fleißiges Üben hatte ich gelernt, meinem Körper diese flüchtigen, aber unentbehrlichen Freuden, diese kurzen Ausbrüche aus dem Grau des Alltags zu verschaffen – und es war meinem Körper nicht anzusehen, ließ sich nicht am Gesicht oder an den Augen ablesen.

Von Psychologen erwartet man, daß sie ihren Mitmenschen helfen, und so war es kein Wunder, daß meine Freundinnen (oder besser gesagt, meine ehemaligen Mitschülerinnen) aus dem Gymnasium mich oft um Rat baten: Du bist doch die Psychiaterin, die Analytikerin, die Frau Doktor. Sag uns doch, was wir mit unseren Männern, mit den Kindern anfangen sollen, was hältst du von meiner Schwiegermutter … Anfangs hörte ich sie mir an – obgleich ich weder Psychiaterin war noch das Doktordiplom hatte. Wenn ich dann aber ernsthaft versuchte, eine Lösung zu finden, hieß es: Was kannst du, eine Ledige, von unseren Problemen, den Problemen verheirateter Frauen und Mütter auch nur ahnen?!

Die Mädchen legten in das Wort »Mutter« das gleiche Pathos, wie es die Plakate und Transparente ausstrahlten, die mir auf den Straßen die Aussicht auf die Welt nahmen. Die Mutter – das brave Weibchen, das mit stumpfer Beharrlichkeit immer neue Khakisoldaten produziert, die einmal heldenhaft im Kampf für eine bessere Welt fallen würden.

Ich glaube nicht, daß es jemals eine bessere Welt geben wird. Und wenn es eine weniger abscheuliche, weniger graue und ausdruckslose Welt gibt als die, in der wir leben, dann bin ich überzeugt, daß die Suche nach ihr eher ein geographisches als ein zeitliches Problem darstellt; was ich selbstverständlich für mich behalte.

Versuche, während des Seminars eine Diskussion in Gang zu setzen, endeten üblicherweise mit einem herablassenden Lächeln des Dozenten und dem Verweis auf einen Klassiker oder geradewegs auf die Heilige Dreieinigkeit Marx-Engels-Lenin. Die Universität, die uns eigentlich zur Liebe zu unseren Mitmenschen erziehen sollte, machte aus uns langsam, aber unbeirrbar ein Häufchen sehr belesener, überheblicher Misanthropen. Ich gab trotzdem nicht auf und büffelte weiter was das Zeug hielt, aber die unangenehm näher rückende Zukunft nach der Hochschule versprach auch nicht den leisesten Hauch von Morgenröte. Nein, ich sah die Realität nicht schwarz. Ich sah sie grau, grau wie ein kontrastarmes Amateurfoto. Grau wie der Frühling um uns herum.

2

O ja, es war Frühling. Oder eigentlich Vorfrühling. Die grusbedeckten übermütigen Meisen zwitscherten und hüpften in dem grusbedeckten Gebüsch herum. In Prag zog der Frühling ein. In unserer Nachbarschaft ließ er an den grusbedeckten Zweigen der Forsythien die Knospen bersten: Die leuchtend gelben Blüten stürmten ungeduldig hervor und erhellten für einen Augenblick die Welt, nur damit wir ein paar Tage später die durchsichtigen, kraftlosen, vom ersten Frühlingsregen herabgeschlagenen Blumen zertrampeln konnten. Die Birken trieben kleine Blätterspitzen von erfrischend unschuldigem Grün hervor, die diesjährigen, die von dem Asche- und Schwefelregen aus dem Nusler Tal noch nichts abgekriegt hatten.

Meine ehemaligen Mitschülerinnen, die verheirateten Frauen und Mütter, zogen ihre Sprößlinge mit einer in den übrigen Monaten undenkbaren Rasanz die duftenden Straßen entlang – und schilderten mir in unfreiwilligen Gesprächen (von meiner Seite unfreiwillig) ihre Schwierigkeiten, die zu dieser Jahreszeit weniger die Gestalt der mit der Nudelwalze drohenden Schwiegermutter als die des enttäuschenden Ehemannes annahmen. Aber davon verstehst du nichts, belehrten mich die verheirateten Frauen und Mütter. Du bist ja ledig! Du hast keine Kinder! Aber wie sehr mich das Gejammer auch langweilte, ich hörte ihnen dennoch zu: Die Gefühlsergüsse hatten etwas Befriedigendes an sich, denn sie überzeugten mich immer von neuem, daß das Ledigsein, das Freisein das Beste ist, was einer fünfundzwanzig jähr igen Frau passieren kann.

Der Frühling hatte keine besondere Wirkung auf mich. Ich fühlte mich genauso frei im Herbst; im Sommer fühlte ich mich frei, etwa in einem Heuhaufen; und im Winter in einer Wohnung, einem Wagen oder in irgendeinem heruntergekommenen Wochenendhaus; einmal wollte ich mich im Schnee frei fühlen, aber dafür mußte ich mit einer Blasenentzündung bezahlen. Ich konnte mir nicht vorstellen, endlich etwas gesetzter, weiser zu werden, wie meine Oma das Zusammenschrumpfen der fünf Erdteile auf die Küche, das Ehebett und das von Windeln feuchte Badezimmer zu nennen pflegte; anders zu leben, als ich lebte, jemanden zu haben, dem ich etwas erklären, für den ich Ausreden erfinden oder den ich anlügen müßte, und für mein Gärtchen, wie das Sprichwort sagt, nur einen Spaten zu haben, und den darf man noch nicht mal ablehnen. In meinem Alter nicht verheiratet zu sein, keine Kinder zu haben, nicht mit jemandem eingehängt die Straßen entlangzustolzieren (seit ein paar Wochen immer mit dem gleichen, so daß Hoffnung besteht, daß er dich heiratet), ja, nicht einmal mit einem an vergangener großer Liebe gebrochenen Herzen angeben zu können – das war in dieser engen, grauen, verplanten, normalen und normalisierten Welt etwas Sträfliches. Hätte es Patrik nicht gegeben, hätte ich wahrscheinlich bald begonnen, an meinem klaren Verstand zu zweifeln.

3

Patrik war ein animalisch unbändiger, verrückter Typ mit perfekt geschnitzten Gehirnwindungen. Ein Ausbund von Sünde und ein Quell der Weisheit.

Ein professioneller Casanova und ein Amateurpoet.

Ein Klempner mit Hochschulabschluß und ein Forscher auf allen verbotenen Feldern der Wissenschaft.

Ein Schriftsteller, der für die Schublade schrieb, und ein Künstler, der für seine Freunde zeichnete.

Ein Fotograf des Lebens, dem die Bullen nicht nur einmal den Film aus der Kamera gezogen hatten und der dann auf der Wache ein Protokoll unterschreiben mußte.

Ein tolpatschiger Bergsteiger, der dauernd von irgendwelchen Felsen fiel, und ein Entdecker alter Stollen, in denen er sich regelmäßig verlief.

Patrik war begabt und fleißig, aber sehr undiszipliniert. Er könnte, wenn er nur wollte, pflegte seine unglückliche Mama zu sagen.

Das Problem lag darin, daß er das, was er wirklich wollte, meistens nicht tun durfte. Und (wie ich) gerade von den Dingen mächtig angezogen war, die nicht gingen; Dingen, die zwar in keiner Weise unmoralisch waren, die aber nicht gingen – und die Palette seiner Interessen war somit grenzenlos.

Für mich war Patrik ein Mensch – etwas ungemein Kostbares in unserer vor Müdigkeit ergrauten Welt. Er war der einzige Mann, mit dem ich mich nie langweilte und auf den immer Verlaß war. Also mein einziger echter Freund.

4

Es war Frau Fišerová, die mir an dem Tag die Tür öffnete. Es war immer Frau Fišerová, die mir die Tür öffnete, obwohl am frühen Dienstagabend nie jemand anderes zu Besuch kam als ich. Bis Patrik aus seinem Kabuff herauskroch, war sie längst zur Tür getrippelt, und das nur, um mich mit einem so stumpfsinnig förmlichen Lächeln und einer so schlecht gespielten Freude begrüßen zu können, daß ein Tritt in den Hintern über ihr Verhältnis zu mir weniger ausgesagt hätte. »Ach, du bist das«, empfing sie mich und riß die Tür auf. »Läßt dich wieder mal sehen. Paaatrik!« rief sie mit der Lehrerinnen eigenen, dick aufgetragenen süßlichen Herablassung in Richtung des Zimmers ihres siebenundzwanzigjährigen Sohnes. »Besuuuch für dich! Viola ist da …« Ich schlüpfte hinein und verschwand schleunigst in Patriks Zimmer. Ich hasse das gekünstelte Lächeln gesellschaftlich gewandter Frauchen, es fehlt mir das erforderliche Talent dazu, und auch die Psychologie hat mir nicht beigebracht, mich dort wohl zu fühlen, wo ich nicht gern gesehen werde. Außerdem hasse ich es, wenn mich jemand Viola nennt.

»Hallo, Fialka!« begrüßte mich Patrik, und ich fühlte mich sofort gut in seinem Kabuff. Im Unterschied zum Rest der stets blankgescheuerten Wohnung, in der es andauernd nach Küche und großer Wäsche roch (es war mir ein Rätsel, wie Frau Fišerová bei einer dreiköpfigen Familie solche Mengen aufbrachte), war Patriks Schlupfloch eine nach Staub, Büchern, Postern und alten Fotos, die an den Wänden hingen, duftende Oase. Im Inneren der Bettcouch, auf der Patrik schlief, versteckte er seine alten Studienbücher, obszöne Fotos und ein, zwei Fläschchen Weißwein. Über seinem Kopf hingen die beiden Mondseiten, und an der gegenüberliegenden Wand glühte mit heraushängender Zunge die Sonnen-scheibe. Der Sofaüberwurf (Patrik schlief auf ihm nur unter einer Decke ohne Bettlaken) war an mehreren Stellen stark abgewetzt, und dort, wo Patrik den Kopf hatte, konnte man Spuren seiner nicht gerade oft gewaschenen Haare entdecken. Aus Schönheit machte sich Patrik herzlich wenig. Er hatte aber diesen unverwechselbaren Geruch, auf den Frauen offensichtlich fliegen – und ich machte da keine Ausnahme. Wenn wir diskutierten, lag ich meistens auf der Couch, machte mit meinen Socken die noch einigermaßen saubere Wand unter der Sonnenscheibe speckig und hörte ihm, den Kopf in die Hände gestützt, zu. Patrik saß auf einem Hocker, die Ellbogen auf den Knien, das Kinn in den Händen vergraben, und artikulierte hinter gespreizten Fingern seine Gedanken. Wir redeten leise, denn die Wände haben – besonders in Plattenbauhäusern – Ohren, und waren abgeschirmt durch die Klänge von Pink Floyd (es war Patrik gelungen, sich sämtliche Alben auszuleihen und aufzunehmen), die zum Ärger der musikalisch – und nicht nur musikalisch – konservativen Frau Fišerová aus dem halbkaputten Kassettenrekorder heulten.

Ich kannte Patrik schon länger, aber es war ihm erst vor kurzem gelungen, sich seinen eigenen Lebensraum zu erkämpfen. Frau Fišerová war der Ansicht, »daß diese Viola ganz sicher auch hier ihre Finger im Spiel hatte«, und ich schließe nicht aus, daß sie recht hatte. Ich unterstützte ihren nicht mehr blutjungen Sohn in seinen Verrücktheiten und seinen Bemühungen, sein eigenes Leben zu führen – und das riesige verrostete Vorhängeschloß, mit dem er frech sein scheußliches Kabuff abzusperren pflegte, war ein Geschenk von mir zu seinem Fünfundzwanzigsten gewesen.

Patrik war zwar zwei Jahre älter als ich, und doch war er in vielen, vielen Dingen so herrlich kindlich, hilflos und unpraktisch! Und gerade das zog mich zu ihm hin. Es war komisch, da ich mich sonst eher zu um einiges älteren Männern hingezogen fühlte. Zu den erfahreneren, die sich die Hörner schon abgestoßen hatten. Männern, die über das Leben mehr oder weniger Bescheid wußten und sich über die Dinge ein Urteil bilden konnten … Aber Patrik hatte eigentlich eine Menge verschiedener Leben. In einigen war er schon mit vierzehn erwachsen gewesen, in anderen weigerte er sich, etwas weiser zu werden. Dieses sonderbare Gemisch aus Reife und Kindlichkeit, Trauer und fortdauernder Naivität bestimmte ihn noch auf Jahre hinaus.

Selbstverständlich hatte sich Patrik schon lange gewünscht, von seinen Eltern wegzuziehen. Aus diesem Wunsch, der anfangs nicht mehr als ein pubertärer Traum war, wurde allmählich ein ganz natürliches Verlangen nach Unabhängigkeit, allerdings ohne die geringste Chance auf Verwirklichung. Viele seiner Altersgenossen hatten geheiratet und bauten sich ihre Nester. Patriks Durst nach Freiheit und Muße konnte nicht auf diese Weise gestillt werden. Und so vegetierte er weiter im fünften Stock des Plattenbauhauses, dieses Kastens, den er so haßte.

Daß es gelingen würde, in Prag eine Wohnung aufzutreiben, darauf bestand wenig Hoffnung – dafür hatte er zuwenig Beziehungen in den richtigen Kreisen. Das einfachste wäre natürlich gewesen, sich an eine reifere Frau heranzumachen und zu ihr zu ziehen, aber das hätte Patrik nicht übers Herz gebracht. Er hätte auch aus Prag weggehen und in einem Betrieb arbeiten können, der für seine Mitarbeiter Wohnungen bereitstellte. Oder er hätte sich in der Gegend von Most auf die Suche machen können, in dieser von Schwefelregen geplagten Mondlandschaft, in der die Menschen unter Krankheiten der Atemwege leiden. Dort, wo die Umweltschützer, die bei aller Verzweiflung nicht aufgeben, jeden einzelnen Löwenzahn feiern, der auf den Halden überlebt hat, kann man leicht eine freie Wohnung auftreiben.

Nur daß Patrik ohne Prag nicht leben konnte, und ich konnte das auch nicht – und die uns nahestehenden Menschen ebensowenig. Seine Eltern lebten in Prag in einer sogenannten »Großwohnung« (zwei kleine Zimmer, Flur und eine winzige Küche), und folglich hatte er nicht einmal ein Anrecht auf das Ledigenheim. Eine klare und unlösbare Situation; wenigstens für uns – mit den Mitteln, die wir kannten.

»Mama ist wieder sauer auf mich«, bemerkte Patrik in einem leicht infantilen Tonfall, nachdem er Pink Floyd etwas lauter gestellt hatte. »Als ich heute früh aus dem Haus ging, hab ich im Spülbecken die Kakaotasse und auf dem Herd eine Pfanne mit widerlichen Eierresten stehenlassen … Und jetzt muß ich zur Strafe zweimal täglich staubsaugen, die ganze nächste Woche.«

Ich mußte lachen.

Frau Fišerová war Lehrerin. Ihre Aufgabe bestand darin, jeweils eine Kindergruppe die vier Jahre von der Abc-Bank bis zum Abschluß der vierten Klasse zu begleiten. Und so reifte auch Patrik immer aufs neue in einem vierjährigen Zyklus vom Abc-Schützen zum Viertkläßler heran, nur um sich dann über die Sommerferien auf fatale Weise zu verjüngen und das Ganze zu wiederholen. Momentan war er, glaube ich, in der zweiten Klasse.

»Und Mama hat auch gesagt, daß sie mein scheußliches Kabuff inspizieren wird, weil meine Ohrwürmer schon in den Rest der Wohnung kriechen.«

Bei jedem meiner Besuche hatte der Abc-Schütze etwas Neues zu vermelden. Einmal hatte er versehentlich in seinen Wanderstiefeln das Wohnzimmer betreten und lief dann zwei Monate lang mit der Gießkanne in der Hand und gequältem Gesicht herum und begoß zweimal täglich Mamas an die dreihundertfünfzig Usambaraveilchen. Ein andermal hatte er in der Badewanne einen Schmutzrand hinterlassen und bekam dafür die große Wäsche aufgebrummt. Hier wußte er sich allerdings zu helfen. Er schichtete die Laken, die Bettbezüge, die Socken und die Hemden in der Badewanne aufeinander, schüttete eine großzügige Portion Waschpulver darüber und ließ die Wanne mit heißem Wasser vollaufen. Und als Frau Fišerová dann die papageienbunten Hemden und die Bettwäsche im Bleichwasser einweichte, mußte sie wohl den Entschluß gefaßt haben, ihrem schwachsinnigen Sohn nie wieder Aufgaben dieser Art anzuvertrauen. Er hätte ihr selbstverständlich einen ähnlichen Streich schon mit ihrer Sammlung von Usambaraveilchen spielen können, aber die taten ihm – als lebende Wesen – doch leid.

Patrik wagte es nicht, seine Aufgaben nicht zu erledigen. Und so – dem Familienfrieden zuliebe – saugte er mindestens einmal täglich Staub, bevor er zur Arbeit ging, während seine lieben Eltern noch schliefen. Jeden Tag griff er, kaum aus dem Bett getaumelt, nach dem Staubsauger in der Besenkammer, stellte ihn an, legte ihn auf den Teppich und sich selbst daneben. Dann legte er seine Hand an die Rohrmündung und regulierte mit den Fingern so lange die Tonhöhe, bis das Heulen klang, als würde er wirklich über den Teppich fahren.

Frau Fišerová wurde auf diese Weise zwar jeden Morgen unbarmherzig aus dem Schlaf gerissen, hörte aber dennoch jedesmal befriedigt zu. Und Patrik, noch halb in Trance, die Augen geschlossen, auf dem verschlafenen Gesicht ein sanftes Lächeln, saugte und saugte mit grimmiger Entschlossenheit.

5

Die Plattenbauhäuser in der Gartenstadt.

Wir starrten sie oft an, diese rechteckigen grauen Schachteloiden in Patriks Siedlung, und versuchten zu begreifen, wie sie zu dieser monströsen Form kamen – und das tat weh, wie übrigens jeder Versuch, all das um uns herum zu verstehen. Die Dinge und die Beziehungen der Menschen zueinander kamen irgendwie ins Rutschen, sie stürzten abwärts und zugleich voran, auf das strahlende Morgen zu, auf das wir uns – pflichtgemäß – zu freuen hatten. Sich freuen, alle Kräfte anspannen, den Gürtel enger schnallen – bis – bis einmal …

In rosigen Farben sah das sozialistische Morgen zwar niemand mehr, aber die Menschen, jeder für sich, machten sich doch Gedanken über die Zukunft: Die Jugend konnte es nicht erwarten, sechzehn oder achtzehn zu werden. Die Familien freuten sich auf die Genossenschaftswohnung und darauf, daß sie sich einmal einen Wagen würden leisten können.

Für uns beide, Patrik und mich, ging von der Zukunft kein Zauber aus. Wir wollten nirgendwohin, wir wollten nichts erreichen, wollten nicht den Wohlstand in der Schlange abwarten. Wir wollten leben, für den Augenblick leben, in vollen Zügen die seltenen Momente auskosten, die noch Farbe hatten und nach etwas schmeckten.

Um uns herum aber gebot eine unbekannte Kraft der Menschheit, Scheußlichkeiten zu bauen. Dinge ohne Sinn und Verstand. Graue Dinge, die einem grau denkenden Volk fast schon nicht mehr grau vorkamen.

Die Plakate der Umweltschützer in den Schaufenstern zeigten Abbildungen von Blumen und Tieren, und den Vorbeigehenden – soweit sie überhaupt hinschauten – wurde die rhetorische Frage gestellt: Werden sie das Jahr 2000 überleben?

Werden unsere Wälder, unsere Flüsse, die Berge, die Blumen, die Landschaften überleben?

Die »silberschäumende Moldau« schäumt zwar weiter, aber seit der Errichtung der Zellulosefabrik in Větřní alles andere als silbern. Die Elbe bahnt sich, wie zu Urzeiten des Stammvaters Čech, ihren Weg in den Westen und schluckt mit alttschechischer Gelassenheit die Schadstoffe aus den Fabriken und die giftigen Abwässer von den Feldern. Die dahinsiechenden Wälder verwandeln sich in riesige Kahlschläge, die Berge sterben unter der grauen Flugasche und den Fluten von saurem Regen. Und die Menschen wohnen in Betonbunkern übereinander, untereinander und nebeneinander, in rationell konstruierten Einheiten, trinken alle aus einer Wasserleitung und scheißen in das gleiche Rohr, das durch die Wand hinabführt – von einem Arschloch zum anderen.

Der Brontosaurus hat es nicht geschafft zu überleben, stellten die Plakate der Umweltschützer fest. Werden wir es schaffen?!

Ich wußte es nicht, und es interessierte mich im Grunde genommen auch nicht. Ich wollte nicht an die Zukunft denken, da ich davon immer Kopfschmerzen bekam.

Aber dennoch wünschte ich mir ganz schrecklich, daß wenigstens etwas überleben würde. Etwas, was seine gelben und grünen Fühlerantennen aus dem Dreck und dem radioaktiven Abfall strecken würde. Etwas, was mit seinen Stielaugen zwinkern und wie eine Rakete davonziehen würde, um zu leben, zu vögeln und zu lieben. Ein farbiges, furchtloses, lebendiges Etwas. Das Etwas, das Patrik und ich schon seit Jahren suchten.

6

Gartenstadt war der Name eines Stadtviertels, wo es – natürlich – alles gab, nur keine Gärten. Die Namen der Stadtteile Strašnice (von dem Wort strach = »Furcht«) und Hrdlořezy (was etwa »Halsabschneidingen« bedeutet) – zwei eher trostlose Viertel am Rande Prags –, und übrigens auch die von Bohnice und Pankrác, die an eine Irrenanstalt und ein berüchtigtes Gefängnis erinnern, konnte ich als zu Prag gehörend hinnehmen. Der Name Gartenstadt aber war der reinste Hohn. Zwischen den erst vor kurzem gebauten Plattenbaukästen (so einförmig, daß kein ortsfremder Besucher jemals die richtige Straße, den Block und den Eingang fand) standen auf den Zufahrtsstraßen nur ein paar Škodas und Müllcontainer; hie und da stieß man auf einen kahlen Strauch oder einen angeschlagenen Baumstamm, und sonst gab es weit und breit nur Schlamm, seit Jahren schon, denn seiner Zähigkeit konnten nur lange Niederschläge etwas anhaben, und Jahr für Jahr wurde versprochen, ihn im kommenden Jahr in Rasenflächen, Blumenbeete oder Kinderspielplätze zu verwandeln. Dazu wird es selbstverständlich nie kommen. Und so wateten die Anwohner Tag für Tag durch den Schlamm zur Bushaltestelle die Erdbeerstraße, die Jasminstraße und die Kleestraße entlang; die Frauen blieben auf einen Plausch an der Ecke Sauerkirschen- und Blaubeerstraße stehen, und nach Spořilov fuhr man über die Kreuzung von Johannisbeer- und Süßkirschenstraße.

Ich will nicht ausschließen, daß man in der Kleestraße im Sommer ein oder zwei Exemplare von dreiblättrigem Klee finden konnte, aber von Sauerkirschen oder Johannisbeeren hatten auch die Alteingesessenen nie was gehört – und Erdbeeren, wenn es sie gab, waren unten im Konsumladen nur nach langem Schlangestehen zu haben.

Patrik wohnte in der Brombeerstraße.

Ein duftender, dunkelvioletter Name. Er bezeichnete jedoch leider nur eine Reihe von rechteckigen Betonklötzen, deren breite Fugen mit schwarzem Teer versiegelt waren. Die gleichen Kästen standen links und rechts und auch gegenüber, und wenn man aus dem Küchenfenster in Richtung Strašnice und Spořilov schaute, bot sich überall derselbe Anblick. Die Leblosigkeit der Gartenstadt lag über dem ganzen Hügel.

Patrik litt sehr an dem Blick auf die gegenüberliegenden Fenster, an ihrer widerlichen Gleichmäßigkeit und an den Schatten der Leute hinter den Gardinen – aber noch mehr litt er daran, daß er selbst in dem gleichen Betonwürfel, in der gleichen Anonymität wohnte. Denn vielleicht schaute auf der anderen Straßenseite jemand mit ebensoviel Ekel aus dem Fenster, und Patrik kannte ihn nicht und würde ihn auch nie kennenlernen und von anderen unterscheiden können.

In Patriks Kabuff hing über der Tür eines seiner Werke: ein Viertelbogen, den er mit dem Stift in ein Raster von gleichmäßigen, im Hintergrund verschwindenden Quadraten aufgeteilt hatte. In jedem dieser Quadrate, in jedem dieser kleinen Ställe kopulierte immer das gleiche großbrüstige Weibchen mit immer dem gleichen dickwanstigen, mit einem beneidenswerten Penis ausgestatteten Männchen. (Patrik war wohl etwas phallozentrisch.) In jedem dieser Quadrate wimmelte es von trägen, gleichgültig aussehenden und voneinander nicht zu unterscheidenden Kindern – und unter den Viertelbogen hatte Patrik eine Parole geklebt (mit gelben Buchstaben auf rotem Grund, wie es sich für Losungen gehört): Die sozialistische Familie – das Fundament des Staates. Jeder dieser Ställe hatte seine eigene Farbe. Patrik benutzte dafür Buntstifte, und seine feinen Strichelchen und Schattierungen waren zwar vom Stil her schon etwas altmodisch, gaben das Gefühl der Ausweglosigkeit aber sehr gut wieder. Dank seinem sicheren Gefühl für Farben war es ihm gelungen, den Familienboxen so abstoßende Töne zu verleihen, daß der graue Block gegenüber einen beinah nicht mehr störte.

Anfangs konnte ich nicht begreifen, wie sich jemand mit solch stupidem Zeug das Zimmer dekorieren konnte. Aber Patrik suchte nicht Schönheit, sondern Verständnis. Und dabei ging er – wie bei allem, was er anfaßte – raffiniert vor.

Der gegenüberliegende Block hatte neun gleiche Eingänge. Zu jedem dieser Eingänge gehörten sieben gleiche Geschosse, und von jedem Geschoß führten Türen in drei gleiche Wohnungen. In dem Block gab es demnach 189 gleiche Wohneinheiten, mit Serienmöbeln ausgestattet und von Serienmenschen bewohnt. Von Serienfamilien mit Serienvätern und vor allem mit Serienmüttern und Serientöchtern.

Patrik entschloß sich, sie zu vögeln. Serienweise.

Ein absurder und zynischer Plan. Ein selbstzerstörerischer Plan. Ein Plan ohne jeden Sinn und Verstand. Ein Plan, dessen Undurchführbarkeit ich mit vielen Argumenten zu beweisen versuchte.

Aber da hatte ich sein Köpfchen unterschätzt. Es ließ sich gut an für ihn, und eine Zeitlang fand er an der Rolle eines Plattenbau-Don-Juans richtig Gefallen.

7

Als erstes setzte Patrik die Altersgrenzen fest. Die obere nach eigenem Geschmack und die untere so, daß man ihn nicht einsperren konnte. In der Praxis war er also bereit, Mädchen und Frauen von fünfzehn bis etwa fünfundvierzig zu vögeln.

Dann wählte er die Methode.

Das war gar nicht so schwierig. Wozu war er schließlich Klempner?! Er hatte zwar sein Diplom als Architekt, aber der Unterschied zwischen Theorie und Praxis widerte ihn dermaßen an, daß er den Kampf um einen besseren Platz am Futtertrog aufgegeben und angefangen hatte, sich durch seiner Hände Arbeit zu ernähren. Den Kopf hielt er sich frei zum Denken. Und so machte der Klempner Patrik (während und außerhalb der Arbeitszeit, denn in seinem Betrieb wurde praktisch nie kontrolliert, ob jemand tat, was er sollte) im ganzen benachbarten Schachteloid seine Runden. Er klingelte systematisch an einer Tür nach der anderen, sagte, er sei von der Hausverwaltung, und fragte, ob in der Wohnung nicht vielleicht etwas zu reparieren sei.

Die Bewohner ließen ihn hochleben, bedankten sich bei ihm und jubelten – und wenn er wirklich etwas instand setzte, gab es auch mal einen Fünfziger für den braven Herrn Klempner, den ihnen unerwartet der Himmel selbst schickte.

Und Patrik schaute sich die anwesenden weiblichen Familienmitglieder an, erkundigte sich unauffällig nach der Anzahl und Art der übrigen und machte sich in vielerlei Hinsicht nützlich. Den Rest überließ er seinem persönlichen Charme und seiner Erfindungsgabe; über einen Mangel daran konnte er sich gewiß nicht beklagen. Und so hätte aus Patrik ein erfolgreicher Eroberer werden können. Wenn er nur gewollt hätte.

Aber er begnügte sich damit, seine Methode zu erproben und auszuwerten – und verlor dann das Interesse.

Frau Fišerová hatte recht: An Einfällen fehlte es ihm nie, die hatte er in Hülle und Fülle. Aber er führte nichts zu Ende.

8

An dem Abend, den ich beschreibe, an dem Vorfrühlingsabend, als der Wind auf geradezu fühlbare Weise die Feuchtigkeit des berstenden Eises und der Schneeschmelze aus den Bergen herbeitrug, als der Frühling also doch an die menschlichen Seelen pochte und unerwartete Sehnsüchte wachrief, an dem Abend, als in das Fenster von Patriks Kabuff die glühenden Bildschirme vom zur Hälfte durchgevögelten Plattenbaublock gegenüber wie blaugraue Sterne hereinleuchteten – an dem Abend faßte mich Patrik auf einmal bei den Fingern und umklammerte sie kräftig.

Solche Gesten waren zwischen uns nicht üblich, im Gegenteil: Wir hielten zwischen uns – fast programmatisch – einen kameradschaftlichen Abstand von etwa zwei Metern, denn als Mann und Frau hätten wir füreinander keine besondere Bedeutung gehabt, als Kumpel brauchten wir uns aber dringend.

Patrik faßte mich bei den Fingern, und ich erhob ganz langsam meine Augen zu ihm.

Mir war nicht danach.

Wir erlebten gerade einen jenen vertrauten Augenblicke, wenn Patrik ganz leise eine miserable Aufnahme von Kryl laufen ließ – und wir uns unter dem Quieken, Knacken und Piepsen der Störsender das Hohelied anhörten.

Patrik hatte zehnmal auf miserablen Kassettenrecordern überspielte miserable Aufnahmen, die jemand vom Sender Radio Freies Europa mitgeschnitten hatte. Patrik selbst, der ganz sicher Tage vor dem Radio verbracht hätte, war es nicht gewesen, denn die ganze Gartenstadt war lupenrein gegen ideologische Diversion desinfiziert, und wenn sich Patrik nur ein wenig aus dem Fenster hinauslehnte, konnte er den Störsender in Spořilov sogar sehen … Es war der Klang von Kryls erregter Stimme, der mich immer wieder – schmerzhaft – in meiner Überzeugung bekräftigte, daß es an uns war, etwas zu tun, irgendwohin zu gehen. Die Stimme war so gewaltig und von einer solchen Resonanz, daß es mich überhaupt nicht interessierte, wer er war, womit er sein Geld verdiente, mit wem er schlief oder wie er lebte, und auch der Tratsch, er trage jetzt eine lange Mähne und bereite Radio Freies Europa nur Probleme, interessierte mich nicht … Ich glaubte es nicht, und es interessierte mich nicht. Ich wußte, daß ich es ihm nie sagen würde, wie sehr ich ihn liebe, einzig und allein seiner Stimme wegen, seiner sanft zynischen Lieder wegen – die ich alle auswendig kannte.

Gelbe Blätter, als es taute,

Fielen schneegleich in die Blüten,

Und das Grausen mit der Laute

Kam mit ’nem Kranz von Margeriten.

Wir kannten beide alle seine Texte perfekt, und ich erwischte mich hie und da in der U-Bahn, daß ich eine seiner provozierenden Melodien summte – und doch hörten wir uns die Lieder immer wieder an, da wir in ihnen den Schmerz und in dem Schmerz Kraft fanden.

Patrik faßte mich bei den Fingern und zwang mich, den Kopf zu heben.

»Fialka, ich mach das aus.«

Ich zuckte die Achseln.

Und als ein paar Sekunden später wieder Pink Floyd loskreischten, sagte Patrik: »Hör mal, Fialka, ist es dir schon mal passiert … irgendwann … daß du mit irgendeinem Typen ins Bett gehst und –«

»Aber Patrik!« empörte ich mich ganz im Stil unserer Albereien. »Wie kannst du nur bei meiner dreimal wiederhergestellten Jungfräulichkeit auf die Idee kommen, daß ich –«

»Ich weiß, ich weiß … Also, ich meine … hast du vielleicht von einer Freundin, die mit einem Typ ins Bett gegangen ist, gehört, daß –«

»Aber Patrik!« protestierte ich, ganz die bebrillte Intellektuelle. »Wie kannst du nur annehmen, daß ich so eine Freundin haben könnte und daß ich mit ihr über so was …«

»Hm«, sagte Patrik, der nach all den Jahren mit meinen Spielchen bestens vertraut war. »Hm … hast du jemals davon gehört, daß ein Typ mit einem Mädchen ins Bett geht … und … daß … also, daß er ihn nicht hochkriegt – und sie versucht alles, aber er kriegt ihn einfach nicht hoch, und so –«

»Aber gewiß habe ich das. Die sogenannte Impotenz. Wir unterscheiden zwischen einer anhaltenden oder auch permanenten und einer vorübergehenden oder temporären Impotenz. Zwischen der psychisch und der physisch verursachten Impotenz. Die Impo –«

»Wunderbar«, sagte Patrik, holte tief Atem und ließ ihn mit leichtem Zischen, so wie nur er es konnte, entweichen. »Wenn mich künftig jemand einen impotenten Schlappschwanz schimpft, muß ich ihm also eigentlich die Hand schütteln und mich für die Diagnose bedanken. Oder wie ist das?«

»Aber, aber! Könnte es sein, daß der Herr vielleicht Schwierigkeiten dieser Art hat?«

Ich tat einen blitzschnellen Blick auf Patriks Hosen. Einen vielsagenden Blick, den nicht jeder registriert hätte. Patrik bemerkte ihn aber und grinste. Es ist möglich, daß ich ein wenig rot wurde.

Wir konnten uns prima über so ziemlich alles unterhalten, aber unsere eigenen Körper blieben für uns tabu.

Allerdings hatte ich mir schon längere Zeit gesagt, daß eine kleine Lektion Patrik nicht schaden würde. Er hatte bei den Weibern ein bißchen zu viel Glück. So daß es vielleicht auch der blanke Neid war, der aus mir sprach, denn solches Glück bei den Kerlen wie er bei den Frauen hatte ich nicht. Und dabei hatte ich auch meine Taktiken.

Ich wollte es aber mit den giftigen Bemerkungen nicht zu weit treiben und bat Patrik um Einzelheiten.

9

Die Finger im Spiel hatte dabei eine Monstera. Die Monstera gehört zu jenen typischen Siedlungspflanzen, die die Menschen nach und nach aus ihren Wohnungen verdrängen und sie schließlich vor die Entscheidung stellen: Entweder sie werfen die Monstera aus dem Fenster – oder sie springen selber hinaus.

Frau Fišerová hatte auch eine sehr gut entwickelte in ihrer Wohnung stehen.

(Frau Fišerovás Wohnung wies alle Merkmale von Wohnsiedlungsverblödung auf, und alles war in sehr gut entwickeltem Zustand.)

So daß sich eigentlich niemand wundern darf, wenn Patrik bei seiner Serienvögelei am liebsten im Wohnzimmer unter der Monstera bumste, auf dem rotbraunen Spannteppich, mit dem die Baumeister den Großteil der Wohnzimmer in dem Block ausgestattet hatten, durch den sich Patrik systematisch vögelte. Unter der Monstera, deren riesige, löchrige, fleischige Blätter für Patriks Bumsen die entsprechend morbide Kulisse wachsender Probleme bildeten.

Manchmal war die Monstera noch klein und trieb Knospen, ein andermal war sie mittelgroß und bedrohlich, und in einigen der Wohnungen, die Patrik schon besucht hatte, war sie dabei, kritische Dimensionen zu erreichen.

Patrik war sogar mit einer geradezu ungeheuerlichen, besitzergreifenden Monstera bekannt, deren einziges Blatt die Hälfte des Panoramafensters verdeckte, und die Kinder der Dame, in deren Wohnung das Geschöpf gedieh, hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, die Welt unter ihrem Fenster nur durch die Löcher in diesem Blatt zu betrachten; mit kindlich erstaunten Augen sahen sie die graue Welt durch eine grüne Schablone.

Patrik war mit jeder Art von Monstera gut bekannt.

Er zeichnete sie.

Und die Launen der Monstera verglich er mit dem Charakter der Menschen, die ihr Zugang zu ihren Wohnungen verschafft hatten. Für Patrik waren die riesigen Monstera Symbol menschlicher Kleinheit.

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Das Problem war allerdings, daß sie eine hatte. Das Mädchen mit dem Körper eines Wiesels, mit verheißungsvollen Augen, grün wie Meeresalgen, und dem Gesichtchen einer ziemlich verdorbenen Siebzehnjährigen.

Sie war selbstverständlich erst vierzehn, aber das konnte Patrik nicht wissen.

Eine jener niedlichen, zutraulichen, geilen Nymphen, die wir Mädchen über zwanzig nicht ausstehen können.

Sie kam und schmiegte sich an ihn, irgendwo in einer der nicht ganz so üblen Bars, wo Patrik offenbar ganz zufällig mit seiner Kamera gelandet war; sonst suchte er das Leben immer nur in den allermiesesten Schuppen.

Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte ihm eines der üblichen professionellen Sprüchlein zu, das er eigentlich bestens hätte kennen müssen, das er aber, Gott weiß warum, wahnsinnig interessant fand.

Ihr Haar roch nach Haarspray und Shampoo, ihr Gesicht nach Lippenstift und Puder, aus der Achselhöhle hauchte ihn ein billiges Deodorant an – und als Patrik zwischen ihren Oberschenkeln unter dem verständlicherweise kurzen Rock flüchtig sondierte, nahm er den unverwechselbaren Geruch von Sperma wahr.

Das erregte ihn.

Patrik hatte nie mit einer richtigen Hure zu tun gehabt, obgleich er sich schon lange danach sehnte. An sich wäre das kein Problem gewesen, nur, er wollte sich keines der bemalten, als Damen posierenden Flittchen aus dem Stadtzentrum kaufen – diese Mädchen und Frauen ohne Vergangenheit hatten für ihn keinen Reiz; er sehnte sich nach dem rotblauen Halbdunkel, nach dem Honky-Tonk-Klavier und dem blinden Geiger, nach dem Chambre séparée und der schwarzen Unterwäsche an den abgetatschten käuflichen Körpern, die so manche Geschichte zu erzählen hatten.

Kurz und gut, seit seinem sechzehnten Lebensjahr wünschte er sich ein echtes, unverfälschtes Bordell mit Puffmutter und Mädchen, ein ehrbares, ehrliches Bordell der dreißiger Jahre.

Es gab aber keine Bordelle in Prag.

Die Prostitution hatte sich seit ihrer Glanzzeit weiterentwickelt und Formen angenommen, die nicht für jedermann erkennbar und auch nicht jedermann zugänglich waren.

Patrik sehnte sich nach der Kontamination, und die Sterilität war ihm verhaßt. Der Geruch von fremdem Samen in der Kleidung eines Mädchens, das die Seine werden wollte, wirkte wie eine Einladung in unbekannte, ungeahnte Regionen, die nicht zu besuchen in seinen Augen eine Sünde gewesen wäre.

Er ging mit ihr, und als sie einen Hunderter verlangte, gab er ihr zwei – sie mußte ihn also entweder für einen Großkotz oder einen Armleuchter halten.

Aber vielleicht machte sie sich gar keine Gedanken; wenn sie überhaupt über irgend etwas nachdachte, sagte sich Patrik, dann wohl in ganz anderen Dimensionen, in den unreifen und zweifellos schlichten Dimensionen, die ihm so unbegreiflich, ja geheimnisvoll vorkamen.

Das Mädchen rief in ihm ein aufreizendes Gemisch von Sehnsucht und Ekel wach; sie hatte das Schminken noch nicht gelernt und unter den Augen schwarze Reste von Wimperntusche; sie hatte zuviel Tusche auf die Wimpern aufgetragen, und wenn sie zwinkerte, lösten sich von den Wimpern schwarze Würmchen. Aber gerade ihr dilettantisches Make-up ließ ihre Miene kindlich und weniger klischeehaft erscheinen; ab und zu verzog sie ihr Gesicht zu einer Grimasse, zu einem halben, wissenden Lächeln – es war fast wie ein Tick –, und Patrik verspürte plötzlich den Wunsch, ihre dunkelvioletten Lippen auf seinem Mund zu fühlen.

Das Mädchen wirkte verlockend und zugleich bedrohlich; ihr ganzer Körper wiegte sich im Rhythmus eines Liedes, das sie im Geiste vor sich hin trällerte, und Patrik empfand das Bedürfnis, durch dieses Mädchen, das ihm so offen und mitteilsam vorkam, andere Männer und sich selbst kennenzulernen; das Mädchen war möglicherweise (nicht möglicherweise, sondern ganz sicher) noch nicht sechzehn, und er hätte sich strafbar machen können, sie hätte ihm eine Vaterschaftsklage anhängen oder ihn mit einer jener bekannten, in der Prager Halbwelt kursierenden Krankheiten beglücken können.

Das alles wußte Patrik natürlich.

Aber die unbekannte Kraft, von der er so oft geredet und der er sich unterzuordnen gelernt hatte, zog ihn zu ihr hin, zu dem kindlichen Patschhändchen mit den abgebrochenen, rosaroten Nägeln und drei Ringen auf jedem Fingerchen.

Die unbekannte Kraft zog ihn mit sich.

Und Patrik folgte ihr.

Und folgte ihr …

Wie ein zahmes Schaf.

Sie wohnte in einem Mietshaus – mit jemandem zusammen, dessen Rückkehr aber offenbar nicht drohte.

Sie ließ sich von Patrik in verschiedenen Posen fotografieren (sie war eben noch jung und ahnte nicht, wie teuer sie diese Art von Fotos zu stehen kommen könnte) – und Patrik hörte mit jedem Klick der Kamera das Zuklappen der Gefängnistür.

Er fotografierte.

Er legte sich auf den Boden, und sie stellte sich stolz mit gespreizten Beinen über ihn. Jaja, vierzehnjährige Mädchen tragen Miniröcke ohne was drunter, nur so auf dem nackten Körper.

Auf dem schönen und sündigen nackten Körper.

Patrik fotografierte sie – und es gab ihm mehr, als wenn er ihren ganzen Körper mit seinen Händen gespürt hätte; er konnte mit Bildern umgehen und vermochte durch den bloßen Blick alle seine Sinne zu reizen und die Düfte, die Berührungen und sogar den Geschmack, die Hitze und den Frost wahrzunehmen. Und wenn er sie jetzt fotografierte, dann nahm er sie, ohne daß sie es wußte. Sie gab sich Patrik mit einer gewissen gleichgültigen Naivität hin und nahm Stellungen ein, die sie wahrscheinlich in geschmuggelten Zeitschriften gesehen hatte und für verführerisch hielt.

In Wirklichkeit waren sie kindlich; sie kamen Patrik irgendwie inzestuös vor; und obgleich er sie noch nicht berührt hatte, fühlte er unter den Fingerspitzen die Haut des jungen Körpers, den Widerstand, die Festigkeit und das Elektrisierende; die Zugänglichkeit und zugleich die Unmöglichkeit, sie zu besitzen.

Das Mädchen wußte Bescheid.

Patrik hatte sich (wie ich auch) schon von klein auf gewünscht, Bescheid zu wissen, mußte aber (wie ich auch) bald die Unmöglichkeit erkennen, über alles Bescheid zu wissen. Und obwohl er im Rahmen des Möglichen zweifellos ein ausgefülltes Leben führte, verließ ihn das Bewußtsein des ihm Entgangenen nie; tausend Leben zu haben war nicht möglich – und es fiel ihm nicht leicht, dasjenige zu wählen, das ihm am besten entsprach.

Das Mädchen hatte es einfacher. Ihr standen verschiedene Leben offenbar gar nicht zur Auswahl, sie hatte keine Ahnung, wie bunt die Skala der Möglichkeiten sein konnte. Sie war zwar etwas dümmlich und (höchstwahrscheinlich) anspruchslos, aber dennoch konnte man nicht wissen, was sie über einen denken würde. Patrik wollte sich ihr im besten Licht zeigen, und doch hatte er Angst vor ihrer Erfahrung oder, besser gesagt, ihrer Verdorbenheit, denn echte Erfahrung trägt auch Verständnis in sich.

Erst als er zwischen ihren Oberschenkeln eingezwängt lag, wurde ihm klar, daß er sie eigentlich nicht lieben, sondern haben wollte, daß er sich nicht danach sehnte, ihr zu gehören, sondern sie zu besitzen.

Das Besitzen bedeutete nicht, daß ihm irgendwelche Erinnerungen bleiben sollten. Das Besitzen bedeutete für Patrik das Gegenteil: »Ich kann und muß sie vergessen, sobald ich die Tür hinter mir schließe!« sagte er sich. Das Besitzen bedeutete für ihn, ihr Bewußtsein mit seiner Anwesenheit zu okkupieren, es wurde ihm aber inzwischen klar, wie wenig Raum für ihn in ihrem Spatzenhirn übrigblieb. Er war eben zu spät dran – obwohl sie erst vierzehn war! Und das tat am meisten weh. Das wenige in ihrem Kopf, in das er vielleicht hätte eindringen können, war trotz ihrer unglaublichen Jugend schon vollgestopft, nicht mehr zu haben; für Patrik war kein Platz mehr. Es war wohl nicht möglich, sie zu besitzen.

Und außerdem: Sie hatte eine Monstera.

Es war etwas Morbides an der Sache.

Aus ihrer Wohnung in dem Vorkriegshaus strömte einem der Geruch nach etwas Steinaltem, leicht Verschimmeltem entgegen – man könnte sagen, nach einer bestimmten Generation. Es war jedenfalls kein Plattenbaugeruch, und er harmonisierte auf eine Art synästhetische Weise mit den glänzenden dunkelgrünen Blättern. Diese Monstera war keine Siedlungspflanze: Die Umgebung machte aus ihr ein Symbol des Lebens und der Feuchtigkeit. Selbst die Vierzehnjährige fühlte dies offenbar und goß die Pflanze fleißig.

Sie ließ sich zwischen den Blättern fotografieren und streckte sich mit verblüffender Selbstverständlichkeit auf dem beigefarbenen Teppich aus.

Nein, der kräftige Hengst aus der Plattenbausiedlung war hier nicht der Eroberer! Er wurde mißbraucht! Er hatte doch selbst oft genug versucht, die unterschiedlichsten Mädchen in eine ähnliche Situation zu bringen, so daß er sie leicht vergleichen konnte.

Aber hier sollte er verglichen werden! Die für ihn vorbereitete Situation war geradezu lehrbuchreif: Mit den gleichen (verführerischen) Gesten und an derselben Stelle hatte sie sich ja einer Unzahl von Männern vor ihm ergeben. Hier sollte Patrik geprüft werden, dem Erdboden gleichgemacht werden, wenn man so will – und dem Mädchen war es vielleicht gar nicht bewußt. Aber Patrik war es sehr wohl bewußt, und er gab ihrem Drängen mit wütender und zermürbender Reumütigkeit nach.

Er war zweifellos nicht genügend erregt.

Ein Zustand, für den eine liebende Frau Verständnis, ja, den sie sogar positiv bewerten würde, sie aber fand keine Entschuldigung dafür.

Als sie sich vehement seine Hose vornahm, waren ihre Berührungen herausfordernd und kein bißchen zärtlich. So daß Patrik nach einer Weile hören mußte, er sei ein impotenter Schlappschwanz und hätte für die zwei Scheine mehr haben können.

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Patrik fummelte am Knopf des Kassettenre corders herum, und die Dezibel begannen so heftig zu schwanken, daß es selbst Pink Floyd nicht lieb gewesen wäre.

»Und so was ist dir vorher nie passiert?« fragte ich mißtrauisch.

»Nein … das heißt eigentlich doch«, gab Patrik zu, »aber sozusagen unter ganz anderen Umständen, damals war’s ein klarer Fall … ich wußte, warum … es war verständlich … aber diesmal … ich versteh das einfach nicht.«

»Aber hör mal, Patrik, ich weiß nicht, warum du dir wegen so einer Lappalie den Kopf zerbrichst. Hast ihn nicht hochgekriegt – na und? Vergiß es. Du tust gerade so, als ob es weiß Gott was für eine Schande wär’ Bist eben nicht der Supermacho für sie! Kriegst ihn halt das nächste Mal hoch, Dummerchen, und dann ist alles wunderbar …« (O ja, ich wußte, wie wunderbar es sein kann, wenn einer ihn hochkriegt.)

»Da irrst du dich leider«, konstatierte das Dummerchen. »Ich krieg ihn seitdem nicht hoch … Und dabei hab ich alles versucht … es geht nicht … er tut’s einfach nicht.«

Und er fuhr mit dem Finger so vorwurfsvoll und zugleich schuldbewußt über den Hosenschlitz, daß ich Angst bekam, er würde mir den kleinen Patienten gleich zeigen.

An dem Abend sprachen wir nicht mehr viel über die Geschichte. Ich hielt Patrik aber einen halbwissenschaftlichen und völlig überflüssigen Vortrag darüber, daß man um so weniger erreiche, je mehr man sich anstrenge, denn die Welt sei gefangen und drehe sich in einem Teufelskreis von Aktion und Reaktion. Ich empfahl, was jeder »achtbare Sexualberater« empfehlen würde – daß er »nicht daran denken« und sich entspannen solle –, und nahm dabei meinen Rat selbst nicht ernst. Patrik letztendlich auch nicht.

Und so blieb das Debakel unaufgeklärt. Wie schon gesagt, ich hatte mir lange gewünscht, Patrik eine Lektion zu erteilen, aber das war eigentlich nicht mein Stil. Und als ich dann nach Hause fuhr, in dem Bus, der so zitterte und einen liebkoste, fühlte ich, daß ich jedenfalls bereit war und daß mir so etwas nie passieren würde; daß mein Körper auf alle Anregungen richtig reagierte, ganz problemlos – fast zu problemlos; ich dachte dankbar daran, daß er mich bisher nie im Stich gelassen hatte, und es wurde mir nach längerer Zeit wieder bewußt, wie sehr ich den Entschluß des Schicksals oder der Natur oder Gottes – oder Gott weiß wessen – schätzen mußte, mich als Frau zur Welt kommen zu lassen.

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